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2017 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. Die Kult(ur)serie im Distinktionsprozess

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Zusammenfassung

Die „neuen Serien“ stehen weitgehend nicht im klassischen Rahmen der Massenmoralkontrolle, allerdings entstammen sie einem System, das um diese klassische Struktur herum gewachsen ist. Um zu verstehen, wie die Kult(ur)serie aufkommt, ist es notwendig, nachzuzeichnen, wie sie sich an diese klassischen Strukturen anlehnt und wie sie sich gegen sie auflehnt. Während einige hochdotierte Kult(ur)serien dem alten (Werbe-)System und seinen Kontrollnetzen entspringen (wie Hannibal, Community und The Good Wife, aber auch schon Hill Street Blues, ER, NYPD Blue und Twin Peaks), gelten vor allem Formate, die außerhalb dieses Systems entstanden sind, als Kernelemente der transnationalen Serienkultur: Formate wie The Sopranos, The Wire, Deadwood, Homeland, Game of Thrones, Girls und viele andere entstehen außerhalb der Werbefinanzierung, außerhalb der FCC-Kontrolle und außerhalb der Serientrichter bei Pay-Anbietern wie HBO, Showtime und Netflix, und Formate wie The Shield, Breaking Bad, Mad Men, Fargo und Louie entstehen bei Kabelanbietern, bei denen die Werbefinanzierung nur noch einen Teil der Einnahmen ausmacht, wie FX und AMC.

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Fußnoten
1
Dass die Serien mit den höchsten Einschaltquoten und die mit den höchsten Gesamtzuschauerzahlen nicht dieselben sind, liegt unter anderem am zwischenzeitlichen Wachstum der US-Gesamtbevölkerung.
 
2
Im Herzen der network-era, in der diese vier untereinander im Wettbewerb standen, war es die Zielsetzung der Programmmanager, mindestens ein Drittel der US-Bevölkerung an einem gegebenen Abend zu erreichen; alles darüber war ein Erfolg, alles darunter ein Flop. Dass die drei kommerziellen Anbieter hier ein Drittel als benchmark wählen, zeugt bereits von der Schwäche des öffentlichen Fernsehens: Für die Einschätzung ihrer Einschaltquoten konnten die kommerziellen Sender seine Existenz de facto ignorieren, PBS war niemals massenwirksam.
 
3
Der US-Präsident kann mit zwei Stunden Ankündigungszeit Sendezeit auf den großen broadcastern beantragen, wenn eine wesentliche Ansprache gehalten werden soll. Die Sender werden diesen Anfragen in der Regel nachkommen, was dazu führt, dass derselbe Kamerafeed auf den drei broadcast networks parallel ausgestrahlt wird. Die Kabelsender tragen diesen feed nur mit, wenn er zur expliziten inhaltlichen Positionierung dieses Kanals zählt, d. h. alle Nachrichtenkanäle werden diesen feed ebenso ausstrahlen (sie „tragen“, „carry the feed“, im Sprachgebrauch der Sender). Verpflichtet sind sie dazu nicht; Präsident Obamas Verlautbarung, die Durchsetzung des Immigrationsrechts zu ändern und Millionen illegalen Einwanderern Bleiberecht einzuräumen, wurde von keinem der großen broadcast networks übertragen (Nichols 2014; Kamisar et al. 2014).
 
4
Noch vor zehn Jahren waren Betrachter hier skeptisch. Die kurzfristige Dominanz der reality-Formate im network-Fernsehen und ihre Ausdehnung zu Kabelanbietern lies Kritiker fragen, ob die klassische geskriptete Serie tot sei: Ihre hohen Kosten und ihre Defizitfinanzierung machten sie zur schlechten Alternative zu den Reality-Formaten, die höhere Einschaltquoten und schnellere Profite versprachen. Diese Liebesbeziehung zu Reality-Formaten war jedoch schnell vorbei, als das Format seine Neuigkeit verlor und klar wurde, dass mit ihnen langfristig keinesfalls das Geld zu verdienen ist, das Serien einbringen, s. o.
 
