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2014 | Buch

Versicherung und Anreize im deutschen Wohlfahrtsstaat

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Über dieses Buch

​Die Sorge vor der ungewissen Zukunft und der Wunsch nach Sicherheit verbindet alle Menschen eines Landes. Doch eine staatliche Absicherung generiert auch Fehlanreize, sodass die Menschen weniger Wohlstand erwirtschaften und weniger zu verteilen ist. Aufbauend auf einer kurzen Geschichte des deutschen Wohlfahrtstaats findet Charlotte Bartels, dass die Absicherung gegen Einkommenseinbußen ausgeprägter ist als die Reduktion von Einkommensunterschieden. Die Unsicherheit der Arbeitseinkommen nahm während der reformintensiven vergangenen drei Jahrzehnte besonders für Singles und Niedrigverdiener beunruhigend stark zu. Trotz des Rückbaus diverser staatlicher Leistungen garantiert der deutsche Wohlfahrtsstaat seinen Bürgern von 1983 bis 2011 ein nahezu stabiles Einkommensprofil, betrachtet man die Einkommen nach Steuern und Transfers. Das Ziel, Einkommensunterschiede auszugleichen, hat er in den vergangenen drei Jahrzehnten immer weniger erreicht.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Zusammenfassung
Der deutsche Wohlfahrtsstaat heute ist das Ergebnis von über zweihundert Jahren Gesetzgebung und ideologischen Debatten. Stand in den Anfangszeiten des preußischen Allgemeinen Landrechts Ende des 18. Jahrhunderts noch die Versorgung der Armen im Vordergrund, so begann der Staat nach der Gründung des Kaiserreichs Ende des 19. Jahrhunderts erstmals auch als Versicherer aufzutreten. Deutschlands Sozialversicherung, die 1883 unter Kanzler Bismarck begründet wurde, gilt heute international als Vorreiter. Seitdem haben sich besonders in Westeuropa und Nordamerika komplexe Steuer-Transfer-Systeme und diverse Regulierungsformen des Arbeitsmarktes herausgebildet. Der Staat trat nun nicht mehr nur als „Robin Hood“ auf, sondern diente fortan auch als „piggy-bank“ (Barr, 2001). Der Wohlfahrtsstaat bietet den Bürgern eine Versicherung gegen Einkommensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter (piggy-bank). Über Steuern und Abgaben geben reiche Bürger einen Teil ihres Einkommens durch Umverteilung an ärmere Bürger ab (Robin Hood). Aufgrund der hohen Ausgaben für Soziales, Gesundheit und Bildung mit dem Ziel, die Wohlfahrt der Bürger zu steigern, werden diese Staaten als Wohlfahrtsstaaten bezeichnet.
Charlotte Bartels
2. Begriffe
Zusammenfassung
Unter Einkommen wird im allgemeinen Sprachgebrauch der Geldstrom verstanden, der einer Person oder einem Haushalt ohne Rückzahlungsverpflichtung in einer Periode zufließt. Die Stromgröße Einkommen ist von der Bestandsgröße Vermögen abzugrenzen. Das Einkommen gibt Aufschluss darüber, welchen Lebensstandard sich eine Person in einer Periode leisten kann und ist daher zentral für die Wohlstandsmessung.
Charlotte Bartels
3. Versicherungsoptionen gegen Einkommensrisiko
Zusammenfassung
Da die meisten Menschen risikoscheu sind, ziehen sie ein stabiles Konsumniveau vor und sind bereit, eine Risikoprämie bzw. einen Versicherungsbeitrag für die Stabilisierung ihres Einkommensprofils zu zahlen. Wer könnte nun diese gewünschte Versicherung anbieten? Da das Arbeitseinkommen die wichtigste Einkommensquelle für die meisten Haushalte ist, handelt es sich dabei hauptsächlich um Versicherung gegen Arbeitseinkommensrisiken, wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter. Aber die asymmetrische Information zwischen Individuum und Versicherer macht die Versicherung des Arbeitseinkommens problematisch: Der Versicherer kann üblicherweise die Schadenswahrscheinlichkeit der Versicherung nachfragenden Individuen bzw. ihren Zustand und ihre Anstrengung nicht beobachten. Daraus ergeben sich die beiden Probleme der adversen Selektion und des moralischen Risikos. Dies führt dazu, dass – entgegen der von Arrow und Debreu beschriebenen Modellwelt – von einem unvollständigen Markt ausgegangen werden muss und der Markt nicht mehr zu dem bestmöglichen Ergebnis (First Best) führt (3.1).
