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Erschienen in: AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv 2/2023

Open Access 23.08.2023 | Originalveröffentlichung

Die Corona Pandemie in Deutschland

Ein Epilog aus statistischer Sicht

verfasst von: Ulrich Rendtel

Erschienen in: AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv | Ausgabe 2/2023

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Zusammenfassung

Der Artikel präsentiert die Resultate der Grohmann Vorlesung, die am Ende der Corona Pandemie in Deuschland gehalten wurde. Er gibt einen Überblick über die Defizite des Monitorings der Pandemie in Deutschland und schlägt Alternativen vor, wie man bei zukünftigen Pandemien verfahren sollte. Der Artikel analysiert die Schwächen des offiziellen Meldesystems der Inzidenzzahlen und der Vorhersagen von Erkrankungsfällen. Die Vorgehensweise der wissenschaftlichen Kommission zur Evaluierung der Corona Schutzmaßnahmen wird kontrastiert mit alternativen Ansätzen und Ergebnissen. Schließlich werden weitere Zugänge zum Monitoring über Abwasserproben und repräsentative Stichproben vorgestellt. Der Artikel schließt mit einem Plädoyer für eine stärkere Rolle von Statistikern bei Entscheidungen über zukünftige Pandemien.
Hinweise
Schriftliche Fassung der Grohmann Vorlesung 2022 auf der Statistischen Woche in Münster

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

1 Einleitung

Heinz Grohmann hat sich intensiv mit der Verbesserung der Datenlage zur Prognose von Veränderungen in der Bevölkerung befasst. Insbesondere die jährlichen Erhebungen des Mikrozensus waren ihm ein Anliegen (Esser et al. 1989; Grohmann 2009). Allerdings ist die Erhebung von demografischen Daten zur Abschätzung von Engpässen in der Finanzierung des Rentensystems ein vergleichsweise ruhiges Geschäft. Das plötzliche Auftreten und die rasche Ausbreitung einer Pandemie mit einer hohen Zahl von Todesfällen und drastischen Maßnahmen zu deren Eindämmung stellt jedoch wesentlich höhere Anforderungen an die Erhebung von Daten und deren Auswertung.
Im Fall der Corona traten deutliche Probleme bei der Erfassung der Infektionen auf. Für Deutschland wurde allgemein ein „Datenblindflug“ im Monitoring der COVID-19 Infektionen beklagt1. Insbesondere wurde für Deutschland auf das Fehlen einer repräsentativen Längsschnittstudie zur Messung der Corona Inzidenzen hingewiesen, wofür der Term „Datenerhebungskatastrophe“ benutzt wurde2. Das Agieren der politschen Entscheidungsträger wurde als „Herumstochern im Datennebel“ bezeichnet3. Schlimmer noch: Mit zunehmender Dauer der Corona Pandemie entwickelte sich im Internet ein unentwirrbares Gemisch von kontroversen subjektiven Einschätzungen, Verschwörungstheorien und auch glatten Falschmeldungen. Auf internationaler Ebene konstatierte der Uno Generalsekretär Guterres eine „Infodemie“, also eine neuartige Erkrankung unserer Informationswege, die es neben fehlenden Daten schwer macht, zu einer realistischen Einschätzung der Corona Pandemie zu kommen4.
Auch innerhalb der eigenen Zunft gab es Schuldzuweisungen, insbesondere an die Rolle der Fachgesellschaften, die zu langsam und nicht eindeutig auf die Pandemie reagiert hätten: „Seit Beginn der Pandemie erleben wir ein Versagen der Fachgesellschaften, von der Statistik über die Epidemiologie bis zur Soziologie … Genau ein Jahr nach Pandemiebeginn haben sich die Gesellschaften für Statistik und Epidemiologie dann immerhin bequemt, eine eigene Stellungnahme zu veröffentlichen. Doch die ist ein einziger Wattebausch und liest sich wie die Erklärung von jemand, der nichts sagen will.“5. In der Tat liest sich die 40-seitige Stellungnahme der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Statistik (DAGSTAT) unter dem Titel „Daten und Statistik als Grundlage für Entscheidungen: Eine Diskussion am Beispiel der Corona-Pandemie“ etwas schulmeisterlich und länglich6. Es hat mehr als ein Jahr gedauert, bis sich die Arbeitsgemeinschaft der deutschen statistischen Fachgesellschaften zum Datenbedarf in der Corona Pandemie in geäußert hat. Ich kenne Kollegen, die von einem Versagen „der Statistiker“ in der Corona Pandemie sprachen: Man habe nicht genug Einfluss auf die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsträger genommen.
Angesichts des Übergangs der Corona Pandemie zu einer endemischen Erkrankung7 soll hier ein Rückblick auf 2,5 Jahre Corona Management gegeben werden. Was ist falsch gelaufen? Und was könnte bei der nächsten Pandemie besser gemacht werden? Und wie steht es um die Rolle der Statistik und ihrer Akteure beim Monotoring von Pandemien?

2 Datenquellen und Aufgaben

Zur Einschätzung der Infektionslage wurden verschiedene Datenquellen benutzt. Das wichtigste Instrument war die tagesaktuelle Meldunge der Gesundheitsämter über bestätigte Infektionen. Diese Meldungen wurden vom Robert-Koch-Institut (RKI) auf Kreisebene zusammengefasst und in täglichen Berichten des RKI veröffentlicht8. Die Hospitalisierungsrate misst die Belastung der Krankenhäuser durch COVID-19 Patienten über die Anzahl der Krankenhauseinweisungen pro 100 Tsd. Einwohner. Die Belastung der Intensivstationen der Akut-Krankenhäuser durch COVID-19 Patienten wird über das DIVI-Register erfasst9. Schließlich gibt es noch das Sterberegister, wo Vergleiche mit der erwarteten Anzahl der Sterbefälle zu einer Ermittlung der sogenannten Übersterblichkeit genutzt werden können. Weitere Hilfsmittel zu Beurteilung der Infektionslage waren mathematische Modelle zur Übertragbarkeit der Ansteckung und zur Wiedergenesung, die insbesondere eine Prognose der weiteren Infektionen versprechen. Die Schätzung der Modelle basiert jeweils auf den Infektionsdaten des RKI.
Neben diesen Datenquellen gibt es jedoch noch alternative Datenzugänge. Hier wurden – allerdings nicht in Deutschland – zunehmend Abwasserdaten für das Monitoring der Pandemie genutzt. Eine weitere Alternative besteht in der Koppelung von Befragungen mit Beprobungen, hier konkret mit einem Corona PCR-Test. Diese Möglichkeit wird zum Beispiel bei Rendtel et al. (2021) diskutiert.
Informations- und Datenquellen helfen, die folgenden Aufgaben zu bewältigen: Zunächst möchte man allgemein etwas über die Ausbreitung der Krankheit, ihre Geschwindigkeit und räumliche Konzentration erfahren. Diese Aufgabe kann man unter dem Begriff des Monitoring zusammenfassen. Für Aussagen über die Belastung des Gesundheitssystems sind andere Informationen und Daten erforderlich. Diese ist ihrerseits mit einer Vorhersage der Erkrankungszahlen und andererseits mit der Schwere der Erkrankungen verbunden. Ein anderer Aspekt ist die Eindämmung (Containment) der Infektion. Schließlich ist man einer Evaluation der Eindämmungsmaßnahmen interessiert.
Tab. 1 zeigt verschiedene Kombinationen von Datenquellen und Aufgaben. Die mit „+“ gekennzeichneten Felder verweisen auf a‑priori gute Kombinationen von Datenquelle und Analysezweck. Diese ist beispielsweise für die Messung der Belastung der Gesundheitssystems durch die Meldungen der Krankenhäuser über die Hospitalisierungsrate durch COVID-19 Patienten und die Belegung der Intensivbetten durch das DIVI-Register gegeben. Bei anderen Kombinationen ist dies nicht so eindeutig. Beispielsweise ist nicht klar, welche Aussagen aus den gemeldeten Infektionszahlen über den Erfolg der Eindämmungsmaßnahmen hergeleitet werden können. Diese mit „?“ markierten Kombinationen sollen in diesem Aufsatz diskutiert werden.
Tab. 1
Informationsquellen und Aufgaben: Kombinationen mit „?“ sind in ihren Effekt nicht offensichtlich und werden in diesem Aufsatz näher besprochene. Kombinationen mit „+“ erscheinen dem Autor a‑priori als gesicherte Kombinationen und werden hier nicht weiter diskutiert
 
Aufgaben
Quelle
Ausbreitung
Belastung
Vorhersage
Eindämmungseffekt
Evaluation
 
Monitoring
G.-System
 
Containment
Eindämmungsm.
Meldesystem
?
?
 
+
?
G‑Ämter + RKI
     
Meldungen K‑Häuser
 
+
   
Hospitalisierungsrate
     
DIVI Register
 
+
   
Belegungsrate Intensivbetten
     
Sterberegister
 
+
  
+
Übersterblichkeit
     
Mathematische Modelle
  
?
 
?
Abwasserproben
?
   
?
Umfragen
?
   
?
mit Beprobungen
     

3 Die Messung der Corona Inzidenzen

3.1 Die offiziellen Inzidenzzahlen

Das Monitoring der Corona Infektionen im Rahmen des offiziellen Meldesystems basiert auf der Anzahl der bestätigten Neuinfektionen pro 100 Tsd. Einwohnern in den letzten 7 Tagen. Wegen des starken wöchentlichen Meldemusters wird die Inzidenz als gleitender Durchschnitt über die letzten sieben Tage gemessen10. Der Bezug auf eine Bevölkerungszahl ermöglicht regionale Vergleiche. Dies war im Falle der RKI-Daten meist die Ebene der Stadt- und Landkreise.
Die 7‑Tages Inzidenz nahm in der Öffentlichkeit eine zentrale Stellung ein. Diese Stellung wurde auch durch die Regelungen des Infektionsschutzgesetzes verstärkt, das die 7‑Tagesinzidenz auf Kreisebene zur Begründung diverser Schutzmaßnahmen benutzte. Ob Maskenpflicht, Abstandsregeln, Reise- und Kontaktbeschränkungen oder Lockdown: Alles war an die 7‑Tagesinzidenz gekoppelt. Die RKI-Werte erfuhr man täglich aus den Nachrichten, Zeitungen, Online-Plattformen mit grafischen Animationen und Landkarten, über das RKI-Dashboard, die RKI-Tagesberichte sowie ausführlicher über die RKI-Wochenberichte11. Einige Portale präsentierten etwas modifizierte Inzidenzwerte, die von den RKI-Zahlen abwichen und aktuelle Entwicklungen rascher darzustellen versprachen.

