Ich werde im Folgenden versuchen, der Frage nachzugehen, wie sinnliche (aisthetische und ästhetische) Begegnungen mit Architektur verstanden werden können und wie eine empirische Architekturtheorie von Erlebnissen mit Architektur und Gebautem überhaupt wissen kann. Dabei wird allerdings auch zu beachten sein, wie Vergegenwärtigungen (also z. B. von Erlebnissen, Atmosphären) zu bestimmten Darstellungen (z. B. als Erzählung, Brief) kommen bzw. sich überhaupt als bedeutsam (sprachlich) ausdrücken lassen. Anschließend soll danach gefragt werden, welche Anhaltspunkte in den Villenbriefen des Plinius uns Anlass geben könnten, bei ihm von räumlichen Erlebnissen zu sprechen.
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Überhaupt hat man den Eindruck, dass die Architekturkritik davon ausgeht, Atmosphären ließen sich in ästhetischer Haltung betrachtend erschließen. Treffend bezeichnet Ludwig Binswanger (1932, S. 598–647 bzw. 1955, S. 174–225) Stimmungen als „Wesensverhältnisse“ und denkt dabei an das Verhältnis von Ich-Gestimmtheit und Welträumlichkeit. Auf Binswanger geht wohl auch der Ausdruck „gestimmter Raum“ zurück, der für ihn „der Raum ist, in dem sich das menschliche Dasein als ein gestimmtes aufhält, einfacher ausgedrückt, insofern er der Raum unserer jeweiligen Stimmung oder Ge/stimmtheit ist.“ (1955, S. 205 f.) Binswanger spricht sich entschieden gegen eine Bedingtheit oder „Induzierung“ von Raumqualitäten durch das erlebende Individuum bzw. gegen die „Induzierung“ des Erlebens durch die Raumqualität aus. Der Mensch hat weder Welt noch Raum gegenüber. Als dieses erlebende Individuum ist er immer schon in der Welt und im Raum: „Wenn wir uns klarmachen, daß die Individualität ist und nur sein kann, was die Welt ‚als die ihre‘ ist, so müssen wir einsehen (…), daß jene empirische ‚Induktion‘ nur möglich ist auf Grund eines ‚vorgegebenen‘ Wesensverhältnisses von Raum-Erleben und erlebtem Raum, wonach nicht der Raum das Erleben induziert, noch das Erleben den Raum, vielmehr beide, Erlebensform undRaumgestalt, nur die beiden Pole einer notisch-noëmatischen Einheit darstellen.“ (1955, S. 206 f.).
Interessanterweise verweist Hans Lipps (2011, S. 280) im Zusammenhang mit „Erlebnis“ auf ein Wissen und ein Sprechen, das nur dem „Zeugen“ zukommt. Vom Erlebnis wissen und sprechen kann nur der, der dabei gewesen ist, dem also das Erlebnis widerfahren ist. „Erlebnissen gegenüber versagt aber solche Sprache [wie sachliche Schilderungen, Beurteilungen, Erkenntnisse, A. H.]. Erlebnisse kann ich nur als ‚Geschichte‘ erzählen.“
„Das Dasein hat selbst ein eigenes ‚Im-Raum-sein‘, das aber seinerseits nur möglich ist auf dem Grunde des In-der-Welt-seins überhaupt. Das In-Sein kann daher ontologisch auch nicht durch eine ontische Charakteristik verdeutlicht werden, daß man etwa sagt: das In-Sein in einer Welt ist eine geistige Eigenschaft, und die ‚Räumlichkeit‘ des Menschen ist eine Beschaffenheit seiner Leiblichkeit, die immer zugleich durch Körperlichkeit ‚fundiert‘ wird. Damit steht man wieder bei einem Zusammen-vorhanden-sein eines so beschaffenen Geistdinges mit einem Körperding, und das Sein des so zusammengesetzten Seienden als solches bleibt erst recht dunkel. Das Verständnis des In-der-Welt-seins als Wesensstruktur des Daseins ermöglicht erst die Einsicht in die existenziale Räumlichkeit des Daseins.“ (Martin Heidegger 1984, S. 56), (kursiv im O.).
