2.3.1 Smart Services im Überblick
Die Gesundheit zählt zu den höchsten Gütern der Menschen. Die Entwicklungen im Gesundheitssektor und der medizinische Fortschritt sind vor diesem Hintergrund in der Breite der Bevölkerung von großem Interesse. Ohne Übertreibung stellt die eigene Gesundheit per se eine ‚Lebenswelt‘ für die Menschen dar. Die Entwicklung des Gesundheitswesens ist im Grunde so alt wie die Menschheit selbst, und die Technologieverwendung geht weit in die Vergangenheit zurück. Vor allem im letzten Jahrhundert sind die technischen Anwendungen im Gesundheitssektor immer schneller vorangeschritten. Im Zusammenspiel mit der zunehmend besser werdenden medizinischen Versorgung sowie der stärkeren Aufklärung über die verschiedenen Krankheitsrisiken und Präventionsmöglichkeiten werden die Menschen immer älter und bleiben länger gesund. Seit einiger Zeit hat sich zudem die ‚Quantified Self‘-Bewegung als bedeutender Trend entwickelt, der sich durch einen großen Teil verschiedener Altersstufen und durch breite Bevölkerungsgruppen zieht. Dieser Trend, zu dem neben der Selbstvermessung auch die Selbstoptimierung gehört, hat bedeutende Auswirkungen auf die Lebenswelt Gesundheit (Heyen
2016, S. 2). Viele der Verhaltensweisen und Einfluss nehmenden Faktoren, wie bspw. der Grad der sportlichen Betätigung oder die Ernährung, sind allerdings stark subjektiv geprägt und nicht ohne Weiteres kontrollierbar. Dafür rücken Alltagshelfer und Tracking-Systeme, die beim Aufzeichnen des eigenen Lebensstils helfen, immer stärker in den Fokus.
Einen starken Einfluss auf die Medizin, namentlich auf die Diagnostik und Therapie, haben Daten. Die Flut an Daten, die inzwischen gesammelt werden kann, führt zu besseren und genaueren Analysen und – insbesondere auch im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz – zu besseren Vorhersagemöglichkeiten. Damit können nicht nur die Effizienz (schnellere Diagnose) und der Komfort (automatische Erhebung) medizinischer Leistungen gesteigert werden, sondern vor allem auch deren Qualität.
Eine Besonderheit der in der Lebenswelt Gesundheit erhobenen Daten liegt in dem hohen Grad der Sensibilität: Bei Gesundheitsdaten handelt es sich um personenbezogene Daten, die nach Art. 4 Nr. 15 der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO, siehe hierzu auch Abschn.
2.2.3) besonders schutzbedürftig sind und daher einem ausgeprägten Datenschutz unterliegen. Gerade die sensiblen Personendaten sind aber in einem hohen Detaillierungsgrad notwendig, um die Bürger in der Lebenswelt Gesundheit unterstützen zu können und ihnen Mehrwerte zu bieten. Daher ergibt sich in besonderem Maße ein Spannungsfeld, das immer wieder stark in der gesellschaftspolitischen Diskussion steht.
Neben den Daten sind verschiedene Technologien, wie die Sensorik, die zunehmende Vernetzung im Rahmen des Internet of Things (IoT) oder die Künstliche Intelligenz (KI), essenzielle Bestandteile der Smart Services in der Lebenswelt Gesundheit. Dabei können die Smart Services wie folgt gegliedert werden:
Datensammlung
Ausgangspunkt und zugleich erstes mehrwertiges Ergebnis ist die Sammlung von Körpermessdaten. Zunehmend ermöglichen es technische Geräte, beispielsweise Smart Watches, smarte Waagen, intelligente Laufbänder oder andere Wearables, Körperdaten wie den Pulsschlag, die Körpertemperatur, die Sauerstoffsättigung, das Gewicht, die Muskelmasse, den Fett- und Wasseranteil zu messen. Angereichert werden können diese Informationen durch Daten wie die Blutgruppe, Allergien oder Vorerkrankungen. Zusätzlich können Arztberichte und Befunde die Auswertungen ergänzen, sodass die Zielsetzung und das Ergebnis ein Datenpool ist, der ein umfassendes Bild über den Gesundheitszustand eines Menschen liefert. Aus diesem Datenpool können unterschiedliche Akteure verschiedene Nutzen ziehen. So kann die messende Person selbst den eigenen Lebensstil analysieren und optimieren und mit anderen teilen – etwa um sich so in ihrer Peergroup zu vergleichen.