5
Das Popkulturparodieformat Robot Chicken (von Seth Rogen) spielt mit dieser Idee im Vorspann, indem ein totes Huhn mit biotechnologischen Implantaten von einem paradigmatischen „verrückten Wissenschaftler“ wieder zum Leben erweckt wird, woraufhin er es festschnallt, ihm die Augen gewaltsam offen hält und einer Wand voller Fernsehapparate aussetzt, die die unterschiedlichsten Popkulturformate darstellen, die infolge parodiert werden. In späteren Staffeln ist es dann das Huhn, das nun den Wissenschaftler dieser Wand aussetzt.
 
6
Werbespots vor You-Tube-Videos (oder Videos ähnlicher Anbieter) heißen in der Industrie „pre-roll video“, und sie sind massiv unbeliebt. Da es sich hier um interaktive Elemente auf Online-Seiten handelt, ist die Datenlage zu ihnen im Grunde perfekt, da jede Interaktion mit der Seite registriert wird. Aus diesen Daten weiß man, dass Nutzer die Vorvideowerbung in 94 % aller Fälle zum frühstmöglichen Zeitpunkt abbrechen, indem sie den „Werbung überspringen“-Knopf drücken, der oft nach 5 s auftaucht (Lake 2013). Es wäre technisch durchaus möglich, die Werbung nicht überspringbar zu machen und die Nutzer dazu zu zwingen, sie anzusehen; dass das zumeist nicht geschieht, zeigt, dass die Anbieter es für die schlechtere Option halten, das zu tun, da eine Werbung, die mit frustrierter Abwehr angesehen werden muss, im Zweifel gegen das beworbene Produkt arbeitet, das dann Frustrationsableiter werden kann. Die Werber in Online-Videos wissen das und konzipieren die pre-roll-Werbung so, dass die ersten fünf Sekunden alles enthalten – oder, wie im Fall von Volkswagen, schalten eine Werbung, die „Dir das Ärgerlichste am Internet abnimmt: Wir überspringen die Werbung für dich“ (zu sehen auf http://​youtu.​be/​RW2pzRfiHWs).
 
7
Für Science-Fiction- und Fantasy-Formate waren das in erster Linie Männer, aber es gibt auch weibliche „Außenseiterformate“, die umgekehrt stigmatisierte Frauenrollen zur Identität umwandeln lassen. So wird in der Außenseiter-Abgrenzung zum mainstream eine scharfe Geschlechtertrennung reproduziert, die sich erst im 21. Jahrhundert langsam anzugleichen beginnt, als die Nischenrollen sich über Geschlechtergrenzen hinweg ver- und ausbreiten.
 
8
Damit ist Star Trek die erste Serie, die eine „save our show“-Kampagne („SOS“) inspiriert hat; heute kommt diese Form der versuchten Einflussnahme fast regelmäßig auf, wenn eine Serie abgesetzt werden soll. Nur sehr wenige davon sind erfolgreich, da der Sender das Kultpublikum oft bereits kennt und eingerechnet hatte und der Hinweis auf seine Existenz der Entscheidung, eine Serie abzusetzen, keine neue Information hinzufügt.
 
9
Dabei kann der digitale Vertrieb das Gießkannenprinzip mittlerweile völlig hinter sich lassen: Indem Fernsehprogramme über digitale Kabelnetze an bekannte Kundinnen vertrieben werden, kann einem bestimmten Kunden bestimmte, auf ihn zugeschnittene und personalisierte Werbung in jedes Format eingeschnitten werden, unabhängig von Sender und Serie.
 
10
Es sollte klar sein, dass hier nicht „Gruppe A“ von „Gruppe B“ getrennt wird, indem unterschiedliche Personen in Clans sortiert werden, sondern dass dieselben Zuschauer selbstverständlich zu unterschiedlichen Zeiten Teil unterschiedlicher Gruppen sein können.
 
