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1997 | OriginalPaper | Buchkapitel

Anmerkungen zu einer Philosophie der Technologie

verfasst von : Donald Cardwell

Erschienen in: Viewegs Geschichte der Technik

Verlag: Vieweg+Teubner Verlag

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Das Wort „Technologie“ wurde im 17. Jahrhundert geprägt. Wie Bacon klar erkannt hatte, war die Technologie seither ein Instrument der wirtschaftlichen und politischen Macht der reichsten Nationen der Erde. Vor 1600 lag die technologische Führung, wie Bacon ebenfalls bewußt war, in Süddeutschland und Norditalien. Zwischen 1700 und 1900 waren die Staaten Westeuropas und die USA die Hauptexponenten der Technologie. Nach 1900, und ganz besonders seit 1945, haben Japan und die südostasiatischen Staaten begonnen, in Führung zu gehen — es genügt ein beiläufiger Blick in die Garage oder in die Wohnzimmer und Küchen eines modernen Haushalts, um das zu bestätigen.Die lexikalischen Definitionen des Wortes Technologie als „das wissenschaftliche Studium der industriellen Prozesse“ oder „die Anwendung der Wissenschaft auf die Industrie“ sind nicht hinreichend. Sie lassen nur die Unsicherheit der Wissenschaftler, welche die Beiträge der Wissenschaft und der Technologie zum industriellen Fortschritt studiert haben, erkennen. Meint das Wort Wissenschaft hier die Mathematik, die Chemie, die Physik usw. oder bezieht es sich auf etwas Umfassenderes? Die erstgenannte Auslegung bezieht sich auf die häufig anzutreffende Identifikation der angewandten Chemie und Physik mit der Technologie und dem industriellen Fortschritt. Die zweite Auslegung ist weniger speziell und bedarf weiterer Untersuchungen.Es ist aufschlußreich, mit den Gedanken Aristoteles’ zu beginnen. Als Begründer der biologischen Wissenschaft verlangte er, daß eine Aussage, wenn sie als befriedigende wissenschaftliche Erklärung gelten soll, vier Fragen beantworten muß: Was ist es?, Woraus besteht es?, Wer oder was hat es gemacht?, Was ist sein Zweck? Die Antworten auf diese vier Fragen werden gewöhnlich die „vier Ursachen“ genannt, nämlich die formale, die materielle, die Wirk- und die Zweckursache. Mit der letzten Frage behauptet Aristoteles, daß sich die Wissenschaft immer auch mit dem Zweck oder der Absicht eines Forschungsgegenstandes beschäftigen muß, d.h. daß das Ziel der Wissenschaft wesentlich auch ein teleologisches ist. Es kann gut sein, daß sich Aristoteles bis zu einem gewissen Grad auf seine Erfahrung und sein Verständnis von der Technik seiner Zeit bezieht, wenn er schreibt, daß Schiffe und Häuser, wenn sie natürlich entstünden anstatt vom Menschen gebaut zu werden, im wesentlichen nicht anders wären als sie tatsächlich sind. Die Zweckbestimmung und die Anpassung an bestimmte Absichten seien in der Welt der lebenden Dinge ebenso grundlegend wie in der Welt der Technik. Demgegenüber hat die Wissenschaft — zumindest die Naturwissenschaft — seit dem 17. Jahrhundert der Teleologie den Rücken gekehrt. Die Technologie kann das aber nicht tun. Es ist sicherlich kein Zufall, daß der sehr einfallsreiche Ingenieur W.J.M. Rankine ein klassischer Gelehrter war, und sein Aristotelianismus wird in dem Dualismus, den er mit der Unterscheidung zwischen aktueller und potentieller Energie vertrat, offenkundig. Dieser Dualismus wurde verschleiert, als Thomson und Tait das Wort „aktuell“ durch „kinetisch“ ersetzten, um es an den Aufbau ihres Buches anzupassen. Rankines entschieden positivistische Philosophie weist auf eine weitere Verwandtschaft mit Aristoteles hin, denn der notwendige Positivismus vieler Ingenieure ist ein ausdrückliches Kennzeichen der Technologie.Die Betonung des Zwecks unterscheidet die Technologie von der Wissenschaft. Viele bedeutende Fortschritte, z.B. Daltons Atomtheorie, wurden von Wissenschaftlern bewirkt, deren ursprüngliche Ziele ganz verschieden waren von ihren tatsächlich erreichten Ergebnissen. Sie konnten gar nicht vorhersehen, was bei ihren Forschungen schließlich herauskam. Weil sich das so verhält, müssen Wissenschaftsplanung und gesellschaftliche Kontrolle der Wissenschaft (ob gut gemeint oder nicht) unfruchtbar bleiben. Andererseits arbeitet ein Technologe, ein Erfinder, immer auf ein