Im Zusammenspiel zwischen Patient und Arzt können mit einer qualifizierten Datenbasis und den Auswertungsmöglichkeiten Krankheiten und körperliche Beeinträchtigungen besser behandelt werden. Und die Forschung kann die Medizin durch Einbeziehung umfassenderer Datengrundlagen und verbessertem Zusammenhangswissen substanziell weiterentwickeln (Heyen
2016, S. 4 f.).
Diagnoseunterstützung
Auf Basis der gesammelten Daten ergeben sich Smart Services, die Mehrwerte für die Diagnoseunterstützung bieten. Dabei gibt es verschiedene Anwendungsmöglichkeiten: So können Daten, die gewisse Anomalien signalisieren, eine automatische Meldung an den Nutzer mit dem Hinweis auslösen, einen bestimmten Arzt aufzusuchen. Digitale Fotos einer auffälligen Hautstelle können durch eine Analysesoftware über eine Datenbank gespielt und im Sinne einer Ersteinschätzung automatisch ausgewertet werden. Zusammen mit dem übermittelten Analyseergebnis kann gegebenenfalls zugleich ein geeigneter Facharzt zur näheren Begutachtung und anschließenden Therapie empfohlen werden. Auch mit Röntgenbildern, CT´s und MRT´s, ferner mit Blutwerten, EKG´s und allen sonstigen möglichen Analysewerten lassen sich solche Datenbanken füllen und nutzen.
Unter Einbeziehung einer Künstlichen Intelligenz kann das System von den Ergebnissen nachfolgender Untersuchungen lernen und dadurch im Gleichschritt mit der Nutzungshäufigkeit verbessert werden. Systeme mit Künstlicher Intelligenz können über die Zeit immer ausgefeiltere Verknüpfungen von Gesundheitsdaten interpretieren und sich selbstlernend verbessern, d. h. Krankheitssymptome immer zuverlässiger automatisch erkennen und zielführende Therapien vorschlagen. Schon heute gibt es Künstliche Intelligenzen, die mittels bildgebender Verfahren, etwa der sog. Positronen-Emissions-Tomografie (PET), Demenzerkrankungen deutlich früher erkennen können als Ärzte. Das Ziel ist es, durch eine ausreichend große Zahl an Daten, die mithilfe vorangegangener und gespeicherter Untersuchungsergebnisse generiert wird, Befunde automatisch und damit sowohl schneller als auch präziser als von Menschen möglich zu erstellen (PwC
2017, S. 7 f.).
Therapieunterstützung
Die technischen Hilfsmittel zur Diagnoseunterstützung gehen Hand in Hand mit Mehrwerten, die Smart Services im Bereich des Monitorings von Heilungsverläufen oder im Rahmen der Unterstützung bei körperlichen Beeinträchtigungen im Alltag bieten. Nach Feststellung einer Erkrankung bieten digitale Anwendungen die Möglichkeit, den Therapieverlauf 24/7 für den Arzt abzubilden. Dieser erhält beispielsweise über die beim Patienten aufgezeichneten Daten Einblick in dessen Gesundheitszustand und empfängt zusätzlich eine Meldung, sobald ein bestimmter Wert abseits der Toleranz liegt. Mit einer dann erfolgten frühzeitigen Intervention kann der Heilungsverlauf schneller und effizienter weitergeführt werden. Wenn der Patient zusätzlich die Einnahme der Medikamente in die Anwendung einpflegt, kann der behandelnde Arzt schneller Ursachen für eine falsche Entwicklung der Genesung finden. Über cloudbasierte Kommunikationsplattformen kann das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure, also Patient, Arzt, Krankenhaus, Pflegekraft, Krankenversicherer etc., erheblich verbessert werden und Doppel- und Mehrfachuntersuchungen können vermieden werden. Auch können das Internet of Things (IoT), also die Vernetzung z. B. von medizinischem Gerät, und der Austausch über Informations- und Kommunikationsplattformen wichtige Hilfestellungen für die Zusammenarbeit der verschiedenen Parteien geben.