Charlotte Bartels
4. Expansion des Wohlfahrtsstaats – von Bismarck zum Golden Age
Zusammenfassung
Schon die großen Kulturkreise des Altertums der Ägypter, Babylonier, Griechen und Römer schufen über die Familie hinausgehende versicherungsähnliche Einrichtungen um sich gegen Unglück in der Zukunft abzusichern (Schmitt-Lermann, 1954:4). In Europa kamen im Mittelalter zu den Schutz bietenden bäuerlichen Gemeinschaften auf dem Land städtische Berufskörperschaften wie Gilden, Zünfte und Genossenschaften hinzu, die ihre Mitglieder zu gegenseitiger Unterstützung der Kranken, Arbeitsunfähigen, Witwen und Waisen verpflichteten (Castel, 2005:13). Die ersten Knappschaftsversicherungen, die als Vorläufer der deutschen Rentenversicherung gesehen werden, entstanden im 13. Jahrhundert in den neu erschlossenen Bergrevieren. Eine kollektive Pflichtversicherung unter dem Dach eines Zentralstaats wurde jedoch erst im deutschen Kaiserreich durch Reichskanzler Bismarck errichtet. Da die Bismarck’sche Sozialversicherung wesentlich auf den in Städten und Gemeinden bestehenden Versicherungseinrichtungen aufbaute oder diese schlicht einer zentralen Verwaltung unterstellte, werden zunächst die Versicherungseinrichtungen beschrieben, die sich im 18. Jahrhundert vor allem in Preußen entwickelten.
Charlotte Bartels
5. Wohlfahrtsstaat in der Krise: Strukturwandel
Zusammenfassung
Infolge der Massenarbeitslosigkeit und der Schuldenkrise öffentlicher Haushalte setzte sich ab den 1980er Jahren mehr und mehr die Einsicht durch, dass die „europäischen Wohlfahrtsstaaten strukturellen ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen ausgesetzt waren, die die Grundstruktur der sozialstaatlichen Nachkriegsordnung insgesamt in Frage stellten“ (Schommer, 2008:19f.). Globalisierung (5.1), Europäisierung (5.4) und Zuwanderung (5.3) rückten positive wie negative Entwicklungen anderer Länder näher, deren Konsequenzen die nationalen Regierungen nur noch teilweise kontrollieren und abfedern konnten. Gewerkschaften litten unter Macht- und Mitgliederschwund angesichts des Drohpotentials der Arbeitgeber, Produktionsprozesse ins Ausland zu verlagern (5.7). Türöffner für die wachsende internationale Verflechtung waren Technischer Fortschritt (5.2) und letztendlich die Regierungen selber.
Charlotte Bartels
6. Wohlfahrtsstaat in der Krise: Reformen
Zusammenfassung
Ende der 1970er überschritten die Arbeitslosenzahlen die Höchstwerte der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Zahl der Kinder und damit die Zahl potentieller Beitragszahler ging zurück, während gleichzeitig die Lebenserwartung der Rentner stieg. Die Erfolglosigkeit wirtschaftspolitischer Konzepte und wachsende Finanzierungsprobleme der Sozialversicherungshaushalte ließen die alte Kontroverse Markt versus Staat wieder zu einem zentralen Problemfeld sozialwissenschaftlicher und politischer Debatten werden. Forderungen nach Deregulierung des Arbeitsmarktes, Kürzung der Sozialleistungen, Verschärfung der Bedürftigkeitsprüfungen und Verminderung der Steuer- und Abgabenlast wurden laut. Nach der politischen „Wende“ im Herbst 1982 wurden derartige Konzepte nicht mehr nur als Möglichkeit diskutiert, sondern vielmehr in praktische Politik umgesetzt (Frerich/Frey, 1993b:159).
