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Open Access 2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Einleitung

verfasst von : Sigrid Kannengießer

Erschienen in: Digitale Medien und Nachhaltigkeit

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Aktuelle Digitalisierungs- und Datafizierungsprozesse stellen heutige Gesellschaften in Hinblick auf Nachhaltigkeit vor große Herausforderungen. Versteht man aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive unter Digitalisierung die Bedeutungszunahme digitaler Medien für (fast) alle gesellschaftlichen Bereiche und sozialen Beziehungen, so stellt genau diese Bedeutungszunahme, die auch zu einer steigenden Anzahl digitaler Medientechnologien in der Gesellschaft führt, diese vor einige zentrale Probleme. Eng verknüpft mit dem Prozess der Digitalisierung ist der der Datafizierung, indem viele Aspekte der Welt in Daten übersetzt werden, sodass riesige Datenmengen entstehen: „Big Data“. Die Bedeutungszunahme digitaler Medien und digitaler Kommunikation sowie die Generierung von „Big Data“ führt nicht nur in Hinblick auf Datensicherheit und den Schutz der Privatheit zu Problemen, sondern stellt aktuelle Gesellschaften auch vor sozial-ökologische Herausforderungen und Fragen der Nachhaltigkeit. Denn nicht nur die Produktion von Medientechnologien, sondern auch die Speicherung riesiger Datenmengen in Serverfarmen sowie die Entsorgung nicht mehr genutzter Medienapparate verursachen einen enormen Ressourcen- und Energierverbrauch und haben komplexe negative sozial-ökologische Auswirkungen. Wie Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen diesen Herausforderungen begegnen und digitale Medien nutzen, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft beizutragen, ist die zentrale Forschungsfrage der vorliegenden Publikation. Die Autorin rekonstruiert die sozial-ökologischen Folgen aktueller Digitalisierungsprozesse und zeigt anhand dreier Fallstudien, wie verschiedene Akteur*innen Digitalisierung nachhaltiger gestalten (wollen): Neben dem Reparieren von Medientechnologien in Repair Cafés wurde die Produktion und Aneignung fairer Medientechnologien am Beispiel des Fairphones untersucht sowie Onlineplattformen, die für nachhaltigen Konsum werben, am Beispiel von utopia.de. Sind dies Beispiele für Medienpraktiken, die das Ziel der Nachhaltigkeit verfolgen, so werden in der vergleichenden Analyse auch Grenzen und Ambivalenzen dieses Handelns offenbar. In diesem einleitenden Kapitel skizziert die Autorin die sozial-ökolgischen Folgen aktueller Digitalisierung und Datafizierung sowie die theoretischen Grundlagen der hier diskutierten empirischen Studie, sie beschreibt das methodische Vorgehen dieser, weist auf zentrale Ergebnisse hin und umreißt den Aufbau der gesamten Publikation. Schließlich wird die Verantwortung der Kommunikations- und Medienforschung unterstrichen, die sozial-ökologischen Folgen aktueller Digitalisierung und Datafizierung sichtbar zu machen und die Möglichkeiten einer nachhaltigen Gestaltung digitaler Gesellschaften zu untersuchen.    
Aktuelle Digitalisierungs- und Datafizierungsprozesse stellen heutige Gesellschaften in Hinblick auf Nachhaltigkeit vor große Herausforderungen. Versteht man aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive unter Digitalisierung die Bedeutungszunahme digitaler Medien für (fast) alle gesellschaftlichen Bereiche und sozialen Beziehungen, so stellt genau diese Bedeutungszunahme, die auch zu einer steigenden Anzahl digitaler Medientechnologien in der Gesellschaft führt, diese vor einige zentrale Probleme. Eng verknüpft mit dem Prozess der Digitalisierung ist der der Datafizierung, indem viele Aspekte der Welt in Daten übersetzt werden, sodass riesige Datenmengen entstehen: „Big Data“ (Cukier und Mayer-Schoenberger 2013, S. 29). Die Bedeutungszunahme digitaler Medien und digitaler Kommunikation sowie die Generierung von „Big Data“ führt nicht nur in Hinblick auf Datensicherheit und den Schutz der Privatheit zu Problemen, sondern stellt aktuelle Gesellschaften auch vor sozial-ökologische Herausforderungen und Fragen der Nachhaltigkeit. Denn nicht nur die Produktion von Medientechnologien, sondern auch die Speicherung riesiger Datenmengen in Serverfarmen sowie die Entsorgung nicht mehr genutzter Medienapparate verursachen einen enormen Ressourcen- und Energierverbrauch und haben komplexe negative sozial-ökologische Auswirkungen. Es sind diese Effekte und Ansätze zur Lösung dieser Probleme, die auch aus einer kommunikations- und medienwissenschaftlichen Perspektive in den Blick genommen werden müssen. Damit werden Fragen der Nachhaltigkeit in digitalen Gesellschaften virulent.
Vor gut drei Jahrzehnten wurde im Brundtland-Bericht eine Entwicklung als nachhaltig charakterisiert, wenn die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generationen befriedigt werden, ohne dass die Bedürfnisse zukünftiger Generationen nicht befriedigt werden können (World Commission on Environment and Development 1987). Auch wenn der Brundtland-Bericht für verschiedene Aspekte, u. a. die Forderung nach wirtschaftlichem Wachstum, kritisiert wurde (z. B. Hopwood et al. 2005, S. 40), so ist seine Definition des Begriffs Nachhaltigkeit mit dem Fokus auf die Frage nach Generationengerechtigkeit weiterhin aktuell – nicht zuletzt durch die Fridays-for-Future-Bewegung, die Generationengerechtigkeit als eine ihrer zentralen Anliegen postuliert. Durch soziale Bewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion, in der (vor allem junge) Menschen Politiker*innen auffordern, aktiv gegen den Klimawandel einzutreten, stand die Forderung nach nachhaltigem Handeln in vielen Ländern weltweit und auch in Deutschland seit 2018 wöchentlich im Raum (Wahlström et al. 2019; Haunss und Sommer 2020). Und auch während der Covid-19-Pandemie, als die wöchentlichen Proteste auf der Straße nicht mehr möglich waren, hat die Fridays for Future Bewegung Strategien entwickelt sich über Onlinemedien zu vernetzen und zu artikulieren (Kannengießer 2021a).