11
Das ist natürlich der ewige hipster cycle. Distinktive Kulturprodukte sind erst distinkt, werden dadurch bekannt, werden dann zum mainstream und verlieren damit ihre Glaubwürdigkeit als authentische Kulturprodukte der Avantgarde.
 
12
Es ist in diesem Kontext nur als witzig zu empfinden, dass Bourdieu in einer Sammlung von Vorträgen über das Fernsehen genau die Distinktion an den Tag gelegt hat, die er in seinen anderen Werken beschreibt, und sich genauso mit einer „Darstellung von Abneigung“ gegen das „verdummende“ Fernsehen stellt, die er ansonsten als Verteidigung sozialer Ungleichheit von Seiten der sozialstrukturell Höherstehenden erkennen würde: „The audience rating system can and should be contested in the name of democracy […] purely market law. Submission to the requirements of this marketing instrument is the exact equivalent for culture of whatpoll-based demagogy is for politics“ (Bourdieu 1999, S. 66–7).
 
13
Die HBO-Serie Deadwood ist in vieler Hinsicht eine Hommage an Gunsmoke, und die erste Szene der Serie ist ein Spiegel dieses Beginns von Gunsmoke – während der letzte Bösewicht, dem die Protagonisten beider Serien entgegentreten, beide von Gerald McRaney gespielt werden (Nowalk 2013).
 
14
Das bedeutet außerdem, dass eine großartige Idee einer Autorin kein pitch meeting einbringt. Die Sender suchen Personen, die in der Lage sind, in einem hektischen Umfeld termingerecht Produkte fertigzustellen, die der Sender braucht. Der alte Spruch, dass jeder Einwohner in Los Angeles zehn Drehbücher unter dem Bett hat, ist wohl nicht weit von der Wahrheit entfernt; tatsächlich vorgestellt werden keine davon beim Sender. Der Sender sucht keine ausgearbeiteten Ideen, sondern Profis, die wissen, dass Ideen nur erste Ansätze sind und die den Prozess beherrschen, aus diesen Ansätzen auch fertige Serien herzustellen. In den Genuss von pitch meetings kommen damit jene, die Erfahrung im Geschäft haben, keine Neulinge.
 
15
Adalian zitiert einen nicht namentlich genannten Agenten, der bemerkt, dass große Studios ihre Produktionskosten auch dadurch decken können, dass sie ausländische Abnehmer zwingen, ihre Serien im Paket zu kaufen, wenn sie die Rechte zur Ausstrahlung großer Kinoerfolge kaufen möchten; AMC, das keinem Studio gehört, kann das nicht und muss auf die Strahlkraft des Produktes selbst setzen (Adalian 2011a).
 
16
Die Serie war tatsächlich AMCs zweiter Versuch; der erste war Remember WENN, das jedoch in Vergessenheit geraten ist.
 
17
Das lag, wie Martin spekuliert, wohl an der Animosität zwischen dem Management von HBO, und dem Mad Men- und früheren Sopranos-Autor und Produzenten Matt Weiner (Martin 2013a, S. 244).
 
18
Amerikanische Fernsehgeräte funktionieren dabei nicht wie deutsche: Während deutsche Zuschauer einen Kanal auswählen und diesem Kanal dann einen Sendeplatz zuweisen können, sind amerikanische Kanäle und Sendeplätze dasselbe. Während der deutsche Zuschauer sich also entscheiden kann, ob er RTL auf den 4., 5. oder 50. Sendeplatz legen möchte, ist die Platzierung von AMC vom Kabelanbieter, den man ausgewählt hat, vorbestimmt – und auf diesem Kanal liegt AMC dann unbeeinflussbar. Das führt u. a. zur für Deutsche etwas kuriosen Situation, dass es auf amerikanischen Fernsehgeräten keinen ersten und auch oft keinen zweiten Platz gibt, da die nach Frequenzen organisierten Kanäle erst bei drei oder vier anfangen.
 
