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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Einleitung

verfasst von : Robert Yen, Cornelie van Driel, Jens Schippl, Bettina Abendroth, Torsten Fleischer, Willibald Krenn, Constantin Pitzen, Heiner Monheim

Erschienen in: Automatisierter ÖPNV

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Das Kap. 1 führt in das Thema automatisiertes und vernetztes Fahren (avF) ein und erläutert die wesentlichsten Begriffe. Über die Beschreibung der Automatisierungsstufen (SAE Level 1–5) und die Erläuterung, wie es zu Fahrentscheidungen der automatisierten Fahrzeuge kommt, wird dem Leser vermittelt, dass automatisiertes Fahren stark mit dem Kontext, in dem sich das Fahrzeug bewegt, verbunden ist und somit nur als Teil des Ökosystems Mobilität verstanden werden kann.
Das Kap. 1 gibt außerdem einen Einblick in die Entwicklung des automatisierten Fahrens und versucht zudem, einen Ausblick zu geben. Fazit der Beschreibung ist, dass Sharing und Integration von avF die Schlüssel für die Mobilitätswende sind.
Damit avF zu einer besseren Mobilität beiträgt, muss dieses in Flotten gemeinsam genutzter Fahrzeuge eingeführt und in öffentliche Verkehrsdienste integriert werden.
Exemplarisch wird ein Szenario für die Entwicklung der Mobilität aus der Perspektive einer Kommune mit Zielsetzung Mobilitätswende beschrieben.

1.1 Was muss man sich unter „automatisiertem Fahren“ vorstellen?

Robert Yen und Willibald Krenn

1.1.1 Klärung der Begriffe

Schlagen wir die Zeitung auf, hören wir Radio oder Podcasts, schauen wir uns Beiträge im Fernsehen an oder surfen wir im Internet oder den Sozialen Medien, so können wir viel über automatisiertes Fahren, selbstfahrende oder autonome Fahrzeuge und „Fahrroboter“ lesen. Automatisiertes Fahren ist ein Thema, das als Schlüssel der Mobilitätswende gesehen wird. Die Begriffe werden jedoch teils synonym, teils differenziert zueinander verwendet. Es scheint daher sinnvoll, die Begriffe zu klären und zu einer einheitlichen Verwendung dieser zu kommen, bevor wir tiefer in die Materie einsteigen.
Die Society of Automotive Engineers (SAE) empfiehlt in ihrem Standard J3016 irreführende Begriffe wie „selbstfahrendes Fahrzeug“ „autonomes Fahrzeug“ und „Fahrroboter“ zu vermeiden (SAE 2018).
Im wissenschaftlichen Diskurs hat sich der Begriff „automatisiertes und vernetztes Fahren“ bzw. „automatisiertes und vernetztes Fahrzeug“ etabliert. Diese Begriffe werden ausdrücklich von den Begriffen „autonomes Fahren“ bzw. „autonomes Fahrzeug“ unterschieden. Während „automatisiertes und vernetztes Fahren“ davon ausgeht, dass hochautomatisierte und vollautomatisierte Fahrzeuge in der Regel auch vernetzt mit anderen Fahrzeugen, der Infrastruktur oder einer Leitstelle sein werden, birgt der Begriff „autonom“ in sich, dass das Fahrzeug vollständig unabhängig ist und die Fahraufgaben ebenso unabhängig ausgeführt werden. Einige Hersteller hochautomatisierter Fahrzeuge setzen auf die Autonomie.
Das neue deutsche Straßenverkehrsgesetz (StVG), das am 28. Juli 2021 in Kraft trat und welches das erste Gesetz weltweit ist, das automatisiertes Fahren im Regelbetrieb im Straßenverkehr ermöglicht, verwendet die Begrifflichkeit „Kraftfahrzeug mit autonomer Fahrfunktion“. In § 1d des StVG Absatz (1) handelt es sich dabei um „ein Kraftfahrzeug, das 1. die Fahraufgabe ohne eine fahrzeugführende Person selbstständig in einem festgelegten Betriebsbereich erfüllen kann und 2. über eine technische Ausrüstung gemäß § 1e Absatz (2) verfügt.“ § 1e Absatz (2) beschreibt funktional die technische Ausrüstung, gibt jedoch keine Auskunft darüber, ob das Fahrzeug unabhängig von einer Kommunikation mit außen betrieben werden sollte oder nicht.
In der EU-Regulation 2019/2144 wird zur Definition der Begriffe „automatisiertes Fahrzeug“ und „vollautomatisiertes Fahrzeug“ jedoch auf den Begriff „autonom“ zurückgegriffen:
“‘Automated vehicle’ means a motor vehicle designed and constructed to move autonomously for certain periods of time without continuous driver supervision but in respect of which driver intervention is still expected or required; ‘fully automated vehicle’ means a motor vehicle that has been designed and constructed to move autonomously without any driver supervision; (...)”
Die Europäische Kommission schreibt in ihrer Mitteilung ‚On the road to automated mobility: An EU strategy for mobility of the future‘ an das Europäische Parlament: “Even though automated vehicles do not necessarily need to be connected and connected vehicles do not require automation, it is expected that in the medium-term connectivity will be a major enabler for driverless vehicles. Therefore, the Commission will follow an integrated approach between automation and connectivity in vehicles.” (Europäische Kommission 2018a, b, S. 4). Damit legt sie als strategische Richtschnur die Verbindung zwischen Automatisierung und Vernetzung fest. Bezogen auf automatisierte Fahrzeuge geht es in erster Linie um die sicherheitsrelevante Kommunikation zwischen automatisiertem Fahrzeug und anderen Verkehrsteilnehmern oder zwischen automatisierten Fahrzeugen und der Infrastruktur.
Der Schweizerische Bundesrat geht in seinem Bericht ‚Automatisiertes Fahren – Folgen und verkehrspolitische Auswirkungen‘ (Bundesrat 2016) davon aus, dass ein rein autonomes Fahren, bei dem das Fahrzeug weder mit anderen Fahrzeugen noch mit der Infrastruktur kommuniziert, in der Schweiz nicht infrage kommt. Der Schweizerischen Regierung erscheint es aus Gründen der Verkehrssicherheit, der Netzkapazität, der Umweltauswirkungen und des allgemeinen Zugangs zu Verkehrsmitteln unumgänglich, dass für die Erreichung einer positiven Wirkung automatisierte Fahrzeuge sich diese untereinander und mit der Infrastruktur vernetzen müssen (Bosch, R. et al. 2017, S. 20).
In diesem Handbuch werden die Begriffe „automatisiertes und vernetztes Fahren“ (abgekürzt: avF) bzw. „automatisierte und vernetzte Fahrzeuge“ oder einfach „automatisiertes Fahren“ oder „automatisierte Fahrzeuge“ verwendet, wobei immer davon ausgegangen wird, dass die Fahrzeuge auch vernetzt sind.

