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2011 | Buch

Verfassungswandel im Mehrebenensystem

herausgegeben von: Junior-Prof. Dr. Christoph Hönnige, Dr. Sascha Kneip, Prof. Dr. Astrid Lorenz

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Theoretisch-konzeptionelle Überlegungen

Frontmatter
Formen, Ebenen, Interaktionen – eine erweiterte Analyse des Verfassungswandels
Zusammenfassung
Verfassungen definieren die grundsätzlichen Regeln einer Gesellschaft. Sie sind Meta-Regeln, die allen nachgeordneten Regeln, die in einer Gesellschaft und einem Staat gelten sollen – Gesetzen, Verordnungen und Entscheidungen –, eine Struktur geben und bestimmen, wie sie angewendet, interpretiert und durchgesetzt werden (Stone 2000; Vorländer 2009: 9 f.). Dabei beinhalten Verfassungen typischerweise einen Katalog von Schutzrechten des Individuums gegenüber dem Staat und anderen Bürgern sowie die zentralen Institutionen und Verfahren der Staatsorganisation. Damit sind sie die niedergeschriebene Quelle staatlicher Macht und regeln auch deren Verteilung (Lorenz 2008). Das Verfassungsprinzip geht in modernen Demokratien zumeist Hand in Hand mit dem Demokratieprinzip und hegt die – an sich zunächst unregulierte – Mehrheitsherrschaft ein, um eine Tyrannei dieser Mehrheit zu verhindern. Verfassungsprinzip und Demokratieprinzip stehen also in einem latenten Spannungsverhältnis (Murphy 1993; Kielmannsegg 1988), das jedoch über die Idee einer „Gleichursprünglichkeit“ von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie tendenziell aufgelöst werden kann (Habermas 1992).
Christoph Hönnige, Sascha Kneip, Astrid Lorenz
Das Zusammenspiel der Ebenen beim expliziten und impliziten Verfassungswandel
Zusammenfassung
Der Begriff des Verfassungswandels verweist auf die Tatsache, dass die Grundordnung eines modernen politischen Systems nicht vorgegeben ist, sondern aus politischen Prozessen und Entscheidungen resultiert. Direkt oder indirekt kommt durch diesen Wandel die verfassungsändernde Gewalt ins Spiel. Beim expliziten Wandel durch formale Verfassungsänderungen geschieht dies unmittelbar im Rahmen der in einer Verfassung vorgesehenen Verfahren. Beim impliziten Wandel trifft dies insofern zu, als faktische Normänderungen nur Verfassungscharakter erhalten, wenn sie von den Trägern der verfassungsändernden Gewalt anerkannt werden. Andernfalls besteht ein Widerspruch zwischen der Praxis verfasster Politik und den einschlägigen Verfassungsnormen. Wir können also nur dann von einem Verfassungswandel sprechen, wenn wir Anzeichen dafür finden, dass die Geltung veränderter Normen nicht auf Machtverhältnissen, sondern auf Anerkennung beruht.
Arthur Benz
Ziele, Formen und Prozessstrukturen des Verfassungswandels in Mehrebenensystemen
Zusammenfassung
Die vielfältigen Prozesse supra- bzw. transnationaler Regimeintegration und die mit ihr verbundene Reorganisation von Staatlichkeit stellen Theorie und Praxis von Verfassung und Verfassungswandel vor tiefgreifende Herausforderungen, welche die Parameter demokratischer Verfassungspolitik grundlegend und nachhaltig verändern. Bekanntlich war der „Verfassungsstaat der Neuzeit“ (Friedrich 1953) der europäisch geprägten Welt eng mit der Entwicklung des Nationalstaates verknüpft, zugleich aber auch gefangen im „methodologischen Nationalismus“ (Beck/Grande 2004). Die Dialektik von Globalisierung und Regionalisierung einerseits und Denationalisierung andererseits beschleunigt indessen die Transformation nationalstaatlicher Souveränität und fordert die Aufhebung der Reduktion des Verfassungsbegriffs auf die Funktionen des Verfassungsstaates der „ersten Moderne“ wie die Abkehr von einem allzu engen Verfassungsverständnis. Aus politikwissenschaftlicher Sicht verlangt dies – wenn kein neues, so doch – ein verändertes Konzept von Verfassung und Verfassungswandel und damit die Anpassung des analytischen Instrumentariums an die veränderte Wirklichkeit.