Vgl. auch die Rede von der „Quasi-Objektivität von Atmosphären“ bei Gernot Böhme (1985, S. 202, 203). Er verweist auf den Landschaftsgärtner von Hirschfeld, der „ziemlich klar verschiedene Elemente an(gibt), durch deren Zusammenspiel offenbar die sanftmelancholische Atmosphäre zustande kommt“ und zählt dann entsprechende schon bei Hirschfeld beschriebene landschaftliche Elemente auf, durch die „Atmosphären (…) erzeugt werden“.
Das passende Wort vergegenwärtigt die Wirklichkeit der Dinge, insofern ich mit dabei, d. h. unmittelbar mit den Dingen bin. Der Mensch ist Zeuge der Wirklichkeit der Dinge. Vergegenwärtigungen sind nachträgliche Zeugnisse des Selbst-Erlebten.
Vom Architekten als ästhetischem Arbeiter („Macher“) spricht Böhme (1995, S. 35, Hervorhebungen im Original): „Die ästhetische Arbeit besteht darin, Dingen, Umgebungen oder auch dem Menschen selbst solche Eigenschaften zu geben, die von ihnen etwas ausgehen lassen. D. h. es geht darum, durch Arbeit am Gegenstand Atmosphären zu machen.“
Josef König (1937, S. 28) bezieht sich auf eine Überzeugung, wenn er sagt, dass Sein so viel bedeute wie Wirken. Das Sein sei in seinem Wesen und Grund ein Wirken. „Und darin erst wurzelt dann der deutsche Gebrauch des Wortes Wirklichkeit“. Weiter führt er aus: „Wir subsumieren nicht eine besondere Art des Wirkens – und das so-Wirken der Träger der modifizierenden Prädikate ist allerdings auch so etwas wie eine besondere Art – einer generellen, metaphysischen Überzeugung: vielmehr entdecken wir in dieser zwar besonderen aber ausnehmend besonderen Art den Ursprung der generellen Überzeugung, das Sein Wirken bedeutet. Denn wenn auch das menschliche Handeln zweifelsohne ein Wirken ist und gewiß ein Wirken von sozusagen anderer Art als das so-Wirken der Träger der modifizierenden Prädikate, so ist es doch ein Handeln nur als ein so oder so qualifizierbares Handeln, also z. B. nur als ein tapfer oder feige handeln. Alle solche Qualifizierbarkeit des Handelns geht aber zuletzt zurück auf den Eindruck-von.“ (a. a. O., S. 29).
„Nur als z. B. ein einen aktuellen Eindruck-von-Leere hervorbringendes Zimmer ist ein leer wirkendes Zimmer ein leer-wirkendes Zimmer.“ (König 1969, S. 36).
„Daß ein vorhanden-Wirkendes vorhanden ist, ist weder mehr noch minder gewiß und sinnlich gewiß, wie z. B. daß dieses Zimmer leer (öde) ist. Der Himmel über mir, der vorhanden wirkt, ist vorhanden, obgleich er z. B. nicht zu Solchem gehört, von dessen Vorhandensein wir uns durch Tasten überzeugen können. Daß wir ihn sehen, ist freilich die Vorbedingung seines Vorhanden-wirkens […]. Aber das besagt nicht, daß wir uns durch das Sehen und überhaupt durch das Empfinden seiner als eines solchen vergewisserten […]. Ob der Kamm in der Schublade oder Karl beim Appell ist, dessen vergewissern wir uns mit Hilfe der sinnlichen Anschauung. […] Aber entweder überhaupt nicht oder nur in einem radikal anderen Sinne ist es möglich, zu sagen, daß 'laut Zeugnisses der Sinne' ein vorhanden-Wirkendes vorhanden und überhaupt ein so-Wirkendes modifizierend so-beschaffen ist.“ (König 1969, S. 181).
