Nachfolgend widmet sich dieser Beitrag den theoretischen Hintergründen, die wichtig sind, um die verschiedenen Perspektiven, die verglichen werden, nachvollziehen zu können. Dazu wird in einem ersten Schritt der Begriff des digitalen Nudgings aufgegriffen. Darauf aufbauend wird eine soziotechnische, ethische und rechtliche Sichtweise auf die Gestaltung von Privacy Nudges erläutert.
2.1 Das Konzept des digitalen Nudgings
Die Gestaltung von digitalen Nudges verfolgt das Ziel, Individuen zu ihrem Vorteil in eine bestimmte Richtung zu „stupsen“ und zwar durch den Einsatz von Elementen, wie beispielsweise dem farblichen Hervorheben von datenschutzfreundlichen Optionen (sog. Framing). Nudges können dabei nicht nur offline (wie durch den Einsatz einer Lebensmittelampel) sondern auch online (in Form derartiger farblicher Hervorhebungen, Voreinstellungen oder anderer Designelemente) verwendet werden. Nudges kommen vor allem dann zum Einsatz, wenn viele Entscheidungsalternativen verfügbar sind oder eine Entscheidung sehr komplex ist [
11]. Digitale Nudges sind speziell für das Web entwickelt worden. Weinmann et al. [
4] definieren digitale Nudges als Anwendung von Elementen für Benutzeroberflächen, um Wahlmöglichkeiten von Nutzenden in digitalen Umgebungen zu unterstützen [
4]. Meske und Potthoff [
12] erweitern diese Definition um die Aspekte der freien Entscheidung sowie der Nutzung von Informations- und Interaktionselementen. Interaktionselemente oder allgemein und fortan Nudge Elemente genannt, können unterschiedlich ausgeprägt sein (siehe Tab.
1).
Voreinstellung | Standardeinstellungen, welche meist als voreingestellte Optionen bevorzugt und nur selten verändert werden | |
Farbliche Elemente | Farbelemente können als Framing-Nudge verwendet werden, wobei farbliche Hinterlegungen die Aufmerksamkeit auf ausgewählte Elemente lenken | |
Information | Informiert Nutzende darüber, was für Konsequenzen die Weitergabe von Daten haben kann | |
Rückmeldung | Die Bereitstellung von Rückmeldungen als Privacy Nudge weist ein Individuum auf sein bisheriges Nutzungsverhalten hin | |
Zeitverzögerung | Dem Nutzenden wird ein Zeitfenster eingeräumt, in dem er seine Entscheidung überdenken kann | |
Soziale Normen | Auf diesem Prinzip der sozialen Normen basiert die Wirkung von sogenannten sozialen Nudges die zeigen, wie andere sich verhalten haben oder würden | |
Oftmals treffen Individuen, die in einer online Umgebung agieren, Entscheidungen unter Stress und Zeitdruck. Da Individuen in online Umgebungen zahlreiche Informationen gleichzeitig verarbeiten müssen [
9], geben sie oft private Daten preis, die sie unter anderen Umständen nicht zwangsläufig weitergegeben hätten. Diesbezüglich können digitale Nudges einerseits Modifizierungen hinsichtlich des präsentierten Inhalts vornehmen. Andererseits können sie die Art und Weise der Visualisierung modifizieren bspw. das Ändern des Designs einer Benutzeroberfläche [
13]. Digitale Nudges können Individuen unterstützen, indem sie ihnen relevante Informationen in kurzer Zeit übersichtlich darstellen und diese vor der Preisgabe von privaten Daten schützen.
Digitale Nudges sind in Entscheidungsarchitekturen integriert und werden immer dann relevant, wenn Individuen Entscheidungen treffen müssen. Entscheidungen werden dabei häufig nicht auf Basis von rationalen Überlegungen getroffen, sondern auf Basis von Heuristiken, welche den Entscheidungsprozess systematisieren [
14]. Ein Erklärungsansatz dafür ist die Duale Prozesstheorie von Kahnemann, die besagt, dass Individuen zwei Denksysteme benutzen. System 1 repräsentiert unsere Intuition oder unseren unbewussten „Autopiloten“. System 2 hingegen drückt sich durch unsere bewusste Planung und Kontrolle aus. Beide Systeme sind gleichzeitig aktiv und arbeiten in der Regel reibungslos zusammen. Zwei Systeme sind notwendig, um die Informationsfülle in der heutigen (digitalen) Welt besser einschätzen und gezielte Entscheidungen treffen zu können [
15]. Im Alltag hat der Einzelne jedoch selten genug Zeit und Informationen, um alle Alternativen vollständig zu bewerten. Aus der Anwendung von Heuristiken können daher Biases, sogenannte Verzerrungen der Entscheidung, resultieren. Nudges wiederum bauen auf vertraute Verhaltensmuster der Individuen, welche durch Heuristiken und Biases entstehen, auf. Diesen Aspekten folgend, wird nachfolgend zum Konzept des digitalen Nudgings aus drei Sichtweisen Bezug genommen.