19
Er bemerkt, dass hier Hotelfernseher ein Fenster zu einer früheren Zeit darstellen: Während Zuhause die Überflutung der Kabelkanäle normal geworden ist, bieten Hotels häufig immer noch eine sehr überschaubare Anzahl von Kanälen an.
 
20
Current programming ist dabei in der Regel eine Trainingsabteilung für jüngere Manager, in development sitzen die erfahreneren Manager (Gitlin 2005, S. 104).
 
21
Es gibt Ausnahmen; die Sendermanager von FOX waren beispielsweise niemals zu table reads von The Simpsons eingeladen (Ortved 2009, S. 4).
 
22
Dabei ist der Titel „House, M. D.“ ebenso ein Resultat des Eingriffs von FOX: „House“ allein klang ihnen zu sehr nach einer Familienserie. David Shore wollte den Titel aber behalten, da es eine der vielen Sherlock Holmes-Referenzen in der Serie darstellt (Holmes-home-house). Man einigte sich darauf, „M. D.“ („Medical Doctor“, die US-Version des führenden Titels Dr. med.) anzuhängen, und die Grafikabteilung designte das Logo der Serie mit einem Viereck um den Buchstaben H, was das Hinweissymbol für Krankenhäuser auf US-Verkehrsschildern evoziert (Carter 2007).
 
23
Chuck Lorre, der Produzent von Two and a Half Men und The Big Bang Theory, sekundiert das mit der grafischen Aussage, „You can show maggots crawling out of a bullet hole, but God forbid we should talk about human sexuality!“ (Rice 2007).
 
25
Diese Szene ist hier zu sehen: http://​vimeo.​com/​30957820 (Borg 2011).
 
26
Ich hatte noch einen mittlerweile emeritierten Professor, der seinen Kursen erklären wollte, um Intellektueller zu sein, dürfe man nicht Fernsehen. Diese Form der Selbstpräsentation ist heute nicht nur altbacken, sie ist absurd geworden.
 
27
Im expansionary model ist der Kernantrieb des Narrativs damit aufrechtzuerhalten: Friends müssen Freunde bleiben (und nicht etwa „außerhalb“ heiraten und ausziehen, außer, eine Vertragsterminierung und eine Erneuerung der Besetzung erzwingt das), The Fugitive ist immer am Rande des Gefasstwerdens (nie zu nah und nie zu fern), Magnum wird genausowenig den Privatdetektivberuf aufgeben und Pfleger werden wie Nurse Jackie Privatdetektivin wird. Der Protagonist von How I Met Your Mother darf die tituläre Mutter erst im series finale treffen, Frasier darf aus Boston erst wegziehen, als Cheers vorbei ist und mit Frasier ein neues Format um den Charakter gebaut wird, das die Fallen und Seile des alten Formats hinter sich lassen muss – und so weiter.
 
28
Diese Persiflage kann hier gesehen werden: http://​www.​youtube.​com/​watch?​v=​aQttrkzWOo4.
 
29
Petersen bemerkt unter ihren Studierenden sogar, dass dieser Flow gerade für ihre Studierenden, die oft keine festen Anschlüsse mehr besitzen, den neuen Kanon definiert: Was auf Netflix im Flow ist, ist bekannt; was nicht auf Netflix erhältlich ist, wie zum Beispiel alle HBO-Formate – The Sopranos, Deadwood – erntet blankes Starren.
 