Dieses ist als ein Ausdrückbares „und als solches das Maß oder die Norm der entsprechenden Reden; und generell gilt, daß Reden ein solches Maß besitzen, mit dem gemessen sie entweder angemessen sind und stimmen oder nicht.“ (König 1969, S. 195).
Etwas Ähnliches formuliert König (1967, S. 228) auch Jahre später, als er einen Nachruf auf Georg Misch hält. Darin heißt es: „Daß die Vergegenständlichung der Erlebnisse diese zugleich gewissermaßen hervorbringt, stimmt damit überein, daß das Wissen von den Erlebnissen mit ihnen selber unmittelbar eins ist; denn nach dieser Auffassung entspringt das Wissen von den Erlebnissen im Vollzug jenes Grund-/aktes der rückwendig-produktiven Vergegenständlichung; infolgedessen ist es doch wohl sogar logisch unmöglich, daß das Wissen von den Erlebnissen zu diesen erst noch hinzukommt.“
„Die modifizierende Rede (…) vergegenwärtigt das, auf welches auch sie freilich sich bezieht, ursprünglich, d. h. nur kraft ihrer steht ihr Gemeintes überhaupt vor uns. Sie ist eine Art Metapher, insofern sie etwas verbildlicht; und sie ist zugleich ein eigentlicher Ausdruck, insofern wir hier nur kraft dieser Verbildlichung ein Bewußtsein von der verbildlichten Sache besitzen“. (König 1967, S. 204).
König (1967, S. 231) spricht davon, „daß der Erlebnisausdruck dieses Wissen vom Erwirken reflektiert oder spiegelt“. Weiter heißt es: „Erlebnisse (gibt) es nur in der Gestalt von Zurückgespiegeltem“.
Siehe in diesem Sinne auch Hans Lipps: „Daß die Dinge auf mich ‚wirken‘ heißt aber nicht, daß sie an mir einen Eindruck hinterlassen, wie sich der Siegelring z. B. im Wachs abdrückt.“ (Lipps 1977a, S. 88).
Vorauszuschicken ist, dass ich mich bis dato kaum mit Plinius beschäftigt habe und erst durch die Tagung in Bamberg und den vorliegenden Sammelband damit begonnen habe. Deshalb bitte ich die wirklichen und wahren Kenner der Materie, meine gelegentlich sicher laienhaften Aussagen zu entschuldigen.
Gabriel (1998, S. 36) schreibt dazu: „In Erinnerung an Aristoteles‘ Unterscheidung zwischen semantischem und apophantischem Logos besteht Misch auf dem umfassenden Verständnis des Logos als bedeutungserfüllter Rede, die nicht auf die apophantische Rede reduziert werden dürfe. Der Grund ist, daß Misch vom Standpunkt der Lebensphilosophie aus eine Berücksichtigung der nicht-propositionalen Lebensäußerungen gesichert wissen will.“.
Der Sprachphilosophie ist der Unterschied zwischen „von einer Tatsache wissen“ und „um ein Erlebnis wissen“ durchaus bekannt. Denn Letzterem ist der Wunsch eigen, „Erlebtes im Wort wiedererstehen zu lassen, der Drang nach Gestaltung und Darstellung des Erlebten, der seine höchste Erfüllung in der dichterischen Gestaltung findet“. (Ammann 1928, S. 29).
Charlotte Kempf (2010) spricht unter Bezug auf Lefèvre, von den „sog. Villenbriefe(n), in denen die Lebenswelt einer röm.-ant. Villa deutlich wird“. Den Begriff der Lebenswelt, im Sinne einer „natürlichen Einstellung“ (Husserl), können wir allerdings schlecht auf eine Villa beziehen. Gemeint ist sicher die Lebenswelt des Plinius und seiner Freunde.