Ambient Assisted Living
Ambient-Assisted-Living-(AAL)-Technologien können auch im Krankheitsfall oder bei körperlichen Beeinträchtigungen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. AAL-Technologien beinhalten Produkte, Dienstleistungen und Konzepte, die die Lebensqualität vor allem älterer Menschen in allen Lebenslagen erhöhen sollen. Beispielsweise können Sensoren die Bewegungsabläufe in der Wohnumgebung messen und einen Notdienst alarmieren, wenn eine auffällige Bewegungsunterbrechung vorliegt. Viele solcher Systeme haben sich aufgrund der Scheu vor Technik, von Überwachungsängsten oder zu hohen Kosten noch nicht durchgesetzt. Einzig der Hausnotruf, bei dem ein Alarmknopf am Körper getragen wird, ist bereits weit verbreitet (Ambient Assisted Living Deutschland Acatech
2018).
Transhumanismus
Die Entwicklungen zeigen, dass es eine immer stärkere Verschmelzung von Mensch und Maschine gibt. Im Rahmen von Testversuchen werden bereits Technologien entwickelt, bei denen Chips oder Sensoren direkt unter die Haut des Menschen gelegt werden. Das enge Zusammenspiel zwischen der Digitaltechnik und dem Menschen kann zu einem ganzheitlichen Ansatz der Gesundheitsbegleitung führen, der einerseits die verfügbaren Datengrundlagen nochmals exponentiell ausweitet, andererseits die Potenziale für eine schnellere und zuverlässigere Diagnose und Therapie ebenso nochmals steigert.
Die verschiedenen Entwicklungen können eine Fülle von Problemen lösen, denen Patienten Ärzte, Pfleger und weitere Beteiligte gegenüberstehen. Die Zeitrestriktionen der Ärzte werden durch die Diagnosemöglichkeiten und Therapieempfehlungen mittels Technologie entschärft, die Behandlung der Patienten durch die Überwachung während der Genesung verbessert, umständliche Vorgehensweisen beispielsweise beim Arztwechsel durch die erleichterte Kommunikation zwischen den Parteien vereinfacht und effizientere und zielgerichtetere Pflegeleistungen auf Basis der AAL-Technologien werden ermöglicht. Immobilen Personen und Personen, die in einem Gebiet mit schlechter Arztabdeckung wohnen, können durch die Technologie viele Wege sparen. In die Diagnose und Therapieempfehlung können Computersysteme eine große Zahl an Parametern einbeziehen und damit deutlich zuverlässigere und zudem noch schnellere Ergebnisse liefern.
Es zeigt sich, dass Smart Services in der Lebenswelt Gesundheit die Anwendungsfelder Prävention, Diagnostik, Therapie, Überwachung von Krankheitsverläufen, Pflegeunterstützung und nicht zuletzt Fitness/Freizeit/Lebensstil beinhalten. Diese Anwendungsfelder basieren auf der Erhebung von Daten, deren Auswertung zunehmend mit Künstlicher Intelligenz vorgenommen wird. Im Folgenden werden drei ausgewählte Geschäftsmodelle betrachtet, die bereits auf Märkten existieren und aus den zuvor beschriebenen Entwicklungen hervorgegangen sind. Dabei liegt der Fokus auf der Beschreibung und Würdigung der Nutzenversprechen, die mit diesen Geschäftsmodellen verbunden sind.
2.3.3 Spannungsfeld Datennutzung und Datenschutz
Wie gezeigt wurde, kann das Sammeln und die Nutzung von Daten in der Lebenswelt Gesundheit erhebliche Auswirkungen entfalten. So kann nicht nur die Gesundheit des Individuums verbessert, sondern auch eine Optimierung des gesamten Gesundheitswesens vorangetrieben werden. Systeme, die auf Basis von Daten Krankheiten in all ihren Parametern erfassen, künstliche Intelligenzen, die diese auswerten, und Assistenzsysteme, die Ärzte in ihrer täglichen Arbeit unterstützen, gehören zu den großen Chancen, die die Datennutzung mit sich bringt.