Bettina Petersohn, Rainer-Olaf Schultze

Expliziter Wandel des Grundgesetzes

Frontmatter
Substanzbezogenes und alternatives Nutzenmaximierungsverhalten von Akteuren und die Auswirkungen auf das Grundgesetz
Zusammenfassung
Abhandlungen über das Grundgesetz heben meist die besonderen Rahmenbedingungen seiner Entstehung 1949 hervor – die Rolle der Alliierten nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, die Auseinandersetzung mit den Hypotheken des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik auf dem Herrenchiemseer Konvent und im Parlamentarischen Rat, die beginnende Blockkonfrontation oder auch die fehlende Legitimierung durch eine Volksabstimmung. Diese historischen Details sind wichtig, um die damaligen Prozesse und bestimmte inhaltliche Konstruktionen des Grundgesetzes zu verstehen. Will man jedoch die langfristige Entwicklung von Verfassungen erklären, dann reicht der Blick auf die Entstehungsgeschichte nicht aus. Er muss ergänzt werden durch einen Blick auf spätere Interessen und Verhaltensweisen der Akteure in ihren wechselnden Konstellationen (vgl. Benz 1993; Schultze 1997; Busch 2006).
Astrid Lorenz
Verfassungsreformen in der Bundesrepublik: 1969 – 1994 – 2006
Zusammenfassung
Die Bundesrepublik Deutschland zählt zu jenen westlichen Demokratien, die ihre Verfassung relativ häufig geändert haben (Lorenz 2007: 21 f.). Betrachtet man die zeitliche wie inhaltliche Verteilung der einzelnen Änderungen, fallen deutliche Schwerpunkte auf (Busch 2006: 47 f.). So fanden mehr als zwei Drittel der Grundgesetzänderungen in der 5., 12. und 16. Wahlperiode des Bundestages statt, die zusammen nur etwa ein Sechstel der gesamten Zeitspanne seit Gründung der Republik umfassten. Die in diesen Phasen verabschiedeten Einzeländerungen können zusammen jeweils als Verfassungsreformen verstanden werden, d. h. textliche Änderungen, die nicht nur einzelne Normen, sondern ganze Bereiche einer konstitutionellen Ordnung einbeziehen (Benz 2007: 186). Inhaltlich bezogen sie sich mehrheitlich auf zwei nicht besonders umfangreiche Abschnitte des Grundgesetzes: die „Gesetzgebung des Bundes“ (VII.) und das „Finanzwesen“ (X.) – mithin Passagen, die den wesentlichen Rahmen der föderalen Staatsorganisation festschreiben. Daher könnte man zugespitzt formulieren: Die bisherigen Grundgesetzreformen waren primär Bundesstaatsreformen.
Florian Grotz
Wandlungen des Grundgesetzes unter dem Einfluss der Ebenen des Europarechts und des Völkerrechts
Zusammenfassung
Das vor 60 Jahren, am 23. Mai 1949, in Kraft getretene Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) wurde aus diesem Anlass als Erfolgsgeschichte gewürdigt, und dies zu Recht. Nach der deutschen Wiedervereinigung gilt es „für das gesamte Deutsche Volk“ (Präambel, Satz 3). Durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 Satz 2 GG a. F. statt der Ausarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung (vgl. Art. 146 GG a. F; vgl. zur Kontroverse Huber, in: Sachs 2009, Art. 146, Rn. 4 f.) wurde das ursprünglich als Provisorium gedachte und deshalb auch nicht als „Verfassung“ bezeichnete Grundgesetz Ausdruck verfassungsrechtlicher Kontinuität mit der mit Abstand längsten Geltungsdauer einer Verfassung in der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte (Huber, in: Sachs 2009, Präambel, Rn. 7).