1.1.2 Welche Automatisierungsstufen gibt es?

In Deutschland werden zwei Darstellungsformen für die Automatisierungsstufen verwendet: a) jene der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und b) die Automatisierungsstufen der SAE. Beide unterscheiden sich nicht wesentlich. International und vor allem in der Industrie und in der Wissenschaft wird mehrheitlich auf die SAE-Einteilung verwiesen. Automatisierungsstufen beschreiben die schrittweise Entwicklung der Automatisierung von Fahrzeugen hin zur Vollautomatisierung. Die Beschreibung des Automatisierungsgrads der Fahrzeuge erfolgt auf Grundlage von fünf Kriterien:
  • „Übernimmt das Fahrzeug die Querführung (Lenken) des Fahrzeugs selbständig?
  • Übernimmt das Fahrzeug die Längsführung (Beschleunigen, Bremsen) des Fahrzeugs selbständig?
  • Erkennt das Fahrzeug die Systemgrenzen der Automatisierung selbständig oder muss der Fahrer die Automatisierungsfunktionen stets überwachen?
  • Ist das Fahrzeug in der Lage, stets ein sicheres Anhalten zu realisieren, selbst im Falle eines technischen Fehlers der Automatisierungsfunktion?
  • Beherrscht das Automatisierungssystem jedes denkbare Szenario oder ist die Automatisierung auf bestimmte Szenarien (z. B. nur Autobahnfahrt, nur bei Tageslicht, nur bei geringer Verkehrsstärke) beschränkt?“ (Lauer, M. und Tas, Ö. S. 2019, S. 7)
Diese Kriterien beschreiben, in welcher Weise, in welchem Ausmaß und in welchem Kontext der Fahrer oder die Fahrerin Verantwortung für die Fahrmanöver des Fahrzeugs übernehmen muss. Vollautomatisierung ist erreicht, wenn alle diese Kriterien mit ‚Ja‘ beantwortet werden können und somit das Fahrzeug eigenständig Quer- (Lenken) und Längsführung (Beschleunigen und Bremsen) übernimmt, die eigenen Systemgrenzen ohne Überwachung durch den Fahrer oder die Fahrerin erkennt, unter allen Umständen auch bei Auftreten von Fehlern das Fahrzeug anhält und all diese Funktionen in jedem Umfeld ausführen kann. Die folgende Abb. 1.1 stellt die Automatisierungsstufen nach SAE mit dem Verweis auf die Kriterien dar:
Während die Automatisierung im Level 1 und 2 (Fahrspurhalteassistent, Adaptive Cruise Control und Einparkhilfe) ausschließlich zur Unterstützung des Fahrers dient, der das Fahrgeschehen dauernd überwachen und jederzeit bereit sein muss, in dieses einzugreifen, ist eine dauerhafte Überwachung durch den Fahrer oder eine Technische Aufsicht unter bestimmten Rahmenbedingungen in den Automatisierungsstufen Level 3–4 nicht notwendig. Level 5 Fahrzeuge unterliegen keinerlei Einschränkungen und bedürfen auch keiner Überwachung.
Der Forschungsbericht „AVENUE21“ spricht von einem „Langen Level 4“ und verweist darauf, dass die Ankündigungen der IT- und Automobilindustrie zur vollständigen Automatisierung des Verkehrs nicht gehalten werden konnten und vollautomatisierte Fahrzeuge wohl erst nach einer jahrzehntelang andauernden Phase der Transformation unseres Mobilitätssystems zu erwarten sind (Mitteregger, M. und Banerjee, I. 2021).
Auch das neue StVG (Deutscher Bundestag 2021a, b) scheint von einer längeren Periode des Levels 4 auszugehen. So wird die Inbetriebnahme der hochautomatisierten Fahrzeuge für den Straßenverkehr im Regelbetrieb an ein bestimmtes Gebiet und Straßennetz sowie an eine situative Überwachung und Unterstützung durch eine Technische Aufsicht gebunden. Aufgrund u. a. dieser Bestimmungen sind Fahrzeuge von nicht kommerziellen Betreibern nur schwer im Regelbetrieb vorstellbar.
In diesem Handbuch wird das automatisierte Fahren in erster Linie in der Automatisierungsstufe Level 4 betrachtet. Die Autoren gehen davon aus, dass für Fahrzeuge im Mischverkehr Level 4 für lange Zeit die höchste erreichbare Automatisierungsstufe im Regelbetrieb sein wird.