Dem gegenüber steht der berechtigte und notwendige Datenschutz, der im Gesundheitswesen auch spezifisch geregelt ist. In Art. 4 Nr. 15 der EU-DSGVO sind Gesundheitsdaten konkret berücksichtigt und abgegrenzt: „Gesundheitsdaten [sind] personenbezogene Daten, die sich auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person, einschließlich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, beziehen und aus denen Informationen über deren Gesundheitszustand hervorgehen“ (Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates 2016/679
2018, Art. 4 Nr. 15). Nach § 22 des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) und der EU-DSGVO gehören Gesundheitsdaten zur besonderen Kategorie personenbezogener Daten. Danach gilt für alle Gesundheitsdaten eine besondere Schutzbedürftigkeit. In diesem Zusammenhang besteht ein grundsätzliches Verbot der Verarbeitung von Gesundheitsdaten, das nur unter der Voraussetzung des Art. 9, 2a-j EU-DSGVO etwas aufgeweicht wird (Deutsche Gesellschaft für Qualität
2017). Das Verarbeitungsverbot gilt demnach nicht, wenn die betroffene Person für einen festgelegten Zweck zustimmt, dass ihre Daten genutzt und verwertet werden. Neben weiteren Erlaubnistatbeständen beziehen sich die Absätze h und i direkt auf Gesundheitsdaten. In Art. 9, 2h EU-DSGVO (Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates 2016/679
2018) heißt es:
Die Verarbeitung ist für Zwecke der Gesundheitsvorsorge oder der Arbeitsmedizin, für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Beschäftigten, für die medizinische Diagnostik, die Versorgung oder Behandlung im Gesundheits- oder Sozialbereich oder für die Verwaltung von Systemen und Diensten im Gesundheits- oder Sozialbereich auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats oder aufgrund eines Vertrags mit einem Angehörigen eines Gesundheitsberufs und vorbehaltlich der in Absatz 3 genannten Bedingungen und Garantien erforderlich.
Und in Art. 9, 2i EU-DSGVO (Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates 2016/679
2018) steht:
Die Verarbeitung ist aus Gründen des öffentlichen Interesses im Bereich der öffentlichen Gesundheit, wie dem Schutz vor schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren oder zur Gewährleistung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei der Gesundheitsversorgung und bei Arzneimitteln und Medizinprodukten, auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Rechte und Frei-heiten der betroffenen Person, insbesondere des Berufsgeheimnisses, vorsieht, erforderlich.
Das hohe Niveau des Datenschutzes von Gesundheitsdaten macht die Durchführung einer Datenschutz-Folgeabschätzung notwendig, was zu einem erhöhten Aufwand in Einrichtungen des Gesundheitswesens führt und die Datennutzung erheblich erschwert (Deutsche Gesellschaft für Qualität
2017).
Für das Individuum hat der ausgeprägte Datenschutz den Schutz vor Missbrauch zum Ziel. Dazu gehört nicht nur der Schutz vor Hackerangriffen auf Gesundheitsdaten, die inzwischen häufig vorkommen (Ärztezeitung
2017). Auch die Weitergabe an Unternehmen, die die Gesundheitsdaten für verschiedene Zwecke verwenden können, wird kritisch gesehen. Die Sorge vor einer Datenweitergabe und vor Missbrauch ist bei den Bürgern jedoch deutlich geringer, wenn es um den Arzt geht, der die Daten verarbeitet, speichert und weitergibt. Laut der Studie „Zukunft der Gesundheitsversorgung“ der pronovaBKK empfinden es 77 % der Befragten als Vorteil, wenn Daten über Diagnosen, Behandlungen, Medikamente, Allergien oder ähnliches zentral gespeichert sind und sich Haus- und Fachärzte jederzeit einen umfassenden Überblick über den Gesundheitszustand eines Patienten verschaffen können. Auch das Durchführen von Video- oder Onlinebehandlungen sowie per Telefon würden 56 % der Befragten begrüßen (Schlingensiepen
2017). Dies lässt sich damit begründen, dass die eigene Gesundheit für den Bürger ein sehr wertvolles Gut ist und bei besserer Hilfe, beispielsweise weil der Arzt einen guten Überblick über den Gesundheitszustand bekommt, die Risiken schwächer bewertet werden. Ebenso kann davon ausgegangen werden, dass eine Verbesserung der medizinischen Leistung im Interesse aller ist. So beschneidet der starke Datenschutz die Chance und damit den großen Mehrwert, der beispielsweise durch das Fortschreiten der Forschung auf Basis großer Datenmengen erreicht werden kann. Die Forschung und damit das Wissen in der Medizin, die Qualität der Behandlung und letztlich die Gesundheit des Einzelnen werden damit nachhaltig gestört. Dies gilt zumindest in Deutschland und Europa. Die datenbasierte Forschung auch und gerade im Gesundheitswesen wird beispielsweise in den USA und in China stärker vorangetrieben (PwC
2018), was letztlich auch zum komparativen Nachteil von Bürgern und Unternehmen hierzulande führen kann.