Die derzeitige Bundesregierung Deutschlands hat in ihrem Koalitionsvertrag Nachhaltigkeit als eines der zentralen Ziele formuliert (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021). Auch auf Ebene der Europäischen Union wurde Nachhaltigkeit u. a. durch die finnische EU-Ratspräsidentschaft unter dem Motto „Sustainable Europe, Sustainable Future“ (Finnische Ratspräsidentschaft 2019) ein zentrales Ziel politischen Handelns. Sogar die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte den Klimaschutz, und damit eines der zentralen Elemente einer nachhaltigen Entwicklung, als die wichtigste politische Aufgabe (Tagesschau 2019). Auf globaler politischer Ebene hat Nachhaltigkeit mit der Verabschiedung der Agenda 2030 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2015 und die damit formulierten Ziele für eine nachhaltige Entwicklung eine zentrale Bedeutung für alle Politikfelder erhalten (Vereinte Nationen 2015). Und auch die Deutsche Bundesregierung (2016) hat sich in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie der Umsetzung der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung verpflichtet. So erfährt Nachhaltigkeit derzeit eine Konjunktur, auch wenn Nachhaltigkeit weder ein neuer Begriff ist noch ein neues gesellschaftliches Ziel darstellt. Selbst während der Covid-19-Pandemie, die maßgeblich die gesellschaftlichen und medialen Diskurse in den Jahren 2020 und 2021 prägte, war Nachhaltigkeit ein zentrales Thema.
In der Nachhaltigkeitsforschung wurden verschiedene Modelle zur Differenzierung des Begriffs Nachhaltigkeit entwickelt (s. hierzu Abschn. 2). Gemein ist ihnen, dass Nachhaltigkeit nicht nur auf die ökologische Dimension reduziert werden kann, sondern auch eine soziale, ökonomische und kulturelle Dimension umfasst. Als Ziele nachhaltigen Handelns können somit allgemein definiert werden: die Sicherung der menschlichen Existenz, die Bewahrung der globalen ökologischen Ressourcen, der Erhalt des gesellschaftlichen Produktivpotenzials und die Gewährleistung der Handlungsmöglichkeiten heutiger und zukünftiger Generationen (Pufé 2014, S. 18). Eine nachhaltige Gesellschaft ist also eine solche, die menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen für alle Menschen auf der Welt gleichermaßen ermöglicht und die natürlichen Ressourcen schont, damit zukünftige Generationen ein „gutes Leben" auf dieser Welt haben können.
Seit der Antike stellen sich Menschen die Frage, was ein „gutes Leben“ ist und wie dieses zu erreichen ist. Während Glück subjektiv empfunden wird, wird das „gute Leben“ als objektiv bestimmbare Lebensform konzeptualisiert (Rosa 2016, S. 37). Eindeutig konnte und kann die Frage nach dem „guten Leben“, und wie es zu erreichen ist, nicht beantwortet werden. Fragt man aber in gegenwärtigen digitalen Gesellschaften nach dem „guten Leben“, so steht dieses derzeit eng mit Fragen der Nachhaltigkeit in Zusammenhang, indem im Sinne der oben genannten Brundtland-Definition von Nachhaltigkeit gefragt wird, wie heutige und zukünftige Generationen ihre Bedürfnisse erfüllen können.
Folgt man diesen Definitionen von Nachhaltigkeit und dem „guten Leben“, so stehen heutige digitale Gesellschaften, wie oben angedeutet, u. a. durch die Art und Weise der Produktion, Nutzung und Entsorgung digitaler Medientechnologien vor zentralen Herausforderungen. Denn derzeit werden digitale Medientechnologien unter menschenunwürdigen und umweltzerstörenden Bedingungen produziert. So zeigen z. B. Studien zum Coltanabbau, einem Mineral, das in jede digitale Medientechnologie verbaut wird, dass Menschen (oftmals Kinder) in Minen unter menschenrechtsverletzenden Bedingungen arbeiten, der Mineralabbau umweltzerstörend wirkt und mit diesem Kriege finanziert werden.
Neben der nicht nachhaltigen Gewinnung der benötigten Ressourcen, sind auch die Arbeitsbedingungen in Fabriken, in denen digitale Medientechnologien produziert werden, menschenunwürdig und umweltschädlich. Die zunehmende internetbasierte Kommunikation und damit zusammenhängende Datafizierungsprozesse führen außerdem zu einem rasant ansteigenden Energieverbrauch, der nicht nur aus dem Betreiben benötigter Server, sondern auch aus dem Einsatz der für diese Server benötigten energieintensiven Kühlsysteme resultiert. Die für das Betreiben der Serverfarmen benötigte Energie wird überwiegend aus fossilen Ressourcen gewonnen, deren Verbrauch klimaschädliche Emissionen produziert. Schließlich lassen sich auch negative sozial-ökologische Auswirkungen am Ende der Nutzungsdauer von Medientechnologien ausmachen, denn durch permanente technologische Innovationen unterschreitet die Nutzungsdauer digitaler Medien ihre Lebensdauer, welche wiederum durch die geplante Obsoleszenz, also eine geplante reduzierte Haltbarkeit der Technologien durch den Einbau von Sollbruchstellen, verkürzt ist. Werden digitale Medien durch diese Kurzlebigkeit immer schneller ersetzt, so werden sie oftmals unsachgemäß (und nach der Baseler Konvention illegal) auf Müllhalden in ökonomisch weniger entwickelten Ländern entsorgt, wo diese Entsorgung umweltschädliche und menschenverletzende Effekte hat (zu den sozial-ökologischen Effekten der Produktion-, Nutzung- und Entsorgung digitaler Medientechnologien s. Abschn. 2.​2.​2).
