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2018 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. Differenzierung und Gesellschaft

Zur Erfahrungsarmut der historischen Darstellung

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Zusammenfassung

Das Kapitel rekonstruiert die zentralen gesellschaftstheoretischen Begriffe der Theorie des kommunikativen Handelns. Es charakterisiert die Lebenswelt als Ort kommunikativen Handelns sowie die Systeme von Kapitalismus und bürokratischer Administration als Bereiche der funktionalistischen Logik, die in die Lebenswelt eindringen. Die Habermassche Darstellung der historischen Genese moderner Gesellschaften wird dabei ihrer Erfahrungsarmut überführt.

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Fußnoten
1
Einige in diesem Kapitel unternommene Wege zu weiteren Theorien, die den konflikthaften Charakter von Gesellschaft reflektieren, sollen diese begriffliche Erweiterung plausibilisieren.
 
2
Zum Problem der von Habermas vorgenommenen Umdeutung des aus der Phänomenologie stammenden Lebensweltbegriffs vgl. Schnädelbach 1986: 28f.
 
3
Jedoch übersieht Gadamer, so Habermas weiter, dass die hermeneutisch erschlossenen Inhalte von Herrschaftsstrukturen geprägt sind (vgl. Rehg 2009: 167).
 
4
Habermas zitiert zum Beleg seiner Auffassung, die Wissenssoziologie verwechsle gesellschaftlich situiertes Wissen mit der gesamten Gesellschaft, den ersten Satz aus der Schrift Bergers und Luckmanns: „Die entscheidende These dieses Buches steht in Titel und Untertitel, nämlich: daß Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist, und: daß die Wissenssoziologie die Prozesse zu untersuchen hat, in denen dies geschieht“ (zitiert nach Habermas 1981c: 211). In der zwanzigsten Auflage der Schrift wird der Anspruch, die Wissenssoziologie erkläre umfassend die Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit, jedoch zurückgenommen und der Wissenssoziologie lediglich die Betrachtung derjenigen Prozesse zugewiesen, die für die Reproduktion des Wissens verantwortlich sind. Dort heißt es: „Titel und Untertitel des Buches zeigen die doppelte Absicht an: durch die systematische Betrachtung der intersubjektiven Prozesse, in denen die Menschen ihr Wissen um die Welt erwerben, es gesellschaftlich verfestigen, kontrollieren und weitergeben, soll ein neuer Anfang der Wissenssoziologie gemacht werden“ (Berger/Luckmann 2004: V).
 
5
Insbesondere in seinen späteren Schriften widmet sich Honneth dem „internen Zusammenhang zwischen einer solchen Form von Anerkennung und der menschlichen Freiheit“ (Honneth 2010: 8, vgl. Honneth 2001a: 84). Den Begriff der Anerkennung setzt er in ein Verhältnis zur individuellen Autonomie und betont, dass Individuen nur durch Formen wechselseitiger Anerkennung zur individuellen Autonomie gelangen.
 
6
In den Worten Menkes: durch Übung (vgl. hier Kapitel 4).
 
7
Diese Ausführungen Habermas’ beziehen sich auf die normativ-symbolische Reproduktion. Die materielle Reproduktion findet in den Systemen statt (vgl. Habermas 1981c: 209).
 
8
Das bedeutet nicht, dass das die primären Sozialisationsinstanzen und -strukturen gar keinen Einfluss auf Persönlichkeit und das Aufnehmen interpersoneller Beziehungen haben (vgl. dazu Steinkamp 2002, Hradil/Schiener 2005: 422-434).
 
9
Vgl. Habermas’ Auseinandersetzung mit Kohlberg in Habermas 1983: 127-206.
 
10
Mit dieser Bestimmung der höchsten Entwicklungsstufe erweisen sich Piaget wie Kohlberg als kantianisch geprägte Entwicklungspsychologen, die den von Kant definierten kategorischen Imperativ – die eigene Handlungsmaxime hinsichtlich ihrer Verallgemeinerbarkeit zu prüfen – als Endpunkt eines moralischen Bildungsprozesses ausweisen.
 