3.2 Meldeverzug und Digitalisierung

Ein Defizit des Meldesystems über die Gesundheitsämter war der sogenannte Meldeverzug. Nach Wochenenden wurden Infektionszahlen oft erst Dienstags oder Mittwochs nachgemeldet. Teilweise fehlten die Meldungen ganzer Regierungsbezirke. Die öffentlichen Kritik („Fax statt zentrale Datenbank“) zielte auf eine fehlende digitale Infrastruktur12 bei den Gesundheitsämtern sowie eine insgesamt zu geringe Digitalisierung des Gesundheitswesens. Mitten in der Pandemie sollten die Gesundheitsämter auf eine neue Erfassungssoftware (SORMAS) umsteigen, die vom Bundesgesundheitsministerium bereit gestellt wurde. Das konnte nicht gut gehen.
Auch bei der Erfassung von Infektionsketten setzte Gesundheitsminister Spahn auf eine schnelle digitale Lösung. Mit großen öffentlichen Vorschusslorbeeren wurde zu Beginn der Corona Pandemie die Corona Warn App13 entwickelt. Mit Hilfe der Bluetooth Technologie sollten infizierte Kontaktpersonen über die zeitliche und räumliche Nähe von Smartphones ermittelt werden. Der finanzielle Aufwand für die Entwicklung und den Betrieb des Systems belief sich immerhin auf 220 Mio. Euro14. Aber es gab Probleme mit häufigen Fehlalarmen15 und insbesondere die Meldung von Infektionen in das System machten die App langsam und damit ineffizient. Die versprochene Evaluation der Corona Warn App lieferten zwar Download-Zahlen in Millionenhöhe16. Aufschlussreicher wäre jedoch die Angabe gewesen, wie viele Personen zuerst über die Warn App von einer Infektion erfahren haben. Diese Information ist das Verdienst einer hartnäckigen Recherche von netzpolitik.org17. Basis dieser Recherche sind die Ergebnisse einer Befragung (SURVNET) positiv getesteter Personen durch die Gesundheitsämter, um herauszufinden wie die Personen von ihrer Corona Infektion erfahren haben. Unter den möglichen Antworten war auch die Nennung über die Corona Warn App. In Woche 51/2020, also auf dem Höhepunkt der zweiten Welle, machten von dieser Antwortmöglichkeit gerade mal 106 Personen Gebrauch, während 32594 Personen die Nennung Testung/Reihenuntersuchung angaben. Abb. 1 zeigt lediglich die Größenverhältnisse der Antwortkategorien. Der Verlauf der Nennung Warn App ist kaum von der Null-Linie zu unterscheiden. Insgesamt waren die 220 Mio. Euro für die Warn App ihr Geld nicht wert!
Der Einsatz der Digitalisierung im Gesundheitswesen soll allerdings noch deutlich ausgebaut werden. So empfiehlt die Corona Experten Kommission im Februar 2022 die Nutzung der Elektronischen Patientenakte um damit Meldungen über Erkrankungen, Impfung und Hospitalisierung zu sammeln18. Dabei wird übersehen, dass das System der Elektronischen Patientenakte immer noch an technischen Unzulänglichkeiten und Datenschutzbedenken krankt. Und bisher gilt noch immer die Freiwilligkeit der Teilnahme der Patienten, die arge Löcher in die Vollstandigkeit der Daten reißen wird.

3.3 Scheinbare Veränderungen der Inzidenzen

Bedeutend wichtiger ist jedoch der Einfluss unterschiedlicher Regelungen, wer überhaupt getestet wurde. Diese Regelungen stehen in direkter Verbindung mit der Dunkelziffer der nicht entdeckten Neuinfektionen im Zeitverlauf, vgl. zum Beispiel Rendtel et al. (2021). Die Dunkelziffer ist auch deswegen hoch, weil es insbesondere bei Kindern asymptomatische Verläufe der Infektion gibt. Wäre die Dunkelziffer über die Zeit stabil, so könnte man aus dem Auf und Ab der Inzidenzzahlen auf den Verlauf der Pandemie schließen. Zwar wäre der Umfang der Infektionen falsch eingeschätzt worden, aber der Verlauf der Infektionswellen würde trotzdem korrekt angezeigt werden.
Allerdings ergaben sich im Verlauf der Corona Pandemie recht unterschiedliche Anreize für die Durchführung eines Corona Tests, so dass von einer zeitlich konstanten Dunkelziffer kaum ausgegangen werden kann. Aufgrund der anfangs begrenzten Testkapazitäten wurden zunächst nur Kontaktpersonen von Infizierten getestet. Schrittweise konnten sich dann vulnerable Personen und Personen in systemrelevanten Bereichen testen lassen. Mit der Überprüfung von Kitas und Schulklassen wurden die Testpopulation wesentlich vergrößert. Ebenso vergrößerte die 3G-Regelung, nach der nur Genesene, Geimpfte oder Getestete Zugang zu Restaurants und Geschäften hatten, die Testpopulation erheblich. Umgekehrt dürfte die Omikron Welle ab Januar 2022 mit relativ milden Krankheitsverläufen und reichlich vorhandenen Schnelltests kaum zur nachträglichen Durchführung eines PCR-Tests motiviert haben. Es reichte ja zu Hause zu bleiben und zu warten, bis weitere Schnelltest das Ende der Infektion anzeigten. Die steil ansteigenden Inzidenzzahlen zu Beginn des Jahres 2022 dürfen das wahre Ausmaß der Omikron Welle noch deutlich unterzeichnet haben.
Die gemeldeten Infektionszahlen hängen stark von der Anzahl der durchgeführten Tests ab. Wird weniger getestet, so sinkt auch die Anzahl der gemeldeten Infektionen. Da die Bevölkerungszahl konstant ist, sinkt der jeweilige Inzidenzwert. Man könnte diesen Effekt eliminieren, indem man die Infektionszahlen auf die Anzahl der gemeldeten Tests bezieht. Dies führt auf die so genanntePositivrate, die man ebenfalls für das Monitoring der Corona Pandemie benutzen kann.
Zur Jahreswende 2020/2021 trat eine starke Abnahme der Testungen ein. In der Woche vor Beginn der Weihnachtstage war ein harter Lockdown gestartet worden, der das Ziel hatte, die weihnachtlichen Familienkontakte zu reduzieren und so die vorher rasch ansteigenden Inzidenzzahlen zu senken. In der Tat sanken unmittelbar danach deutschlandweit die Inzidenzwerte, vgl. Abb. 2 (Oben). Allerdings sanken auch die während der Feiertage durchgeführten Tests dramatisch, vgl. Abb. 2 (Links unten). Diese Abnahme kann zum einen das Resultat der üblichen Festtagsruhe mit weniger Arztbesuchen gewesen sein. Sie konnte aber auch als unmittelbare Wirkung des Lockdowns interpretiert werden. Betrachtet man jedoch die Positivrate der Testungen in Abb. 2 (Unten rechts) so geht diese steil nach oben und erreicht zum Jahreswechsel ihren Höchstwert. Auch hier sind zwei gegenläufige Interpretationen möglich. Der Anstieg der Positivrate kann einerseits als Ausbreitung der Corona Pandemie in der Bevölkerung interpretiert werden, die um die Jahreswende ihren Höhepunkt erreicht. Umgekehrt ist jedoch auch eine Interpretation über einen Selektionsprozess möglich. Danach lassen sich über die Feiertage nur diejenigen Personen testen, die über ernsthafte Gesundheitsbeschwerden klagen und damit eine höhere Wahrscheinlichkeit haben an Corona erkrankt zu sein. Die Positivrate taugt daher nur eingeschränkt dazu, die Entwicklung des Infektionsgeschehens zu beurteilen. Erst in der längeren zeitlichen Darstellung bis Mitte Februar 2021 erscheint die Interpretation plausibel, dass die Pandemie – entgegen den Versprechungen der Lockdown-Befürworter – erst zwei Wochen nach Verhängung der Kontaktsperre ihren Höhepunkt erreicht hat. Die rigide Einschränkung der Weihnachtskontakte war also eher folgenlos für das Infektionsverhalten. Der kurzfristige Rückgang der gemeldeten Inzidenzzahlen war damit irreführend.
Tab. 2
Vergleich der 7‑Tages-Inzidenzen von Kita- und Schulkindern zwischen der Kalenderwoche 50 (Kitas und Schulen geschlossen) und der Kalenderwoche 15 (Kitas und Schulen teilweise geöffnet) Quelle: RKI
Altersgruppe
Kalenderwoche 50
Kalenderwoche 15
 
7.–13. Dez. 2020
12.–18. April 2021
20–24
224
249
15–19
154
271
10–14
114
205
5–9
67
185
Ein anders Beispiel betrifft die angeblich stark gestiegenen Inzidenzzahlen unter Kita- und Schulkindern im Frühjahr 2021 (Kalenderwoche 15). Im Vergleich zur Kalenderwoche 50 am Ende des Jahres 2020 verdoppelten sich die Inzidenzzahlen für diese Personengruppe, vgl. die Werte in Tab. 2. Allerdings blieben die Inzidenzwerte für die Altersgruppe 20 bis 24 nahezu unverändert, was nicht unbedingt für eine Intensivierung der Corona Pandemie unter Kindern und Jugendlichen spricht. In der Tat hatte sich nur die Testung unter den Schülern und Kitakindern intensiviert. In Kalenderwoche 50 waren deren Einrichtungen weitgehend geschlossen, während sie in Kalenderwoche 15 teilweise wieder geöffnet wurden, allerdings unter einem strikten Testregime mit der Testung ganzer Klassen und Kitagruppen. In der medialen Öffentlichkeit wurde allerdings wild darüber spekuliert, ob die partielle Wiedereröffnung der Kitas und Schulen zu einer rasanten Ausbreitung des Corona Virus unter Kindern geführt hat19.

