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2017 | OriginalPaper | Buchkapitel

Das Grundrecht auf Gesundheit – Ausblick auf einen latenten Standard

verfasst von : Matthias Bernzen

Erschienen in: Festschrift für Franz-Josef Dahm

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird dargelegt, dass sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu „Hartz IV“ und dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ein eigenständiges Grundrecht auf Gesundheit ergibt, welches direkt aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG erwächst. Das Grundrecht ist Teil des „Sammelgrundrechts“ auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das Grundrecht auf Gesundheit ist ein normgeprägtes Leistungsgrundrecht, das heißt, es unterliegt grundsätzlich in Tatbestand und Rechtsfolge dem Ausgestaltungsvorbehalt des Gesetzgebers. Jedoch existiert ein außer‐ bzw. vorrechtlicher Grundrechtsgehalt, der auch ohne gesetzgeberisches Zutun im Sinne einer Minimalleistungsgarantie Geltung beansprucht. Diese Garantie definiert einen latenten Standard, der insbesondere in folgenden drei Punkten zum Ausdruck kommt:
1.
Amtshaftungsansprüche der durch das Versorgungsraster nach § 5 SGB V, § 48 SGB XII, § 193 Abs. 3 und 5 VVG i.V. m. § 152 VAG (Basistarife der privaten Krankenversicherungen) oder § 4 AsylbLG fallenden Personen;
 
2.
Mindeststandard in der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V und der angelehnten § 48 SGB XII und § 193 Abs. 3 und 5 VVG i.V. m. § 152 VAG (Basistarife der privaten Krankenversicherungen), der unter anderem eine Alterspriorisierung ausschließt;
 
3.
Teilentzug der Legitimität des Wirkens des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 91 SGB V.
 

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Fußnoten
1
Asylbewerberleistungsgesetz v. 30.6.1993, BGBl. I S. 1074.
 
2
S. die Darstellung bei Arnade, Kostendruck und Standard, 2010, S. 55 ff.; ferner Schmidt‐Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 15 ff. m. w. N.
 
3
S. zum damaligen Stand der Literatur die Nachweise bei Arnade, Kostendruck und Standard, 2010, S. 67 f.
 
4
S. die Darstellung der entschiedenen Fälle sowie die einem medizinischen Existenzminimum seinerzeit ablehnend begegnenden Stimmen in der Literatur bei Arnade, Kostendruck und Standard, 2010, S. 68 ff.
 
5
In Umsetzung dieser Rechtsprechung, die nachfolgend skizziert werden wird, vgl. den heutigen § 2 Abs. 1a SGB V, eingefügt durch das GKV‐Versorgungsstrukturgesetz v. 22.11.2011, BGBl. I S. 2983.
 
6
BVerfGE 115, 25 = BVerfG, NJW 2006, 891 m. Anm. Kingreen = MedR 2006, 164 m. Bespr. Francke/Hart, S. 131.
 
7
Hierzu auch Dannecker/Streng, in: Schmitz‐Luhn/Bohmeier (Hrsg.), Priorisierung in der Medizin, 2013, S. 135 ff.
 
8
BVerfGE 115, 25, 44 f.
 
9
Die Zusammenschau der Menschwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG mit entweder dem Lebens‐ und Körperschutz aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG oder dem Rechtsstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG hatte bis dahin in der Literatur als Fundament zur Herleitung des Anspruchs auf Gewährung eines medizinischen Existenzminimums gedient, siehe hierzu im Einzelnen die Darstellung bei Arnade, Kostendruck und Standard, 2010, S. 67.
 
10
BVerfGE 125, 175 = BVerfG, NJW 2010, 505 = SGb 2010, 227.
 
11
BVerfGE 125, 175, 222, 223.
 
12
BVerfGE 132, 134 159 = BVerfG, NVwZ 2012, 1024.
 
13
BVerfGE 125, 175, 223.
 
14
BVerfGE 125, 175, 222.
 
15
Eine solche „binnenabsolute“ bzw. „interdependenzbasierte“ Grundrechtsbetrachtung hat das BVerfG zuletzt beispielgebend und eindrücklich mit Plenumsbeschluss vom 30.4.2003 für die verfassungsrechtliche Gewährleistung fachgerichtlichen Rechtsschutzes bei Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör nach dem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG vorgenommen, BVerfGE 107, 295 ff.
 