30
Auch serialisierte Formate haben häufig noch einen Vorspann, der die Grundprämisse wiedererzählt, und „last time on“-Segmente, die die wesentlichen Entwicklungen der letzten Wochen wieder in Erinnerung rufen, wie Meteling et al. (2010, S. 8) feststellen. Aber das kann in modernen serialisierten Formaten nicht mehr ihre Funktion sein: Es geht nicht darum, Zuschauerinnen, die die Episoden nicht gesehen haben, auf den neuesten Stand zu bringen; das ist nicht möglich, ohne wesentliche und wertvolle Sendezeit zur Wiederholung zu verwenden. Es geht vielmehr darum, den Zuschauer aus dem, woran er sich noch erinnern kann, die Elemente zu betonen, die in der gegenwärtigen Episode wichtig sind. Supernatural folgt diesem Muster sehr klar, oft mit reinen Bildsegmenten, aus denen der Dialog entfernt wurde, weil es sich nur um einen Signifikanten handelt, nicht um ein Wiedererzählen. So sind diese „last time on“-Segmente oft technisch sehr versierte Rahmungen der gegenwärtigen Episode; „On a complex show, an editor might have to reach back into previous seasons to pluck the narrative buds that the latest episode unfurls“ (Bliss 2015). Jason Mittell nennt diese „mechanics of memory“ (2010), wo Produzentinnen darauf achten müssen, Balancen aufrechtzuerhalten: „recaps need to balance between the dual demands of activating memories for comprehension and avoiding foreshadowing to allow for surprise to register for viewers without being confusing“ (S. 92).
 
31
Zudem war das die Zeit des Autorenstreiks, was die Produktionspläne wieder verunstetigte.
 
32
Interessanterweise ist das ein mehrheitlich männliches Phänomen: Während männliche Fans die Informationen auswendig lernen und der Welt, die im Format generiert wird, treu bleiben, sind es vorrangig weibliche Fans, die die Welt als Ausgangspunkt für eigene Kreativität nehmen und anstatt der Treue zu den Vorgaben der Autoren vorwiegend Kreativität an den Tag legen. Das kann damit zu tun haben, dass die offizielle Variante zumeist männlich dominiert ist, mit vorwiegend männlichen Autoren und einem male gaze, der die Konstruktion des Formats ordnet, was die Abkehr von dieser Struktur zu einer Aneignung der Formate für einen weiblichen Blick macht.
 
33
Ein klassisches Beispiel dafür findet sich bei Steven Knapp und Walter Benn Michaels’ Against Theory (1985) in deren Beschreibung des „wave poems“, eines Gedichts, das von an den Strand spülenden Wellen zurückgelassen wird. Diese Zeichen können, unterstellt man keine höhere Macht, überhaupt nicht als bedeutungstragende Zeichen interpretiert werden: Sie sind ein kaum glaublicher Zufall, in dem zufällige Zeichen nur so scheinen, als ergäben sie Worte. Erst, wenn ein U-Boot auftaucht und begeisterte Menschen in weißen Kitteln aussteigen, können die Linien am Strand zu Zeichen und diese Zeichen zu einem Gedicht werden.
 
34
In den letzten Jahren haben immer mehr Frauen showrunner-Positionen eingenommen, auch wenn sie sich weiter in der deutlichen Minderheit befinden. Unter ihnen finden sich z. B. Liz Merriwether von New Girl, Emily Kapnek von Suburgatory, Greer Shephard von Longmire, Stephanie Savage von Gossip Girl und The Carrie Diaries, Carol Mendelsohn von CSI und Pam Veasey von CSI: New York, Janet Tamaro von Rizzoli & Isles, Marlene King von Pretty Little Liars und Julie Plec von The Vampire Diaries. Dennoch ist das Autorengeschäft weiterhin zu über 2/3 männlich, und zu über 80 % weiß (Stepakoff 2007).
 