3.4 Die regionale Darstellung von Inzidenzen

Gerade am Beginn der Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit ist das Interesse an der regionalen Ausbreitung der Krankheit und ihren Hot-Spots groß. Schließlich bietet sich hier die Möglichkeit, die Ausbreitung der Krankheit gezielt zu verlangsamen20, z. B. durch die Ermittlung des noch überschaubaren Kreises von Kontaktpersonen. Hieraus erklärt sich auch ein großes Interesse an regionalen Studien. Dies auch deshalb, weil einzelne Kommunen durchaus Sonderwege gegangen sind und den Erfolg ihrer Maßnahmen überprüfen wollten. Beispielsweise hat die Stadt Rostock schon sehr frühzeitig ein Testprogramm für Schüler durchgeführt21. In München wurde bereits im April 2020 vom Tropeninstitut der LMU die COVID-19 Kohorte (KoCO19)22 gestartet, die in vorbildlicher Weise das Infektionsgeschehen in München im Längsschnitt abbildet. Ein wesentliches Ziel regionaler Studien23 war die Ermittlung der Dunkelziffer der Corona-Infektionen in der jeweiligen Stadt. Hier waren zunächst nur Gemeinden mit großen Corona-Ausbrüchen untersucht worden, z. B. in Heinsberg (Ausbruch auf Karneval-Veranstaltung) oder Tirschenreuth (Ausbruch bei Bierfest)24. Allerdings waren diese frühen Ergebnisse nur für die untersuchten Gemeinden aussagekräftig. Auch schwanken die Angaben über die Dunkelziffer erheblich (Faktor 2 bis Faktor 10).
Wegen der großen regionalen Unterschiede bei Beginn der Pandemie war das Interesse an der Identifikation räumlicher Cluster und ihrer z eitlichen Stabilität groß. Das RKI produzierte zu diesem Zweck täglich eine Deutschlandkarte, in der jeder Kreis mit seiner aktuellen Tagesinzidenz repräsentiert wurde. Gleichzeitig wurden die 15 Kreise mit den höchsten Inzidenzwerten neben der Karte aufgelistet. Abb. 3 zeigt die Karte von 3. Oktober 2020, dem Beginn der zweiten Corona Infektionswelle.
Dadurch dass die gesamte Kreisfläche gleichmäßig mit einer Farbe angezeigt wird, wird den Eindruck erweckt, dass sich die Infektionen gleichmäßig über die gesamte Kreisfläche verteilen. Als Konsequenz entstehen harte Sprünge an den Kreisgrenzen. Derartige Sprünge im Infektionsverhalten sind jedoch wenig plausibel, da sich Corona über räumliche Kontakte verbreitet, und sie verhindern die Identifikation von räumlichen Clustern. Zu diesem Zweck wurde von Rendtel et al. (2021) eine alternative glatte Darstellungsform über räumliche Dichten entwickelt, die auf Basis exakt derselben RKI-Kreiszahlen glatte Infektionscluster liefert. Abb. 4 zeigt auf der rechten Seite die alternative Darstellung der Infektionslage am 3. Oktober 2020 mit derselben Farbkodierung wie die RKI-Karte. Diese zeigt gut identifizierbare Infektions-Cluster an, wobei insbesondere die Kommunen der Rhein/Ruhr-Gebiets zu einem einzigen Cluster verschmelzen. Interessant ist das Cluster südwestlich von Bremen, das von der RKI-Karte nicht angezeigt wird. Diese Gegend liegt in einer landwirtschaftlich geprägten Region mit Schlachtbetrieben. Es wird sich über die gesamte 2. Welle als zeitlich stabiles Hochinfektionsgebiet erweisen25.
Die Realisierung dieses Ansatzes wurde als leicht zu bedienende Internet-Anwendung frei zur Verfügung gestellt, vgl. Rendtel et al. (2021b). Hier konnte man die zeitliche Ausbreitung der Corona Pandemie seit Oktober 2020 tagesaktuell verfolgen. Über eine Animation ließ sich die zeitliche und räumlich Entwicklung der Infektionscluster leicht verfolgen. Abb. 5 demonstriert über drei Screenshots die Entwicklung von drei Inzidenzclustern (Bautzen, Riesa und Erzgebirge) in Sachsen. Hier zeigten sich am 30. Oktober (Bild links) noch drei separate Infektionscluster, die am 12. November (Bild mitte) im Begriff sind zusammen zu wachsen und am 17. Dezember (Bild rechts) kurz vor dem Höhepunkt der zweiten Infektionswelle inmitten eines völlig infizierten Bundeslands Sachsen liegen.
Eine ähnlich stabile Darstellung über die Zeit ist mit den Karten des RKI nicht zu erreichen, weil hier die harten Sprünge an den Kreisgrenzen eine Identifikation von Clustern über die Zeit sehr erschweren26 Per Konstruktion ist diese Darstellung völlig kompatibel mit den vom RKI veröffentlichten Kreiszahlen. Obwohl das RKI mehrfach auf diese Darstellungsform angesprochen wurde, gab es keinerlei Reaktion auf dieses ergänzende Informationsangebot, das zudem noch kostenlos erbracht wurde.

4 Was leistete das Meldesystem der Gesundheitsämter und des RKI

Das Meldesystem verspricht eine schnelle Ermittlung der Corona Infektionszahlen und somit ein Monitoring der pandemischen Entwicklung. Allerdings vergeht einige Zeit von einer Ansteckung bis zu einem manifesten PCR-Testergebnis und der Meldung an das RKI. Hier verspricht das weiter unten erwähnte Abwasser-Monitoring schneller zu sein, da hier die Inkubationsphase, die Phase bis zur Testung und die Meldeperiode, übersprungen werden.
Wesentliche Schwächen eines Monitoring über die Ermittlung der Infektionszahlen liegen in der bei COVID-19 Erkrankungen hohen Dunkelziffer, den beschriebenen schwankenden Testintensitäten und einer gewollten lokalen Ungenauigkeit, die regionale Ergebnisse nur auf Kreisebene dokumentiert. Eine Stärke des Systems ist sicher die Isolation von positiv Getesteten und die Ermittlung ihrer Kontaktpersonen. Dies ermöglicht zumindest eine Eindämmung oder zumindest eine Verlangsamung der Krankheitsausbreitung bei Beginn einer Pandemie. Bei den späteren sehr hohen Infektionszahlen von täglich über 100 Tausend kann ein solcher Anspruch nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Infektion hatte großflächig der Bevölkerung erreicht und die Gesundheitsämter waren mit der Weiterverfolgung der Infektionsketten hoffnungslos überfordert.
Ein Nebenprodukt der Messung der Infektionszahlen ist der R‑Wert, der als die erwartete Anzahl der Ansteckungen pro Infektion interpretiert wird. Bei R‑Werten über 1 breitet sich die Krankheit weiter aus, bei R‑Werten unter 1 schrumpft die Anzahl der Neuerkrankungen. Da der R‑Wert bei stetiger Betrachtungsweise als Ableitung der Erkrankungszahlen interpretiert werden kann, ist er gegenüber konstanten Verfälschungen der Erkrankungszahlen unempfindlich. Wäre also die Dunkelziffer bei der Erfassung der Corona-Infektionen über die Zeit konstant, so könnte der R‑Wert – anders als die absolute Anzahl der Infektionen – trotzdem korrekt ermittelt werden. Wie wir aber gesehen haben, gab es vielfältige Impulse für ein verändertes Testverhalten, so dass die Ermittlung des R‑Werts ebenfalls auf wackeligen Füßen steht. Außerdem wurde der R‑Wert nur auf der Ebene der Bundesländer berechnet, was für regionale Beurteilungen des Infektionsverhaltens zu grob ist.
Weiterhin können die Corona Inzidenzen – egal ob gemeldete oder korrekt berichtete Inzidenzen – nur sehr eingeschränkt als Frühindikator für eine Belastung des Gesundheitswesens in Krankenhäusern und Intensivstationen genutzt werden. Denn die gleiche Anzahl von Infektionen hat bei den Beginn der Pandemie zu deutlich höheren Hospitalisierungen geführt als in späteren Wellen. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen wechselte das Corona Virus von Welle zu Welle seine Eigenschaften, wobei in der Regel die Übertragbarkeit zunahm und die Schwere der Krankheitsverläufe abnahm. Weiterhin wurden die vulnerablen Personen in Alters- und Pflegeheimen besser geschützt. Schließlich sorgten auch die Impfungen seit Frühjahr 2021 sowie die zunehmende Anzahl von Personen mit einer natürlichen Immunisierung aufgrund einer Infektion zu einer deutlichen Abnahme des Hospitalisierungsrisikos. Auf dem Höhepunkt der Omikron Welle im Frühjahr 2022 lag der Inzidenzwert wochenlang über 100027, ohne dass der Krankenhausbetrieb ernsthaft gefährdet war. Das Infektionsschutzgesetz koppelte die Einführung von Schutzmaßnahmen jedoch ausschließlich an die Inzidenzwerte auf Landkreisebene. Bei der ersten Änderung im Frühsommer 2020 war ein Inzidenzwert von 50 für Schutzmaßnahmen vorgegeben worden. Bei der Bundesnotbremse im Frühjahr 2021 konnte ein Inzidenzwert über 100 Schutzmaßnahmen begründen. Erst bei einer weiteren Novellierung des Infektionsschutzgesetzes im Herbst 2022 wurde die Bedeutung der 7‑Tages Inzidenz relativiert und auf die Hospitalisierung und die Anzahl der verfügbaren Intensivbetten Bezug genommen28. Während in der ersten Phase einer Pandemie der Eindämmungs- und Verzögerungsaspekt durchaus eine wichtige Rolle spielt, sollte in den nachfolgenden Phasen eher die Belastung des Gesundheitssystems im Vordergrund stehen. Dies ist beim Corona-Management erst nach zweieinhalb Jahren geschehen.
Ein großer Nachteil dieses Ansatzes ist die schlechte Prognostizierbarkeit des Pandemieverlaufs anhand der Infektionszahlen. Man kann lediglich hoffen, dass ein beobachtetes Sinken von Infektionszahlen den weiteren Abschwung einer Infektionswelle anzeigt. Gesichert ist dies aber nicht und der unvermittelte Aufschwung der Infektionszahlen im Frühjahr 2022 gleich nach der zweiten Infektionswelle zeigte, wie unsicher Vorhersagen auf Basis von Infektionszahlen sind.