11
Iser spricht im Sinne Habermas’ von Differenzierung, Inklusion, Individualisierung (vgl. Iser 2008: 108).
 
12
Hier und mit Blick auf die ebenfalls differenzierten Geltungsansprüche wird ersichtlich, wieso Habermas Horkheimers und Adornos Auffassung der total integrierten Gesellschaft nicht überzeugt. Denn das isolierte Hervortreten der Geltungsansprüche – die sich auf kulturelles Wissen (Kultur), auf interpersonelle Beziehungen (Gesellschaft) und das subjektive Empfinden (Persönlichkeit) beziehen – bedingt die Möglichkeit, kritisch zu den erhobenen Ansprüchen Stellung zu nehmen.
 
13
Dass beispielsweise über einen langen Zeitraum Kernenergie als Antwort auf gesamtgesellschaftliche Energieversorgungsprobleme verstanden wurde, lässt sich in einer hegemonietheoretischen Perspektive nicht auf ein allgemeingültiges, wissenschaftlich belegtes Wissen über die ökologischste, sozialverträglichste und effizienteste Art der Energiegewinnung zurückführen. Vielmehr lässt sich das beharrliche Festhalten an der Atomenergie – bis zur Reaktorkatastrophe in Fukushima – als hegemoniales Projekt einer Verschmelzung von industriellen Interessen, parteipolitischen Befangenheiten und wissenschaftlichen Think Tanks begreifen.
 
14
Ein Bezugspunkt, an dem Freud bekanntlich zeitlebens festhielt. So folgt seine therapeutische Praxis dem Ziel der Wiederherstellung sich selbst bewusster, individueller Handlungsfähigkeit.
 
15
Daher dominieren trotz einiger, seit den neunzehnhundertachtziger Jahren entwickelter, historisch orientierter handlungstheoretischer Ansätze systemtheoretische Differenzierungstheorien die historische Soziologie (vgl. Bachmann 2016: 216f.).
 
16
Die Genese moderner Gesellschaften kann auch anders rekonstruiert werden. Die Akteur-Netzwerk-Theorie lässt sich beispielsweise als eine andere, nicht allein auf menschliche Kommunikation rekurrierende Theorie sozialer Evolution verstehen (vgl. Latour 1996, Eder 2009: 66ff.). Dass diesem Ansatz ebenfalls eine Form der Normativität zu entnehmen ist, lässt sich an Serres oder Latours Versuchen ablesen, der Natur ebenfalls Rechte zu zusprechen (vgl. Latour 2004, Serres 1994), immerhin eine ökologische Ebene der Normativität, die der Theorie des kommunikativen Handelns fremd ist. Ob sich die Adressierten der Theorie von Narrativen über Türstopper – die Latour gern heranzieht, um seine grundlegenden Annahmen zu belegen – überzeugen lassen, eine gesellschaftskritische Perspektive im Sinne Habermas’ einzunehmen, steht auf einem anderen Blatt.
 
17
Die Moral ist in dem Sinne universell, dass sie von jeder Form der kontextspezifischen Sittlichkeit gelöst ist. Die hochgradige Formalisierung des Rechs erlaubt es, unterschiedliche Interesse in einem allgemeinen Rahmen abzubilden, sodass im Konfliktfalle niemand übervorteilt wird (vgl. Habermas 1992a: 150).
Für eine an konkreter Geschichte und sozialen Kämpfen interessierte Perspektive, in der die Prozesse der Universalisierung des Rechts am Beispiel Preußens interessant und anschaulich erfasst werden vgl. Spittler 1980. Spittler beschreibt detailliert, mit welchen Problemen sich die preußische Bürokratie nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon bei ihren Vorhaben konfrontiert sieht,
1: sich gegen das ständische Partikularrecht durchzusetzen und ein allgemeines Recht zu etablieren – ein Vorhaben, dass im Sinne Durkheims als Universalisierung von Handlungsnormen zu begreifen ist (vgl. Durkheim 1988: 348-352).
2: Sprache, Maßeinheiten und Namensgebungen zu normieren. Vgl. hier ebenfalls Koschorke 2015: 77-80.
 
18
Weiter unten wird erörtert, inwiefern es innerhalb der Theorie des kommunikativen Handelns möglich ist, soziale Konflikte zu reflektieren.
 