2.2 Die ethische Sichtweise
Typischerweise werden Nudges als eine Art paternalistischer Akt verstanden. Paternalistische Handlungen sind Eingriffe, die darauf abzielen, die Interessen, die Werte oder das Wohlergehen einer bestimmten Person zu fördern, dabei jedoch zugleich ihre Autonomie verletzen [
16].
Solche paternalistischen Handlungen treten in vielen Bereichen des persönlichen und öffentlichen Lebens auf: Eine Regierung kann beschließen, eine Zuckersteuer einzuführen, um Fettleibigkeit unter den Bürgern entgegenzuwirken, ein Arzt beschließt, die Wahrheit über den Gesundheitszustand eines Patienten zurückzuhalten, oder Eltern verlangen von ihren Kindern, ihre Hausaufgaben zu erledigen, bevor sie fernsehen dürfen. Selbst wenn diese paternalistischen Handlungen im Interesse von Nutzenden durchgeführt werden, bleiben Bedenken hinsichtlich ihrer moralischen Legitimität bestehen. In erster Linie verletzen sie die Entscheidungsfreiheit einer Person. Selbst wenn es einer Person beispielsweise besser gehen könnte, wenn sie gesündere Lebensmittel isst, besteht die Gefahr, dass sie dies nicht aus freien Stücken tut, sondern gerade durch den Akt der gesunden Ernährung ihre eigene rationale Entscheidungsfreiheit missachtet. Geht man nicht davon aus, dass paternalistische Handlungen niemals zulässig sein können, so benötigen sie jedenfalls eine starke moralische Rechtfertigung.
Aus Sicht der politischen Entscheidungsträger besteht der besondere Reiz von Nudges darin, dass sie zwar als eine Art paternalistischer Akt angesehen werden können, der aber gleichzeitig die Wahlfreiheit einer Person nicht verletzt [
7]. Die Grundidee des Nudgings ist es, die Umgebung zu manipulieren, um es einer Person zu erleichtern, das zu tun, was für sie von Vorteil ist. Wie wir bereits im vorherigen Abschnitt diskutiert haben, wurde die Nudge-Theorie von Studien in der Verhaltensökonomie inspiriert und setzt die Duale Prozesstheorie Kahnemanns voraus [
15].
Ein paradigmatischer Fall von Nudging ist das Beispiel einer Cafeteria, in der die Reihenfolge der Lebensmittel so angeordnet wird, dass Menschen wahrscheinlich eher gesunde statt ungesunde Lebensmitteloptionen wählen. Alternativ kann man auch kleinere Teller in der Cafeteria verwenden, was die Menge der konsumierten Lebensmittel reduziert. Die Quintessenz ist jedoch, dass Personen, die es vorziehen, ungesunde Lebensmittel zu essen, dies immer noch tun können, auch wenn sie einige zusätzliche Anstrengungen unternehmen müssen (d. h. in diesem Beispiel möglicherweise einige zusätzliche Schritte gehen). Übertragen auf den Bereich des Privacy Nudgings könnte sich ein Nudge Designer etwa den Umstand zunutze machen, dass Menschen dazu neigen, kognitive Anstrengungen zu vermeiden, weshalb sie nur selten die Standardeinstellungen in einem Softwareprodukt ändern [
17]. Dies ist selbst dann der Fall, wenn nur ein paar Klicks erforderlich sind und auch wenn eine Anpassung den Schutz ihrer Privatsphäre signifikant verbessern würde. Die gezielte Gestaltung der digitalen Entscheidungsarchitektur hat somit erheblichen Einfluss auf die Gewährleistung ihrer Privatsphäre.