5 Die Prognose von Infektionsverläufen über mathematische Modelle

Abhilfe bei der Prognose des Pandemieverlaufs versprechen mathematische Modelle des Ansteckungs- und Genesungsverhaltens, vgl. zum Beispiel Li (2018). Diese firmieren unter dem Label SIR, für wobei S für „susceptible“ (Ansteckbare), I für „infected“ und R für „removed“ (Genesene oder Verstorbene) steht. Die Übergänge zwischen diesen drei Zuständen werden durch zwei konstante Übergangsraten bestimmt. Übergänge von S nach I über die Infektionsrate und Übergänge von I nach R über die Genesungsrate. Dies ergibt ein System von Differentialgleichungen, die sich explizit lösen lassen. Abb. 6 zeigt den typischen Infektionsverlauf in einem SIR-Modell. Dieses einfache Modell kann durch weitere Zustandsdefinitionen, ergänzt werden, die zu komplexeren Differentialgleichungssystemen führen, aber noch analytisch lösbar sind.
Die Stärke dieser Modelle liegt in qualitativen Aussagen zu möglichen Infektionsverläufen, insbesondere wenn noch wenige Informationen über das Ansteckungs- und Genesungsverhalten bekannt sind. Daher sind empirische Analysen dieser Modelle eher selten. Zudem sind die strikten Homogenitätsannahmen bezüglich des Kontakt- und Ansteckungsverhaltens über Regionen, Altersgruppen, Kontaktregelungen, Impfquoten und Virustyp nicht realistisch und entsprechend unrealistisch dürften auch die resultierenden Prognosen dieser Modelle sein. Empirische Analysen im Rahmen von SIR Modellen führen aufgrund fehlerhaft gemessener Inzidenzen gleichermaßen zu fehlerhaften Ergebnissen.
Die Anwender dieser Ansteckungsmodelle haben sich über zwei markante Ansätze in die Vermessung der Corona Pandemie eingebracht. Das erste Konzept wurde am Anfang der Pandemie im Vereinigten Königreich angewendet. Die sogenannte „Herdenimmunität“ versprach ein Aussterben der Krankheit, wenn sich nur genügend viele Personen an der Krankheit angesteckt haben. Man wollte auch anfänglich genau wissen, wie groß dieser Prozentsatz sein sollte. Hier wurden Werte von 66 Prozent genannt. Diese Prognose verführte die britische Regierung dazu, zu Anfang der Pandemie nichts zu tun. Das Problem würde sich ja von selbst lösen. Erst als die Todeszahlen durch Corona nicht mehr tolerabel waren, entschloss man sich zu radikalen Lockdown-Maßnahmen.
Das zweite Modell wurde unter dem Label Null-COVID Strategie29 betrieben: Es sah für Deutschland eine Einteilung in regionale Zonen vor. Grüne Zonen sollten mit strengen Zugangsbeschränkungen Inzidenzen unter 10 garantieren. Dieses Konzept wurde für Deutschland zum Glück nie ernsthaft in Erwägung gezogen, obwohl sich hinter dem Konzept sogar Professoren-Namen aus dem renommierten Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung versammelten. In Neuseeland, das durch seine isolierte Land eher für derartige Abschottungsexperiment geeignet scheint, wurde die Null-COVID Politik über einige Zeit durchgehalten30. Aber im Herbst 2021 schwenkte Neuseeland auf eine intensive Impfpolitik um. Ab Februar 2022 ließ die Omikron Variante die Infektionszahlen in Neuseeland explodieren. Die offizielle Infektionsrate wird aktuell mit 42,1 Prozent angegeben31, was nur knapp unter dem Wert von Deutschland mit 45,5 Prozent liegt.
Lediglich die Volksrepublik China hat über lange Zeit eine rigide Null-COVID Politik verfolgt, die die Bevölkerung ganzer Stadtviertel in ihren Wohnungen einsperrte und den Verkehr innerhalb des Landes mit gravierenden ökonomischen Konsequenzen einschränkte. Die offizielle Infektionsrate betrug bis November 2022 lediglich 0,1 Prozent. Ob es nun die enormen wirtschaftlichen Schäden waren oder das vernehmbare Murren der betroffenen Bevölkerung oder das Einsehen, dass sich das Corona Virus sich nicht aufhalten läßt, jedenfalls wurde die Null-COVID Strategie im Dezember 2022 schlagartig aufgegeben. Im Gefolge rollte eine gewaltige Infektionswelle durch das Land, deren Umfang nicht mehr durch die offiziellen Infektionszahlen wiedergegeben wurde32.

6 Empfehlungen der Wissenschaft

Wie man an den Vorschlägen zur Null-COVID Strategie sieht, gab es auch wenig hilfreiche Vorschläge zur Bekämpfung der Corona Pandemie von einschlägigen, namhaften Wissenschaftlern. Eine geschlossene Meinung der Wissenschaft zur Corona Pandemie gab es jedoch nie. Von daher erscheint es ratsam, sich auf ein breites konsensuelles Beratungsgremium zu verlassen. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina stellt ein breites Spektrum von hochrangigen Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fakultäten dar, mit der Aufgabe der Beratung von Politik und Öffentlichkeit33. Dieses Gremium hat in diversen Stellungnahmen der Bundesregierung Empfehlungen zur Bewältigung der Corona Pandemie gegeben. Besonders folgenreich war die Empfehlung vom 8. Dezember 202034, die den programmatischen Titel trug „Die Feiertage und den Jahreswechsel für einen harten Lockdown nutzen!“. Dieser Empfehlung der Wissenschaftsakademie ist die Bundesregierung auch gefolgt und hat einen harten Lockdown ab dem 16. Dezember verfügt35. Abb. 7 zeigt die Begründung für die Empfehlung. Sie stützte sich im wesentlichen auf drei unterschiedliche Szenarien bei Verhängung oder Nicht-Verhängung eines Lockdowns zum 14. Dezember (Links) oder zum 25. Dezember (Rechts). Die Szenarien unterschieden sich nach Grad der Einschränkungen und dem sozialen Kontaktverhalten. Die geschätzen Auswirkungen wurden über den R‑Wert modelliert.
Allerdings braucht es für die Aussage, dass bei einem harten Lockdown der R‑Wert sinkt, keine besondere wissenschaftliche Qualifikation. Entscheidend ist hier die präzise Angabe, welche Zeitspanne es braucht, um die Pandemie wieder unter den Zielwert einer Inzidenz von unter 50 zu bringen. Dies sollte gemäß den Vorhersagen der Empfehlung bis spätestens zur ersten Januarwoche geschehen. Diese Vorhersage wurde krachend verfehlt36! Der Lockdown wurde erst zum 14. Februar bei einem Inzidenzwert von 57 gelockert. Schaut man sich die wissenschaftliche Begründung für diese Prognose an, so trifft man wieder auf das eingangs vorgestellte SIR Modell und sowie eine Analyse der Wirksamkeit des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 (Dening et al. 2020). Dass inzwischen eine neue ansteckendere Virusvariante aktiv war, wurde bei Anwendung der Ergebnisse ignoriert. Es ist schon merkwürdig, dass solche angreifbaren Prognosen die Basis für derart gravierende politische Entscheidungen werden konnten. Waren es falsche Ratschläge von Statistikern? Die Mehrzahl der Autoren der Arbeit von Dening et al. (2020) arbeitet am Max Planck Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Dieses Institut hat nach eigener Darstellung einen Schwerpunkt in der Erforschung Nicht-linearer Systeme in Physik und Biologie37. Dort arbeitet man gerne mit partiellen Differentialgleichungen und daher passt das SIR-Modell und seine Lösung in die Arbeitsweise des Instituts.

7 Die Evaluation von Corona Schutzmaßnahmen

Auch ohne wissenschaftlichen Beistand hätte man sagen können, dass viele der diskutieren Corona Schutzmaßnahmen die Ausbreitung von Corona Erkrankungen eindämmen. Allerdings bedeuten die diskutierten Maßnahmen sehr unterschiedliche Einschränkungen von Grundrechten (zum Beispiel Kontaktbeschränkungen) beziehungsweise sind sie mit unterschiedlich hohen Kosten verbunden. So werden beispielsweise für die Durchführung der 3 G‑Regel (Zutritt zu Geschäften, Restaurants, etc. nur für Geimpfte, Genesene und Getestete) und die damit verbundenen kostenlosen Bürgertests mit einer Milliarden Euro pro Monat veranschlagt38. Die Schließung von Kitas und Schulen belastete Eltern und Kinder extrem. Der Erfolg des ersatzweise angebotenen Online Unterrichts wird heute angezweifelt und es werden deutliche Lernrückstände gemessen39. Auch Gesundheitsminister Lauterbach schätzte rückblickend die Schließung der Schulen als einen Fehler ein40.

7.1 Ergebisse der Evaluationskommission der Bundesregierung

Von daher war eine wissenschaftliche Evaluation der beschlossenen Maßnahmen, insbesondere des Lockdowns vom Dezember 2020 bis März 2021 dringend geboten. Zu diesem Zweck wurde nach den Bundestageswahlen und der Neubildung der Bundesregierung im Dezember 2021 eine Expertenkommission eingesetzt. Die Zusammensetzung Kommission41 war hochkarätig: Virologen, Ärzte, Soziologen, Ökonomen, Juristen. Nur Statistiker beziehungsweise Epidemiologen suchte man vergebens42. Die Kommission interpretierte ihre Aufgabe in einem kontrafaktischen Szenario: Was wäre ohne die jeweilige spezifische Maßnahme, z. B. Schulschließungen, passiert? Wie hätten sich die Infektionszahlen unter diesem Alternativszenario entwickelt? Die Beantwortung dieser Frage ist schwierig. Man bräuchte ein vergleichbares Land ohne eine derartige Maßnahme, um den Effekt der Maßnahme abzuschätzen. Es müßte ein begleitendes Evaluationsprogramm her, ähnlich dem finanziell aufwändigen Forschungsprogramm zur Evaluation der Hartz-IV Reformen. Am besten sei eine repräsentative Längsschnittstudie auf individueller Ebene. Zwar gäbe es eine Reihe von Plausibilitäten, dass die Eindämmungsmaßnahmen in die gewünschte Richtung gewirkt hätten, aber ohne die geforderten Analysemittel sei eine quantitative Abschäzung des Lockdown Effekts nicht möglich (S. 84 des Abschlussberichts43). Soweit das ernüchternde Result führender Wissenschaftler, die diesen Report noch neben den üblichen Dienstaufgaben ohne große finanzielle Unterstützung erstellt hatten.