Es sind diese menschenunwürdigen und umweltschädlichen Auswirkungen der Produktion, Nutzung und Entsorgung als Teil aktueller Digitalisierungs- und Datafizierungsprozesse, denen es auch zu begegnen gilt, wenn digitale Gesellschaften nachhaltiger gestaltet werden sollen. Denn auch diese Probleme sind Teil der „multiplen Krise“ (Bader et al. 2011) oder „VielfachKrise“ (Demirović et al. 2011) heutiger Gesellschaften.1 Die „multiple Krise“ führt dazu, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen vielerorts verschlechtern oder ihre Lebensgrundlage aufgrund der derzeitigen dominierenden Konsumgesellschaften zerstört werden. Dort, wo dies noch nicht der Fall ist, droht eine solche Zerstörung zukünftigen Gesellschaften und Generationen. Wie dies verhindert werden kann und Gesellschaften nachhaltiger gestaltet werden können, scheint also vor dem Hintergrund der „multiplen Krise“ drängender denn je zu sein. Daher stehen nicht nur Politik und Wirtschaft vor der dringenden Frage nachhaltiger zu handeln, auch die Wissenschaft muss sich den aktuellen sozial-ökologischen Herausforderungen stellen und sich mit der Frage beschäftigen, wie digitale Gesellschaften nachhaltiger gestaltet werden können.
In der Kommunikations- und Medienwissenschaft sind das „gute Leben“ und Nachhaltigkeit randständige Themen. Auch dass die Jahrestagung der International Communication Association 2014 in Seattle unter dem Titel „Communication and the Good Life“ stattfand, führte nicht zu einer breiteren Bearbeitung des Themas innerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaft, Publikationen zu Fragen nach einem „guten Leben“ bleiben vielmehr noch immer eine Ausnahme (s. Abschn. 2.​2.​1). Wenn Nachhaltigkeit in der Kommunikations- und Medienwissenschaft analysiert wird, so meistens in Hinblick auf die Medieninhalte, also die Medien zweiter Ordnung (Kubicek et al. 1997, S. 34).2 So stellt Nachhaltigkeit in der Kommunikations- und Medienwissenschaft ein Thema dar, das v. a. in den Feldern der Umweltkommunikation behandelt wird. Hier wird untersucht, wie Menschen über Nachhaltigkeitsthemen (medienvermittelt) kommunizieren, wie diese Themen in den Medien repräsentiert werden und welche Rolle Kommunikator*innen wie Journalist*innen und auch Akteur*innen der Öffentlichkeitskommunikation dabei spielen (s. Abschn. 2.​1.​1). Dabei kommt Internetmedien zunehmend eine signifikante Rolle für Nachhaltigkeits- und Umweltkommunikation zu: Individuen, Kollektive und Organisationen nutzen Internetmedien wie Facebook oder Twitter, um über Nachhaltigkeit zu kommunizieren und gestalten Websites oder Weblogs, um für Nachhaltigkeit zu werben. Ein weiteres, eher kleines Feld der Kommunikations- und Medienwissenschaft beschäftigt sich mit den oben skizzierten sozial-ökologischen Folgen der Medienkommunikation, also auch mit denen der Produktion und Entsorgung (digitaler) Medientechnologien und dem Konsum3 derselben.
Nachhaltigkeit ist auch in Hinblick auf Medien erster Ordnung relevant, für Medien als Technologien (Kubicek et al. 1997, S. 32) und deren Produktions-, Aneignung- und Entsorgungsprozesse bzw. die sozial-ökologischen Folgen dieser. Maxwell und Miller (2012, S. 9) kritisieren zu Recht, dass die sozial-ökologischen Effekte der Produktion, Nutzung und Entsorgung von Medientechnologien kaum in der Kommunikations- und Medienwissenschaft berücksichtigt werden. Ein interdisziplinäres Forschungsfeld untersucht aber zunehmend sowohl die sozial-ökologischen Implikationen der Digitalisierung als auch Möglichkeiten einer nachhaltigen Gestaltung von Digitalisierung (u. a. Maxwell und Miller 2012; Maxwell et al. 2015; Starosielski und Walker 2016; Lange und Santarius 2018; Höfner und Frick 2019).
Es ist auch eine zentrale Aufgabe der Kommunikations- und Medienwissenschaft, sich mit den oben skizzierten sozial-ökologischen Herausforderungen digitaler Gesellschaften und den Lösungsansätzen für die Probleme zu beschäftigen. Dazu gehört auch, sich mit Phänomenen und Initiativen auseinanderzusetzen, die außerhalb der Wissenschaft entstehen und den genannten Herausforderungen begegnen. In den letzten Jahren sind immer mehr Initiativen entstanden, die sich den Problemen digitaler Gesellschaften stellen und Lösungen finden wollen, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft beizutragen. Dabei stehen auch Medien(-technologien) im Zentrum dieses Handelns. Einige solcher Versuche stehen im Fokus dieses Buches und werden mit der folgenden Forschungsfrage in den Blick genommen: Was machen Individuen, Organisationen und Unternehmen mit Medien, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beizutragen?4
Eine solche handlungstheoretische Perspektive (s. hierzu Abschn. 3.​2.​1) bei der Bearbeitung des Nachhaltigkeitsthemas in der Kommunikations- und Medienwissenschaft zu verfolgen, drängt sich insbesondere dann auf, wenn man davon ausgeht, dass „Nachhaltigkeit […] zuerst Handeln“ ist (Nielsen et al. 2013, S. 10). Im Fokus dieses Buches stehen daher Medienpraktiken, die das Ziel einer nachhaltigen Gesellschaft im Sinne einer gerechten und lebenswerten Gesellschaft verfolgen, in der die Bedürfnisse heutiger und zukünftiger Generationen befriedigt werden können.
Die Aufarbeitung des Forschungsstandes zu Nachhaltigkeit, dem „guten Leben“ und Medien(-kommunikation) (s. Kap. 2) zeigt, dass in der Kommunikations- und Medienwissenschaft ein Forschungsdesiderat auszumachen ist, das in der Untersuchung von Medienpraktiken, die auf Nachhaltigkeit abzielen, liegt. Denn was verschiedene Akteur*innen mit Medien machen, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beizutragen, ist noch nicht untersucht. Wie Medien als Organisationen der traditionellen Massenmedien zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen können, wird am Beispiel ökonomisch weniger entwickelter Länder analysiert (s. Young und McComas 2016 zu Sambia oder Harvey 2011 zu Ghana).