1.1.3 Wie entscheidet ein hoch- bzw. vollautomatisiertes Fahrzeug?

Automatisierte Fahrzeuge müssen wie Menschen ihr Umfeld erfassen und erkennen, damit sie sich im Verkehr bewegen und ihre Fahraufgaben ausführen können. Dafür werden von den Herstellern dieser Fahrzeuge unterschiedliche Sensoren eingesetzt, wie beispielsweise Kameras (einschließlich Infrarot), Lidar, Radar und Kommunikationstechnologie (z. B. ITS-G5, 5G, mmWave).
Abb. 1.2 zeigt die wesentlichen Schritte hin zu Entscheidungen für die Ausführung von Fahraufgaben eines automatisierten und vernetzten Fahrzeugs. Im Wesentlichen kann jede Veränderung bei der Ausführung einer Fahraufgabe eines automatisierten Fahrzeugs durch die Schritte ‚Wahrnehmung‘, ‚Vorhersage‘ und ‚Entscheidung‘ (in der englischsprachigen Literatur als „Sense – Plan – Act“ oder als „Sense – Think – Act“ bezeichnet) beschrieben werden. Dieser Prozess findet kontinuierlich statt. Alle Informationen, die durch die Sensoren wahrgenommen werden, sind letztlich in dieser Weise zu verarbeiten.
W – Wahrnehmung: Für die Wahrnehmung setzt jeder Hersteller andere Verfahren und Sensoren ein. Ziel der Wahrnehmung ist es, eine dreidimensionale Abbildung der Wirklichkeit des Umfeldes zu erlangen. Je genauer, umso besser. Jedoch sind nicht nur die topografischen Informationen zu Straße, Bordsteinen, Häusern, festen Hindernissen usw. von Relevanz, sondern und vor allem auch Informationen über bewegliche Objekte, die sich im Bereich des Straßenraums befinden. Ihr Verhalten bestimmt im letzten Schritt der Entscheidung über das Fahrverhalten des automatisierten Fahrzeugs. Um mögliche Verhaltensweisen der verschiedenen Objekte voraussagen zu können, ist es notwendig, die Objekte zu erkennen: Handelt es sich um einen Fußgänger, einen Fahrradfahrer, einen Motorradfahrer, ein Auto, einen Bus, einen LKW oder einen Gegenstand? Ist der Fußgänger erwachsen oder ein Kind? Ist der Fußgänger aufmerksam oder schaut er auf sein Mobiltelefon? Hat das Auto einen Blinker gesetzt? Dazu wird auch jedes Objekt bezogen auf seine Lage im Raum und im Verhältnis zum automatisierten Fahrzeug erfasst. Außerdem wird detektiert, ob das Objekt seine Lage verändert, welche Richtung eingeschlagen wird, mit welcher Geschwindigkeit die Lage verändert wird und ob eine Beschleunigung bzw. eine Verzögerung des Objekts festgestellt werden kann.
V – Vorhersage: Somit werden zu jedem Objekt eine Unmenge von Informationen gesammelt. Jede dieser Informationen wird hinsichtlich der möglichen weiteren Lageveränderung bewertet. Aus dieser Bewertung ergeben sich für jedes Objekt ein oder mehrere mögliche Bewegungsoptionen. So gibt es beispielsweise für einen betonierten Blumentrog am Straßenrand nur die Option „keine Veränderung der Lage“. Ein Fußgänger kann hingegen stehen bleiben, gerade oder quer nach links oder nach rechts über die Straße gehen und biegt einfach in die eine oder andere Richtung ab. Je genauer die Objekte wahrgenommen werden, umso vielschichtiger wird die Voraussage der Verhaltensweise der jeweiligen Objekte.
E – Entscheidung: Die Entscheidung basiert auf zwei Grundlagen: einer detaillierten dreidimensionalen Karte, die alle feststehenden Gegenstände sowie die semantischen Informationen, wie beispielsweise Verkehrszeichen, Bodenmarkierungen, die Position von Ampeln usw., beinhaltet, und den Vorhersagen zu allen Objekten. Diese Informationen werden durch Algorithmen zueinander in Beziehung gesetzt und bewertet. Daraus erfolgt dann in der Folge eine Fahrentscheidung. So fällt beispielsweise in der Grafik oben die Entscheidung des automatisierten Fahrzeugs auf Stopp, da ein Zebrastreifen und eine Joggerin am linken Straßenrand vor dem Zebrastreifen sowie ein Mann am rechten Straßenrand wahrgenommen wurden und in der Kombination „Fußgänger am Zebrastreifen“ die Wahrscheinlichkeit für die Vorhersage, dass der Fußgänger die Straße überqueren wird, sehr hoch ist.
Um den hier beschriebenen Entscheidungsprozess möglich zu machen, wird Künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt, d. h., ein Computer ist so programmiert, dass er eigenständig Probleme lösen kann. Es wird bei der Programmierung versucht, menschliche Entscheidungsstrukturen nachzuahmen. Der Computer wird in seinen Entscheidungen, die die Algorithmen auf Grundlage zur Verfügung gestellter Daten treffen sollen, trainiert. Durch das Training, das darin besteht, dass ein Mensch die Entscheidung des Computers bestätigt oder verwirft, werden die Algorithmen durch den Computer so angepasst, dass die Entscheidungen des Computers immer häufiger durch den trainierenden Menschen bestätigt werden. Man könnte sagen, dass der Computer den Ehrgeiz hat, 100 % bestätigte Entscheidungen zu treffen. Es handelt sich um eine „deterministische Maschine“, die ein System ist, das vorausschaubaren und reproduzierbaren Abläufen (Ashby, W. R. 1956), also bekannten Rechenregeln folgt. „Nicht-deterministische Maschinen“ sind hingegen Systeme, deren Abläufe weder vorausschaubar noch reproduzierbar sind.
Bezogen auf den Entscheidungsfindungsprozess für Fahraufgaben automatisierter Fahrzeuge werden zwar deterministische Maschinen/Algorithmen in allen drei Prozessschritten (Wahrnehmung, Vorhersage und Entscheidung) genutzt, die jedoch stochastische Näherungen an die Funktion sind. Diese Näherungen sind eine Herausforderung bei der Validierung des Systems, da wir die Funktion nicht kennen. Ohne diese Verfahren wäre es nicht möglich, in der Wahrnehmung die Objekte in der für automatisiertes Fahren notwendigen Differenziertheit und Verlässlichkeit zu erkennen, in der Vorhersage verlässliche Bewertungen der einzelnen Optionen vorzunehmen und letztlich im letzten Schritt die für die Fahraufgabe passende Entscheidung zu treffen. Die folgenden Entscheidungen werden jedoch nicht mehr vorausschaubar und reproduzierbar sein.
Übersicht
Künstliche Intelligenz (KI) hat in der Informatik eine lange Geschichte und zerfällt heute in grob zwei Bereiche, nämlich die „klassische“ KI, die zumeist logikbasiert und symbolisch arbeitet, und Ansätzen, die auf „deep learning“ basieren. Viele der in den letzten Jahren gemachten Fortschritte im Bereich KI gehen dabei auf das „deep learning“ mit seinen neuronalen Netzwerken zurück. Vor allem im Umgang mit optischen Daten (z. B. zur Objekterkennung) sind Neuronale Netze (NN) heute State of the art und nicht mehr wegzudenken.
Bei der Entwicklung der NN hat sich die Wissenschaft das menschliche Gehirn mit seinen vielfach verknüpften Nervenzellen (Neuronen) zum Vorbild genommen. Vereinfacht kann man sich NNs als Graphen mit einer Menge von gerichteten Kanten und Knoten vorstellen. Kanten verbinden die Knoten und Daten (z. B. Pixel eines Kamerabildes) fließen entlang dieser von Knoten zu Knoten. In jedem Knoten wird durch die Anwendung einer mathematischen Funktion auf die eingehenden Daten ein neuer Wert errechnet, der dann unter bestimmten Bedingungen seine Reise entlang der ausgehenden Kanten eines Knotens zum nächsten Knoten fortsetzt. Beim Design des Netzes werden die Anzahl der Kanten/Knoten, die Topologie – also die Verbindungen der Knoten untereinander mithilfe der Kanten – und zum Teil die mathematischen Funktionen innerhalb der Knoten festgelegt. Um den fehlenden Teil der mathematischen Funktionen der Knoten bestimmen zu können, wird das NN trainiert: Mithilfe von weiteren mathematischen Verfahren und der Anwendung von Trainingsdaten, die aus der Eingabe inklusive erwünschter Ausgabe bestehen (z. B. Bilder von Fahrzeugen als Eingabe und die Markierung der Fahrzeuge in diesen Bildern als erwünschte Ausgabe), werden die fehlenden Parameter errechnet und das NN „lernt“, was es zukünftig berechnen soll.
Der große Vorteil der NN ist, dass der Entwickler die Funktion, die das NN lernt, nicht kennen muss – sie wird während des Trainingsvorgangs selbst gefunden. Als Beispiel kann hier wieder die Objekterkennung herangezogen werden: Es ist praktisch unmöglich ein Schritt-für-Schritt-Verfahren (Funktion) zu Erkennung aller Autos in einem Bild per Hand zu entwickeln. Dieser Vorteil der NN ist zugleich auch ihr größter Nachteil: Am Ende weiß man nämlich nicht genau, was das System wirklich gelernt hat. Zudem ist die Qualität des Ergebnisses sehr stark von der Qualität der Trainingsdaten abhängig (z. B. Autos verschiedener Farben/Formen bei allen Witterungsbedingungen etc.) und es müssen genügend Trainingsdaten vorhanden sein. Schließlich ist es bei NN – im Unterschied zu klassischen Verfahren in der KI – auch oft sehr schwer nachzuvollziehen, wieso das Netz ein bestimmtes Ergebnis geliefert hat. Diese Nachteile zu mildern bzw. die Qualität der gelernten Funktion zu prüfen, das sind die aktuellen Herausforderungen – unter anderem auch für die Forschung.