Rudolf Streinz
Zwei-Ebenen-Spiele und die Asylrechtsreform von 1993
Zusammenfassung
Im Jahr 1993 änderten der Deutsche Bundestag und der Bundesrat das Grundgesetz (GG) und führten unter anderem eine sehr restriktive Version des Konzeptes der „sicheren Dritt- bzw. Herkunftsstaaten“ ein. Dadurch wurde das in Artikel 16 (2) II garantierte Recht auf Asyl (Politisch Verfolgte genießen Asylrecht) beschränkt. Dieser Verfassungsänderung ging ein jahrelanger Streit zwischen den Parteien und zwischen Bund und Ländern voraus. Auf der einen Seite sprachen sich die von den zunehmenden Flüchtlingszahlen besonders belasteten Bundesländer seit den 1980er Jahren für eine Beschränkung des verfassungsmäßigen Asylrechts aus. Die Länder fanden Unterstützung für diese Forderung beim Bundesinnenministerium sowie Politikern der CDU/CSU. Auf der anderen Seite standen die übrigen Bundestagsparteien SPD, FDP und Grüne, die eine Verfassungsänderung unter Hinweis auf die humanitäre Verantwortung Deutschlands ablehnten. Bis Mitte 1992 schien die notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag kaum erreichbar. Parallel zur innerdeutschen Debatte wurde auf europäischer Ebene über die Abschaffung der Binnengrenzen und gemeinsame Asylstandards verhandelt. Die europäischen Verhandlungsergebnisse, das Schengen-Durchführungsübereinkommen (Schengenabkommen), die Dubliner Konvention und die sogenannten Londoner Resolutionen beinhalteten ähnliche Restriktionen (hinsichtlich sicherer Dritt- und Herkunftsstaaten), wie sie in der Grundgesetzänderung von 1993 zu finden sind. Dies lässt zwei Fragen aufkommen: Wie war es möglich, nach Jahren des Streits innerhalb eines halben Jahres seit der formalen Initiierung des Gesetzgebungsvorhabens die notwendige Zustimmung im Bundestag zu gewinnen und die Grundgesetzreform durchzusetzen? Und zweitens, welche Rolle spielte die europäische Ebene bei der Legitimation der Verfassungsänderung und der Änderung der Überzeugungen und Positionen der Reformgegner?
Dorothee Lauter, Arne Niemann, Sabine Heister
Ziele und Grenzen europäischer Konstitutionalisierung vom Verfassungs- zum Lissabonner Vertrag
Zusammenfassung
Welche nationalstaatlichen Akteure verfolgen welche (integrations)politischen Ziele in Europa? Welche Grenzen ergeben sich hierbei für die Entwicklung des EU-Systems und seiner im Vertragsrecht gespiegelten Verfassung? Der folgende Beitrag versucht eine Antwort auf diese Fragen, indem er die empirisch „messbare“ Ausbildung des EU-Systems in den Zusammenhang der Vertragsrevisionen stellt. Der Beitrag konzentriert sich hierbei auf den zurückliegenden, vor fast 10 Jahren gestarteten Reformprozess zum Lissabonner Vertrag. Grundlage der Analyse bildet eine Rückschau auf die Entwicklung der politisch-institutionellen Ordnung der EU und deren Interpretation im Umfeld des Maastrichter Vertrags von 1993. In und für Deutschland stellt Maastricht insofern einen vorläufigen Kulminations- und damit Referenzpunkt der EU-Systementwicklung dar, als sich in dieser Phase der Integration erstmals offene Absetzbewegungen vom lange gehegten Zielbild eines europäischen Bundesstaates verzeichnen ließen. In der anschließenden politischen wie politikwissenschaftlichen Debatte ist seitdem die Einsicht gewachsen, dass das Projekt der europäischen Konstitutionalisierung inkrementell, politikbereichsspezifisch und unter Berücksichtigung eines immer stärkeren Mitwirkungs- und Beteiligungsdrangs nationalstaatlicher Akteure verläuft.