Der Fokus des vorliegenden Buches liegt nicht auf traditionellen Massenmedien. Vielmehr ist das Anliegen der hier vorgestellten Studie ist es – neben der Untersuchung der Medienaneignungen für eine nachhaltige Gesellschaft, also der Analyse, wie Menschen Medien in ihren Alltag integrieren, um damit zu Nachhaltigkeit beizutragen – auch zu untersuchen, was außer Individuen auch Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen mit Medien, (als Organisation, Inhalten und Technologien) machen, um zu Nachhaltigkeit beizutragen.
Nachhaltigkeit wird dabei entsprechend des oben skizzierten Begriffsverständnisses nicht auf ökologische Nachhaltigkeit reduziert, sondern umfasst neben der ökologischen auch die soziale und ökonomische Dimension von Nachhaltigkeit und ihren Zusammenhang mit Medien und Medienkommunikation. Nimmt diese Publikation also Medienpraktiken in den Blick, die auf eine nachhaltige Gesellschaft abzielen, so ist damit nicht nur gemeint, wie durch entsprechende Medienpraktiken „ökologischer“ oder „umweltfreundlicher“ gehandelt werden kann. Vielmehr werden mit den hier untersuchten Fallbeispielen auch solche Medienpraktiken behandelt, die die soziale und ökonomische Dimension von Nachhaltigkeit tangieren und auf soziale Gerechtigkeit und ein „gutes Leben“ abzielen. Konsum spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle, ist es doch der Konsum digitaler Medientechnologien, der die oben skizzierten sozial-ökologischen Folgen der Produktion und Entsorgung von Medientechnologien perpetuiert und der von den in den Fallstudien untersuchten Akteur*innen kritisiert wird. Die Medienpraktiken, welche für diese Arbeit untersucht wurden, können daher als konsumkritisch charakterisiert werden. Daher wurde im Rahmen der durchgeführten Studie das theoretische (Schlüssel-)Konzept der „konsumkritischen Medienpraktiken“ entwickelt:
„Konsumkritische Medienpraktiken sind solche, in denen a) Medien entweder genutzt werden, um (eine bestimmte Art von) Konsum zu kritisieren, oder b) Alternativen zum Konsum (im Sinne des Verbrauchens und Kaufens) von Medientechnologien entwickelt bzw. praktiziert werden.“ (Kannengießer 2018a, S. 217)
Die untersuchten Fallstudien sind Beispiele für beide Aspekte konsumkritischer Medienpraktiken – zum einen für die Äußerung von Konsumkritik, zum anderen stellen sie Alternativen zum bzw. im Konsum von Medientechnologien dar. Konsumkritik wurde bislang dominant auf der Medieninhaltsebene untersucht (s. Abschn. 2.​2.​3). Wie jedoch Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen in ihren Medienpraktiken selbst konsumkritisch handeln, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beizutragen, ist noch nicht erforscht und daher Gegenstand dieser Publikation. So zeigt die hier präsentierte Studie, wie in Zeiten der „multiplen Krise“ (Bader et al. 2011; s. o.) Medien(-technologien) genutzt werden, um die digitale Gesellschaft nachhaltiger zu gestalten. Dabei verdeutlicht die Analyse konsumkritischer Medienpraktiken aber auch, dass diesen Paradoxien und Grenzen inhärent sind. Insofern werden die auf eine nachhaltige Gesellschaft und das „gute Leben“ abzielenden Medienpraktiken hier kritisch diskutiert.
Bei der Bearbeitung der Forschungsfrage wurde deutlich, dass v. a. digitale Medien eine große Rolle spielen, wenn Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beitragen wollen. So kommunizieren verschiedene Akteur*innen in Onlinemedien über Nachhaltigkeit und werben für diese. Neben dieser inhaltlichen Dimension spielen auch digitale Medientechnologien selbst eine Rolle, wenn Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen versuchen, mit ihren Medienpraktiken der Produktion und Aneignung digitaler Medientechnologien, Nachhaltigkeit zu etablieren. So sind sich unterschiedliche Akteur*innen der oben skizzierten sozial-ökologischen Folgen der Produktion und Entsorgung von Medientechnologien bewusst und versuchen, diese nachhaltiger zu gestalten, indem sie nachhaltigere Medientechnologien entwickeln und produzieren bzw. solche Angebote nutzen oder die Nutzungsdauer von Medientechnologien verlängern wollen.
Drei Beispiele von Medienpraktiken, mit denen Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen zu Nachhaltigkeit und einem „guten Leben“ beitragen wollen, habe ich in einer empirischen Studie vergleichend untersucht: 1) das Reparieren von Medientechnologien in Repair Cafés, 2) die Produktion und Aneignung fairer Medientechnologien am Beispiel des Fairphones und 3) Onlineplattformen5, die für Nachhaltigkeit werben, am Beispiel der Plattform Utopia.de. Die Fallstudien werden in Abschn. 3.​1. näher erläutert und sollen hier nur kurz eingeführt werden.
Die erste Fallstudie stellt das Reparieren von (digitalen) Medientechnologien in den Mittelpunkt. Reparieren kann definiert werden als der Prozess, durch den Technologien erhalten und wieder- bzw. weiterverwendet werden, um mit deren Verschleiß und rückschrittlichen Veränderungen umzugehen (Rosner und Turner 2015, S. 59). Das Reparieren ist keine neue Praktik, an Popularität gewinnt das Reparieren seit einigen Jahren jedoch durch die Verbreitung von Repair Cafés, Veranstaltungen, in denen Menschen zusammenkommen, um gemeinsam ihre defekten Alltagsgegenstände zu reparieren (s. u. a. Kannengießer 2018a, S. 223). Während einige Teilnehmer*innen ehrenamtlich ihre Hilfe bei diesen Veranstaltungen anbieten, suchen andere Hilfe beim Reparieren ihrer defekten Konsumgüter und bringen u. a. Elektrogeräte, insbesondere Medientechnologien und Küchengeräte, Fahrräder oder Textilien mit. Dabei zeigt meine Studie, dass Medientechnologien zu den Dingen gehören, die neben Küchengeräten am häufigsten zu den Veranstaltungen mitgebracht werden.