Auch wenn Nudges theoretisch dem Nudgee (die Person unter Einfluss des Nudges) seine Entscheidungsfreiheit lassen, bleibt unklar, wo die Grenze zwischen Nudges zu ziehen ist, die die Autonomie einer Person ausreichend respektieren und denjenigen, die übermäßig manipulativ wirken. Dieses Problem wird besonders deutlich bei digitalen Technologien. Während wir die Debatte über den Konflikt zwischen Nudges und Autonomie in ihrer Gesamtheit schwer in diesem Text klären können, muss zumindest der Begriff der Manipulation genauer betrachtet werden [
18,
19].
Wenn man etwa nur solche Handlungen als manipulativ behandelt, die die rationalen Fähigkeiten einer Person vollständig umgehen oder untergraben, so führt dies zu einem allzu engmaschigen Konzept. Dies zeigt schon das Beispiel von Fake News, die rational überzeugend wirken sollen, gleichzeitig aber eine Person in die Irre führen. Fake News sind aber ohne Zweifel moralisch problematisch, da sie Personen dazu verleiten, sich fehlerhaftes Wissen anzueignen. Darüber hinaus sind einige Fälle nicht-rationaler Überredung (z. B. abschreckende Bilder auf Zigarettenpackungen) in der Regel entweder nicht als manipulativ erdacht oder werden zwar als manipulativ wahrgenommen, aber für moralisch zulässig befunden. Der Grund hierfür ist, dass es dem Wohle der Person dient (es senkt z. B. ihr Krebsrisiko). Aus diesem Grund gehen wir davon aus, dass das Hauptkriterium für die Bewertung der manipulativen Eigenschaften von Nudges nicht darin bestehen sollte, durch welche kognitiven Mechanismen sie herbeigeführt wurden, sondern ob die manipulative Handlung einem Nudgee schadet, z. B. indem man ihn zwingt, einen ausbeuterischen Vertrag einzugehen [
20].
In der ethischen Debatte werden Nudges in aller Regel als Mittel zur Verbesserung der öffentlichen Ordnung und damit als staatliches Instrument diskutiert. Dies führt zu der Frage, ob sich die Bewertung ändert, wenn stattdessen ein Unternehmen seine Kunden oder Mitarbeiter nudged (wobei Nudging hier in einem dezidiert paternalistischen Sinne verstanden wird). Wenn überhaupt, haben Regierungen oder staatliche Institutionen das Recht sich in das Leben der Bürger einzumischen und zu nudgen, da staatliche Institutionen besondere rechtliche und ethische Verpflichtungen gegenüber ihren Bürgern haben. Unternehmen haben zwar Verpflichtungen gegenüber Kunden (z. B. im Bereich der Produktsicherheit oder des Verbraucherschutzrechts) und ihren Mitarbeitern (z. B. Arbeitssicherheit). Dennoch sind sie vor allem daran interessiert, Profit zu machen. Auch wenn ein Nudge mit den besten Absichten entworfen wird, sind die Beweggründe dahinter gemischt – der Nudge ist womöglich Teil des Geschäftsmodells. Angesichts des jüngsten Aufschwungs von Unternehmen, die einen nachhaltigeren Lebensstil bei ihren Kunden fördern wollen, dürfte die Ethik in Zukunft zunehmend im Rahmen von Nudging oder Unternehmenspaternalismus Beachtung finden.
2.3 Die rechtliche Sichtweise
Um die für das digitale Nudging relevanten rechtlichen Fragestellungen zu klären, schlägt Gerg eine zusätzliche rechtliche Definition des Begriffs Nudging vor [
21]. Er kommt zu dem Schluss, dass Nudging ohne wirtschaftliche Begriffe als gezielte, möglicherweise sogar unbewusste Willensmanipulation beschrieben werden kann. Das Gesetz verknüpft in der Regel positive oder negative rechtliche Konsequenzen mit einem bestimmten Verhalten. Die Personen können dann entscheiden, ob sie sich an die gesetzlichen Vorgaben halten oder nicht. Nudging beginnt jedoch früher und beeinflusst bereits den Willen eines Nutzenden selbst. Die Entscheidungen der Nutzenden werden daher in einer Weise beeinflusst, die dem Gesetz nicht bekannt ist [
21]. Diese Definition verkennt jedoch, dass Verbote und Gebote im Recht durchaus selbst Instrumente zur Verhaltenssteuerung sind [
22]. Außerdem gibt es gesetzliche Normen, welche Nudging durch Private anordnen (z. B. Art. 25 Abs. 2 DSGVO). Daher ist weniger eine juristische Definition, sondern eher eine juristische Betrachtung der Sachverhalte notwendig, die nach der verhaltensökonomischen Definition als Nudging eingeordnet werden.