Es entsteht daher ein Spannungsfeld, das es nicht nur rechtlich, sondern auch politisch und vor allem im Dialog mit den Bürgern zu lösen gilt. Hierbei muss ein Abwägen zwischen dem Missbrauchsrisiko und der Datennutzung und -auswertung zur Verbesserung der Medizin erfolgen, wobei der Wille und die Wünsche der Bürger im Vordergrund stehen müssen. Der Datenschutz hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion, sollte aber möglichst nicht die Potenziale beschneiden, die neue technologische Möglichkeiten heute bieten. Für viele Anwendungen lassen sich die Hürden des Datenschutzes vermutlich durch ausdrückliche Einwilligungserklärungen der Betroffenen zur Datenerhebung, -speicherung, -analyse und -weitergabe überwinden. In Betracht kommen dabei auch ‚Datenspenden‘ an Forschungseinrichtungen o. ä. Das gilt aber nicht für jede Situation. Beispielsweise ist die Voraussetzung zur Einwilligung bei einem Unfall, um gesundheitsrelevante Daten an einen Arzt oder ein Krankenhaus zu übermitteln, damit schneller eine adäquate Hilfe bestimmt und organisiert werden kann, vielfach nicht zweckmäßig oder unerfüllbar (Bass
2017, S. 34 f.). Allzu restriktive Datenschutzbestimmungen sind etwa in einer solchen Situation nicht hilfreich und sind vor allem nicht im Interesse derjenigen, die mit den Regelungen eigentlich geschützt werden sollen.
2.3.4 Rolle der Versicherer
Die Potenziale, die aufgrund der Menge an Daten und neuen Technologien in der Lebenswelt Gesundheit erwachsen, sind vielseitig und bringen viele Chancen, auch für die Versicherer. Wie in Abschn.
2.3.2.2 (Digitale Krankenversicherer am Beispiel Oscar und Clover) gezeigt wurde, liefern Daten die Grundlage zur Entwicklung neuer kundenorientierter Geschäftsmodelle. Dadurch werden allerdings auch ein Zutritt immer neuer Marktteilnehmer und die Bildung von Netzwerken (Ökosystemen) im Gesundheitssektor begünstigt, was die eigene Positionierung eines traditionellen Versicherers in diesem dynamischen Marktumfeld unabdingbar macht. Im Folgenden wird mit Blick auf das Gesundheitsthema auf traditionelle Krankenversicherer fokussiert. Sie werden heute unzweifelhaft gezwungen, sich die neuen technologischen Möglichkeiten und eine moderne Datenbasis zunutze zu machen, um ihre Aufgabe zu erfüllen, eine bestmögliche Gesundheitsversorgung für ihre Kunden hervorzubringen sowie auch ihre eigene Marktposition zu verteidigen und zu stärken. Dafür sind auch im digitalen Umfeld der Kontakt und der Zugang zum Kunden deutlich zu verbessern und dem Kunden gleichzeitig die relevanten Nutzenversprechen anzubieten. Umgekehrt ergibt sich ein Risikopotenzial, das darin liegt und sich konkretisiert, wenn Entwicklungen verkannt und sich daraus ergebende Chancen nicht genutzt werden.
Die Ausgangslage der Versicherer unter den neuen Entwicklungen ist als grundsätzlich gut einzuschätzen. Ihr Geschäftsmodell basiert seit jeher auf den Daten der Kunden und deren gesundheitlicher Situation. Zudem genießen sie beim Thema (Gesundheits-)Daten ein hohes Vertrauen (siehe dazu Nitschke
2018), was gerade in der sich digitalisierenden Datenwelt von hoher Relevanz ist. Herausforderungen der Versicherer bestehen jedoch in der Reaktions- und Innovationsgeschwindigkeit bei der Nutzung neuer Technologien und damit auch der Befriedigung der konkreten Kundenwünsche. Gerade in der inzwischen sehr dynamischen Lebenswelt Gesundheit ist eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit essenziell, um stets die bestmögliche Versorgung zu bieten.
Insbesondere von Versicherungsunternehmen sind jedoch auch ethische und moralische Aspekte in besonderem Maße zu berücksichtigen: So muss geprüft werden, ob Personen, die weniger auf ihre Gesundheit achten, zukünftig etwa bei der Versicherungsprämie benachteiligt werden und inwieweit dies gesellschaftspolitisch vertretbar ist. Ebenfalls sollte der Druck auf die potenziellen Kunden und den Bestand an Versicherten geprüft werden, der mit einem indirekten Zwang einhergeht, die eigenen Daten zur Gesundheit und Lebensweise preiszugeben.