35
Die Arbeit von Joss Whedon wird mittlerweile in einer eigenen medienwissenschaftlichen Gesellschaft untersucht, der Whedon Studies Association. Die Leserin kann „Dan Harmon is a genius and I will die protecting his vision“ googlen: Es ist der „Schlachtruf“ der Dan Harmon-Fans, der in social media-Umfeldern häufig als hashtag auftaucht. Als AMC sein Format Mad Men bewarb, entschied sich der Sender: „The PR campaign […] would focus not on Hamm or any of the beautiful women in the cast, but on Weiner himself. In effect, AMC was claiming auteurship as its brand. […] Our tagline was,‘Created by the Executive Producer of The Sopranos’ […]. It was all we had“ (Martin 2013a, S. 256).
 
36
Wie alle Kategorien sind Erfinderrollen konstruiert; es wäre naiv, zu denken, dass objektiv feststellbar wäre, von wem eine Idee stammt, noch naiver, dass formale Rollenzuschreibungen auf solchen abstrakten Kategorien fußen. Wer die offizielle Erfinderrolle erhält, ist eine politische Entscheidung; da Kreativität häufig ein Teamprodukt ist, hängt es zudem von Gewerkschaftsregeln ab, wer welche Rollenzuschreibungen erhält. In Konfliktfällen ist es auch die Gewerkschaft, die Writers Guild of America (WGA), der die Aufgabe der formalen Schlichtung zukommt und die dann entscheidet, wer welchen credit im Vorspann erhält. Das sind keine Eitelkeitsentscheidungen: Von diesen offiziellen Rollen hängt viel Geld in Form von Gewinnbeteiligungen ab.
 
37
Dabei hat eine Produktion gegebenenfalls mehrere executive producer, aber nur einer davon ist in der Regel showrunner. Die „producer“-Nennung ist in den letzten Jahren inflationär gebraucht worden und kann vom kontrollierenden Autor bis hin zum ehrenhalber erwähnten elder statesman alles bedeuten; „executive producer“ berechtigt zu weitläufigen Tantiemenzahlungen und wird daher auch häufig an Personen vergeben, denen aus welchen Gründen auch immer Tantiemenzahlungen zugestanden werden. Die Personen, die mit „created by“-Nennungen im Vorspann auftauchen, sind häufig zugleich ebenso showrunner, müssen das jedoch nicht sein, da showrunner im Laufe einer Serie auch wechseln können, wenn die ursprünglichen Autoren/Showrunner gehen oder entlassen werden.
 
38
Die Rolle des showrunners entsteht im amerikanischen Fernsehen und gehört nicht klassisch ins britische; dabei haben jedoch einige britische Fernsehautoren diese Rolle auch in England eingeführt, maßgeblich Russel T. Davies (und nun Steven Moffat) als showrunner von Doctor Who und, im Fall des ersteren, der britischen Version von Queer As Folk.
 
39
Das geschieht selbstverständlich durchaus, und im Internet mittlerweile immer häufiger, beispielsweise durch die Weiterproduktion der ursprünglich abgesetzten Serie Veronica Mars als Kickstarter-Projekt oder der ebenso abgesetzten Serie Arrested Development von Netflix. Das geschieht jedoch nur, wenn das Studio diese Weiterproduktion freigibt, was in der Regel voraussetzt, dass es an den Profiten beteiligt ist und keine Angst haben muss, dass diese Neuauflage die etablierte Marke, mit der ja noch weiter Verwertungsprofite verbunden sind, verwässert.
 
40
Dass so viele der Autorinnen ebenso Produzenten sind, hat rechtliche bzw. gewerkschaftliche Gründe. Die Beteiligung der Mitwirkenden „above the line“ an den Profiten der Produktion ist gewerkschaftlich genau geregelt, sodass eine höhere Beteiligung nicht einfach entschieden werden kann, sondern mit der Verleihung bestimmter Titel einhergehen muss. Autoren einen production credit zu geben, d. h. sie formal in die Rolle der Produzentin zu erheben, erhöht ihre Beteiligung an den Profiten. In vielen Formaten ist die Beförderung zur Produktion Teil des Graftifikationsschemas nach längerem Mitwirken. Allerdings sind in der Regel nicht alle Autoren auch Produzentinnen, da wiederum Gewerkschaftsregeln existieren, die vorsehen, dass nicht alle Episoden einer Serie von Produzenten verfasst werden dürfen, was die Präsenz von staff writers im Team notwendig macht, die keine Produzenten sind.
 