7.2 Quantitative Evaluationsergebnisse

Trotz dieser Negativ-Aussage gab es im Sommer 2022, als das Ende der Pandemie absehbar war, einige Versuche quantitativen Ergebnisse zur Wirkung von Eindämmungsmaßnahmen zu produzieren. Basis aller Vergleiche sind ähnliche Länder (EU, Bundesländer, Landkreise) mit unterschiedlichen Regelungen zur Eindämmung von Corona. In der Öffentlichkeit wurde jedoch Alles, was nicht einheitlich geregelt war, als „Flickenteppich“ negativ bewertet. Nationale Regelungen, auch wenn sie Wortungetüme wie die „Bundesnotbremse“ darstellen, werden dagegen bevorzugt44. Dass unterschiedliche Regelungen verbesserte Möglichkeiten der Analyse von Corona Schutzmaßnahmen ermöglichen, wurde in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen.
Der Wert unterschiedlicher regionaler Corona Maßnahmen wurde in der Wissenschaft durchaus erkannt und zur Evaluation von Corona Maßnahmen genutzt. Beispielsweise untersuchten Apel et al. (2023) die Wirkung einer nächtlichen Ausgangssperre im April 2021 in Hamburg. Natürlich ging die Anzahl der Corona Infektion nach der Ausgangssperre zurück, aber das tat sie auch in anderen Städten ohne Ausgangssperre. Hilfreich ist hier die Konstruktion eines synthetischen Hamburg aus den gewichteten Infektionszahlen von mehreren Städten ohne Ausgangssperre, die das Infektionsrisiko von Hamburg bis auf die Ausgangssperre gut abbilden. Der Vergleich mit dem synthetischen Hamburg ergab dann den Effekt der Ausgangssperre.
Ein Ländervergleich wurde im Rahmen einer WHO-Studie zwischen Deutschland und Schweden hinsichtlich der Übersterblichkeit durchgeführt. Im Gegensatz zu Deutschland hatte Schweden auf Lockdowns und die Schließung der Gastronomie verzichtet. Beide Länder sind hinsichtlich ihres Gesundheitssystems vergleichbar. Wenn also die wesentlich rigideren Eindämmungsmaßnahmen in Deutschland im Vergleich zu Schweden einen Gewinn erbracht haben, so müsste sich dies in einer niedrigeren Übersterblichkeit ausdrücken. Hierbei ist die Übersterblichkeit durch die Anzahl der Todesfälle über der Anzahl der zu erwartenden Todesfälle definiert. Während die Messung der Todesfälle über die Sterberegister eine beinharte Statistik ist, kann man über die Anzahl der zu erwartenden Sterbefälle wissenschaftlich streiten, vgl zum Beispiel De Nicola et al. (2022). Der Ausgangspunkt ist der Mittelwert der Todesfälle der letzten fünf Jahre. Aber dann gibt es noch Korrekturfaktoren für die Alterung der Bevölkerung und Ereignisse wie eine vorhergehende Grippewelle. Trotzdem ist weist die WHO-Studie keine wesentlichen Unterschiede in der Übersterblichkeit aus. Sie betrug in Deutschland 73 pro 100 Tsd Einwohner und in Schweden 66 pro 100 Tsd Einwohner45. Ein solches Ergebnis sagt zwar noch nichts über die Anzahl der schweren Corona Verläufe in den beiden Ländern aus, aber es ist ein unerwartetes Ergebis, da auch die Politik in Deutschland immer wieder Bezug auf die Corona Todesfälle genommen hat.
Ein weiterer Vergleich auf Basis mehrerer EU-Länder wurde von der COVID-19 Analysis Group durchgeführt. Dies ist eine akademische Gruppe von Statistikern und Medizinern an der LMU München, die in regelmäßigen Abständen Berichte zu einzelnen Aspekten der Corona Pandemie veröffentlicht haben. Diese CODAG Berichte sind in allgemein verständlicher Sprache verfasst, verweisen aber auch auf methodische Quellen46. Sie richten sich an ein allgemeines Publikum und können auch zur Politikberatung genutzt werden. Ihr Beitrag ist der sichtbarste Ausdruck von Statistikern in Deutschland zur Corona Pandemie. Der CODAG Bericht Nr. 28 präsentiert einen quantitativen Vergleich unterschiedlicher Eindämmungsmaßnahmen47.
Abb. 8 zeigt, dass der Effekt von Schulschließungen wenn überhaupt quantitativ nur minimal war. Verhältnismäßig wirkungsvoll war der erste Lockdown zu Beginn der Corona Pandemie, während folgende Lockdowns in ihrer Wirkung deutlich nachgelassen haben. Auch Versammlungeinschränkungen schneiden nur moderat ab. Dagegen scheinen allgemeine Verhaltenseinschränkungen wie das Tragen von Masken und Abstandsregeln eine deutliche Wirkung gehabt zu haben.

7.3 Experimente zu Risiko von Lockerungen

Der Königsweg in der Evaluationsforschung ist das Experiment. Lockdowns lassen sich jedoch nicht als Experiment mit Treatment und Kontrollgruppe durchführen. Aber in umgekehrter Richtung sind Experimente durchgeführt worden, allerdings nicht in Deutschland sondern in England. Das dortige Event Research Program ermittelte schon relativ frühzeitig (April bis Juli 2021) das Risiko von Lockerungsmaßnahmen im Rahmen von mehreren Experimenten48. Bei insgesamt 31 Pilotveranstaltungen im Bereich Fußball, Tennis, Theater und Nachtklubs wurde auf die üblichen Abstandsregeln und Besucherbeschränkungen verzichtet. Die insgesamt 2 Millionen Besucher waren nach der 3G Regel und mit Corona Warn-App gekommen, um sich wie in Vor-Corona Zeiten zu treffen. Einzige Bedingung: Sie mussten sich sieben Tage nach dem Event einem Corona Test unterziehen, um zu überprüfen, ob sie sich eine Corona Infektion zugezogen hatten. Nach 14 Tagen mussten sie sich einem weiteren Corona Test unterziehen, der überprüfte, ob sie sich nach dem Event eine Corona Ansteckung zugezogen hatten. Auf diese Weise war es möglich, regionale und persönliche Corona Risiken zu identifizieren und so den Ansteckungseffekt des Events ohne Corona Einschränkungen zu ermitteln.

8 Alternative Messmethoden: Abwassermonitoring

Schon relativ frühzeitig war es möglich, Corona Viren und Virus-Varianten im Abwasser zu identifizieren und auch deren Intensität. Derartige Untersuchungen wurden auch schon nach dem Vorkommen resistenter Bakterien, bei der Grippe und bei Polio und insbesondere bei der Drogenfahndung durchgeführt. Rückrechnugen aus der Abwasserlast auf das Virusvorkommen im Einzugsgebiet sind damit ohne Dunkelziffer möglich. Zudem gelten Meldungen über Corona Vorkommen im Abwasser als Frühwarnindikator mit einem Vorlauf von 4 bis 10 Tagen vor den offiziellen Infektionszahlen, weil die Inkubationszeit und die Zeit von der Testung bis zum Eingang bei den Gesundheitsbehörden gespart wird. Weiterhin ist ein Abwasser-Monitoring ziemlich preiswert. Eine Schätzung für die größten 235 Klärwerke in Deutschland geht von jährlichen Kosten von 14 Mio. Euro pro Jahr aus49. Aufgrund dieser Vorteile gab es eine EU-Empfehlung vom März 2021 ein Abwassermonitoring zu starten. Dieser Empfehlung ist zum Beispiel Österreich gefolgt, wo seit September 2021 ein Abwasser-Monitoring betrieben wird50. In Deutschland wurde im Februar 2022 mit einem Pilotprojekt in einigen Städten begonnen51.
Abb.9 zeigt das Ergebnis des Abwasser-Monitorings seit Beginn der Aufzeichnungen im September 2021. Deutlich zu erkennen ist die Delta Welle Ende des Jahres 2021 und der rasche Übergang zur Omikron Welle im Frühjahr 2022. Man erkennt auch sehr gut das höhere Niveau der Infektionen durch die Omikron Variante des Corona Virus. Ebenso ist das Abebben des Infektionsniveaus in der nachfolgenden Sommerwelle zu erkennen. Insgesamt liefert das Abwassermonitoring ein zuverlässiger Bild des Pandemieverlaufs, das nicht durch die geschilderten notorischen Probleme der Inzidenzmessung über bestätigte PCR-Tests belastet ist.

9 Alternative Messmethoden: Koppelung von Stichproben mit Corona Tests

Eine weitere Alternative zu der Bestimmung von Inzidenzen besteht in der Testung der Personen einer repräsentativen Stichprobe mit einem PCR-Test. Dies würde alle akuten Infektionen in der Stichprobe aufdecken. Weiterhin kann man mit einem Test auf Antikörper frühere Infektionen aufdecken. Durch diesen Ansatz kann man sowohl die aktuelle Dunkelziffer, d. h. die nicht über das Meldungsverfahren erkannten akuten Infektionen, als auch die kumulative Anzahl der nicht entdeckten Infektionen schätzen, vgl. die ausführliche Diskussion über Dunkelziffern bei Rendtel et al. (2021). Aus diesem Grund empfahl die Weltgesundheitsorganisation WHO schon zu Beginn der Corona Pandemie im Frühjahr 2020 den Einsatz von Stichproben und die Testung der Stichprobenmitglieder (WHO (2020)). Als beste Lösung wurde der Einsatz einer Längsschnittstichprobe und die wiederholte Testung der Stichprobenmitglieder vorgeschlagen, da dies auch eine Analyse der Infektionsdynamik ermöglicht. Neben dieser first-best Lösung schlug die WHO als second-best Lösung eine Serie von Querschnittserhebungen und deren Testung vor. Dies ermöglicht immerhin noch ein Monitoring der Infektionen. Da zusätzlich noch Informationen über eine Befragung der Stichprobenmitglieder gewonnen werden können, lassen sich mit diesem Ansatz unterschiedliche Risikogruppen für eine Corona Erkrankung identifizieren. Dies ist ein deutlicher Vorteil gegenüber dem Meldesystem, das nur gemeldete Erkrankte erfaßt und Risikogruppen nur anhand bekannter Populationsmerkmale identifizieren kann. Dies sind in aller Regel Altersgruppen.

9.1 Der Britische Corona Infection Survey (CIS)

Das WHO Konzept wurde in Großbritannien beispielhaft umgesetzt. Hier kooperierten die Universität Oxford, das nationale Statistische Amt (ONS) und das britische Gesundheitministerium beim Aufbau und bei der Durchführung einer großen Längsschnittstudie52. Der Aufbau der Stichprobe des Corona Infection Survey (CIS) war bereits im September 2020 abgeschlossen53. Die Stichprobenmitglieder führten alle 14 Tage einen PCR Test durch (180 Tsd. Proben) und prüften einmal im Monat über eine Trockenblutprobe (120 Tsd. Proben), ob Corona Anitkörper im Blut vorhanden sind. Zusammen mit zahlreichen Hintergrundvariablen eröffnete sich hier eine riesiges Forschungpotential zu Corona Infektionen und ihren langfristigen gesundheitlichen, aber auch sozialen Wirkungen54. Hinsichtlich der kumulativen Dunkelziffer kommt man im CIS zu geschätzten 38,5 Millionen Infektionsfällen (England bis 22.04.2022), denen 18,4 Millionen gemeldete Infektionen gegenüber stehen. Dies führt auf einen Faktor von 2,09 für die kumulative Dunkelziffer. Seit 2021 wird auch die Impfung gegen das Corona Virus erhoben.