1.1.4 Mögliche Anwendungsfälle für Level 4 Fahrzeuge

Level 4 Fahrzeuge bieten unter bestimmten Voraussetzungen – zum Beispiel in einem bestimmten geografischen Gebiet – eine vollständige Automatisierung der Fahrfunktion. Sie erkennen auch selbständig, wenn die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind, und stellen dann einen sicheren Zustand her, in dem sie zum Beispiel an einer dafür geeigneten Stelle anhalten und auf Benutzereingriff warten. Durch diese sichere und bereits sehr weitgehende Automatisierung werden viele interessante Anwendungsfälle ermöglicht.
Am bekanntesten in diesem Zusammenhang sind sicherlich automatisierte Taxi-Dienste, wie zum Beispiel das bereits in den USA verfügbare Waymo One (Ackerman, E. 2021). Auch wenn Waymo davon spricht, dass es „fully autonomous driving technology“ nutze, so handelt es sich eben nicht um ein vollständig eigenständig fahrendes Fahrzeug, sondern um ein Level 4 Fahrzeug. Zahlreiche weitere Start-ups und OEMs arbeiten an PKWs und LKWs, die eine Level 4 Automatisierung beherrschen und somit automatisierte PKW/LKW-Fahrten zwischen verschiedenen Orten ermöglichen. Daneben eröffnet eine Level 4 Automatisierung weitere, vor allem für Kommunen interessante Möglichkeiten.
Weitere kommunale Dienste (Jerman, J. et al. 2020), wie z. B. die Straßenreinigung, das Bewässern/Pflegen von Pflanzen, die Abfallentsorgung, allgemeine Kontrollfahrten und Parkraumbewirtschaftung, die Schneeräumung bzw. das Ausbringen von Split/Salz, könnten prinzipiell von Level 4 Fahrzeugen profitieren. Vor allem für den ländlichen Bereich könnten Services wie mobile Automaten zum Erwerb von Lebensmitteln oder die automatisierte Zustellung der Post von Interesse sein. Diesen Anwendungsfällen gemein ist, dass sie über die reine Automatisierung der Fahrfunktion hinausgehen, da auch eine Automatisierung der zu erbringenden Funktion vonnöten wäre.
Vor allem könnten Level 4 Fahrzeuge zur weiteren Automatisierung des öffentlichen Verkehrs (vgl. Oehry, B. et al. 2020) beitragen und als Shuttles oder Nacht-/Linien-Busse für den tangentialen ÖPNV zwischen den großen Linien, die am Rand von Großstädten sternförmig in die Zentren führen, oder im ländlichen Raum als Verbindung in die Kleinstadt oder im Binnenverkehr von Kleinstädten usw. eingesetzt werden. Ein Level 4 automatisierter öffentlicher Verkehr, der gezielt räumlich wie auch zeitlich dort eingesetzt wird, wo es heute keine adäquaten Angebote gibt, kann zu machbaren Kosten eine attraktive Alternative zum Auto bieten. Durch die hohen Personalkosten werden diese Angebote in vielen Fällen heute nicht gemacht. Wenn es einen hohen Marktanteil von Abonnementnutzern gibt, lohnen auch solche „Schwachlastangebote“, die auch „on demand“ erbracht werden können.
Ein entscheidender Vorteil für den automatisierten ÖPNV im ländlichen Raum ist die im Vergleich zum urbanen Raum viel einfachere Straßennetzstruktur mit weniger Kreuzungen und Einmündungen, einer viel geringeren Fuß- und Radverkehrsdichte und einfachen Fahrbahn- und Kreuzungsstrukturen.
Differenzierung der Anwendungsfälle im ÖPNV entsprechend PBefG
Die Novelle des deutschen Personenbeförderungsgesetz (PBefG) listet in § 2 Abs. (1) Straßenbahnen, Obusse, Kraftfahrzeuge im Linienverkehr und Kraftfahrzeuge im Gelegenheitsverkehr als für die Beförderung von Personen genehmigungspflichtig auf. Bezogen auf neuere Angebote finden sich unter Kraftfahrzeuge im Linienverkehr (PBefG § 42) und Kraftfahrzeuge im Gelegenheitsverkehr (PBefG § 46) Definitionen verschiedener Mobilitätsdienstleistungen, die mit der Gesetzesnovelle ermöglicht werden sollen. In der Abb. 1.3 werden Mobilitätsangebote, die im Bereich eines automatisierten ÖPNV in den kommenden zehn Jahren von Relevanz sein werden, den Verkehrsformen des deutschen PBefG zugeordnet.

