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2003 | Buch

Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs

herausgegeben von: Wolfgang Bergem

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Gedenken als Ritual: Zum politischen Sinn „sinnentleerter Rituale“
Zusammenfassung
Auffallend häufig wird die Bezeichnung „Ritual“ im Zusammenhang der Beschreibung und Bewertung von Formen und Methoden des deutschen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gebraucht — und zwar fast immer in einem pejorativen Sinn, als wäre ein Ritual so etwas wie die minderwertige Verfallsform echten politischen Sprechens und Handelns.
Reinhard Wesel
Wie wurden aus Volksgenossen Staatsbürger?
Der Wandel von Einstellungen und Mentalitäten nach dem Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik
Zusammenfassung
In seinem im Herbst 1959 vor dem Koordinierungsrat für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ merkte Theodor W. Adorno an, dass er „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher“ betrachte als „das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“ (1963: 126). Damit sprach er ein Problem an, welches sich im Verlauf des Übergangs von Diktaturen zu Demokratien und in der Phase ihrer Konsolidierung auf vielfältige Weise stellt: das Problem der Kontinuität von Elementen vorangehender, nicht-demokratischer Regime — etwa in Form der Kontinuität von Eliten oder Mentalitäten — und die negativen Auswirkungen, die sich aus diesem „Nachleben“ für junge, noch nicht konsolidierte Demokratien ergeben können. Adornos Rezept gegen die Gefahren der Kontinuität lautete „Aufarbeitung der Vergangenheit“, die er dem „leeren und kalten Vergessen“ (1963: 139), das er in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft beobachtete, gegenüberstellte. Acht Jahre später, im Jahr 1967, wiederholten Alexander und Margarete Mitscherlich diese Klage über den Zustand der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft etwas variiert mit gleicher Stoßrichtung: Die Westdeutschen seien unfähig, über ihre Vergangenheit zu trauern, und würden sich in die Zukunft flüchten, um die Vergangenheit zu verdrängen.
Birgit Schwelling
Die kollektiven Erinnerungen an die Shoah als Störfaktor nationaler Identität
Zusammenfassung
Bernard Lewis (1975: 39) beschreibt das Vaterland als ein heiliges Land innerhalb definierter Grenzen. Die Menschen darin begriffen sich deshalb als Einheit, weil sie sich auf ihre gemeinsame Geschichte bezögen. Der alte Ruhm habe sich in die Heimaterde eingegraben. Mit dieser anschaulichen Darstellung zielt Lewis auf ein anscheinend allgemein gültiges Axiom: Gruppenidentität erschließt sich durch den Verweis auf eine Kette vergangener Ereignisse der Gruppe (vgl. Lewis 1975: 14).
Horst-Alfred Heinrich
Barbarei als Sinnstiftung?
Das NS-Regime in Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur der Bundesrepublik
Zusammenfassung
„If you want my future forget my past!“ — Wenn die Spice Girls ihren Hit Wannabe mit dieser Aufforderung bereits in den fünfziger Jahren gesungen hätten, wäre dem Popsong in den westdeutschen Charts ein Spitzenplatz wohl für lange Zeit sicher gewesen. Die Ansicht, durch Vergessen der Vergangenheit die Zukunft gewinnen zu können, war in der Ära Adenauer weit verbreitet. In der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik stand Verdrängen vor Verarbeiten und Vergessen vor Verantworten. Im Vergleich zum „Schweigen Adenauers“ konnte die Grundlegung einer öffentlichen Erinnerungskultur durch Theodor Heuss und Kurt Schumacher in diesen „Jahren des Vergessens“ noch kaum Wirksamkeit entfalten (Herf 2002: 285). Wer sich im Vergleich dazu die herausgehobene Stellung von Nationalsozialismus und Holocaust im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik seit der Vereinigung ansieht, stellt fest, dass die Deutschen im Umgang mit ihrer NS-Vergangenheit fast eine Entwicklung von der Amnesie zur Hypermnesie durchlaufen haben. Daraus könnte man schließen, dass die das nationalsozialistische Regime umhüllende Amnesie der fünfziger Jahre für die Stabilisierung der noch jungen Demokratie in der neugegründeten Bundesrepublik ebenso funktional war wie es ihr Gegenteil, die — cum grano salis formuliert — Hypermnesie der Gegenwart, für die Identitätsfindung der vereinigten Republik heute ist.
Wolfgang Bergem
Symbole der Schuld — Zeichen der Gnade
Schuldabwehr und Stigmaannahme im „Aufarbeitungsdiskurs“ der Bundesrepublik
Zusammenfassung
Der Titel des Workshops, dem dieses Buch seine Entstehung verdankt1, soll in vorliegendem Beitrag zunächst als Anstoß für einige Vorbemerkungen über Bedingungen und generelle Strukturmerkmale des (deutschen) Erinnerungsdiskurses genutzt werden2. Diese werfen zahlreiche Fragen hinsichtlich der konkreten historischen Formen der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik auf, denen im Anschluss — anhand einer exemplarischen Fallrekonstruktion — nachgegangen wird.