16
BVerfGE 137, 34 = BVerfG, NJW 2014, 3425.
 
17
BVerfGE 137, 34, 75.
 
18
BVerfGE 125, 175, 223.
 
19
BVerfGE 125, 175, 223.
 
20
BVerfGE 125, 175, 223.
 
21
Soweit der Zugang zu medizinischer Versorgung nach §§ 5, 10 SGB V dennoch beschrieben wird, geschieht dies unter ausdrücklicher Darstellung als andere und andernorts geregelte, wiewohl ebenfalls von der verfassungsrechtlichen Garantie des Existenzminimums erfassten Bedarfslage – BVerfGE 125, 175, 228: „Die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts dient nach der Definition in § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II a. F. beziehungsweise in § 20 Abs. 1 SGB II n. F. sowohl dazu, die physische Seite des Existenzminimums sicherzustellen, als auch dazu, dessen soziale Seite abzudecken, denn die Regelleistung umfasst in vertretbarem Umfang auch die Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben. Anderen von der verfassungsrechtlichen Garantie des Existenzminimums umfassten Bedarfslagen wird im Sozialgesetzbuch Zweites Buch durch weitere Ansprüche und Leistungen neben der Regelleistung Rechnung getragen. Die Absicherung gegen die Risiken von Krankheit und Pflegebedürftigkeit wird durch die Einbeziehung von Arbeitslosengeld II‐ und Sozialgeldempfängern in die gesetzliche Kranken‐ und Pflegeversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a und § 10 SGB V, § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a und § 25 SGB XI und die Leistungen zur freiwilligen bzw. privaten Kranken‐ und Pflegeversicherung nach § 26 SGB II gewährleistet.“; erneut BVerfGE 137, 34, 79 f.; die Entscheidung zu den Asylbewerberleistungen enthält keinen Hinweis auf die medizinische Versorgung nach § 4 AsylbLG.
 
22
BVerfGE 125, 175, 238 f.
 
23
BVerfGE 125, 175, 238 ff. Nach den Maßgaben des BVerfG nimmt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erst durch die gesetzliche Bedarfsermittlung und die daran anschließende gesetzliche Ausgestaltung korrespondierender Leistungen eine dem Einzelnen zugängliche Gestalt an. Daher kann man die Bedarfsermittlung nicht als eine von der grundrechtlichen Gewährleistung verschiedene oder doch jedenfalls abtrennbare Verfahrensbestimmung ansehen. Gegenüber dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist Bedarfsermittlung immer auch konkrete Ausgestaltung des Grundrechts selbst.
 
24
BVerfGE 125, 175, 229.
 
25
Dies gilt für alle in dem „Sammelgrundrecht“ enthaltenen Einzelgrundrechte und wird nicht zuletzt daran deutlich, dass das BVerfG in den Entscheidungen vom 9.2.2010, 18.7.2012 und 23.7.2014 den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab für die streitgegenständlichen Geldleistungen durchgehend aus Direktiven zieht, die es dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums entnimmt.
 
26
Siehe hierzu Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 17 ff.; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 442 ff.
 
27
BVerfGE 125, 175, 224 f.
 
28
Prägnant Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 18 f.: „Die entscheidende Herausforderung für die Ausgestaltungsdogmatik besteht in der Grundrechtsbindung der ausgestaltenden Staatsgewalt: Denn woran soll der Gesetzgeber gebunden sein, der selbst den grundrechtlichen Schutzgegenstand geschaffen hat? Wie soll er eine von ihm hervorgebrachte Grundrechtsposition verletzen können? Auf welchem Weg lässt sich verhindern, dass die Verfassung nur nach Maßgabe der einfachen Rechtsordnung wirksam wird?“
 
29
Anschaulich Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 17 ff.
 
30
Vgl. in diesem Lichte Flume, in: v. Caemmerer/Friesenhahn/Lange, FS Deutscher Juristentag, Bd. I, 1960, S. 135 ff.
 
31
Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 201 ff., 312 ff., 354 ff., 518 ff.; weitere Nachweise bei Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 18.
 
32
Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009, S. 19, 49 ff.
 
33
Vgl. Flume, in: v. Caemmerer/Friesenhahn/Lange, FS Deutscher Juristentag, Bd. I, 1960, S. 135 ff.
 
34
Was für normgeprägte Leistungsgrundrechte nicht völlig untypisch ist. Cornils legt für das normgeprägte Leistungsgrundrecht des effektiven Rechtsschutzes, vgl. Art. 19 Abs. 4 GG, unter sorgfältiger Auswertung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung anschaulich dar, dass je nach Fallgestaltung sowohl die eine „Einschränkung“ des effektiven Rechtsschutzes bewirkende Ausgestaltungsgesetzgebung gerügt wird, als auch bei anderer Gelegenheit, etwa bei der Anheimstellung eines mehrstufigen gerichtlichen Instanzenzuges, von einer solchen gerade nicht gesprochen wird: „Zur Klärung der grundrechtsdogmatischen Kernfrage, wie die Verfassungsbindung des Ausgestaltungsgesetzgebers bei Art. 19 Abs. 4 GG strukturell begriffen und dargestellt werden kann, liefert diese Rechtsprechung also zwar eine Reihe von in ihrer Plausibilität überzeugenden Prämissen (i. e.: […] Wirksamkeitspostulate) sowie eine Fülle von Abwägungsargumenten hinsichtlich der Begründung von Ausgestaltungsentscheidungen, aber (noch) keine eindeutig bestimmbare Position“, vgl. ders., Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 460.
 