19
Hier wird Habermas’ deontologische Haltung deutlich, der zufolge das Sein vom Sollen zu trennen ist. Die sogenannten empirischen Beimischungen stellen faktisches Sein dar, dem jedoch keine Aussagekraft darüber zukommt, wie etwas sein soll.
 
20
Eine lesenswerte Betrachtung der Lösung der Kunst aus der höfischen Kultur und von religiösen Vorgaben, die die Figur des/der Künstler/in überhaupt ermöglicht, liefern Gombrich 1996: 287f., Müller-Jentsch 2012.
Auch in architekturgeschichtlicher Perspektive lassen sich Differenzierungsprozesse rekonstruieren. Die vormals auf einem gemeinsamen Platz integrierten Bereiche von Politik, Markt und Religion erhalten seit dem Mittelalter ihre eigenen öffentlichen Räume. Vgl. dazu das von Sarasin geführte Interview mit dem Architekten und Künstler Haerle in Damasio 2005.
 
21
Rosa interpretiert die Rechtfertigungspflicht als Moderne spezifische Bedingung der Möglichkeit sozialen Wandels. Denn diese Pflicht ist, so Rosa, der Brennstoff eines Motors, der die Umstrukturierung von Institutionen und interpersonellen Beziehungen immer dann antreibt, wenn Dissens über erhobene Geltungsansprüche entsteht (vgl. Rosa 2009: 319). Aus diesem Motiv der Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt Forst seine gesamte Theorie der Rechtfertigung, die er gegenwärtig durch die Einführung des Machtbegriffs anschlussfähig für sozialwissenschaftliche Analysen gestalten will, um den Intentionen einer Kritischen Theorie gerecht zu werden (vgl. Forst 2015, Forst 2010). Die vorliegende Arbeit geht einen anderen Weg und wird den Begriff des sozialen Kampfes als Motor sozialen Wandelns ausweisen, weil er weniger kognitivistisch vorbelastet ist als der Begriff der diskursiven Rechtfertigung.
 
22
Zu beachten ist, dass Habermas zwei verschiedene Gesellschaftsbegriffe verwendet. Er spricht zum einen von Gesellschaft als Strukturmoment der Lebenswelt; und zum anderen von Gesellschaft als „systemisch stabilisierte Zusammenhänge sozial integrierter Gruppen“ (Habermas 1981c: 228), also als Ganzes, das sich aus System und Lebenswelt zusammensetzt.
 
23
Joas betont, dass die Faktizität nicht-intendierter Handlungsfolgen in der Soziologie oftmals gerade als Argument gegen den Funktionalismus der Systemtheorie verwendet wird (Joas 1986: 156f.). Denn nicht jede nicht-intendierte Handlungsfolge erweist sich als Beitrag zur Erhaltung eines Systems. Oftmals lassen sich Handlungsfolgen nicht annähernd funktional rekonstruieren. Eine Integration über Handlungsfolgen muss daher nicht zwingend funktionalistisch rekonstruiert werden, sondern kann auch schlicht bedeuten, in normativistischer Perspektive diejenigen Folgen des Handelns auszugrenzen, die sich innerhalb eines Systems als illegitim erweisen.
 
24
Die Kolonialisierung der Lebenswelt wird weiter unten dargestellt.
 
25
Das bekannteste Beispiel einer solchen „alternativen“ Lebensform stellt die Wohngemeinschaft dar. Dass Habermas’ Vorstellung der Privatsphäre zu erweitern ist, ist jedoch kein genereller Einwand gegen seine Theorie.
 
26
Eine aufschlussreiche Studie zur Vergesellschaftung durch Praktiken des Tausches von Geschenken – namentlich Praktiken des Kula oder solche im Rahmen des Potlatch – stellt Marcel Mauss’ Schrift „Die Gabe“ (Mauss/Ritter 1990) dar. Vgl. ebenso Malinowski 2001.
 
27
Die Darstellung Marx’ korrigiert die in der klassischen Politischen Ökonomie von Adam Smith geäußerte (übliche) Vorstellung, Eigentum und Besitz gründen einzig in den Anstrengungen Einzelner, weil sie die organisierenden Eingriffe staatlicher Herrschaft betont.
 