41
Und zudem um eine Form der Lehre. Wer in einem writers’ room als staff writer startet, ist damit auf dem Weg, die Leiter über die unterschiedlichen Produktionstitel aufzusteigen, möglicherweise angelernt zu werden, selbst später showrunner zu werden.
 
42
Das ist üblicherweise auch der Punkt des Einstiegs ins Fernsehgeschäft für Autorinnen. Mit einem Drehbuch beim Studio aufzutauchen oder es zum Studio zu schicken ist in der Regel völlig hoffnungslos. Autorinnen beginnen als Assistentinnen, arbeiten an Episoden mit und schreiben als Teil ihrer Bewerbungsunterlagen für writers’ rooms sogenannte spec scripts, Drehbücher für bestehende Serien, mit denen sie beweisen, dass sie dem Ton und den Vorgaben einer Produktion folgen können. Diese spec scripts werden selten produziert; es sind Ausweise, an denen Produzentinnen erkennen können, ob die Person das Handwerk beherrscht und ihre Kreativität im Zaum enger Vorgaben halten kann.
 
43
Das dürfen sie noch nicht sein: „in order to work, you have to be a union member. But in order to become a union member, you first have to be offered a job by a company that has signed a collective bargaining agreement with the union“ (Stepakoff 2007, S. 51).
 
44
Diese consultants sind natürlich nicht am Set präsent. Es handelt sich um Kontakte in den Organisationen und um Universitätsdozentinnen, die Beraterverträge haben, unter denen sie die Drehbücher und die Schlüsselszenen auf ihre Plausibilität hin prüfen. Für Breaking Bads Meth-Chemie ist das beispielsweise Donna Nelson, Chemieprofessorin an der University of Oklahoma (Watercutter 2012). Die Writers Guild of America, die Autorengewerkschaft, hält eine Liste von Organisationen bereit, die Autorinnen kostenlos Auskunft über Sachfelder geben, die in Serien auftauchen könnten: http://​www.​wga.​org/​content/​default.​aspx?​id=​165. Dabei geht es hier auch um lobbyistische Einflussnahme: Dass bestimmte Expertinnen kostenlos zur Verfügung stehen, bedeutet natürlich, dass sie in einem pluralen Wissensmarkt ihre Konstruktionen von Realität in populär einflussreiche Unterhaltungsproduktionen einfließen lassen können. So werden „Versionen der Realität“ verfilmt, die z. B. der Realitätskonstruktion der Polizei entspricht, wenn Mitglieder der Polizei zur Prüfung der „Richtigkeit“ einer Darstellung herangezogen werden. Die „Bezahlung“ besteht so in Realitätskonstruktions-Einfluss.
 
45
Ken Levine bemerkt dabei, dass dieser Prozess auch daran hängt, dass Autorinnen sich im Raum frei fühlen; „And we can’t when there are outsiders in the room. Many times I’ve had friends ask if they could just sit in on a rewrite, and I always politely tell them no. You’d be surprised how fast seven people become self conscious when someone’s cousin is in the corner. The Writers’ Room is the ultimate Las Vegas. ‘What happens in the Writers’ Room stays in the Writers’ Room’“ (Levine 2014).
 
46
Das Drehbuch geht durch viele Änderungsstadien, und die unterschiedlichen Editionen werden in fester Abfolge von Farben farbcodiert, sodass immer klar ist, welche Version die aktuellste ist (das macht auf iPads Probleme!).
 