35
In dem Urt. v. 9.2.2010 verneint, in dem Urt. v 18.7.2012 in die Entscheidung tragender Weise bejaht.
 
36
BVerfGE 132, 134, 162 f.
 
37
BVerfGE 137, 34, 73 f.
 
38
BVerfGE 137, 34, 72.
 
39
BVerfGE 125, 175, 224: „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (vgl. BVerfGE 87, 153, 172; 91, 93, 112; 99, 246, 261; 120, 125, 155, 166).“
 
40
BVerfGE 132, 134, 160: „Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind.“
 
41
BVerfGE 132, 134, 160.
 
42
BVerfGE 125, 175, 223.
 
43
S. die Darstellung bei Arnade, Kostendruck und Standard, 2010, S. 67 ff.
 
44
BVerfGE 132, 134, 159.
 
45
Zu Amtshaftungsansprüchen bei legislativer Untätigkeit, die eine dem Gesetzgeber – wie hier – auferlegte Pflicht evident verletzt hat, siehe BVerfGE 56, 54 = BVerfG, NJW 1981, 1655 m. w. N.; zur Evidenz der Pflichtverletzung und zur Maßstabsbildung BGHZ 102, 350 = BGH, NJW 1988, 478; OLG Köln, NJW 1986, 589 ff. mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des BGH; OLG München, JZ 1987, 88 ff. – es wurde jeweils keine evidente Pflichtverletzung erkannt.
 
46
S. das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V sowie die Richtlinienkompetenz des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 SGB V über Art und Umfang der Heilbehandlung.
 
47
BVerfGE 39, 302, 315: „Das Gebot des sozialen Rechtsstaats (Art. 20 Abs. 1 GG) enthält für den Einzelnen keinen Anspruch auf soziale Leistungen im Bereich der Krankenversicherung durch ein so und nicht anders aufgebautes Sozialversicherungssystem. Damit können die Beschwerdeführerinnen ihr Verlangen auf Bestandsschutz auch nicht von einem – entsprechend ausgestalteten – sozialen Grundrecht natürlicher Personen – hier die Krankenkassenmitglieder – ableiten.“
 
48
Beispielgebend anhand der allgemeinen Handlungsfreiheit und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit BVerfGE 115, 25, 41 f., 44 – „Nikolausbeschluss“.
 
49
Katzenmeier, in: Schmitz‐Luhn/Bohmeier (Hrsg.), Priorisierung in der Medizin, 2013, S. 2 m. w. N.; Leistungskürzungen sind dabei denkbar entweder als verschiedene Formen von Rationierung, s. hierzu Arnade, Kostendruck und Standard, 2010, S. 44 ff., oder unter dem Diktat einer vorherigen Priorisierung, s. hierzu Schmitz‐Luhn, Priorisierung in der Medizin, 2015, S. 7, 15 f.; zu konkreten Umsetzungsvorschlägen s. etwa Marckmann (Hrsg.), Kostensensible Leitlinien, 2015, mit kritischem Beitrag von Hauck, Kostensensible Leitlinien als Rationierungsinstrumente in der GKV?, S. 137 ff.
 
50
Huster, in: Schmitz‐Luhn/Bohmeier (Hrsg.), Priorisierung in der Medizin, 2013, S. 215 ff.
 
51
Friedrich/Schöne‐Seifert, in: Schmitz‐Luhn/Bohmeier(Hrsg.), Priorisierung in der Medizin, 2013, S. 225 ff.
 
52
BVerfGE 125, 175, 222; 132, 134, 159.
 
53
BVerfGE 115, 25, 42 – „Nikolausbeschluss“.
 
54
BVerfGE 115, 25, 42 – „Nikolausbeschluss“: „Ein solcher Eingriff bedarf der Rechtfertigung durch eine entsprechende Ausgestaltung der ausreichenden solidarischen Versorgung, die den Versicherten für deren Beitrag im Rahmen des Sicherungszwecks des Systems zu erbringen ist“.; ferner ebenda Rdnr. 51.
 
55
S. zur Erläuterung „harter“ und „weicher“ Rationierung Arnade, Kostendruck und Standard, 2010, S. 46 m. w. N.
 
56
Vgl. zur Grundrechtsbindung in der gesetzlichen Krankenversicherung BVerfGE 115, 25 – „Nikolausbeschluss“ sowie oben IV.2.
 
57
BVerfGE 125, 175, 223.
 
Metadaten
Titel
Das Grundrecht auf Gesundheit – Ausblick auf einen latenten Standard
verfasst von
Matthias Bernzen
Copyright-Jahr
2017
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54115-9_4

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