28
In den Worten der Religionskritik Marx’, der die ideologische Funktion der Religion hervorhebt: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen, das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist“ (Marx 2004: 22).
 
29
Zu Habermas’ Diagnose einer Repolitisierung der Ökonomie aufgrund sozialstaatlicher Eingriffe in den Kapitalismus vgl. hier unten die Ausführungen zur Kolonialisierung der Lebenswelt sowie Habermas 1973b: 50-60.
 
30
In Durkheimschen Schlagworten: Von mechanischer zu organischer Solidarität, von Homogenität zu Diversität, von Ähnlichkeit zu Unähnlichkeit, von wenigen zu vielen Funktionen (vgl. Durkheim 1988: Buch 1, Kapitel 2 und Kapitel 3).
 
31
Habermas lässt sich an dieser Stelle und mit Blick auf die Ausführungen Heinrichs zu Verdrängungsprozessen innerhalb der Philosophiegeschichte als Vertreter eines rationalistischen Theorieverständnisses begreifen, für das der Versuch grundlegend ist, Formen des Konfliktes innerhalb des Zivilisationsprozesses (zugunsten einer schematisch-exakten Darstellung) zu tilgen (vgl. Heinrich 1993 #819). Von dieser Diagnose ausgehend unternimmt Heinrich die kritische Interpretation von Mythen und Religionen, die er – im Gegensatz zur Philosophie – als Reflexionsform gesellschaftlicher Konflikte versteht.
 
32
Dass der zweite Band der Theorie des kommunikativen Handelns den Untertitel „Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft“ trägt ist als ironische Formulierung zu verstehen, da Habermas die funktionale Logik operativer Systeme gerade nicht als Moment der Vernunft, sondern als deren Bedrohung rekonstruiert.
 
33
Das Motiv, die zivilisationsgeschichtliche Entwicklung in einer handlungstheoretischen Perspektive als Zunahme instrumenteller Einstellungen zu rekonstruieren, verfolgt Habermas noch selbst in seinem 1954 erschienene Aufsatz „Dialektik der Rationalisierung“ (Habermas 1954). Dort überführt der die Handlungstheorie Gehlens in den daseinsanalytischen Kontext, den Heidegger in „Sein und Zeit“ entwickelte (vgl. Honneth 2009b: 15f.). Von diesen ideengeschichtlichen Bezügen nimmt Habermas bis zur Theorie des kommunikativen Handelns jedoch sukzessive Abstand.
In seinen Überlegungen zur Gentechnologie greift Habermas die Figur einer Zunahme instrumenteller Einstellungen erneut auf, bezieht sie dort jedoch auf Bewusstseinsformen und Handlungseinstellungen dem eigenen Körper gegenüber. Die gentechnologischen Möglichkeiten erzeugen eine instrumentell-objektivierende Einstellung der eigenen biologischen Substanz gegenüber (vgl. Habermas 2005).
 
34
Ausführlich behandelt werden systeminduzierte Krisen und die Reaktionen darauf in Habermas 1973b. Habermas arbeitet dort vier unterschiedliche Krisentendenzen im sogenannten Spätkapitalismus heraus, also der Form des Kapitalismus, die durch staatliche Eingriffe gekennzeichnet ist. Er unterscheidet:
1: ökonomische Krisen aufgrund zyklischer Kapitalvernichtungsprozesse;
2: Krisen der staatlichen Rationalität, die die kapitalistischen Probleme nicht lösen kann;
3: Legitimationskrisen in Folge versagter Massenloyalität;
4: Motivations- und Identitätskrisen durch die Erosion kultureller Werte.
 
35
Im Rahmen einer kritischen Soziologie beschreibt gegenwärtig Dörre diese Ausweitung kapitalistischer Systemimperative in Anschluss an Marx als Landnahmen (vgl. Dörre 2009).
 