1.1.5 Einsatzbestimmende Umstände für Anwendungsfälle

In der Beschreibung des Entscheidungsprozesses automatisierter Fahrzeuge (Abschn. 1.1.3) wurde deutlich, wie viele Rechenoperationen für die Ausführung einer Fahraufgabe notwendig sind. Je mehr Objekte durch die Sensoren detektiert werden, desto höher ist die Anzahl der Rechenoperationen, die nahezu in Echtzeit ausgeführt werden müssen. Dies führt aktuell die im Fahrzeug eingesetzten Computer, insbesondere bei höheren Geschwindigkeiten, noch an die Grenzen ihrer Rechenleistung. Die schon lange geforderte Drosselung der üblichen Fahrgeschwindigkeiten auf 30 km/h in innerörtlichen Straßennetzen und auch auf deren Hauptachsen aus klassifizierten Straßen erleichtert einerseits den Einsatz automatisierter Fahrzeuge und fördert andererseits die flächendeckende Einführung angemessener Tempolimits.
In der Fachliteratur werden die Umstände, innerhalb derer die automatisierten Fahrzeuge ordnungsgemäß betrieben werden können, „Operational Design Domains“ (ODD) genannt (SAE 2018). Diese können von der Definition technischer Voraussetzungen, beispielsweise hochauflösender dreidimensionaler Karten bis hin zu Straßenverhältnissen, Verkehrsverhältnissen und Verkehrsaufkommen reichen. Das deutsche StVG verwendet für die Beschreibung des „örtlich und räumlich bestimmten öffentlichen Straßenraums“, innerhalb dessen das automatisierte SAE Level 4 Fahrzeug zugelassen werden soll, den Begriff „Festgelegter Betriebsbereich“ (StVG § 1d). Dabei handelt es sich nur um einen Teilbereich der ODD. Abb. 1.4 enthält Parameter, die die wesentlichsten äußeren Umstände beschreiben, innerhalb derer das automatisierte Fahrzeug integriert werden soll.
Alle dargestellten Parameter beeinflussen sich gegenseitig. Die Veränderung einer Ausprägung auf der Skala eines Parameters hat eine Auswirkung auf die Ausprägung eines anderen oder mehrerer anderer Parameter. Dem Parameter Sicherheit kommt eine besondere Bedeutung zu. Dieser wird immanent nicht veränderbar als ‚sehr hoch‘ definiert, da der Sicherheit der Passagiere und der anderen Verkehrsteilnehmer sowohl aus ethischer als auch aus rechtlicher Sicht die höchste Priorität zukommt. Jeder Anwendungsfall muss bezogen auf alle anderen Parameter mit der Vorgabe bewertet werden, dass hinsichtlich der Sicherheit der höchstmögliche Wert zu erreichen ist.
Um dies zu illustrieren, lässt sich beispielsweise ein SAE Level 5 Familien-PKW heranziehen. Laut der Definition der Automatisierungsstufen sind alle Parameter außer dem Parameter „Zeitpunkt der In-Verkehr-Bringung“ für diesen Anwendungsfall mit 10 zu bewerten. Der „Zeitpunkt der In-Verkehr-Bringung“ muss jedoch mit 0 bewertet werden, da davon ausgegangen werden kann, dass dieser Anwendungsfall innerhalb der nächsten zehn Jahre technisch nicht umsetzbar sein wird.
In den folgenden Balkengrafiken werden einige Anwendungsfälle dargestellt.
Abb. 1.5 und die folgenden Abbildungen stellen bezogen auf jeden Parameter der jeweiligen Anwendungsfälle ein Anforderungsprofil dar. Jeder Anwendungsfall hat ein bestimmtes Profil von Mindestanforderungen, die erreicht werden müssen, um das erwünschte Leistungsversprechen für die Nutzer:innen erfüllen zu können.
So muss beispielsweise ein ÖPNV Shuttle Überland unter allen Sichtverhältnissen fahren und eine Geschwindigkeit von zumindest 60–70 km/h erreichen können usw. Dass dies nicht unter allen Straßenverhältnissen und Verkehrsverhältnissen möglich sein wird, ist selbstverständlich und entspricht auch der Verpflichtung der Straßenverkehrsverordnung (StVO), Geschwindigkeit und Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug an die jeweiligen Wetterbedingungen anzupassen. Da die Anforderungen bei einem ÖPNV Shuttle Überland hinsichtlich Geschwindigkeit oder dem Zeitpunkt der In-Verkehr-Bringung unter optimalen Verhältnissen durch ihr Anforderungsprofil gemessen am aktuellen Stand der Technik sehr herausfordernd sind, müssen deutliche Restriktionen bezogen auf Verkehrsverhältnisse und Verkehrsaufkommen in Kauf genommen werden. Diese können jedoch durch die Gestaltung der Straßeninfrastruktur und die Führung der Verkehrswege beispielsweise durch einen für den ÖPNV reservierten Fahrstreifen oder eine Einbahnregelung gewährleistet werden.
Im Bereich ländlicher Straßennetze wird es allerdings aus Gründen des Flächensparens und Landschaftsschutzes selten möglich sein, dem ÖPNV eigene Fahrtrassen zu reservieren; bislang gibt es in ländlichen Räumen deswegen auch kaum Busspuren.
Für den Anwendungsfall Ridepooling, wie in Abb. 1.6 dargestellt, sind die Mindestanforderungen an die Bewältigung von Verkehrsverhältnissen und Verkehrsaufkommen deutlich höher bei gleichzeitig hohen Anforderungen an die Geschwindigkeit, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die tatsächliche In-Verkehr-Bringung aufgrund der technischen Restriktionen in unseren Breitengraden mit den entsprechenden Wetterbedingungen nicht kurzfristig möglich sein wird. Dies kann jedoch zum Beispiel in Kalifornien ganz anders aussehen, da bei Trockenheit, viel Sonnenschein und praktisch keinem Schnee ganz andere Bedingungen herrschen.
Abb. 1.7 zeigt das Beziehungsfeld der einzelnen Parameter zueinander für den Anwendungsfall eines ÖPNV-Shuttles in der Stadt, beispielsweise in einer Kleinstadt, das innerhalb der nächsten Jahre in Betrieb gehen soll. Dieses fährt kürzere Strecken. Auf die Geschwindigkeit kommt es daher weniger an. Auch können bei einer klugen Verkehrsführung wie der Einführung eines Einbahnverkehrs auf den Linien, auf denen das Shuttle fährt, und der baulichen Abtrennung eines Radstreifens die Verkehrsverhältnisse deutlich verbessert werden, sodass die Einführung eines innerstädtischen ÖPNV mit Level 4 automatisierten Fahrzeugen in der Stadt schon relativ kurzfristig möglich sein wird. Allerdings ist hier die Einschränkung zu machen, dass in Kleinstädten mit historischen Innenstädten und engmaschigen, verwinkelten Straßennetzen selten Platz für separate Fahrspuren für den ÖPNV und für den Radverkehr vorhanden sind, sodass hier häufig Mischverkehr von Kfz- und Radverkehr und oft auch Fußverkehr auf sog. Mischflächen (verkehrsberuhigter Bereich, Shared Space, Begegnungszone) sowie in Fußgängerbereiche integrierter Busverkehr angetroffen wird. Durch die Reduktion der Geschwindigkeit beispielsweise auf 10 km/h dürften selbst Begegnungszonen bereits in Kürze für automatisierte Shuttle möglich sein. Vermutlich braucht es eine gewisse Zeit, bis die Menschen sich an die neuen Verkehrsteilnehmer in der Begegnungszone gewöhnt haben. Dann sollte auf jeden Fall eine langsame, jedoch flüssige Fahrt des automatisierten Shuttles gelingen.
Es wird deutlich, dass die Einführung von Transportdienstleistungen für Menschen und Güter mittels automatisierter Fahrzeuge eine klare Vision der Mobilität der Menschen und des Verkehrssystems in der Region oder in der Stadt voraussetzt. Die Integration automatisierten Fahrens im ländlichen Raum als Überlandverbindung, am Stadtrand größerer Städte oder in einer Kleinstadt bedarf immer der Analyse und mitunter auch der Umgestaltung der Räume, in denen automatisierte Fahrzeuge fahren sollen. Meist ist diese Umgestaltung aber ohnehin aus Gründen der Verkehrsberuhigung und besseren Lenkung des KFZ-Verkehrs seit längerem notwendig. Häufig steht die Anpassung von Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen auf der politisch-planerischen Agenda. In diesem Zusammenhang ist der Umgang mit dem ruhenden KFZ-Verkehr ein wichtiger Hebel, weil das Überparken des öffentlichen Raums die Verbesserungsoptionen stark einschränkt. Daher sind kommunale Parkraumkonzepte ein wichtiger Schritt, die Anwendung eines automatisierten ÖPNVs zu erleichtern und gleichzeitig im Kontext von Push-Pull-Strategien dem ÖPNV zusätzliche Nachfragepotenziale zu eröffnen.