9.2 Repräsentative Corona Stichproben in Deutschland

Die Beprobung von Mitgliedern einer Stichprobe stellt ganz besondere Herausforderungen an die Durchführung. Eine ausführliche Diskussion der hierbei auftretenden Probleme findet man bei Rendtel et al. (2021). Besonders schwer wiegt hier die Tatsache, dass bei einem positiven PCR Test die Anonymität der Umfrage nicht mehr vollständig gewährleistet ist, weil ein positives Testergebnis an das Gesundheitsamt gemeldet werden muss. Allerdings wird ausschließlich das Testergebnis und nicht etwa die Angaben aus dem Fragebogen weiter gemeldet.
Ein weiteres Problem ist die Frage, wie und wo die Beprobungen durchgeführt werden. Eine Durchführung in einem medizinischen Zentrum ist nur im Falle einer gewissen räumlichen Nähe zumutbar. Die mag bei räumlich geclusterten Stichproben funktionieren. Bei Stichproben, die nicht räumlich geclustert sind, weil sie über eine Telefonstichprobe gewonnen wurden, ist diese Voraussetzung nicht mehr gegeben. Wird die Probe im Haushalt über speziell geschultes Personal erhoben, so waren gerade bei Anfang der Corona Pandemie die Ängste groß, dass diese Personen Corona Viren in den Haushalt einschleppen. Schließlich bleibt noch die Möglichkeit, dass die Stichprobenteilnehmer die Tests selber durchführen. Dies vermeidet die eben genannten logistischen Probleme. Allerdings stellen sich hier Fragen nach der Qualität der Testergebnisse.
Wird eine Stichprobe neu gezogen, zum Beispiel als Telefonstichprobe, so hat man mit hohen Nonresponseraten von 70 Prozent und mehr zu rechnen. Hier tritt neben der mittlerweile üblichen Zurückhaltung bei Umfragen noch der Umstand hinzu, dass diese mit einer Beprobung verbunden wird. Bei diesem Ansatz stehen für eine Kontrolle des Nonresponse Bias nur die Merkmale zu Verfügung, die auch für die Nonrespondenten bekannt sind oder man ist auf die demografischen Kontrollvariablen aus der Bevölkerung beschränkt. Da aber gerade bei Beginn der Corona Pandemie die Anzahl der Infektionen in der Bevölkerung noch relativ klein war und somit die erwarteten Fallzahlen gering, ist eine wirkungsvolle Kontrolle des Nonresponse von großer Wichtigkeit.
Alternativ könnte man ein bestehendes Panel für eine Beprobung nutzen und die Testergebnisse mit den bereits vorliegenden Umfragedaten verknüpfen. Dieser Ansatz wurde schon zu Beginn der Pandemie von Rendtel et al. (2020) vorgeschlagen und Anfang November 2021 zunächst als einfacher Querschnitt realisiert worden (Hoebel et al. 2021). In diesem Fall stehen viele und auch aussagekräftige Merkmale für die Kontrolle des Nonresponse zur Verfügung (Steinhauer et al. 2021 sowie Danne et al. 2022). Da die Probanden auch weiterhin im Panel verbleiben, beisteht die Möglichkeit für Testwiederholungen und die Ermittlung von Langzeitfolgen. Somit können auch dynamische Modelle über die Dauer von Infektionen geschätzt werden. Eine ausführliche Darstellung der vielfältigen Möglichkeiten einer Kombination von Panel-Surveys und medizinischen Beprobungen findet man beiRendtel et al. (2021). Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass die Beprobung sich möglicherweise negativ auf die weitere Teilnahmebereitschaft in der Basisumfrage auswirken kann. Dies ist für eine langfristig angelegte Panelerhebung ein substantielles Risiko.
Ein Ansatz auf Basis von Mobilfunknutzern, die Fitness-Armbänder tragen oder Smart Watches benutzen, wurde im Rahmen der sogenannten „Datenspende“ ab April 2020 realisiert55. Die Studie reklamiert eine halbe Million Datenspender, von denen ca. 120 Tsd. Teilnehmende täglich auf freiwilliger Basis ihre Daten zum Ruhepuls, der täglichen Schrittanzahl, und Schlafdauer bereitgestellt haben. Die Datenerhebung über die Smartphones wurde Ende 2022 eingestellt. Allerdings sollen Untersuchungen zu Long-Covid fortgeführt werden. Die Teilnehmer finden auf der Plattform des Projekts56 zahlreiche Assoziationen von Corona Erkrankungen mit smart gemessenen Pulsfrequenzen und Fieberkurven. Angesichts des völlig ungeregelten Zugangs zur Stichprobe und der Beschränkung auf die Nutzung von Fitnessarmbändern und Smart Watches ergeben sich starke Zweifel an der Aussagekraft dieser Ergebnisse57. Dass hohe Fallzahlen nicht unbedingt valide Ergebnisse garantieren, gehört zum Fundament der Survey Statistik!

9.3 Das RKI-SOEP Panel

Das oben skizzierte Konzept einer Koppelung einer Panelerhebung mit einer Corona Beprobung wurde auf Basis des Sozio-ökononmischen Panel (SOEP) als RKI-SOEP Studie teilweise realisiert (Hoebel et al. 2021). Hier wurde der Weg einer Selbstbeprobung mittels Nasenabstrich (PCR-Test) und Trockenblut auf Löschpapier (Antigentest) gewählt. Alle 30 Tausend Teilnehmer des SOEP erhielten im November 2020 – also zu Beginn der sich rasch steigernden Infektionszahlen der zweiten Corona Welle – ein Päckchen mit den Testutensilien, was eine logistische Herausforderung für das Feldinstitut war. Da das SOEP ein Haushaltspanel ist, das auch die Kinder der Befragten über indirekte Auskünfte mit einschließt, bestand hier die günstige Möglichkeit, Inzidenzzahlen für Kinder zu ermitteln und das Ansteckungsverhalten im Haushaltskontext zu ermitteln. Immerhin geschah die Schließung von Schulen und Kitas aufgrund nicht gesicherter Vermutungen über das Ansteckungsverhalten von Kindern während der Corona Pandemie. Aber es reichte das Veto eines einzigen Datenschutzbeauftragten der am RKI-SOEP beteiligten Kooperation, um alle unter 18-Jährigen von der Beprobung auszuschließen. Allerdings war es ab Oktober 2020 möglich, Kinder in Kitas mit einer COVID-19 Infektion im Rahmen der COALA-Studie (Anlassbezogene Untersuchung in Kitas) des RKI zu beproben58. Die Feldarbeit lief über die gesamte zweite Corona-Welle bis zum Februar 2021. Die Finanzierung über das Bundesgesundheitsministerium deckte zunächst nur diese eine Befragung ab. Erst nachträglich wurde eine zweite Befragungswelle im Winter 2021/2022 finanziert, vgl. Bartig et al. (2022).
Immerhin gelang es, eine Nettostichprobe mit 15 Tsd. Beprobungen zu realisieren, was einer Teilnahmequote von ca. 50 % entsprach, einem in Umfragen mittlerweile ungewöhnlich hohen Wert. Ein wesentliches Ergebnis der ersten Welle war eine geschätzte kumulative Dunkelziffer von ca. 2 für die erwachsene Bevölkerung (Neuhausen et al. 2022). Ein weiteres Ergebnis der zweiten Welle des RKI-SOEP Panels schätzt den Anteil der Bevolkerung, der schon eine Corona Infektion durchgemacht hat, im November 2021 auf 10 Prozent59. An diesem Wert erkennt man die ungeheure Dynamik der Infektionen durch die Omikron-Variante des Virus, die in 6 Monaten fast den Rest der Bevölkerung infiziert hat.
Die Ergebnisse der Beprobung sind mit allen Merkmalen des SOEP verknüpfbar. Allerdings kann diese Version zur Zeit nur On-Site auf einem Gastwissenschaftler-Arbeitsplatz im DIW genutzt werden. Infektionsdaten gelten zur Zeit als besonders sensibel.

10 Haben die Statistiker in der Corona Pandemie versagt?

10.1 Initiativen von Statistikern

Schon im März 2020 bildete sich eine Arbeitsgruppe von Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Statistik der LMU, des Instituts für Medizinische Informationsverarbeitung Biometrie und Epidemiologie (IBE) sowie der Data Science Initiative an der LMU. Sie gründeten die COVID-19 Analysis Group (CODAG) der LMU auf Basis eines gesellschaftlichen Anspruchs60: „Wir sehen es als unsere gesellschaftliche Verpflichtung an, mit unserem wissenschaftlichen Know-How und unserem statistischen Sachverstand unterstützend zur Bewältigung der COVID-19 Pandemie beizutragen. Unsere Forschung und unsere statistischen Analysen sind dabei anwendungs- und bedarfsgetrieben. Valide statistische Modelle und robuste Prognosen sind jetzt gefragt. Unser Ziel ist es, diese Werkzeuge bereitzustellen, damit Entscheidungsträger im Gesundheitswesen und Politik Ihre Entscheidungen datenbasiert treffen können.“. Die Arbeitsgruppe veröffentliche seit Oktober 2020 regelmäßig die CODAG Berichte, die sich direkt an die Öffentlichkeit sowie politische Entscheidungsträger richteten61. Diese Berichte bereiten Analysen auf Basis methodisch anspruchsvoller Analysen für eine breite Öffentlichkeit auf und geben auch konkrete Handlungsempfehlungen. Sie wurden über einen breiten Verteiler gestreut. Im Bericht Nr. 18 (Juli 2021) tragen die Autoren der AG zusammen mit Gert Antes von der Cochrane Foundation62 noch einmal unter der Überschrift „Informationen zur Corona Pandemie: Welche Daten benötigen wir?“ zusammen, wie das Datendefizit der deutschen Corona-Politik behoben werden könnte.
Es gibt auch andere Initiativen mit hoher Geschwindigkeit und breitem Verteilerkreis. Eine solche Plattform63 ist die „Unstatistik des Monats“, auf den Seiten des RWI Esssen. Eigentlich fühlen sich die Autoren dieser Plattform der Aufdeckung missbräuchlicher Statistikergebnisse verpflichtet, was den Titel der Plattform motiviert. Im Fall der Corona-Pandemie liegt der Aspekt jedoch eher auf der Aufklärung über das neue Corona Vokabular und seine Bedeutung. So beginnt der erste Beitrag im März 2020, also unmittelbar bei Beginn der Pandemie mit einem Exkurs über exponentielles Wachstum und dessen Konsequenzen. Bei Einführung der Corona Warn-App bietet die Plattform eine Simulations-Maschine an, deren Nutzer je nach Einschätzung seiner Risikobereitschaft den Prozentsatz der Fehlalarme der Warn-App ermitteln kann64.
Schließlich sei hier noch erwähnt, dass ein konkreter Vorschlag zur Beprobung der Mitglieder des SOEP bereits im Juli 2020 gemacht wurde (Rendtel et al. 2020). Auch ein alternativer Vorschlag von Schnell und Smed (2020) von Juni 2020 ist sehr schnell publiziert worden.
In Ihrer Antwort auf die breite Übersicht von Jahn et al. (2022) zur Rolle von Daten, Statistik und Entscheidungen in einer Pandemie gehen die CODAG Autoren Berger et al. (2022) auf das Fehlen einer Koordinierungsgruppe für Deutschland ein. In Großbritannien wurde von der Royal Statistical Society schon im April 2020 eine Task Force gebildet mit der Absicht, dass die Statistische Gemeinde „can contribute its collective expertise to … governments and its public bodies, regarding statistical issues during the COVID-19 pandemic“. Das Fehlen einer solchen Koordinierungsorgans hätte es verhindert, dass viele interessante Ansätze nicht wahrgenommen wurden bzw. im politischen Umfeld wirkungslos blieben.
Da es in Deutschland eine derartige breite Statistik-Organisation wie die Royal Statistical Society nicht gibt, blieben anfängliche Koordinierungsversuche, wie zum Beispiel die Sammlung von 315 Corona Studien65 durch den Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) oder auch die 40-seitige Corona-Stellungnahme66 der DAGSTAT wirkungslos.
Berger et al. (2022) betonen die Notwendigkeit einer raschen Veröffentlichung von Ergebnissen. Die hohe Dynamik des Pandemiegeschehens setze die politischen Entscheidungsträger unter Druck. Wolle man Einfluss ausüben, so müsse man auch bereit sein, schnelle Antworten zu geben und den zeitaufwändigen Prozess einer Publikation mit Review-Verfahren abkürzen. Dies sei bei einigen der vorgelegten CODAG Berichte auch praktiziert worden.