36
Sicherlich sind Crouchs Beschreibungen gegenwärtiger demokratischer Gesellschaften in einen fragwürdigen, geschichtsphilosophisch anmutenden Rahmen historischer Entwicklung eingebettet, demzufolge der ideale demokratische Zustand bereits erreicht und danach überschritten wurde. Crouch wählt zur Veranschaulichung die Form einer Parabel, an deren Scheitel – der zugleich den normativen Bezugspunkt Crouchs darstellte – die Demokratien sich durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilung, starke Gewerkschaften und eine keynesianische Wirtschaftspolitik auszeichnet (vgl. Crouch 2008: 12f.). Seine Diagnosen lassen sich jedoch herausgelöst aus diesem Rahmen betrachten.
 
37
Habermas’ Betrachtung der rechtlichen Regulierung zuvor nicht verrechtlichter Bereiche fokussiert nicht den Inhalt, sondern die Form des Rechts. Gegenwärtig unternimmt ebenfalls Menke eine kritische Formanalyse des Rechts, die dessen formierenden und normierenden Charakter hervorhebt (vgl. Menke 2015). Eine Kritik an Menkes Verabsolutierung der spezifisch subjektiven Rechte formuliert Möllers 2016.
Iser interpretiert die Studie „Faktizität und Geltung“ als Habermas’ Versuch, einen anderen Rechtsbegriff zu entwickeln, der keine kolonialisierenden Effekte hervorruft. Dem sozialstaatlichen Recht stellt Habermas laut Iser das diskursiv generierte Recht gegenüber (vgl. Iser 2008: 146).
 
38
Die Diagnose Crouchs, der zufolge sich der Wohlfahrtsstaat zurückzieht, widerspricht nicht der These Habermas’. Denn ein Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen bedeutet nicht zugleich, dass der Staat kein Netz administrativer Maßnahmen um die Individuen spannt.
 
39
Nicht nur wird damit Demenz als Krankheit umfassender anerkannt. Sie wird überhaupt erst von anderen physischen Erkrankungen abgrenzbar und in ihren Facetten wahrgenommen. Sicherlich zeigt dieses Beispiel nicht lediglich den selektiven und spezielle Situationen nur allgemein behandelnden Charakter des Rechts, sondern auch die Versuche, das Besondere von Krankheiten mit rechtlichen Mitteln einzuholen. Schließlich wird Demenz nun als Demenz sozialstaatlich bearbeitbar. Im weiteren Verlauf der Argumentation wird jedoch deutlich, dass damit die grundlegende Struktur des Rechts, die zur Kolonialisierung führt, bestehen bleibt.
 
40
Gegenwärtig reflektiert Menke den normierenden, gewaltförmigen Charakter des Rechts, um innerhalb des Rechts selbst einen normative Fluchtpunkt zu umreißen (vgl. Menke 2011, Menke 2013a, Menke 2014b, Menke 2015).
 
41
Vgl. die Ausführungen zum Verhältnis von Rationalität und Wut im philosophischen Systemdenken in Adorno 2003g: 32ff.
 
42
Auch Demmerling vertritt in einem jüngst erschienen Aufsatz in Auseinandersetzung mit Heideggers „Sein und Zeit“ die These, dass der Zugang zur Welt nicht umfassend sprachlich strukturiert ist (vgl. Demmerling 2016). Er unterscheidet praktische Begriffe, durch die Individuen sich zunächst grundlegend in der Welt orientieren, und deren sprachlicher Organisation zu einem umfassenden Netz aus Interessen, Beurteilungen und Handlungsanweisungen. So können Individuen Türen öffnen, ohne über Sprache zu verfügen. Ziel der Argumentation Demmerlings ist der Nachweis, dass sprachfähige Individuen ihre Erfahrungen zwangsläufig zwar im Medium der Sprache organisieren, die Erfahrungen selbst jedoch außersprachlich zu verstehen sind (vgl. Demmerling 2016: 17).
 
43
Adornos Kritikbegriff gründet in einer sich von Habermas’ Verständnis grundlegend unterscheidenden Analyse der Gesellschaft. Seine Erwiderung auf Hegel, „[d]as Ganze ist das Unwahre“ (Adorno 2003e: 55), drückt eine vollends skeptische Haltung gegenüber der Gesellschaft aus, die ihren Nährboden in den Menschheitsverbrechen von Shoa und Nationalsozialismus hat.
 