Peter Becker, Andreas Maurer
Die deutschen Länder als erfolgreiche Mehrebenen-Spieler und verfassungspolitische Agenda-Setter
Zusammenfassung
Die deutschen Länder gehören zu den politisch und ökonomisch stärksten Regionen in der Europäischen Union. Das daraus abgeleitete politische Selbstbewusstsein demonstrieren sie sowohl auf EU-Ebene als auch auf Bundesebene. Seit mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in den 1950er Jahren erste Schritte in Richtung einer echten europäischen Integration unternommen wurden, sind die Länder in Sorge, sie könnten im Zuge der europäischen Zusammenarbeit ihre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs neu begründete Staatlichkeit schon wieder verlieren. Fast schon sprichwörtlich ist die vom damaligen Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens (NRW), Karl Arnold, im Juni 1951 geäußerte Befürchtung, die deutschen Länder könnten zu „reinen Verwaltungseinheiten herabgedrückt werden“ (zit. nach Bundesrat 1997: 45). Diese Sorge, dass der Bund die ureigenen Kompetenzbereiche wie etwa Bildung, Kultur und Polizei ohne Rücksicht auf die Länder auf die europäische Ebene übertragen könnte, prägt die deutsche Europapolitik und die Strategien der deutschen Länder in der EU-Verfassungspolitik bis heute.
Martin Große Hüttmann

Impliziter Wandel des Grundgesetzes

Frontmatter
Spiel über Bande. Intendierter und nicht-intendierter Verfassungswandel durch Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht
Zusammenfassung
„Karlsruhe schafft ein Grundrecht für Kinder“ titelte die Süddeutsche Zeitung am 02. April 2008, nachdem das Bundesverfassungsgericht am Tag zuvor in einem aufsehenerregenden Verfahren geurteilt hatte, dass „umgangsunwillige Elternteile“ in der Regel zwar nicht mit Zwangsmitteln zum Umgang mit ihren Kindern gezwungen werden dürfen, dass die Verfassung aber ein „Recht des Kindes auf Pflege und Erziehung“ postuliere, das Eltern zu beachten und der Gesetzgeber durch geeignete gesetzliche Maßnahmen zu sichern und auszugestalten hätten (Süddeutsche Zeitung vom 2.4.2008, S. 1). Nun kennt der Wortlaut des deutschen Grundgesetzes ein solches „Kindergrundrecht“ eigentlich nicht. Die Karlsruher Richterinnen und Richter glauben es aber in Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes ausfindig gemacht zu haben. Dort heißt es: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Das Grundgesetz postuliert damit ausdrücklich Rechte und Pflichten der Elternverantwortung (vgl. z. B. auch schon BVerfGE 56, 363); Träger dieses Grundrechtes waren bislang jedoch ausschließlich die Eltern(teile) und nicht die Kinder selbst. Diese besaßen bis zu diesem Urteil lediglich einen „Anspruch“ auf Pflege, Erziehung und Beaufsichtigung durch die Eltern (vgl. Jarass/Pieroth 2004: 265 f. und BVerfGE 68, 256: 269), ohne dass dieser aber explizit subjektive grundrechtliche Qualität aufgewiesen hätte. Nun aber spricht das Bundesverfassungsgericht von einem „Recht“ des Kindes auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern. Dem Elterngrundrecht wird damit ein „ungeschriebenes Kindergrundrecht“ an die Seite gestellt (SZ vom 2.4.2008, S. 2).