Auch auf politischer Ebene ist die Notwendigkeit des Reparierens mittlerweile anerkannt, so hat das Europäische Parlament die Europäische Kommission 2020 aufgefordert, Verbraucher*innen „ein ‚Recht auf Reparatur’ einzuräumen“ (Europäisches Parlament 2020).
Die niederländische Stiftung Stichting Repair Café beansprucht für sich, das Konzept der Reparaturcafés 2009 entwickelt zu haben (Stichting Repair Café ohne Jahr). Ob dies tatsächlich der Ursprung ist oder nicht – zu beobachten ist, dass sich das Veranstaltungsformat der Repair Cafés in den vergangenen Jahren v. a. in west- und nordeuropäischen Ländern sowie Nordamerika verbreitet hat. Auch in Deutschland gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Reparaturcafés, die von unterschiedlichen Akteur*innen organisiert werden. Die Stiftung Anstiftung & Ertomis will die Reparaturinitiativen in Deutschland koordinieren und ein Netzwerk zwischen ihnen bilden. Dafür können sich die Reparaturinitiativen auf einer Onlineplattform registrieren (www.​reparatur-initiativen.​de). Bislang sind 868 Initiativen registriert (Stand 14. Mai 2021). Auf der Onlineplattform können sich die einzelnen Reparaturinitiativen nicht nur in ihren Profilen vorstellen und Ansprechpartner*innen benennen, vielmehr zeigt eine interaktive Karte, wo die einzelnen Reparaturinitiativen verortet sind, und ein Kalender, wann entsprechende Veranstaltungen stattfinden. In den Repair Cafés findet das Reparieren gemeinsam und öffentlich statt und wird des Weiteren in diesem Kontext politisiert: Die Veranstaltungen werden genutzt, um ein Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft zu setzen und für nachhaltiges Handeln zu werben.
Die im Rahmen für diese Arbeit durchgeführte Studie zeigt, dass digitale Medientechnologien eine besondere Rolle für Repair Cafés und das Reparieren defekter Alltagsgegenstände spielen: So werden neben alten Medientechnologien wie Diaprojektoren oder Radios v. a. neue digitale Medientechnologien wie Laptops, Smartphones oder Digitalkameras mitgebracht. Die Reparatur digitaler Medienapparate, so zeigt die Studie, ist dabei eine besondere Herausforderung für die Reparierenden, da die Geräte oftmals schwierig zu öffnen und die Reparaturprozesse komplexer als bei analogen Apparaten sind. Digitale Medien spielen aber auch bei der Organisation und der Bewerbung der Veranstaltungen eine signifikante Rolle, da sich die Organisierenden und Helfenden über diese vernetzen und mobilisieren, und auch die Anstiftung & Ertomis nutzt für die Herstellung des Netzwerks deutscher Repair Cafés primär digitale Medien. In der Fallstudie zum Reparieren von Medientechnologien in Repair Cafés wurde nicht nur untersucht, was die Beteiligten während der Veranstaltungen (mit Medientechnologien) machen, sondern auch die (medienvermittelte) Vernetzung und Mobilisierung innerhalb der „Reparaturbewegung“ analysiert.
In der zweiten Fallstudie steht eine spezifische digitale Medientechnologie im Fokus, die unter fairen und nachhaltigen Bedingungen produziert werden soll: das Fairphone. Das Fairphone, ein Smartphone, das von dem niederländischen Unternehmen Fairphone entwickelt, produziert und vertrieben wird, ist eines der bekanntesten Medientechnologien, die fair und nachhaltig produziert sowie gehandelt werden sollen. Ziel des Unternehmens ist es, ein reparierbares Smartphone herzustellen, das unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen mit fair gehandelten Materialien produziert wird. Fairer Handel wird definiert als ein solcher, der „auf Dialog, Transparenz und Respekt beruht und nach mehr Gerechtigkeit im internationalen Handel strebt […, und, S. K.] einen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung [leistet, S. K.]“ (World Fair Trade Organization und Fairtrade Labelling Organizations 2009, S. 6). Das Fairphone, das seit 2019 mittlerweile in der dritten Generation verkauft wird, wird unter Crowdfunding-Bedingungen hergestellt, d. h., dass die Käufer*innen dieses erst erwerben und das Smartphone nur produziert wird, wenn genügend Abnehmende das Gerät bestellt haben. Mittlerweile kann das Fairphone nicht nur direkt über die Onlineplattform des Unternehmens erworben werden, sondern auch bei bestimmten Händlern und Telekommunikationsunternehmen. Neben der Onlineplattform als Informations- und Verkaufsplattform versucht das Fairphone-Unternehmen über das in die Plattform integrierte Onlineforum sowie verschiedene Onlinenetzwerke und Mikrobloggingdienste, eine soziale Bewegung für nachhaltige Medientechnologie herzustellen. Digitale Medien werden in diesem Beispiel also im doppelten Sinne genutzt, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft beizutragen: Zum einen auf der Medieninhaltsebene, um über Nachhaltigkeit zu informieren und für diese zu werben, zum anderen in Hinblick auf die Medientechnologie selbst, indem ein unter nachhaltigen Bedingungen produzierter Apparat entwickelt und angeboten wird.
Im Rahmen der hier präsentierten Studie wurde neben der Produktions- auch die Aneignungsebene des Fairphones untersucht. Mich hat zum einen interessiert, warum das Unternehmen ein faires Smartphone produziert sowie zum anderen, warum Menschen das Fairphone kaufen. Diese Fallstudie zeigt, wie auf den Ebenen der Produktion und Aneignung (hier im Sinne einer bewussten Kaufentscheidung) Individuen und Unternehmen versuchen, mit eben der Produktion und Aneignung von Medientechnologien eine nachhaltige Gesellschaft und ein „gutes Leben“ zu etablieren.