44
Im Folgenden wird zwischen Individuen, die schlicht als Mitglied einer Gesellschaft zu verstehen sind, und Akteuren/innen unterschieden, die spezifisch emanzipative, die Gesellschaft transformierende Handlungen vollziehen. Akteure/innen sind subjektivierte Individuen, die an emanzipativen sozialen Praktiken teilnehmen.
 
45
Vgl. exemplarisch den sehr informativen, die Diagnose zudem kritisch reflektierenden Band von Neckel/Wagner 2013) sowie Greely et al. 2008.
 
46
Diese Auffassung teilt Habermas mit Luhmann (vgl. Luhmann 1993: 31ff.). Auch gegenwärtig wird diese Diagnose weiterhin bestätigt (vgl. Mayntz 2008).
 
47
Mit diesen Beschreibungen greift Habermas die Diagnose Bells auf, dass die nachindustrielle Dienstleistungsgesellschaft einen Wertewandel vollzogen hat (vgl. Bell 1985, Bell 1996). Für etliche Gesellschaften bestätigt Ingleharts Studie zur von ihm so bezeichneten Postmodernisierung diesen Wertewandel (vgl. Inglehart 1998) und führt ihn auf die kollektiv gewährleistete Sicherung der materiellen Reproduktion, aufgrund derer ästhetische und ökologische Werte stärker in den Vordergrund rücken, zurück.
 
48
Vgl. zur Genese den sehr ausführlichen zweiten Teil von „Das Recht der Freiheit“ (Honneth 2011). Zu beachten ist, dass Honneth die faktischen Zustände der Gesellschaft nicht idealisieren, sondern anhand der ihr konstitutiv eingeschriebenen normativen Maßstäbe kritisieren will. Zum Verfahren der normativen Rekonstruktion und einer Kritik daran vgl. Baum et al. 2016: 315-322: „Zwar fördert Honneths Analyse des empirischen Materials Rückschläge und Fehlentwicklungen zu Tage – einzig die privaten Beziehungen scheinen sich sukzessive dem Ideal sozialer Freiheit angenähert zu haben, während die Beziehungen marktwirtschaftlichen Handelns und demokratischer Willensbildung durch die Erosion sozialer Freiheit, den Zerfall der Arbeiter_innenbewegung oder den Verlust parlamentarischer Einflussnahme auf politikökonomische Prozesse, gekennzeichnet sind. Doch diesen empirischen Analysen stehen die methodologischen Überlegungen gegenüber. Dort expliziert Honneth die Notwendigkeit, einen Fortschritt in der Geschichte anzunehmen. Denn, so Honneth, soll die normative Rekonstruktion den Maßstab einer immanent verfahrenden Kritik, die Idee sozialer Freiheit, aus der Analyse gesellschaftlicher Institutionen gewinnen, muss vorausgesetzt werden, dass diese Institutionen fortschrittlicher sind und mehr soziale Freiheit ermöglichen als diejenigen, die ihnen historisch vorausgehen (vgl. Honneth 2011: 110ff., 119ff.). Durch die Vorstellung einer fortschrittlichen Entwicklung moderner Gesellschaften werden Prozesse und Phänomene zudem überhaupt erst als Rückschläge identifizier- und kritisierbar. Daher präformieren die methodologischen Überlegungen Honneths eine Geschichte der Genese moderner Gesellschaften, die trotz aller Rückschläge fortschrittlich ausgerichtet ist“ (Baum et al. 2016: 319).
 
49
Beckert 2012 zeigt deutlich auf, dass die kapitalistische Marktwirtschaft nicht ausschließlich einer Eigengesetzlichkeit folgt, sondern ebenfalls von individuellen Interessen oder moralischen Werten bestimmt wird. Ebenfalls Möller argumentiert mit einem – zwar nicht normativen – weit gefassten Normenbegriff gegen die Annahmen funktional differenzierter, operativ geschlossener System (vgl. Möllers 2015: 440-443).
 
50
Vgl. zur erhellenden Kraft der Kolonialisierungsthese ebenfalls Kneer 1990: 123-186.
 
Metadaten
Titel
Differenzierung und Gesellschaft
verfasst von
Markus Baum
Copyright-Jahr
2018
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20694-9_5