Dariuš Zifonun
Erinnerungskultur als Politikfeld
Geschichtspolitische Deliberation und Dezision in der Berliner Republik
Zusammenfassung
Entgegen anderslautenden und vielfach in alarmistischer Absicht vorgetragenen Analysen ist die nationalsozialistische Vernichtungspolitik bislang in der Bundesrepublik eine „Vergangenheit, die nicht vergeht“. Die Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Vergangenheit betrifft nicht nur die damit professionell befassten Vertreter der zeithistorischen Fachöffentlichkeit sowie die für die Vermittlung entsprechender Wissensbestände und Aktualisierung daraus resultierender Einsichten zuständigen Institutionen der politischen Bildung, sondern auch die politische Öffentlichkeit. In dieser Sphäre werden in Abhängigkeit von Themenkonjunkturen und Akteurskonstellationen ausgehend von den verschiedensten Anlässen Deutungskontroversen verhandelt, deren Bezugspunkt jeweils spezifisch akzentuierte Aspekte von Nationalsozialismus und Holocaust sind. Aus der Perspektive einer am Paradigma der Erinnerungskultur orientierten Kulturwissenschaft resultiert die aktuelle Konjunktur sowohl des Themas selbst als auch seiner Erforschung aus einer spezifischen Situation1: Folgt man den Vorstellungen Jan Assmanns (vgl. Assmann 1992: 50–56), so stehen wir in Bezug auf die Erinnerung der nationalsozialistischen Vergangenheit an einer Epochenschwelle, die durch die dauerhafte Transformation kommunikativer, d.h. von Zeitzeugen verkörperter Erinnerung in kulturelle, d.h. institutionalisierte Erinnerung charakterisiert ist.
Erik Meyer
Politik und Gedächtnis
Die Gegenwart der NS-Vergangenheit als politisches Sinnstiftungspotential
Zusammenfassung
Spricht oder debattiert man in Deutschland über den Umgang mit der NS-Vergangenheit, über Möglichkeiten und Formen des Erinnerns und Gedenkens an die NS-Verbrechen, begibt man sich auf vermeintlich „tabuvermintes“ Gelände. Zwischen „Erinnern und Vergessen“ schwingt das Debattenpendel, das je nach politischer Couleur in die eine oder andere Richtung ausschlägt. Die Geschichte der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland ist auf den ersten Blick eine, die vom Ringen einer Gesellschaft um angemessenen Umgang mit ihrer „schwierigen“ Geschichte erzählt, die naive Identifikation nicht zulässt. Auf den ersten Blick. Nähert man sich der „Vergangenheitsbewältigung“ von der anderen Seite, fragt man also weniger nach dem historischen Gegenstand selbst als nach der Funktion der Art und Weise seiner Repräsentation, erzählt sich diese Geschichte völlig anders. Die Schlüsselwörter lauten dann nicht mehr Nationalsozialismus, Holocaust oder Kriegsverbrechen — die Ingredienzien dieser Geschichte heißen Identität und Nation. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach dem Gedenken an die NS-Vergangenheit besonders brisant. Der Diskurs um die Vergangenheit ist eng verbunden mit der Frage nach der Konstruktion von (kollektiver) Identität. Das Thema, ob und wie weit der Nationalsozialismus hierfür als „negatives“ Sinnstiftungspotential für die Bundesrespektive Berliner Republik genutzt werden könne oder dürfe, existiert in unzähligen Spielarten seit nunmehr bald 60 Jahren.
Julia Kölsch
Antifaschismus als Sinnstiftung
Konturen eines ostdeutschen Konzepts
Zusammenfassung
Das Bild scheint klar: Als Legitimationsideologie eines selbst kriminellen Regimes hat der staatlich verordnete Antifaschismus der DDR nicht nur die Idee des Sozialismus durch ihre stalinistische bzw. realsozialistische Pervertierung beschädigt, sondern auch eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eher gehemmt als befördert. Der in den kommunistischen Widerstandsbiographien ihrer politischen Führung begründete Antifaschismus gehörte zweifellos zum strukturellen Kern des offizialideologi-schen Selbstverständnisses der DDR. Vorzugsweise in Phasen drohenden Legitimationsentzugs wurde er als Mythos immer wieder mobilisiert, um das Bild vom moralisch besseren Deutschland zu stützen. Es lohnt sich, der Frage nachzugehen, wie dieses symbolische Integrationsideologem der DDR die zahlreichen geschichtlichen Zerreißproben und den galoppierenden moralischen Verschleiß überstanden hat, denen es zeit seines Wirkens ausgesetzt war.