47
Dabei existieren mehrere Kerne: Jene, die das Format zur Zeit seiner Erstausstrahlung oder Erstverfügbarmachung ansehen und jene, die an der Produktion beteiligt waren oder denen als Mitglieder der Presse Vorabkopien zur Verfügung gestellt wurden. Spoilern diese, haben sie von einer Macht Gebrauch gemacht, die anders als die Verfolgung bei der Erstverfügbarmachung dem „normalen“ Zuschauer gar nicht offenstand – nicht zu reden davon, dass sie dem Hersteller schaden, weshalb spoiler von solcher Seite den Mitwirkenden in der Regel vertraglich untersagt werden.
 
48
Eines der erfolgreichsten Formate ist hier Pretty Little Liars, ein Format, das unauffällig und auf einem unauffälligen Anbieter wäre (ABC Family), handele es sich nicht um eines der in den Sozialen Medien meistdiskutierten Formaten. Die Serie ist in der Lage, eine schwer erreichbare Zielgruppe, die zudem selten live fernsieht, zu binden: Das mittlere Alter des Formats ist 21 (median).
 
49
Das stellt eine wesentliche Umkehr in Prioritäten der Sender dar, die noch vor zehn Jahren ihre Live-Abteilungen mit Herablassung behandelten: „No one cared much about what we were doing. We were kind of patted on the shoulder and told, ‘You guys go over and do your Christmas specials or your one-off specials or whatever these things are, and we will do the stuff where all the real money is,’“ (Buckman 2014). Live-Sendungen können nach ihrer Ausstrahlung kaum noch wiederverwertet werden; damit sind sie bis heute nicht im Interesse der Produktionsfirmen, in einem Umfeld, in dem das „gebundene Publikum“ zu einer Herausforderung wird, bieten solche Formate jedoch neue Möglichkeiten.
 
51
Mittlerweile ist auch Facebook auf diesen Zug aufgesprungen und bietet Sendern und Produktionsformen an, in Partnerschaften mit dem Netzwerk Daten zu erhalten, wer wie über diese Formate spricht:
As part of its ongoing battle for second-screen domination, Facebook has been promoting its smallscreen presence more aggressively than ever. The social media platform is partnering with TV programs, networks and A-list celebs to cultivate and curate conversations about TV in a variety of ways. ‘You want to get people on air to post on Facebook so they’re sharing about the show with their friends and hopefully that’s going to attract people to the show’, he said. ‘And you want what’s happening on Facebook to be pushing people to tune in’ (Khatchatourian 2013).
 
52
Co-showrunner Betsy Beers berichtet jedoch, dass „anything that has to do with live tweeting or product integration“ ihr zuwider sei (Goldberg 2012c).
 
53
Gritty realism und die neue Fernsehlandschaft üben damit auf Soziologinnen nicht zuletzt deshalb so eine Anziehungskraft aus, weil diese soziologische Entzauberung in diesen Formaten mehrheitsfähig wird: Es ist sonst die Soziologie, deren Aufgabe es ist, darzustellen, dass die Welt nicht nach den Idealismen funktioniert, nach denen sie zu funktionieren vorgibt, und stattdessen aufzeigt, wie die Fassade dieser Idealismen dennoch notwendig reproduziert werden muss (vgl. Bude und Dellwing 2011).
 
54
Diese Dynamik ist besonders in der Thematisierung von „psychischer Störung“ aufzufinden, wo sich Online-Diskutanten, die sich häufig selbst solche Rollen zuschreiben, auf einen kompromisslosen Naturalismus zurückziehen, wenn Inhalte diskutiert werden.
 
55
Dabei existieren durchaus Normalisierungen beispielsweise der Polysexualität, wie sie in einigen Episoden von Weeds, The Following und American Horror Story: Asylum aufkam. Hier müssen dann jedoch andere Normalitäten, wie die romantischer Liebe, aufrechterhalten werden, um diese „neue Normalität“ zu stützen.
 
Metadaten
Titel
Die Kult(ur)serie im Distinktionsprozess
verfasst von
Michael Dellwing
Copyright-Jahr
2017
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-13185-2_5