bestimmtes Ziel hin, das ihm vor Augen schwebt. Man kann sich kaum vorstellen, wie ein Ingenieur, der sich daran macht, einen neuen Brückentyp oder eine revolutionäre Wärmekraftmaschine zu entwerfen, damit endet, daß er einen neuen Schiffstyp oder einen neuen Gefrierschrank produziert.Dennoch sind, wie ich immer wieder betont habe, Wissenschaft und Technologie eng miteinander verbunden — so eng, daß manche Grenzlinien zwischen ihnen bis zum Verschwinden verschwimmen. Deshalb sollte man natürlicherweise erwarten, daß die Wissenschaftsphilosophie (ein seit dem letzten Jahrhundert anerkanntes Untersuchungsgebiet) ein Licht auch auf die Technologiephilosophie wirft. Erstaunlicherweise ist das aber nicht der Fall.Die heutige Wissenschaftsphilosphie wird nach wie vor von zwei Schulen beherrscht: Der von Sir Karl Popper1, und die von Thomas C. Kuhn. Popper verwirft die induktive Methode Bacons, tritt stattdessen für ein hypothetisch-deduktives System ein und betont, daß ein Kennzeichen wirklicher wissenschaftlicher Theorien ist, „falsifizierbar“ zu sein, d.h. die prinzipielle Möglichkeit einer Widerlegung betrachtet er als Gültigkeitskriterium für jede wissenschaftliche Theorie. Es sei gerade die prinzipielle Widerlegbarkeit, die wissenschaftliche Aussagen von denen der Politiker, Marxisten, Psychoanalytiker und vieler anderer Philosophen unterscheidet, vor allem von denen der neuhegelianischen Schule. Er ist schwer vorstellbar, wie diese Wissenschaftsphilosophie Poppers auf die Technologie Anwendung finden kann, wo sich die Frage der Falsifizierbarkeit nicht stellt und wo das Gültigkeitskriterium ein rein pragmatisches ist, nämlich: Funktioniert es?Poppers Sicht der Wissenschaft ist rein akademisch — er betrachtet nur die „reine“ Wissenschaft und schließt damit die Technologie von vornherein aus. Vertreter der Popperschen Schule würden freilich daran festhalten, daß die vom Markt bestimmte Technologie nicht in den Bereich der philosophischen Forschung fällt, aber das ist sehr unbefriedigend. Die Technologie als grundlegende menschliche Tätigkeit mit enormen Folgen darf aus der philosophischen Betrachtung nicht ausgeklammert werden, wenn sich die Philosophie nicht selbst auf eine untergeordnete und beschränkte Rolle bei dem Bemühen, die menschlichen Handlungen, Kenntnisse und Überzeugungen zu analysieren und zu verstehen, zurückziehen will.Kuhns Philosophie entstand aus seiner Arbeit als Wissenschaftshistoriker. Er erkennt zwei Prozesse, die beim Fortschritt der Wissenschaft am Werk sind. Zum einen gibt es das, was er „normale Wissenschaft“ nennt: Das sind die Routineverfahren der täglichen Wissenschaftspraxis. Zum anderen gibt es revolutionäre Wissenschaft, nämlich wenn der stetige Fortgang der normalen Wissenschaft in eine Krise führt, die ein neues „Paradigma“ erforderlich macht, d.h. ein neues System gedanklicher Leitbilder und -vorstellungen, welches die früheren verdrängt. Ein Musterbeispiel für solche wissenschaftliche Revolutionen ist die neue Chemie, die Antoine Lavoisier im 18. Jahrhundert eingeführt hat. Kritiker der Kuhnschen Philosophie haben die Trennung zwischen normaler und revolutionärer Wissenschaft bestritten und entweder auf Popperscher Basis behauptet, daß alle gültige Wissenschaft revolutionär ist, oder darauf hingewiesen, daß es ja gar nicht klar sei, ob die Kuhnsche Trennung einfach die Anerkennung der Tatsache bedeute, daß sich in der Wissenschaft Phasen gleichmäßigen Fortschritts mit solchen dramatischen Wandels abwechseln, oder ob sie als fundamentale Theorie des wissenschaftlichen Fortschritts gemeint sei. Im Licht dieser und anderer Kritiken hat Kuhn seine Gedanken modifiziert. Er hat jedoch ohne Frage die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Kennzeichen des wissenschaftlichen Fortschritts gelenkt.

Metadaten
Titel
Anmerkungen zu einer Philosophie der Technologie
verfasst von
Donald Cardwell
Copyright-Jahr
1997
Verlag
Vieweg+Teubner Verlag
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-83123-1_19

    Marktübersichten

    Die im Laufe eines Jahres in der „adhäsion“ veröffentlichten Marktübersichten helfen Anwendern verschiedenster Branchen, sich einen gezielten Überblick über Lieferantenangebote zu verschaffen.