Wolfgang Bialas
Der Nationalsozialismus im öffentlichen Diskurs über militärische Gewalt
Überlegungen zum Bedeutungswandel der deutschen Vergangenheit
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht den Gebrauch, den die politischen Akteure in den aktuellen Diskursen über die Legitimität deutscher Militäreinsätze von der deutschen Vergangenheit des Nationalsozialismus machen. Die nationalsozialistische Vergangenheit ist einer der zentralen Bezugspunkte unserer politischen Kultur und der Zweite Weltkrieg ist eines der zentralen Bezugsereignisse der deutschen Diskussion über Krieg und militärische Gewalt. Die Illegitimität des Zweiten Weltkriegs und die Erfahrungen, die mit ihm verbunden sind, begründen eine normative Vergangenheit, die eine deutsche Beteiligung an militärischen Interventionen seit 1945 und bis in die jüngste Gegenwart nachhaltig delegitimiert. Entsprechend war und ist der deutsche Diskurs über Krieg und militärische Gewalt auch in weiten Teilen ein Diskurs über unsere nationalsozialistische Vergangenheit und deren normative Bedeutung für das politische Leben der Gegenwart. Die nationalsozialistische Vergangenheit ist einer der zentralen Fluchtpunkte der deutschen Diskussion über den Krieg und enthält ein Repertoire „wertvoller“ Argumente, die sowohl breiten Teilen der politischen Öffentlichkeit kulturell vertraut als auch normativ aufgeladen sind. Diese Argumente können von den politischen Akteuren in ihren Auseinandersetzungen um die Legitimität einer deutschen Beteiligung an militärischen Interventionen als Argumente für oder gegen eine deutsche Beteiligung an solchen Interventionen benutzt werden.
Michael Schwab-Trapp
Krieg und politische Sinnschöpfung in der Berliner Republik
Die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Feldzug als Medien-Story
Zusammenfassung
Die unvergesslichen Terrorangriffe eines schwer identifizierbaren nichtstaatlichen Akteurs auf die Stadt New York sowie auf das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika am Morgen des 11. September 2001 haben nicht nur Gebäude zerstört und Menschenleben vernichtet, sondern auch die öffentliche Gefühlslage und den politischen Diskurs in den westlichen Demokratien weit über die USA hinaus beeinflusst — zumindest für eine gewisse Zeit. Der erste Schock erfasste die Menschen nahezu ohne Unterschied und veranlasste in Berlin wenige Tage nach dem Angriff 200.000 Menschen, an einem Trauermarsch teilzunehmen. Sehr bald jedoch deuteten sich national unterschiedliche, pfadabhängige Verarbeitungsweisen des Ereignisses wie auch des Krieges gegen das Taliban-Regime in Afghanistan an, der am 7. Oktober 2001 begann.
Volker Heins
Deutsche Probleme mit der Gemeinschaft
Schwierigkeiten in der deutschen Kommunitarismus-Rezeption wegen der NS-Erfahrung
Zusammenfassung
Führt die US-amerikanische Gemeinschafts-Rückbesinnung zur demokratischen Tugend der Tocquevilleschen Assoziationen, die deutsche zu Autoritarismus, Totalitarismus und „eliminatorischem Antisemitismus“ (Goldhagen 1996)?
Harald Mey
Der Holocaust — eine neue Zivilreligion für Europa?
Zusammenfassung
Es gibt seit einigen Jahren eine untergründige Tendenz, alles aus einer globalen Perspektive zu betrachten bzw. gesellschaftspolitische Entwicklungen in eine globale Perspektive einzuordnen. Dieser Trend ist auch an der Geschichtspolitik oder, um es etwas genauer zu charakterisieren, an der als wissenschaftliche Aufklärung verstandenen Erinnerungspolitik nicht spurlos vorbeigegangen. Einen besonderen Status nimmt aus nachvollziehbaren Gründen in diesem Kontext der Holocaust ein. So schrieb der israelische Historiker und Antisemitismusforscher Yehuda Bauer im Spiegel:
„Der Stellenwert des Holocaust in der heutigen Welt ist überaus bemerkenswert. Mittlerweile gibt es zwei Holocaust-Gedächtnisstätten in Japan, eine in Fukuyama bei Hiroshima und eine in Tokio. Über den Genozid an den Juden wird zudem an einer Universität in Shanghai gelehrt. Er ist nicht nur eine rein ‚westliche’ Angelegenheit, er verwandelt sich stattdessen mehr und mehr in ein globales Thema“ (Bauer 2001).
Lothar Probst
Backmatter
Metadaten
Titel
Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs
herausgegeben von
Wolfgang Bergem
Copyright-Jahr
2003
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-663-09744-0
Print ISBN
978-3-663-09745-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-663-09744-0