10.2 Statistiker in den Medien

In Talk-Shows wurden aktuelle Corona Entwicklungen und Entscheidungsprozesse heftig und publikumswirksam diskutiert. Aber Talk-Shows sind wahrscheinlich nicht das geeignete Forum für Statistiker. Auch an die Teilnehmerzahlen der Podcasts des Kollegen Drosten sind Statistiker nicht im Mindesten herangekommen. Nun ja, vielleicht ist unsere Materie etwas schwieriger zu vermitteln. Aber das ist vielleicht auch eine Frage der Präsentationskunst. Aber es ist so, dass Statistiker während der Corona Pandemie überhaupt nicht öffentlichkeitswirksam auftraten? Wer zu Tagesschau und Küchenhoff oder Kauermann recherchiert, wird fündig. Die BILD Zeitung zitiert gerne den „Top-Statistiker Kauermann“. Gerd Antes habe ich schon häufiger im Interview im Deutschlandfunk gehört. Es ist also nicht so, dass wir nicht wahrgenommen würden, wie einige Kollegen zerknirscht behaupten. Und vielleicht brauchen wir unsere Ergebnisse auch nicht via Twitter in die Öffentlichkeit hinaus zu blasen. Dafür ist unsere Materie doch zu komplex.

10.3 Statistiker in Beratungsgremien?

Gerade in der Corona Pandemie wurde der Anspruch vertreten mit Statistik Politikberatung machen zu können, vgl. Radermacher (2022). Natürlich ist auch der Sachverstand anderer Disziplinen, z. B. von Virologen und Medizinern, gefragt. Im CODAG Bericht heißt es dazu: „Daher wäre es aus unserer Sicht sinnvoll, ein interdisziplinäres Beratergremium für die Regierung bzw. Beratergremien für die Landeregierungnen zu berufen. Dieses sollte interdisziplinär besetzt sein und hierbei sollte die Epidemiologie, Statistik und der Bereich Public Health prominent vertreten sein.“ In der Tat wurden zwei Beratungsgremien zur Beratung der Politik bei Corona Maßnahmen genutzt. Dies ist zum einen die Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina und zu anderen eine extra für diesen Zweck eingestzte Expertenkommission zur Evaluation der Corona Maßnahmen. Aber waren waren Statistiker und Epidemiologen in diesen Beratungsgremien „prominent“ vertreten?
Der zweite Lockdown geht auf eine Empfehlung der nationalen Wissenschaftaftsakademie Leopoldina zurück. Zwar ist die Liste der mitwirkenden Teilnehmer der Arbeitsgruppe mit 35 beeindruckend. Aber es befinden sich nur zwei Statistikerinnen darunter. Unter den wissenschaftlichen und redaktionellen Mitarbeitern der Empfehlung ist die Statistik nicht vertreten67.
Die Expertenkommission zur Evaluation der Corona Schutzmaßnahmen verfügte über keinen Epidemiologen und keinen Statistiker68. Dies war – neben der geringen finanziellen Ausstattung der Kommission – der Grund, warum sich der Virologe Drosten aus der Kommission zurückzog. Der Ausbildungshintergrund der meisten Entscheider: Virologen, Mediziner, Psychologen, Ökononmen, Soziologen und sehr viele Juristen. Gerade Juristen nehmen es notorisch in Anspruch, von Statistik gar keine Ahnung zu haben. Sie verlassen sich aus ganz formalen Gründen auf „die nackten Zahlen“. Statistischen Schlussweisen unterstellen sie gerne eine gewisse Unsicherheit und Willkür, weshalb Ergebnissen ohne statistische Methodik der Vorrang zu geben ist. Dass die Rohdaten zur Hospitalisierung mit einem massiven Meldeverzug behaftet sind und zu falschen Schlüssen führen, scheint vernachlässigbar zu sein.
Auch kann man von diesen Experten keinen Überblick über Vorschläge aus fremden Fachgebieten erwarten. Und so wundert es nicht, wenn die Expertenkommission in ihrem Abschlussbericht nach einer repräsentativen Längsschnittstichprobe zur Messung des aktuellen Infektionsgeschehens (S. 13) verlangt, obwohl eine solche Studie mit den RKI-SOEP Panel zumindest im Ansatz verfügbar ist. Zumindest hätte ein solcher Ansatz im Bericht erwähnt werden müssen.

10.4 Geld für Statistiker?

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona Pandemie waren neben den persönlichen Einschränkungen der Bürger auch finanziell extrem teuer. Selbst so einfache Maßnahmen, wie die Beschaffung von Schutzmasken schlugen mit Milliarden-Beträgen sowie einigen „Vermittlungsgebühren“ in Millionen Höhe zu Buche69. Die Erstellung und Verwaltung der Corona Warn-App mit einem – wie gezeigt – sehr geringen Wirkungsgrad wird mittlerweile mit 210 Millionen Euro angegeben70.
Dagegen sind die Maßnahmen, die von statistischer Seite vorgeschlagen wurden, deutlich preiswerter. Ein Abwasser-Monitoring wird für Deutschland mit 14 Mio. Euro pro Jahr veranschlagt. Die Durchführung der ersten Welle des RKI-SOEP Panels kostete 2,5 Mio. Euro. Die durchaus mögliche Erweiterung auf mehrere Beprobungswellen wurde zunächst abgelehnt. Das Bundesgesundheitsministerium hatte dafür kein Geld übrig. Irgendwann wurde aber doch noch Geld für eine zweite Welle im Winter 2021/2022 aufgetrieben. Jetzt war es das RKI, dass kein Personal für die Aufbereitung und Auswertung der zweiten Welle übrig hatte. Daher wurde eine auf ein Jahr befristete Stelle für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter ausgeschrieben. Das ist ein ziemlich unattraktives Angebot und es hat mich gewundert, dass sich überhaupt jemand auf diese Ausschreibung beworben hat. Es wurde tatsächlich jemand gefunden, der eine gute Ausbildung in räumlicher Statistik hatte. Diese Qualifikation wäre sehr nützlich für eine Analyse der regionalen Aspekte der Ausbreitung von Corona gewesen. Jedoch bestand die Tätigkeit des Mitarbeiters mehr in Datenbereinigungen und diversen Operationalisierungen des Begriffs „vollständig geimpft“. Wertschätzung statistischen Rats und methodischer Fähigkeiten sieht anders aus.

11 Ausblick

Machen wir uns nichts vor: Die nächste Pandemie kommt bestimmt! Was hat die Statistik in Deutschland anzubieten?
Hier wurde mit dem Nachweis der Machbarkeit einer Kombination von Längsschnittsurvey und Beprobung ein mächtiges neues Datenformat geschaffen, dessen analytisches Potential nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die bisher durchgeführten Analysen schöpfen dieses Potential bei weitem nicht aus. Man kann nur hoffen, dass das RKI-SOEP Panel eine breite Nutzung durch die große Forschungs-Community der Nutzer des Standard SOEP findet. Hierzu müssten die bisher rigiden Zugangsregelungen – nur On-Site am DIW – noch einmal überdacht werden.
Der in Deutschland traditionell rigide Datenschutz hat sich auch in der Pandemie als Bremsklotz erwiesen, indem er sinnvolle Beprobungssettings zunächst verhindert hat. Auch die Entwickler der Corona Warn-App waren mit stark einschränkenden Auflagen des Datenschutzes konfrontiert. Die Zukunftsprognose, über eine Digitalisierung des Gesundheitswesens Inzidenzzahlen und Impfquoten einfach aus einer Datenbank mit Individualdaten auszulesen zu können, muss erst noch mit der Auffassung unserer Datenschützer in Übereinstimmung gebracht werden. Ich wäre da sehr skeptisch.
Selbst wenn bei der nächsten Pandemie das Meldesystem der Gesundheitsämter ohne Fehler arbeitet: Die hier geschilderten prinzipiellen Mängel dieses Systems beim Monitoring einer Pandemie blieben bestehen. Ein wesentlich preiswerteres und zuverlässigeres Monitoring ließe sich über ein Abwassermonitoring in Verbindung mit einer Längsschnittstichprobe plus Beprobung realisieren.
Eine effektive Kooperation von RKI, Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen könnte – ähnlich wie in Großbritannien – zu einer schnelleren Reaktion im Pandemieverlauf führen. Auch der Wissenschaftsrat betont in seinen Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems angesichts der COVID-19 Krise71 die produktive Rolle wissenschsftlicher Netzwerke, die interdisziplinär ausgerichtet sind und einen guten Datenzugang haben. In dieser Hinsicht könnte die Kooperation des RKI mit der akademischen Welt noch verbessert werden. Auch die geringe Repräsentanz der Statistik, als der Wissenschaft der Datenerhebung und der Datenauswertung, ist sicher nicht im Sinne der Empfehlungen des Wissenschaftsrats.
Generell sollte die Statistik und speziell die Survey Statistik im Gesundheitswesen gestärkt werden. Damit meine ich nicht die Digitalisierung und die Nutzung von Datenbanken, sondern die Durchführung von Surveys und deren Auswertung. Ich meine den Einsatz von Zeitreihen-Modellen zur Korrektur von „nackten“, aber irreführenden Zahlen. Ich meine den Einsatz von Bayesianischen Methoden bei der Bewertung von Modellparametern. Und ich meine den Einsatz von durchdachten experimentellen Methoden zur Evaluation von Maßnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie. Auch hier kann man von guten Vorbildern, z. B. in Großbritannien, noch lernen.
Die Statistiker, die sich aktiv mit der Corona Pandemie beschäftigt haben, haben sich nichts vorzuwerfen. Sie haben schon sehr früh auf Defekte des Corona Monitorings und der übertriebenen Bewertung der Inzidenzzahlen hingewiesen. Sie haben auf Alternativen hingewiesen und diese auch teilweise mit entwickelt. Sie haben ihre Vorschläge in einer verständlichen Sprache öffentlich gemacht. Allerdings waren es nicht so viele Kolleginnen und Kollegen, die sich hier engagiert haben. Und unsere offiziellen Stellungnahmen, sind zuweilen etwas spät und auch etwas langatmig. Wir waren in den Empfehlungsgremien und Kommissionen nicht oder nur unzureichend vertreten. Dies drückt eine geringe Wertschätzung des Potentials der Statistik für die gesellschaftspolitische Beratung aus. Und ich fürchte, diese Situation ist nur schwer zu verändern.