Dass umgekehrt mit einer möglichst umfangreichen Datenbasis allerdings im Endeffekt die allgemeine Gesundheit durch Förderung einer gesunden Lebensweise steigt, Diagnose und Therapie verbessert werden können, die Kosten für die Versicherer und Versicherten auf breiter Front sinken sowie Ärzte und das gesamte Gesundheitssystem entlastet werden, ist im gesellschaftlichen Diskurs ebenfalls zu berücksichtigen. In diesem Spannungsfeld müssen die Versicherer und die gesamte Versicherungswirtschaft ihren Weg finden. Schwierig wird dabei die Grenzziehung bei der Datenerhebung, -auswertung und -nutzung zwischen einerseits verhaltensgeprägten Gesundheitsdaten, die der Bürger selbst beeinflussen kann (z. B. durch seine Ernährung, Sport, Schlaf oder den Konsum von bzw. Verzicht auf Alkohol, Zigaretten und Drogen) und für die ihm daher auch eine Verantwortung zugeschrieben werden kann, und andererseits schicksalhaften Gesundheitsdaten (z. B. genetische Disposition).
Die weitere Entwicklung kann bei den Krankenversicherern eine grundlegende Änderung des Geschäftsmodells mit sich bringen. Hierbei ist nicht nur an die Möglichkeiten gedacht, Prämienrabatte für bestimmte Lebensweisen zu geben oder Anreize für Präventionsmaßnahmen zu setzen, um mit den damit sinkenden Behandlungskosten die Policen insgesamt günstiger anbieten zu können. Die aktuelle Marktsituation bietet vielmehr auch Ansätze für die Versicherer, sich in den entstehenden Ökosystemen Gesundheit als Orchestrator oder Zulieferer zu positionieren. Auf diese Weise können Kooperationspotenziale genutzt und die Zusammenarbeit mit Ärzten, Krankenhäusern, Pflegern und anderen Gesundheitsdienstleistern gestärkt werden. Möglicherweise haben dabei andere, schon digitaler aufgestellte Unternehmen und Branchen aufgrund einer ausgeprägteren Technologieaffinität, schlankeren Prozessen und einer höheren Agilität und Flexibilität derzeit einige Wettbewerbsvorteile. Umso wichtiger ist es für die Versicherer, sich auf ihre Kompetenzen zu konzentrieren und sich eine passende Rolle zu suchen.
Gerade in der Lebenswelt Gesundheit ist die Rolle des ‚Enablers‘ für den Versicherer gut vorstellbar: Der Kundenzugang und das hohe Kundenvertrauen könnten genutzt werden, um sich stärker als eine Art vermittelnder Akteur zwischen den Parteien Patient, Arzt, Krankenhaus und Pflegedienstleister zu positionieren und somit für das Gesamtsystem die Schlüsselrolle als Orchestrator eines Netzwerks einzunehmen. Die Daten, die dadurch zusätzlich generiert werden können, sind eine wertvolle Ressource. Mit dieser Möglichkeit geht allerdings auch eine sehr große Verantwortung einher. Wenn alle Daten zentral bei einem Versicherer zusammenlaufen, ist er damit in einem hohen Maß im gesamten Ökosystem für die Datensicherheit der Kunden verantwortlich. Das vorher aufgeworfene Paradoxon, die Übersensibilisierung der Datensicherheit einerseits und der Wunsch nach besseren Gesundheitsleistungen andererseits, muss in dieser Rolle auch maßgeblich von den Versicherern gelöst werden.
In Betracht kommt für ein Versicherungsunternehmen natürlich auch die Rolle des Zulieferers in einem Ökosystem Gesundheit. Hier stellt sich die Frage, welche Kernkompetenzen darin eingebracht werden können. Typischerweise wird es sich dabei um die Risikotragung und die Finanzierung von Gesundheitsleistungen handeln. Eine gute Ausgangsposition haben die Versicherer auch mit ihren historischen Daten über die Gesundheit, Krankheitsverläufe und Behandlungsdaten ihrer Versicherten, die sie einbringen könnten – wobei natürlich der Datenschutz abermals eine zentrale Rolle spielt. Fallweise kommen weitere Kompetenzen infrage, wie z. B. die Kundenberatung und -betreuung, sowie die Übernahme von Backoffice-Funktionen und -Prozessen (Kalkulationsaufgaben, Abrechnungsleistungen, Datenverwaltung).