Nicht nur aus ethischer, sondern auch aus rechtlicher Sicht besteht eines der größten Probleme von Nudges darin, dass sie (libertär) paternalistisch sind. Staatliche Bevormundung ist in der Regel unzulässig, weil sie gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt [
21]. Kant bezeichnete eine „väterliche Regierung (imperium paternale)“ sogar als den "größten denkbaren Despotismus" [
23]. Der Begriff des Staatspaternalismus und vor allem seine Kritik ist ein klassisches Thema der Rechtswissenschaft. In jüngerer Zeit spiegelte sich das Problem der Bevormundung zunächst in der Frage der rechtlichen Zulässigkeit des „Schutzes der Menschen vor sich selbst“ wider, die in den 1990er Jahren besonders intensiv diskutiert wurde [
24]. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass paternalistische Handlungen nur legitimiert werden können, wenn neben den Interessen der Betroffenen auch die Interessen der Allgemeinheit oder Dritter beeinträchtigt werden (z. B. [
25,
26]. Auch deutsche Gerichte lehnen Einschränkungen der Freiheit verantwortlicher Erwachsener regelmäßig ab, es sei denn, die Allgemeinheit oder Dritte sind ebenfalls negativ betroffen [
27]. Das Bundesverfassungsgericht betont: „Der Staat hat […] nicht die Aufgabe, seine Bürger zu 'bessern' und deshalb auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu 'bessern', ohne dass sie sich selbst oder andere gefährdeten, wenn sie in Freiheit blieben“ [
21,
28].
Doch Nudging ist nicht das Gleiche wie Paternalismus [
21]. Der libertäre Aspekt, der von Thaler und Sunstein gefordert wird, besteht auf die Wahrung oder sogar Verbesserung der Wahlfreiheit des Individuums [
7]. Inspiriert durch das Konzept von Thaler und Sunstein wird Paternalismus, insbesondere in Form libertärer Bevormundung, in der deutschen Rechtswissenschaft immer mehr diskutiert [
29,
30]. Dabei scheint Juristen der Umgang mit dieser Mischform und ihre Bewertung schwerer zu fallen als Ethikern oder Vertretern anderer Disziplinen. Denn Juristen wollen einen Nudge in der Regel als paternalistisch oder libertär einordnen, um ihn besser beurteilen zu können [
21].
Auch aus rechtlicher Sicht kann Nudging durch Private (z. B. Arbeitgeber oder Dienstleister) besondere Fragen aufwerfen. Zwar ist nur der Staat unmittelbar an Grundrechte gebunden [
31]. Diese wirken sich aber auf das Verhältnis zwischen Privatpersonen aus, da alle Gesetze verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen müssen und insbesondere Generalklauseln Einbruchstellen für den Rechtsgehalt der Grundrechte sind (mittelbare Drittwirkung; grundlegend [
32]).
Sofern Private in digitalen Umgebungen nudgen, müssen sie einerseits datenschutzrechtliche Vorgaben eingehalten, andererseits könnten durch Nudges auch datenschutzrechtliche Vorgaben umgesetzt werden (s. a. [
27]). Der Rechtsrahmen für digitales Nudging besteht im Wesentlichen aus den in Art. 5 DSGVO kodifizierten Grundsätzen für die Verarbeitung (insb. Grundsatz der Transparenz in Art. 5 Abs. 1 lit. a DSGVO, welcher in den Normen zu den Rechten der betroffenen Personen in Art. 12 ff. DSGVO weiter konkretisiert wird) und den Anforderungen an den Datenschutz durch Technikgestaltung und Voreinstellungen gemäß Art. 25 DSGVO. Sobald es um maßgeschneiderte Nudges geht, müssen auch die Beschränkungen für die automatisierte Entscheidung im Einzelfall (Art. 22 DSGVO i.V.m. der Legaldefinition in Art. 4 Nr. 4 DSGVO) berücksichtigt werden. Die Datenschutzgrundsätze enthalten jedoch eine Reihe undefinierter Rechtsbegriffe und legen daher nur allgemeine Leitlinien fest, die dann in den weiteren Vorschriften der DSGVO konkretisiert werden [
33].