Conflict of interest

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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Fußnoten
1
So beklagte der Präsident der Bundesärztekammer einen „wahren Datenblindflug“ in den letzten zweieinhalb Jahren. (https://​www.​tagesschau.​de/​inland/​coronapandemie-kritik-datenlage-101.​html Aufruf 16.02.2023).
 
7
Zum Zeitpunkt der Vortrags im September 2022 wurde diese Einschätzung nicht überall geteilt. Viele erwarteten wie in den beiden Vorjahren noch eine Winter-Welle. Doch bei 32,1 Millionen bestätigten Corona Infektionen und einer Dunkelziffer von mindestens 2 kommt man auf geschätzte 64,2 Millionen Personen in Deutschland, die schon Kontakt mit dem Corona Virus hatten. Damit und mit den ca. 90 Prozent geimpften Personen ist die Gefährdung durch das Corona Virus dem einer Grippe Erkrankung vergleichbar geworden.
 
10
Alternativ hätte man auch die Infektionszahlen über ein Zeitintervall berechnen können, das den Referenztag symmetrisch überdeckt.
 
20
Diese Strategie wird als „Containment“ bezeichnet.
 
23
Eine Überblickskarte mit regionalen Studien zur Corona Inzidenz liefert das RKI unter https://​www.​rki.​de/​DE/​Content/​InfAZ/​N/​Neuartiges_​Coronavirus/​AK-Studien/​AKS_​Karte.​html (Aufruf 18.02.2023)
 
25
Man könnte hier ähnliche Ursachen wie bei der Großschlachterei „Tönnies“ am Ende der ersten Infektionswelle vermuten (https://​www.​tagesschau.​de/​inland/​toennies-coronainfektione​n-guetersloh-101.​html Aufruf 18.02.2023).
 
26
Allerdings bot das RKI eine derartige animierte Karte mit dem zeitlichen Verlauf der Inzidenzen nicht an. Diese wurden jedoch von einigen Presse-Plattformen angeboten, siehe zum Beispiel https://​interaktiv.​tagesspiegel.​de/​lab/​corona-analyse-in-welchen-regionen-die-zahlen-wieder-steigen/​ (Aufruf 18.02.2023). Der interessierte Leser sei ermuntert, diese Darstellungen mit dem hier vorgeschlagenen Verfahren zu vergleichen.
 
28
Die Formulierung in § 28a lautet: „Wesentlicher Maßstab für die weitergehenden Schutzmaßnahmen ist insbesondere die Anzahl der in Bezug auf die Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) in ein Krankenhaus aufgenommenen Personen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Weitere Indikatoren wie die unter infektionsepidemiologischen Aspekten differenzierte Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV‑2 je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, die verfügbaren intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten und die Anzahl der gegen die Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) geimpften Personen sollen bei der Bewertung des Infektionsgeschehens berücksichtigt werden.“ https://​www.​gesetze-im-internet.​de/​ifsg/​_​_​28a.​html Aufruf 15.02.2023.
 
35
Die einzelnen Maßnahmen, wie Kontaktbeschränkungen sowie Schließung des Einzelhandels und der Gaststätten kann man unter https://​www.​wiwo.​de/​politik/​deutschland/​corona-lockdown-so-ist-der-zweite-lockdown-in-deutschland-verlaufen/​27076474.​html(Aufruf 07.02.2023) noch einmal nachlesen.
 
36
Vergleiche beispielsweise die prognostizierten Inzidenzwerte mit den beobachteten Inzidenzen in Abb. 2.
 
42
Wegen dieses Mangels trat das Kommissionsmitglied Drosten frühzeitig aus der Kommission aus.
 
43
Einen Überblick über das 160 Seiten lange Gutachten erhält man z. B. unter https://​www.​sueddeutsche.​de/​politik/​corona-massnahmen-bericht-expertenrat-1.​5613004 (Aufruf 18.02.2023).
 
44
Die Bundesnotbremse bestimmte, dass bei Inzidenzwerten über 100 strenge Eindämmungsmaßnahmen beschlossen werden können.
 
47
Eine Vorfassung dieses Berichts lag den Mitgliedern der Evaluationskommission vor. In dem gleichzeitig im Juni 2022 erschienen Abschlussbericht wird auf diese Ergebnisse kein Bezug genommen.
 
52
In Deutschland wurde eine derart breite Kooperation zwischen akademischer Welt und verschiedenen Ministerien nicht realisiert.
 
57
Der Leiter des Projekts erklärte auf meine Frage nach der Repräsentativität der Ergebnisse, dies sei doch lediglich eine Frage des Faktors, mit dem man die Stichprobenergebnisse auf die Bevölkerung hochrechne.
 
58
Für diese Untersuchung wurden 30 Kitas mit Infektionsfällen ausgewählt. „In den Hausbesuchen wurden die Erwachsenen angeleitet, ihre Kinder regelmäßig zu beproben und das Auftreten von Symptomen anhand von standardisierten Symptomtagebüchern täglich zu dokumentieren.“ so die Darstellung des RKI. https://​www.​rki.​de/​DE/​Content/​Gesundheitsmonit​oring/​Studien/​coala/​coala_​studie.​html (Aufruf 13.02.2023). Warum man erst auf eine Infektion in der Kita warten musste, um Kinder in ihrem Haushalt auf Corona zu testen, bleibt das Geheimnis des Datenschutzes. Im November 2022 bekannte Gesundheitminister Lauterbach, dass die Schließungen der Kitas sich um nachhinein als unnötig und übertrieben darstelle (https://​www.​spiegel.​de/​politik/​deutschland/​corona-karl-lauterbach-haelt-kita-schliessungen-rueckblickend-fuer-falsch-a-71839c5c-e1bb-4245-af62-a2c813c19476 Aufruf 13.02.2023).
 
62
Die Cochrane Foundation setzt sich für eine Evidenz-basierte Medizin ein (https://​www.​cochrane.​org/​de/​about-us Aufrruf 20.02.2023).
 
67
Siehe die Autorenliste am Ende der schon erwähnten Stellungnahme.
 
71
Positionspapier (Drs 8834-21) vom Januar 2021 https://​www.​wissenschaftsrat​.​de/​download/​2021/​8834-21.​html Aufruf 20.02.2023.
 
Literatur
Zurück zum Zitat Esser H, Grohmann H, Müller W, Schäffer KA (1989) Mikrozensus im Wandel – Untersuchungen und Empfehlungen zur inhaltlichen und methodischen Gestaltung. Schriftenreihe Forum der Bundesstatistik, Bd. 11. Metzger-Poeschel, Stuttgart Esser H, Grohmann H, Müller W, Schäffer KA (1989) Mikrozensus im Wandel – Untersuchungen und Empfehlungen zur inhaltlichen und methodischen Gestaltung. Schriftenreihe Forum der Bundesstatistik, Bd. 11. Metzger-Poeschel, Stuttgart
Zurück zum Zitat Hoebel J et al (2021) Seroepidemiologische Studie zur bundesweiten Verbreitung von SARS-CoV‑2 in Deutschland: Studienprotokoll von CORONA-MONITORING bundesweit (RKI-SOEP-Studie). Journal of Health Monit Special Issue, Bd. 2021/1. Robert-Koch-Institut, Berlin https://doi.org/10.25646/7852CrossRef Hoebel J et al (2021) Seroepidemiologische Studie zur bundesweiten Verbreitung von SARS-CoV‑2 in Deutschland: Studienprotokoll von CORONA-MONITORING bundesweit (RKI-SOEP-Studie). Journal of Health Monit Special Issue, Bd. 2021/1. Robert-Koch-Institut, Berlin https://​doi.​org/​10.​25646/​7852CrossRef
Zurück zum Zitat Rendtel U, Liebig S, Meister R, Wagner G, Zinn S (2021a) Die Erforschung der Dynamik der Corona-Pandemie in Deutschland: Survey-Konzepte und eine exemplarische Umsetzung mit dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP). AStA Wirtsch Sozialstat Arch 15:155–196. https://doi.org/10.1007/s11943-021-00296-xCrossRef Rendtel U, Liebig S, Meister R, Wagner G, Zinn S (2021a) Die Erforschung der Dynamik der Corona-Pandemie in Deutschland: Survey-Konzepte und eine exemplarische Umsetzung mit dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP). AStA Wirtsch Sozialstat Arch 15:155–196. https://​doi.​org/​10.​1007/​s11943-021-00296-xCrossRef
Metadaten
Titel
Die Corona Pandemie in Deutschland
Ein Epilog aus statistischer Sicht
verfasst von
Ulrich Rendtel
Publikationsdatum
23.08.2023
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv / Ausgabe 2/2023
Print ISSN: 1863-8155
Elektronische ISSN: 1863-8163
DOI
https://doi.org/10.1007/s11943-023-00324-y

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