1.2 Entwicklung des automatisierten Fahrens – ein Überblick

Cornelie van Driel, Bettina Abendroth, Torsten Fleischer und Jens Schippl

1.2.1 Einleitung

Gut funktionierende, sichere und nachhaltige Mobilitätssysteme sind eine entscheidende Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und eine hohe Lebensqualität. Das automatisierte und vernetzte Fahren (avF) wird in naher Zukunft völlig neue Möglichkeiten für unsere Mobilität bereithalten (BMVI 2017). Dementsprechend geht avF mit weitreichenden Erwartungen und Visionen einher: Viele Experten erwarten, dass Fahrzeuge zukünftig auf ausgewählten Streckenabschnitten oder bei bestimmten Verkehrssituationen automatisiert fahren oder sogar gänzlich ohne menschlichen Fahrer auskommen, miteinander kommunizieren und sich gegenseitig vor Gefahren warnen. Die Daten dafür liefern die Fahrzeuge selbst oder intelligente Informationssysteme entlang der Verkehrswege. Das alles soll dabei helfen, schwierige Fahrsituationen künftig besser zu meistern, noch sicherer unterwegs zu sein und zugleich den Verkehr effizienter zu gestalten.
Zudem birgt avF vielversprechende Chancen, um Mobilität anders zu organisieren. Verschiedene neue, oder zumindest verbesserte, Mobilitätsangebotsformen werden diskutiert und teilweise auch schon in Pilotprojekten getestet. Ganz entscheidend für die verkehrlichen Wirkungen und damit auch für die gesellschaftlichen Implikationen automatisierten Fahrens ist die Frage, ob automatisierte Fahrzeuge wie ein privater Pkw genutzt werden oder eher als grundsätzlich öffentlich zugängliches Fahrzeug, wie z. B. ein Taxi (oft Robo-Taxi genannt), ein Car-Sharing-Fahrzeug oder auch wie ein öffentlicher Bus (z. B. automatisiertes Shuttle). Gerade auch außerhalb der großen Städte könnten flexible, fahrerlose Angebote neue Alternativen zum privaten Pkw ermöglichen. Bisher ist aber offen, inwiefern sich zukünftig welche individuellen oder kollektiven Angebots- und Nutzungsformen von avF durchsetzen (Fleischer und Schippl 2018). Vielfach wird im Kontext von avF mit Visionen, Szenarien und Modellierungen gearbeitet, die versuchen, verschiedene plausible Entwicklungspfade mit ihren möglichen Wirkungen greifbar zu machen. In der Regel werden in diesen Visionen von den Autoren als erstrebenswert erachtete, zukünftige Zustände beschrieben. In Szenarien werden meistens unterschiedliche mögliche Entwicklungspfade skizziert. Teilweise werden zudem in „Roadmaps“ oder ähnlichen Dokumenten Entwicklungsschritte oder Bausteine, die zur Realisierung eines bestimmten zukünftigen Zustands erforderlich sind, explizit benannt. Vereinzelt werden auch Wirkungen unterschiedlicher Szenarien diskutiert und/oder über Modelle quantifiziert.
In diesem Beitrag möchten wir ausgewählte Visionen und Szenarien beleuchten, die mögliche, avF-basierte Mobilitätsangebote und Nutzungsformen in den Mittelpunkt stellen und damit prägend sind für die aktuelle Diskussion zur Zukunft von avF in Europa. Darunter findet sich auch ein Beispiel für eine Roadmap und eines für eine modellbasierte Wirkungsanalyse. Die Auswahl fokussiert auf Dokumente, die auf europäischer Ebene erarbeitet wurden, von den Institutionen der EU oder von international agierenden Verbänden aus dem Mobilitätssektor. Die angesprochenen Visionen orientierten sich an der in Europa, und besonders in der europäischen Kommission, vorherrschenden Erwartung, dass hoch- und vollautomatisiertes Fahren (z. B. Fahrzeuge ohne Lenkrad) sich nur realisieren lässt, wenn die Fahrzeuge sowohl untereinander wie auch mit der Infrastruktur (z. B. Lichtsignalanlagen oder Baustellen) vernetzt sind und kommunizieren1. Zuerst blicken wir aber kurz zurück in die Historie des automatisierten Fahrens.

1.2.2 Historie des automatisierten Fahrens

Die Idee der Automatisierung des Straßenverkehrs (genauer eigentlich: der Automatisierung bestimmter Fahraufgaben im Straßenverkehr) lässt sich technikgeschichtlich mindestens bis in die 1930er-Jahre zurückverfolgen – und einige der heute in Aussicht gestellten Effekte werden schon damals benannt. Allerdings setzten die technischen Realisierungen zunächst stark auf infrastrukturseitige Komponenten, was ihre Umsetzung sehr wahrscheinlich teuer und institutionell komplex werden ließ. Nach eher isolierten Anstrengungen in den 1970er-Jahren beginnt eine neue starke Welle von Aktivitäten zur Fahrzeugautomatisierung in den 1980er-Jahren. Sie steht im Zusammenhang mit mehreren Trends in Wissenschaft und Technik, beispielsweise der Miniaturisierung und Leistungssteigerung bei der Informationsverarbeitung, neuer Sensortechnik und „Computersehen“ sowie Verfahren der „Künstlichen Intelligenz“, wie auch im Kontext industrie- und sicherheitspolitischer Entwicklungen. Beispielhaft zu nennen sind hier etwa amerikanische DARPA-Programme zur Entwicklung autonomer Landfahrzeuge (ALV, Navlab) oder das europäische Forschungsprogramm „PROMETHEUS“ (1987–1994). Vor allem Letzteres, aber auch spätere Nachfolgeprogramme in den USA und Europa wurden weniger als reine Technikentwicklungsanstrengungen als vielmehr als zentraler Teil verkehrspolitischer Lösungsstrategien begründet – durch die Zusammenführung von Verkehrstechnik mit Informations- und Kommunikationstechnik sollten die unerwünschten sozialen und ökologischen Folgen vor allem des motorisierten Individualverkehrs reduziert und zugleich seine Vorteile weiter genutzt werden können. Dies machte es einerseits einfacher, notwendige Ressourcen zu mobilisieren, andererseits rückten diese Aktivitäten aus der Technologiepolitik in die deutlich kontroversere und viel stärker Konjunkturen unterliegende Verkehrspolitik. Entsprechend bewegt waren die politische und mediale Aufmerksamkeit und Unterstützung in den Folgejahren.
Die aktuelle „Welle“ des autonomen Fahrens beginnt Mitte der 2000er-Jahre. DARPA hatte sich das Ziel gesetzt, fahrerlose, automatisierte Fahrzeuge für den militärischen Gebrauch entwickeln zu lassen, und veranstaltete zwischen 2004 und 2007 drei sogenannte DARPA Grand Challenges – Wettbewerbe um Preisgelder, in deren Rahmen vollständig autonome Bodenfahrzeuge umfangreichere Kurse innerhalb einer begrenzten Zeit zu absolvieren hatten. Diese Wettbewerbe führten nicht nur die meisten damals wichtigsten in diesem Thema arbeitenden Forschungsgruppen aus den westlichen Industrieländern zusammen; eine ganze Reihe der bei diesem Wettbewerb Aktiven nahm anschließend (bzw. nimmt bis heute) Schlüsselpositionen bei weiteren Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten ein. Aus den Teilnehmern rekrutierte beispielsweise Google das Team für sein 2009 gestartetes, zunächst noch geheimes „Project Chauffeur“ mit dem Ziel der Entwicklung eines alltagstauglichen selbstfahrenden Fahrzeuges. Das Unternehmen machte seine Arbeiten und Ambitionen Ende 2010 öffentlich und formulierte in einem Artikel in der New York Times im Herbst 2011 das bis heute gültige „expectation statement“ für aktuelle Entwicklungen im Bereich des automatisierten Fahrens. Dieses umfasst in der Regel vier Leistungsversprechen: (a) die Verbesserung der Verkehrssicherheit (gemessen bspw. als Reduktion der Zahl der Unfälle oder der Anzahl der Toten und Verletzten im Straßenverkehr), (b) die Erhöhung der verkehrlichen Effizienz (etwa durch Verbesserung des Verkehrsflusses, die Reduktion von Energieverbrauch und Emissionen und vor allem auch durch die Ermöglichung neuer, effizienterer Mobilitätsdienstleistungen), (c) die Ermöglichung von individueller motorisierter Mobilität für bisher davon ausgeschlossene Gruppen (wie Menschen mit körperlichen oder altersbedingten Einschränkungen oder Kinder und Jugendliche) und (d) eine Optimierung der Zeitnutzung, in dem die eigentlich für die Fahraufgabe aufzuwendende Zeit für andere, mutmaßlich produktivere Aktivitäten genutzt werden könne.
Zugleich begründete sich daraus eine neue industriepolitische Herausforderung, weil damit erstmal ein Unternehmen der sogenannten Plattformwirtschaft neben die etablierten Vertreter der Fahrzeugindustrie und der Verkehrswirtschaft trat. Entsprechend werden die Entwicklungen im Bereich des automatisierten Fahrens seitdem vor allem in den Ländern vorangetrieben, in denen die global wichtigen Player dieser Branchen ansässig sind, gelten diese doch als jeweils volkswirtschaftlich relevante Industrien und erfreuen sich mithin unmittelbarer und mittelbarer politischer Unterstützung. In Deutschland verabschiedete die Bundesregierung bereits 2015 ihre „Strategie automatisiertes und vernetztes Fahren: Leitanbieter bleiben, Leitmarkt werden, Regelbetrieb einleiten“ (BMVI 2015), in der die industrie‐ und verkehrspolitische Bedeutung der vorgenannten Entwicklungen unterstrichen und festgehalten wird, dass Deutschland den digitalen Innovationszyklus in diesem Bereich bestimmen sowie seine Position als Leitanbieter weiter ausbauen und Leitmarkt werden sollte. Seitdem entwickelte sich in Deutschland, aber auch in anderen wichtigen Industrieländern eine hohe politische, regulatorische und mediale Dynamik rund um das autonome Fahren und die Diskussion seiner Möglichkeiten und Folgen. Beispielhaft können hier die Arbeit der vom BMVI eingesetzten Ethik-Kommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“ zwischen September 2016 und Juni 2017, die beiden in den Jahren 2017 und 2021 durchgeführten legislativen Verfahren zur Integration von Aspekten des automatisierten Fahrens in das deutsche Straßenverkehrsgesetz oder die Novelle des Personenbeförderungsgesetzes 2021 genannt werden. Parallel dazu ist eine umfangreiche Forschungs- und Förderlandschaft entstanden, in deren Rahmen automatisierte Fahrzeuge und Mobilitätskonzepte entwickelt sowie im Zuge von Feldversuchen und Reallaboren erprobt werden.