Art. 25 Abs. 2 Satz 1 DSGVO besagt, dass der Verantwortliche geeignete technische und organisatorische Maßnahmen treffen muss, um sicherzustellen, dass durch Voreinstellungen grundsätzlich nur personenbezogene Daten verarbeitet werden, deren Verarbeitung für den jeweiligen bestimmten Verarbeitungszweck erforderlich sind. Daher können Nudges in Form von Voreinstellungen, die den Datenschutz fördern sollen, als Maßnahmen gemäß Art. 25 Abs. 2 DSGVO verstanden werden [
24]. Verstöße können mit hohen Geldstrafen nach Art. 83 Abs. 4 DSGVO geahndet werden.
Andere Ausgestaltungsarten von Nudges (z. B. Framing, soziale Normen, Zeitverzögerung oder Feedback), die den Datenschutz oder die Privatsphäre fördern, können als Maßnahmen gemäß Art. 25 Abs. 1 DSGVO angesehen werden. Dieser verpflichtet den Verantwortlichen, geeignete technische und organisatorische Maßnahmen zu ergreifen, die auf die wirksame Umsetzung der Datenschutzgrundsätze ausgelegt sind. Privacy Nudges können einen wichtigen Beitrag zur Festlegung und Umsetzung der abstrakten Anforderungen des Art. 25 DSGVO leisten, aber um einen umfassenden Datenschutz zu gewährleisten, müssen weitere technische und organisatorische Maßnahmen getroffen werden [
5].
Gemäß Art. 22 Abs. 1 DSGVO hat die betroffene Person „das Recht, nicht einer ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung – einschließlich Profiling – beruhenden Entscheidung unterworfen zu werden, die ihr gegenüber rechtliche Wirkung entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt“. Profiling ist dabei eine automatisierte Verarbeitung der erhobenen Daten mit dem Ziel, bestimmte persönliche Aspekte zu bewerten (siehe Art. 4 Nr. 4 DSGVO). Dies würde bei personalisierten Nudges zutreffen, da sie ein Profil erfordern, um Annahmen darüber zu treffen, was die Nutzenden am besten nudgen würde. Hingegen ist zweifelhaft, ob es bei libertären Nudges überhaupt zu einer Entscheidung des Verantwortlichen kommt, da dem Nudgee immer die Möglichkeit offenbleibt, sich gegen die beabsichtigte Verhaltensweise zu entscheiden. Stellt man auf diesen Aspekt ab, so ist Art. 22 DSGVO auch auf personalisierte Nudges nicht anwendbar, da die Nutzenden weiterhin selbst entscheiden (siehe für das parallele Beispiel der personalisierten Werbung: [
34]). Denkbar erscheint zwar, dass es durch eine sehr genaue Personalisierung für die Individuen schwer werden könnte, Nudges zu widerstehen. In diesem Fall ließe sich vertreten, dass die Entscheidung doch auf das Individuum verlagert wird und ihr zumindest eine Beeinträchtigung innewohnt, die einer rechtlichen Wirkung gleichkommt, weil das Individuum nach persönlicher Empfindung keine Wahlmöglichkeit mehr hat. Gerade im Bereich des Privacy Nudgings ist dies jedoch regelmäßig nicht der Fall. Wird die oder der Nutzende beispielsweise durch einen guten Privacy Nudge dazu bewogen ein Bild nicht frei im Internet zu teilen, sondern den Empfängerkreis auf enge Freunde zu beschränken, so kommt es zu keiner erheblichen Beeinträchtigung für Nutzende. Dies gilt zumindest dann, wenn der Nudge die weiteren Anforderungen des Datenschutzrechts (v. a. hinsichtlich der Transparenz) einhält.