Sind das Reparieren von Medientechnologien in Repair Cafés sowie das Produzieren/Aneignen fair gehandelter Medientechnologien am Beispiel des Fairphones Fallbeispiele dafür, was Individuen und Unternehmen mit Medientechnologien machen, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beizutragen, und stehen mit den Medientechnologien Medien zweiter Ordnung (Kubicek et al. 1997, S. 34) im Fokus, so beschäftigt sich die dritte Teilstudie mit Medieninhalten und damit Medien erster Ordnung und untersucht am Beispiel der Onlineplattform Utopia.de, wie Menschen über Medieninhalte zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beitragen (wollen).
Utopia.de ist eine deutschsprachige Onlineplattform, die von der Utopia GmbH mit Sitz in München betrieben wird. Die Betreiber*innen möchten „Menschen, Organisationen und Unternehmen zusammenbringen, die mit uns gemeinsam einen wirksamen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft leisten wollen“ (Utopia 2019a). Was Utopia primär macht, ist, über das auf der Onlineplattform integrierte Onlinemagazin Kaufberatung zu geben. D. h., es werden v. a. Informationen über von Utopia als nachhaltig eingestufte Produkte (z. B. auch das Fairphone) und Dienstleister verbreitet oder auch Nutzer*innen der Onlineplattform zum Test dieser Produkte eingeladen. In die Plattform integriert sind aber auch Onlineforen, in denen Nutzende ihre Meinung über Produkte oder Tipps für nachhaltigen Konsum äußern können. Utopia.de wurde als ein Fallbeispiel für alltägliche Medienpraktiken analysiert, die auf einer Medieninhaltsebene versuchen, zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beizutragen.
Die drei Fallstudien wurden aus unterschiedlichen Gründen ausgewählt. Zum einen decken sie verschiedene Dimensionen des Medienhandelns ab: Mit dem Reparieren von Medientechnologien in Repair Cafés wurde die Dimension der Medienaneignung untersucht; mit der Produktion und Aneignung fairer Medientechnologien neben der Dimension der Aneignung zudem auch die der Medienproduktion, wobei es hier nicht um die Produktion von Medieninhalten, sondern um die von Medientechnologien geht. Und mit Onlineplattformen, die für eine nachhaltige Gesellschaft werben, wurde, als dritte Dimension, die der Medieninhalte analysiert. Ein weiterer Grund für die Auswahl dieser Fallbeispiele war die Neuheit der Medienpraktiken bzw. die neuen Bedeutungszuschreibungen an alte Medienpraktiken: So ist das Bemühen, Medientechnologien unter fairen und nachhaltigen Bedingungen zu produzieren, neu in der Geschichte der Produktion von Medienapparaten und durch diese neuen (vermeintlich)6 fairen Medientechnologien ist auch die Aneignung fairer Medientechnologien eine neue Praktik. Als neu können auch Onlineplattformen wie Utopia.de eingestuft werden, die Nachhaltigkeit thematisieren bzw. durch die Verbreitung ihrer Inhalte zu einer nachhaltigen Gesellschaft beitragen (wollen). Das Reparieren von Medientechnologien an sich ist kein neuer Akt, repariert wurden Medienapparate seitdem es diese gibt. Die Politisierung des Reparierens als eine Praktik für eine nachhaltige Gesellschaft jedoch ist, wenn nicht eine neue Konnotation, so doch vor dem Hintergrund der ökologischen Krise und der in Abschn. 2.​2.​2. beschriebenen aktuellen sozial-ökologischen Auswirkungen der Produktion und Entsorgung digitaler Medientechnologien von zunehmender Brisanz.
Die Fallstudien zeigen exemplarisch, dass digitale Medien eine zentrale Rolle spielen, wenn sich verschiedene Akteur*innen Medien aneignen, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beizutragen. Um diese Fallstudien zu untersuchen, wurden verschiedene qualitative Methoden im Verfahren der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996) trianguliert und mit diesem ein theoriegeleitetes qualitatives Verfahren verfolgt (s. Abschn. 3.​3.​1). Bei der Analyse der Fallbeispiele anhand der Forschungsfrage was Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen mit Medien machen, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beizutragen, wurden sechs zentrale kommunikations- und medienwissenschaftliche theoretische Dimensionen offenbar: 1) Medienpraktiken, 2) Materialität, 3) Medienethik, 4) Vergemeinschaftung, 5) politische Partizipation sowie 6) soziale Bewegung: Denn nimmt man Medienpraktiken in den Blick, die auf eine nachhaltige Gesellschaft und ein „gutes Leben“ zielen, so zeigt sich, dass zunächst im Fokus der Frage steht, was Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen mit Medien machen, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beizutragen. Damit stehen Medienpraktiken im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Diese untersuchten Medienpraktiken beziehen sich (auch) auf die Materialität digitaler Medientechnologien, die die Akteur*innen reflektieren, kritisieren und die sie durch ihr Handeln verändern wollen. Die hier untersuchten Medienpraktiken verfolgen bestimmte Normen und Ziele, daher ist eine medienethische Perspektive in der Analyse der Fallbeispiele relevant. In der Analyse zeigte sich außerdem, dass Menschen nicht alleine, sondern innerhalb von (kommunikativen und/oder medienvermittelten) Vergemeinschaftungen handeln oder sich zumindest an solchen orientieren. Somit steht als fünfte Dimension die Frage nach politischer Partizipation im Fokus, denn die Beteiligten wollen an Gesellschaft teilhaben und diese gestalten. Schließlich ist zu diskutieren, inwiefern es sich bei diesen Vergemeinschaftungen um soziale Bewegungen handelt, durch die die Gesellschaft zu einer nachhaltigeren gestaltet werden soll, denn einige der Initiativen versuchen explizit, über ihr Handeln soziale Bewegungen zu bilden.