1.2.3 Visionen und Ziele des automatisierten Fahrens

Weltweit gibt es hohe Erwartungen: Das automatisierte und vernetzte Fahren wird in naher Zukunft völlig neue Möglichkeiten für unsere Mobilität bereithalten (BMVI 2017). Durch die zunehmende Digitalisierung werden sich Fahren, Reisen und der Transport von Gütern grundlegend ändern. Autos werden miteinander kommunizieren und sich gegenseitig vor Gefahren warnen. Die Daten dafür liefern die Fahrzeuge selbst oder intelligente Informationssysteme entlang der Verkehrsadern. Das alles wird uns dabei helfen, schwierige Fahrsituationen künftig besser zu meistern und noch sicherer unterwegs zu sein.
Vision 2050
In der Vision 2050 von ERTRAC (European Road Transport Research Advisory Council, ein von öffentlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren gemeinsam getragenes Stakeholder-Forum für Straßenverkehrstechniken) stehen Nutzer und Nutzung im Jahr 2050 im Zentrum einer Entwicklung, bei der der Technologiebedarf aus gesellschaftlichen Zielen abgeleitet wird (ERTRAC 2021). Fahrzeuge und Dienstleistungen werden auf der Grundlage der Bedürfnisse von Regionen, Städten und Gemeinden und ihren Bürgern entwickelt und sind ein integrierter Bestandteil der Programme dieser Interessengruppen, um ihre Ziele zu erreichen. Als Ergebnis bietet die europäische Industrie wettbewerbsfähige, attraktive und bezahlbare Dienstleistungen und Fahrzeuge, die Mobilität und Zugang zu Gütern für alle Menschen unabhängig von ihrem geografischen Standort, ihrer digitalen Erfahrung und individuellen Merkmalen wie Alter, Einkommensniveau oder Geschlecht gewährleisten. Vision 2050 kann als eines der Schlüsseldokumente missionsorientierter Innovationspolitik der Europäischen Union im Verkehrssektor betrachtet werden.
Im Jahr 2050, so die Vision, werden die Verkehrsträger in Echtzeit synchronisiert, da alle digital und physisch miteinander verbunden sind und so die beste Lösung für alle Reise- und Transportbedürfnisse bieten. Der nahtlose Transport wird die Mobilitätsnachfrage zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort bedienen und die Bedürfnisse der Benutzer erfüllen. Ausgereifte Technologien ermöglichen die Kombination innerstädtischer Anwendungsfälle wie den supereffizienten Transport von Personen und Gütern auf der letzten Meile.
Mit der „Koopetition“ von ÖPNV- und Individualverkehrsanbietern sollen im Jahr 2050 die Nutzerbedürfnisse nach individuellem, privat geteiltem oder öffentlich geteiltem Verkehr in einem Ordnungsrahmen eines integrierten Verkehrsmanagementsystems, das sowohl die Nutzerbedürfnisse als auch die regionalen und gesellschaftlichen Verkehrsziele unterstützt, optimal gestaltet werden können. Der Straßenverkehr wird mit dem Schienen-, Wasser- und Luftverkehr kooperieren und die Konzepte von „Mobility and Transport as a Service“ (MaaS/TaaS) werden es den Menschen ermöglichen, ihre Bedürfnisse ohne aufwendige Vorplanung (wie heute) mit einer verlässlichen Kosten- und Zeitprognose für alle notwendigen Verkehrsträger zu erfüllen.
Damit einher geht die Erwartung, dass im Jahr 2050 Fahrzeuge zu 100 % in Echtzeit in das jeweilige Straßennetz eingebunden sein werden und das Transportmanagementsystem auch für den Remote-Betrieb die entsprechende Servicequalität aufweist. Alle neu zugelassenen Fahrzeuge verfügen über eine Automatisierung, jedoch in unterschiedlichen Stufen:
  • Ein Großteil der Shuttles, Busse und Lieferfahrzeuge in Städten wird autonom fahren, unterstützt von einer Leitstelle, um das Angebot des öffentlichen Nahverkehrs zu erweitern und den Zugang zu bisher unterversorgten Gebieten zu ermöglichen sowie das Verkehrsaufkommen insgesamt zu reduzieren.
  • Nahezu alle Fahrzeuge auf Autobahnen können ohne sofortiges Eingreifen des Fahrers betrieben werden und geben so dem Fahrer die Fahrzeit zurück.
  • Alle Pkw und Lkw auf allen Straßen werden mit sehr ausgeklügelten Assistenzsystemen ausgestattet sein, einschließlich Reaktionen auf Ampeln, Kreisverkehre usw., und so die Unfälle auf nahezu null reduzieren sowie die Emissionen (z. B. von Reifen und Bremsen) weiter reduzieren.
  • Auch im Offroad- und Baubereich wird ein komplett autonomer Betrieb üblich sein.
Damit solche Visionen verwirklicht werden können, ist das automatisierte und vernetzte Fahren in Europa in verschiedenen EU-Richtlinien fest verankert.
Verankerung von avF in der EU-Strategie
Das 2018 von der Europäischen Kommission veröffentlichte 3. Mobilitätspaket (Europäische Kommission, 2018a) bekräftigte die Ambitionen der EU für die Straßenverkehrssicherheit in Richtung Vision Zero und enthält eine Mitteilung „Auf dem Weg zur automatisierten Mobilität: eine EU-Strategie für die Mobilität der Zukunft“ (Europäische Kommission 2018b) mit Zielen und Maßnahmen zur Beschleunigung der Einführung vernetzter und automatisierter Fahrzeuge mit dem Ziel, Europa in diesem Bereich weltweit führend zu machen.
Die 2020 veröffentlichte Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität (Europäische Kommission 2020) hat die Bedeutung von Konnektivität und Automatisierung im zukünftigen EU-Verkehrssystem weiter gestärkt. Beispielsweise soll als Etappenziel bis 2030 die automatisierte Mobilität in großem Maßstab eingeführt werden. In Leitinitiative 6 „Verwirklichung einer vernetzten und automatisierten multimodalen Mobilität“ wird betont, dass vernetzte und automatisierte Systeme ein enormes Potenzial haben, das Funktionieren des gesamten Verkehrssystems grundlegend zu verbessern und zu unseren Nachhaltigkeits- und Sicherheitszielen beizutragen. Der Schwerpunkt der Maßnahmen wird darauf liegen, die Integration der Verkehrsträger in ein funktionierendes multimodales System zu fördern.
Der European Green Deal (Europäische Kommission 2019) ist die politische Initiative der EU, die darauf abzielt, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Die vernetzte und automatisierte Mobilität wird in dieser Politik für ihre nutzbringende Rolle für neue nachhaltige Mobilitätsdienste anerkannt: Gut integriert in das Verkehrssystem kann avF positive Umweltauswirkungen durch Reduzierung von Emissionen und Staus, durch optimierte Kapazitäten, reibungslosere Verkehrsflüsse und Vermeidung unnötiger Fahrten erzeugen. Vor allem in Städten sollte der Verkehr drastisch weniger umweltschädlich werden. Die Emissionen, die Verkehrsüberlastung in den Städten und die Verbesserung des öffentlichen Verkehrs sollten mit einer Kombination von Maßnahmen angegangen werden.
Im März 2021 stellte die Europäische Kommission eine Vision und Wege für den digitalen Wandel Europas bis 2030 vor (Europäische Kommission 2021). Für Mobilität liegt das Potenzial des digitalen Wandels in digitalen Lösungen für eine vernetzte und automatisierte Mobilität, die ein großes Potenzial bieten für die Verringerung von Verkehrsunfällen, die Verbesserung der Lebensqualität und eine gesteigerte Effizienz der Verkehrssysteme, auch in Bezug auf ihren ökologischen Fußabdruck. Insbesondere der Bereich der sicheren, leistungsfähigen und tragfähigen digitalen Infrastrukturen steht in direktem Zusammenhang mit den digitalen Technologien, die für die Ermöglichung und Weiterentwicklung von avF entscheidend sind: Konnektivität, Halbleiter, Edge- und Cloud-Computing sowie Quanteninformatik.