Charlotte Bartels
7. Versicherung und Umverteilung
Zusammenfassung
Im Folgenden wird nun untersucht, welche versichernde oder umverteilende Funktion die in Kapitel 6 erläuterten Steuern und Transfers des deutschen Wohlfahrtsstaats haben. Monetäre Transfers wie Sozialhilfe und Wohngeld zielen eindeutig darauf ab, umzuverteilen und die Ungleichheit zwischen Individuen zu reduzieren. Im Gegensatz dazu folgen Transfers wie Krankengeld, ALG und Sozialversicherungsrenten eher Motiven der intertemporalen Umverteilung innerhalb des Lebens eines Individuums (Pettersson und Pettersson, 2007) und stellen daher eine Versicherung gegen Einkommensrisiken dar. Die Umverteilung zwischen Personen wird in diesem Kapitel als inter-individuelle Umverteilung bezeichnet und die individuelle Versicherung als intra-individuelle Umverteilung.
Charlotte Bartels
8. Einkommensrisiko und Versicherung
Zusammenfassung
Strukturwandel (Kapitel 5) und Reformen (Kapitel 6) haben die Fragen aufgeworfen, ob das Einkommensrisiko in Deutschland seit den 1980ern gestiegen ist und ob sich der Staat möglicherweise von seiner Aufgabe als Versicherer zurückgezogen hat. Möglicherweise hat sich der in Kapitel 7 dokumentierte Fokus des Wohlfahrtsstaats auf Versicherung gegenüber der Umverteilung über die Zeit verschoben. In dieser Untersuchung werden daher Einkommensvolatilität als Indiz für zugrundeliegende Einkommensrisiken (siehe Abschnitt 2.2), sowie wohlfahrtsstaatliche Versicherung und Umverteilung quantifiziert. Dabei werden Ergebnisse für Deutschland und Großbritannien verglichen.
Charlotte Bartels
9. Versicherung und Arbeitsanreize
Zusammenfassung
Wie zuvor erwähnt, zielten ein Großteil der Reformen der wohlfahrtsstaatlichen Versicherung auf die Verbesserung der Arbeitsanreize ab und damit auf die Verminderung der Effizienzkosten. Die Transfers an die Armen können Geringverdiener dazu verleiten, Arbeitsunfähigkeit vorzutäuschen und gar nicht zu arbeiten. Progressive Steuern könnten Mittel- und Hochverdiener dazu bringen, weniger zu arbeiten. Die Effizienzkosten eines Steuer-Transfer-Systems hängen u.a. davon ab, wie stark die Individuen auf Steuern und Transfers reagieren und wie viel Einkommen ihnen nach Steuern und Transfers bleibt, wenn sie ihr individuelles Arbeitsangebot ändern (Immervoll et al., 2007).
Charlotte Bartels
10. Fazit
Zusammenfassung
Im ersten Teil dieser Arbeit bestehend aus Kapitel 2 und 3 wurde Einkommensrisiko und Versicherung definiert, um angesichts der vielfältigen sozialwissenschaftlichen Definitionen einen einheitlichen Bezugsrahmen zu schaffen. Einkommensrisiko wurde als Auf- und Abbewegung des Einkommens zwischen zwei oder mehr Zeitpunkten definiert und Determinanten des Einkommensrisikos, wie Globalisierung, Arbeitsmarktregulierung, Alter, Geschlecht und Haushaltszusammensetzung, herausgearbeitet. Darauffolgend wurde theoretisch begründet, dass risikoaverse Individuen eine Versicherung gegen Einkommensrisiko nachfragen werden und die Stabilisierung der Auf- und Abbewegungen des Einkommens wurde dabei als Versicherung definiert. Da die Individuen einen Informationsvorteil gegenüber möglichen Versicherern haben, kann der Markt kein optimales Ergebnis erzielen.
Charlotte Bartels
Backmatter
Metadaten
Titel
Versicherung und Anreize im deutschen Wohlfahrtsstaat
verfasst von
Charlotte Bartels
Copyright-Jahr
2014
Electronic ISBN
978-3-658-05715-2
Print ISBN
978-3-658-05714-5
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-05715-2

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