Entlang dieser sechs theoretischen Dimensionen, die nicht nur miteinander verknüpft sind, sondern sich z. T. auch überschneiden, werden in diesem Buch die empirischen Ergebnisse der durchgeführten Studie diskutiert. Dabei werden bestehende theoretische Konzepte dieser drei Forschungsfelder nicht nur angewandt, vielmehr werden durch die empirischen Ergebnisse bestehende Theorien und Konzepte aus den jeweiligen Forschungsfeldern weiterentwickelt. Somit leistet dieses Buch nicht nur einen empirischen und theoretischen Beitrag zum Forschungsfeld der Nachhaltigkeit und des „guten Lebens“ in der Kommunikations- und Medienwissenschaft, sondern auch zu den als theoretische Dimensionen aufgearbeiteten Forschungsfeldern. Nicht zuletzt über diese theoretische Weiterentwicklung kann gezeigt werden, dass Nachhaltigkeit ein Querschnittsthema in der Kommunikations- und Medienwissenschaft darstellt, welches für verschiedene Forschungsfelder des Faches erkenntnisbringend ist. Aufbauend auf diese Erkenntnis wird dieses Buch abschließend die Verantwortung der Kommunikations- und Medienwissenschaft hervorgehoben, die sozial-ökologischen Herausforderungen von Digitalisierung und Datafizierung wahrzunehmen und zu untersuchen (und zwar nicht nur am Rande des Faches), sondern auch Initiativen wie die in diesem Buch diskutierten zu analysieren, um zu verstehen wie mit Medien (als Inhalte, Organisationen und Technologien) zu einer nachhaltigen Gesellschaft beigetragen werden kann.
Um die in dieser Einleitung skizzierte Argumentation zu entfalten, ist das Buch wie folgt aufgebaut: In einem ersten Kapitel wird der Forschungsstand zu Nachhaltigkeit und dem „guten Leben“ in der Kommunikations- und Medienwissenschaft aufgearbeitet, um relevante Begriffe und Theorien zu erarbeiten und bestehende Ergebnisse empirischer Studien zur Kenntnis zu nehmen, die als Folie für die Ergebnispräsentation der durchgeführten Studie dienen. Dabei wird einleitend der Begriff der Nachhaltigkeit im Allgemeinen und Nachhaltigkeitskommunikation im Besonderen definiert und anschließend gezeigt, wie Nachhaltigkeit in den Feldern der Medienproduktionsforschung (Abschn. 2.​1.​1), Medieninhaltsforschung (Abschn. 2.​2.​2) sowie Medienrezeptionsforschung (Abschn. 2.​2.​3) untersucht wird. In einem weiteren Theoriekapitel wird der Forschungsstand zum „guten Leben“ in der Kommunikations- und Medienwissenschaft aufgearbeitet und gezeigt, dass hier vor allem individualpsychologische Forschungsfragen im Zentrum stehen (Abschn. 2.​2.​1). Mit der Aufarbeitung des Forschungsstandes zu den oben skizzierten sozial-ökologischen Folgen der Produktion, Nutzung und Entsorgung digitaler Medientechnologien wird argumentiert, dass Fragen der Nachhaltigkeit und des „guten Lebens“ nicht nur auf der individualpsychologischen Ebene liegen, sondern auch auf einer gesellschaftlichen (s. Abschn. 2.​2.​2). Dabei wird gezeigt, dass Aspekte des Konsums und der Konsumkritik zentral sind, wenn es um Medien(-technologien) und Nachhaltigkeit geht (s. Abschn. 2.​2.​3). Die Aufarbeitung des Forschungsstandes abschließend wird das Forschungsdesiderat beschrieben, welches in einer handlungstheoretischen Perspektive auf Nachhaltigkeit und Medien identifiziert wird und dem sich diese Arbeit stellt (s. Abschn. 2.​3).
In einem anschließenden Kapitel (s. Abschn. 3.​1) werden die Fallbeispiele detaillierter beschrieben, die vergleichend untersucht wurden. Bei der Beschreibung der Fallbeispiele wird auch der jeweilige interdisziplinäre Forschungsstand aufgearbeitet, wobei auffällig ist, dass bei allen drei Fallbeispielen ein kommunikations- und medienwissenschaftliches Forschungsdesiderat in der Analyse der jeweiligen Fallbeispiele im Allgemeinen sowie aus der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsperspektive im Besonderen liegt. Für die anschließende Erläuterung der theoretischen Dimensionen (s. Abschn. 3.​2), die bei der Analyse der Fallbeispiele offengelegt wurden, werden die jeweiligen kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschungsfelder unter Einbeziehung interdisziplinärer Konzepte und Studien skizziert: das Feld zu Medienpraktiken und der Materialität digitaler Medientechnologien, der Medienethik, der Vergemeinschaftung sowie dem Forschungsfeld der politischen Partizipation und sozialen Bewegung. Dabei werden vor allem für die empirische Analyse zentrale Begriffe und theoretische Ansätze definiert und erläutert. An die Ausführungen zu den theoretischen Dimensionen und Fallstudien anschließend werden zum einen die Erhebungsmethoden (s. Abschn. 3.​2.​1) zum anderen die Auswertungsmethoden (s. Abschn. 3.​2.​2) der durchgeführten Fallstudien beschrieben.
Die Ergebnisse der empirischen Fallstudien werden anhand der theoretischen Dimensionen präsentiert, die in der Analyse offenbar wurden: Zunächst wird anhand der theoretischen Konzepte der Medienpraktiken und der Materialität gezeigt, dass die in den Fallstudien untersuchten Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen in Relation zu Medien handeln, wenn sie sich diese aneignen, um zu einer nachhaltigen Gesellschaft und dem „guten Leben“ beizutragen und bei diesem Handeln die Akteur*innen die Materialität digitaler Medientechnologien reflektieren, sich mit dieser bewusst auseinandersetzen und diese verändern wollen (s. Abschn. 4.​1). Neben den Zielen der untersuchten Medienpraktiken, welche diese als konsumkritisch charakterisieren (s. Abschn. 4.​2), werden auch die Werte, die sich in den Medienpraktiken manifestieren, aus einer medienethischen Perspektive in den Blick genommen (s. Abschn. 4.​3). Die Fallstudien zeigen, dass verschiedene Akteur*innen nicht alleine handeln, sondern auch in Kollektiven, sodass Aspekte von Vergemeinschaftung in den Fallstudien herausgearbeitet werden (s. Abschn. 4.​4). Aufgrund der identifizierten Ziele und Werte der Akteur*innen, wird ihr Handeln zu einer Form politischer Partizipation (s. Abschn. 4.​5). Der Ergebnisteil diskutiert abschließend, ob und inwiefern in den Fallstudien und die Fallstudien übergreifend soziale Bewegungen wahrgenommen werden können, die einige der Akteur*innen der Fallstudien bewusst herstellen (wollen) (s. Abschn. 4.​6).