Sascha Kneip
Impliziter Verfassungswandel durch das Bundesverfassungsgericht in gesellschaftlichen und politischen Fragen
Zusammenfassung
In vielen Demokratien legen Verfassungsgerichte, nicht mehr Parlamente, den konstitutionellen Ordnungsrahmen einer Gesellschaft verbindlich aus und nehmen deshalb eine erhebliche Rolle im politischen Leben ein. Dieses Phänomen wurde von vielen Wissenschaftlern erkannt und mit Metaphern wie „Nebenregierung“ (Schmidt 1996), „Dritte Parlamentskammer“ (Shapiro/Stone 1994; Stone 1992) oder „Vetospieler“ (Stüwe 2001; Wagschal 2006) belegt.
Christoph Hönnige
Verfassungswandel durch Annäherung? Der Europäische Gerichtshof, das Bundesverfassungsgericht und das Grundgesetz
Zusammenfassung
Der Europäische Gerichtshof hat mit dem Grundgesetz nichts zu tun. So scheint es jedenfalls zunächst – der EuGH betont in Bezug auf das gesamte mitgliedstaatliche Recht, dass er grundsätzlich lediglich das Europarecht interpretiert und das nationale Recht Sache der mitgliedstaatlichen Gerichtsbarkeit bleibt. Dementsprechend verbleibt das Verfassungsrecht Sache der nationalen Verfassungsgerichte – so jedenfalls eine nahe liegende Folgerung.
Franz C. Mayer
Die Erfindung eines neuen Grundrechts. Zu Konzept und Auswirkungen der „informationellen Selbstbestimmung“
Zusammenfassung
Am 11. Oktober 2008 fand in Berlin unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ die deutsche Zentralkundgebung eines international koordinierten Protesttages „gegen die ausufernde Überwachung durch Wirtschaft und Staat“ statt. An ihr nahmen nach Angaben der Veranstalter rund 50.000, nach Angaben der Polizei unter 20.000 Menschen teil, was die Veranstaltung jedenfalls zur größten Demonstration gegen Überwachung in der Geschichte der Bundesrepublik machte. 117 Organisationen, darunter der DGB, der Deutsche Anwaltsverein, der Deutsche Journalistenverband und die Freie Ärzteschaft e. V. unterstützten den Demonstrationsaufruf, der sich vor allem gegen die geplante Vorratsdatenspeicherung, Online-Untersuchungen von Computern und die Sammlung genetischer Daten wandte und die Wichtigkeit der Privatsphäre betonte. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hätten dieser Äußerung bürgerschaftlichen Unmuts wohl verständnislos gegenübergestanden, waren die Techniken, gegen deren staatliche und private Anwendung hier protestiert wurde, zu ihrer Zeit doch großenteils noch nicht einmal als Utopien denkbar gewesen. Folglich gibt es im Text des Grundgesetzes auch keine expliziten Regelungen hinsichtlich des Schutzes der Privatheit vor Eingriffen durch Informationsverarbeitung – und im Gegensatz zu anderen technischen Neuerungen sind in diesem Bereich auch keine Textergänzungen im Verfassungstext vorgenommen worden.
Andreas Busch, Tobias Jakobi
Das Wechselspiel zwischen Bund und Ländern bei der Verschiebung hochschulpolitischer Kompetenzen
Zusammenfassung
Der Hochschulföderalismus ist in Deutschland fest verankert, stützt sich jedoch wesentlich auf Übereinkommen, Gerichtsurteile und Praktiken außerhalb des expliziten Verfassungstextes. Zwischen dem Wortlaut des Grundgesetzes und der Verfassungsrealität bestanden mal mehr, mal weniger Diskrepanzen. Zwischen 1969 und 2006 war der Hochschulbereich eingebettet in eine enge Verflechtung sowohl auf horizontaler Ebene – der Länder untereinander – als auch auf vertikaler Ebene – zwischen Bund und Ländern. Mit der Föderalismusreform 2006 änderte sich dies prinzipiell. Während auf der vertikalen Ebene eine gewisse Entflechtung stattfand, treffen auf der horizontalen Ebene die Länder nun als verfassungsrechtlich gestärkte Akteure aufeinander und müssen sich ein neues hochschulbezogenes Verständnis der Grundsätze der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und der Bundestreue erarbeiten. Der Ausgang dieses Prozesses ist offen.