2.4 Die soziotechnische Sichtweise
Die soziotechnische Perspektive integriert sowohl die ethische als auch die rechtliche Perspektive und betrachtet, wie man die technische Umsetzung und das menschliche Agieren in digitalen Umgebungen gestalten kann [
41]. Diesbezüglich möchte die soziotechnische Sichtweise das Verhalten von Individuen besser verstehen und Rückschlüsse ziehen, wie man Systeme entsprechend den Bedürfnissen von Individuen besser gestalten kann. Mit Blick auf digitale Nudges geht es entsprechend darum, diese so zu gestalten, dass sie für die Individuen die bestmöglichen Effekte haben und sie zu einer Handlung bewegen, die sowohl rechtlich als auch ethisch konform ist. Da heute immer mehr Entscheidungen online getroffen werden, wie Einkäufe, Urlaubsbuchungen, Versicherungen usw., wird Nudging auch im digitalen Kontext immer wichtiger [
9].
Aus einer soziotechnischen Perspektive wird Nudging als eine Form der Kommunikation zwischen verschiedenen Interessengruppen beschrieben, welche das Ziel verfolgt, autonome Urteile und Handlungen von Individuen zu beeinflussen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zwar ethische und rechtliche Fragestellungen relevant sind, aber nicht immer in Gänze zum Vorteil der Individuen umgesetzt werden (Dark Pattern). Beim Privacy Nudging sollen Nutzende von Informationssystemen dazu gebracht werden, die Datenschutzentscheidungen besser an ihre Präferenzen anzupassen, um sie in ihrem Verhalten zu unterstützen. – hier gilt der Fokus mehr oder weniger der systemisch passenden und geeigneten Gestaltung eines Systems und eines inkludierten Nudges. Studien haben gezeigt, dass vor allem Nutzende digitaler Systeme aufgrund kognitiver, emotionaler und sozialer Faktoren oft irrational handeln [
3,
7]. Im Alltag haben Individuen selten genug Zeit und Informationen, um alle Alternativen vollständig auszuwerten. Hier sind für Individuen rechtliche und ethische Themenstellungen ggf. eher nicht primär von Relevanz und werden daher nicht beachtet. Durch die Hervorhebung „populärer“ Entscheidungen wird sozialer Druck auf den Einzelnen ausgeübt, was zu Entscheidungen führt, die manchmal nicht wirklich widerspiegeln, was Nutzende auf Online-Plattformen wirklich wollen.
In der Forschung werden hierzu Ideen ausgetauscht, wie man durch neuartige Techniken im Zusammenhang mit der Ausnutzung der Prinzipien des Nudgings vor allem ungeplantes Verhalten induzieren kann [
35]. Es stellt sich die Frage, wie man eine entsprechende Gestaltung von digitalen Privacy Nudges sinnvoll vornehmen kann, sodass die Daten der Nutzenden aktiv geschützt werden. Aus soziotechnischer Sicht ist ebenso relevant, wie man es schafft, mehrere Disziplinen so miteinander zu verbinden, dass diese systemseitig umsetzbar sind. Es ist bisher weniger darüber bekannt, wie man effektive digitale Privacy Nudges gestaltet, um das Verhalten von Nutzenden zu ihrem Vorteil zu ändern [
36]. Um diesen Sachverhalt aus soziotechnischer Sicht besser beurteilen zu können, ist es notwendig, zu verstehen, wie Nutzende auf unterschiedliche digitale Nudges reagieren und wie sie sich voneinander unterscheiden, sodass individuelle Nudging Konzepte gestaltet werden können, die sowohl die Interessen von Nutzenden als auch rechtliche und ethische Fragestellungen berücksichtigen. Hierzu fehlt es an Ansätzen, die alle Disziplinen gleichermaßen aufgreifen.
Mit einem effektiven Konzept zur Gestaltung von Privacy Nudges in digitalen Umgebungen könnten datenschutzrechtliche Anforderungen besser umgesetzt werden. Ohne die Anpassung digitaler Nudges an eine bestimmte Gruppe von Nutzenden sind sie möglicherweise nicht effektiv, wenn es darum geht, das Verhalten von Nutzenden zu ändern. Darüber hinaus stellt sich aus soziotechnischer Sicht die Frage, wie die Umsetzung effektiver Datenschutzbestimmungen die Einstellung von Nutzenden zu einem System oder gegenüber dem Anbieter des Systems verändert. Wirksamkeit und Relevanz sollten im Hinblick auf die Reaktion der Nutzenden und ihr Vertrauen in ein Informationssystem oder eine Plattform, die mit solchen Pattern arbeitet, und ihre Akzeptanz dieser Systeme weiter diskutiert werden.