Während in dieser Präsentation und Diskussion der Ergebnisse diese punktuell auf den bestehenden Forschungsstand rückbezogen werden, diskutiert ein abschließendes Kapitel (Abschn. 5.​1) den Erkenntnisgewinn der hier präsentierten empirischen Studie für die kommunikations- und medienwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung im Besonderen sowie für die Kommunikations- und Medienwissenschaft im Allgemeinen. Nachhaltigkeit ist ein Querschnittsthema in der Kommunikations- und Medienwissenschaft und muss als solches in verschiedenen Forschungsfeldern des Faches thematisiert werden (s. Abschn. 5.​2). Denn die Kommunikations- und Medienwissenschaft hat vor dem Hintergrund der hier skizzierten sozial-ökologischen Herausforderungen digitaler Gesellschaften eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Verantwortung, die sozial-ökologischen Auswirkungen der Produktion, Nutzung und Entsorgung digitaler Medientechnologien näher zu untersuchen und Medienpraktiken in den Blick zu nehmen, mit denen sich Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen diesen Herausforderungen stellen und zu einer nachhaltigen Gesellschaft und einem „guten Leben“ beitragen wollen (s. detaillierter Abschn. 5.​2).
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Fußnoten
1
Bader et al. konstatieren, „dass die aktuelle Krisendynamik des Kapitalismus nicht auf die Wirtschafts- und Finanzkrise beschränkt ist, sondern auch weitere Krisen wie die der Energieversorgung, des Klimas oder der Nahrungsmittelversorgung umfasst. Unter dem Begriff der multiplen Krise verstehen wir dabei eine historisch-spezifische Konstellation verschiedener sich wechselseitig beeinflussender und zusammenhängender Krisenprozesse im neoliberalen Finanzmarktkapitalismus. […] Die derzeitige Krisenkonstellation ist innerhalb der Kräfteverhältnisse des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus zu verorten, sie kann als eine Zuspitzung von Widersprüchen der globalen Entwicklung des neoliberalen Kapitalismus analysiert werden.“ (Bader et al. 2011, S. 13) Felber (2010, S. 19 ff.) benennt zehn Krisen des Kapitalismus, zu denen u. a. Umweltzerstörung gehört. Graefe (2019) spricht von einer „Krisenförmigkeit des Gegenwartskapitalismus“. Mit der Covid-19-Pandemie kam 2019 eine weitere Krise hinzu, wobei die Probleme bei der Bewältigung dieser Krise u. a. auch im Kapitalismus zu identifieren sind, u. a. durch privatisierte Gesundheitssysteme in vielen Ländern. Anders als die Klimakrise, scheint die Covid-19-Pandemie aufgrund der noch im selben Jahr des Beginns der Pandemie entwickelten Impfstoffe in vielen Ländern nur eine temporäre Krise zu sein – wenn auch mit vielen Toten und weitgehendes gesellschaftlichen Auswirkungen, wie z. B. der verschlechterung der Lebensbedingungen vieler Menschen weltweit.
 
2
Unterscheidet man zwischen Medien erster Ordnung, die „auf der Basis bestimmter Techniken die Speicherung, den Abruf oder den Austausch von Mitteilungen“ (Kubicek et al. 1997, S. 32) erlauben, und Medien zweiter Ordnung, die „‚Inhalte‘ an ein mehr oder minder unbestimmtes Publikum vermitteln“ (ebd., 34), so spreche ich hier von digitalen Medien, wenn ich Medientechnologien meine, die als Computertechnologie den Austausch binärer Zeichen ermöglichen. Als Internet bezeichne ich in Anlehung an Beck (2010, S. 17) die physikalische Infrastruktur, die als Medium erster Ordnung ein Netzwerk zwischen digitalen Medientechnologien ermöglicht. Den Begriff der Internetmedien verwende ich für Medien zweiter Ordnung, die Medieninhalte über die Infrastruktur des Internets vermittelt. Findet Kommunikation, als ein „Zeichenprozess, der sich aus dem wechselseitigen aufeinander bezogenen (interaktiven) und absichtsvollen (doppelte Intention) kommunikativen Handeln von mindestens zwei Menschen (Kommunikanten) entwickeln kann“ (Beck 2013, S. 32) über Internetmedien statt, spreche ich von Onlinekommunikation. Kommunikation, die unter Einsatz digitaler Medientechnologien stattfindet, bezeichne ich hier als digitale Medienkomunikation – diese kann, muss aber nicht internetbasiert sein.
 
3
Konsum wird hier im lateinischen Wortsinn von consumere als das Verbrauchen von Gütern verstanden (siehe detaillierter Kap. 2).
 
4
Einzelne Aspekte der Argumentation dieses Buches wurden bereits in Fachzeitschriften und Sammelbandbeiträgen veröffentlicht, jedoch weder alle Teilargumente noch die Gesamtargumentation in ihrer Komplexität. An den entsprechenden Stellen dieses Buches wird auf die relevanten bisherigen Veröffentlichungen verwiesen.
 
5
Onlineplattformen definiere ich hier als „programmable digital architecture designed to organize interactions between users – not just end users but also corporate entities and public bodies“ (van Dijk et al. 2018, S. 4). In ihrer Publikation „Platform Society“ unterstreichen van Dijk, Poell und de Waal (ebd., S. 2) die Relevanz von Onlineplattformen für heutige Gesellschaften und betonen, dass Onlineplattformen in soziale Strukturen eingebettet sind, also nicht außerhalb bestehender Gesellschaftsstrukturen existieren, sondern integraler Bestandteil dieser sind. Ich spreche in den hier untersuchten Fallstudien von Onlineplattformen, da in allen drei Beispielen über u. a. Onlineforen die Nutzenden der Angebote eingebunden werden.
 
6
Inwiefern das in einer der hier diskutierten Fallstudien relevante Fairphone tatsächlich als fair bezeichnet werden kann, wird in Abschn. 4.​2. diskutiert.
 
Metadaten
Titel
Einleitung
verfasst von
Sigrid Kannengießer
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-36167-9_1