Peer Pasternack

Neue Problemstellungen und vorläufige Befunde der erweiterten Analyse des Verfassungswandels in modernen Demokratien

Frontmatter
Verfassungswandel im Kontext. Aspekte einer Theorie des Verfassungswandels
Zusammenfassung
Die Herausgeber wünschten sich zum Ausklang des Bandes über „Verfassungswandel im Mehrebenensystem“ einen Beitrag, der versucht, verschiedene Perspektiven auf das Phänomen des Verfassungswandels zusammenzuführen und einen interdisziplinären Dialog über Verfassungen und ihren Wandel anzustoßen. Bei diesem Versuch scheint der Kontextbegriff hilfreich zu sein, der in verschiedenen Disziplinen Karriere machte (vgl. Markus 1988; v. Hoecke 1988; Giersch 1996) und dessen Anwendung auf die Verfassung wir in Deutschland Peter Häberles Beitrag „Die Verfassung im Kontext“ (2001) verdanken.
Gunnar Folke Schuppert
Legitimation und Integration durch Verfassung in einem Mehrebenensystem
Zusammenfassung
Eine Verfassung, die in einem komplexen Mehrebenensystem wie dem in die Europäische Union integrierten parlamentarischen Bundesstaat der Bundesrepublik Deutschland sowohl die Aufgaben der Integration als auch der Legitimation wahrnehmen soll, wird überfordert. Nachfolgend wird deshalb eine alternative Sicht auf den möglichen Beitrag der Verfassung zu Integration und Legitimation entworfen, die hier als republikanischer Neo-Institutionalismus bezeichnet werden soll. Dabei geht es v. a. darum, zu zeigen, wie Verfassungen als gemeinsamer Speicher von Leit- und Ordnungsideen zum Gegenstand der permanenten Interpretation, Sinnstiftung und Handlungsanleitung ihres eigenen Souveräns werden, weil sie der autoritativen und v. a. solitären Sinnstiftung durch Verfassungsgerichte oder den „Rechtsstab“ im Allgemeinen nicht zwingend bedürfen. Vielmehr stellen sie Arenen bürgerlich-republikanischer Betätigung zur Verfügung, in denen ein diskursiver und durchaus auch kompetitiver Austausch um die konstitutiven Sinngehalte der Verfassung stattfindet. Dies kann man als eine Wiederaneignung der Verfassung durch den Verfassungssouverän verstehen, dessen Verfassungskonsens nicht über eine imaginierte vorstaatliche, weil „politische“ Einheit existenzieller Natur abgeleitet werden braucht, die in einem europäischen Mehrebenensystem ohnehin kaum realistisch ist.
Roland Lhotta, Sabrina Zucca-Soest
Der Wandel des Grundgesetzes aus neo-institutionalistischer Sicht. Resümee und Ausblick
Zusammenfassung
In der deutschen Politikwissenschaft sind zwei neue Trends zu beobachten: Zum einen wächst das Interesse am Verfassungswandel, zum anderen emanzipieren sich verfassungspolitische Analysen zunehmend vom Duktus, der Terminologie und den Argumentationsfiguren der klassischen Staatsrechtslehre, also der spezifischen deutschen Variante der Lehre vom Verfassungsrecht (Möllers 2008).
Sascha Kneip, Astrid Lorenz
Backmatter
Metadaten
Titel
Verfassungswandel im Mehrebenensystem
herausgegeben von
Junior-Prof. Dr. Christoph Hönnige
Dr. Sascha Kneip
Prof. Dr. Astrid Lorenz
Copyright-Jahr
2011
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-94046-5
Print ISBN
978-3-531-15617-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-94046-5