1.2.4 Roadmap des automatisierten Fahrens

Einer der wichtigsten Roadmaps für die technologische Entwicklung des automatisierten und vernetzten Fahrens in Europa ist seit vielen Jahren die Roadmap von ERTRAC. Deren Hauptziel besteht darin, eine gemeinsame Sicht der Interessengruppen zur langfristigen Entwicklung der vernetzten, kooperativen und automatisierten Mobilität in Europa bereitzustellen. Bei der Erstellung dieser Roadmap wurden auch andere Roadmaps berücksichtigt (z. B. ACEA-Roadmap, US-CAR-Roadmap, UK-Zenzic-Roadmap, Roadmaps des C2C-Konsortiums und 5GAA).
Folgende vier Domänen von Produkten und Dienstleistungen im avF-Bereich im Zeithorizont bis 2030 bilden den Kern der Roadmap:
  • Autobahnen: Wahrscheinlich die ersten industrialisierten Lösungen des avF ohne Verantwortung des Fahrers
  • Eingeschränkte Bereiche: Verschiedene Anwendungsfälle, in denen leichtere Verkehrsbedingungen eine frühe Demonstration in einem festgelegten Betriebsbereich (ODD) fördern
  • Städtischer Mischverkehr: Der wichtigste Beitrag zu gesellschaftlichen Zielen
  • Landstraßen: Größte Herausforderung, hohe Fahrzeuggeschwindigkeit mit voller Verkehrskomplexität zu kombinieren
Die vier Domänen unterscheiden sich in verschiedenen Eigenschaften, entwickeln sich in unterschiedlichen Zeiträumen und bieten eine große Vielfalt von Anwendungsfällen. Abb. 1.8 zeigt Beispiele von möglichen Anwendungsfällen in diesen Domänen.

1.2.5 Allgemeine Entwicklungsszenarien von avF

Die trilaterale Arbeitsgruppe (EU, USA und Japan) „Automation in Road Transportation“ (ART WG) hat sich gemeinsam mit der europäischen Koordinierungs- und Unterstützungsmaßnahme CARTRE mit den Auswirkungen von avF in unterschiedlichen Szenarien beschäftigt (Barnard et al. 2019). In einer Expertendiskussion wurden anhand einer szenariobasierten Bewertung die Auswirkungen von möglichen Zukunftsszenarien verglichen. Die folgenden vier Szenarien wurden verwendet, mit Unterschieden in Bezug auf geteilte versus private Mobilität und Beteiligung der öffentlichen Hand (siehe auch Abb. 1.9):
1.
Ein kurzfristiges Szenario (~2025), bei dem der Fokus auf dem schrittweisen Ausbau automatisierter Dienste liegt
 
2.
Ein langfristiges Szenario (~2035) mit einem Verkehrssystem, in dem die Automatisierung parallel zur Shared Mobility entsteht und die Flotten automatisierter Fahrzeuge von privatwirtschaftlichen Anbietern betrieben sind
 
3.
Ein langfristiges Szenario (~2035), in dem die Automatisierung durch öffentliche Organisationen getrieben ist und der Fokus auf dem kollektiven (öffentlichen) Verkehr liegt, der durch Shared Mobility unterstützt wird
 
4.
Ein langfristiges Szenario (~2035), in dem automatisierte Fahrzeuge überwiegend in Privatbesitz sind und Shared Mobility nicht erfolgreich ist
 
Die Expertengruppe bewertete die Richtung2 (steigend oder fallend) und das Ausmaß der Auswirkungen (auf einer Skala von 1–5, wobei 1 = keine Änderung und 5 = große Änderung bedeutet) sowie die mit den Schätzungen verbundene Unsicherheit (drei Abstufungen). Folgende aus städtischer Sicht interessante Wirkungsbereiche wurden betrachtet: Mobilität und Reiseverhalten, öffentliche Gesundheit und Sicherheit sowie Landnutzung. Die Expertenbewertung geschah zunächst individuell, dann wurde in Gruppendiskussionen ein Konsens gesucht.
Es wurde angenommen, dass das langfristige Szenario 3 (automatisierter öffentlicher Verkehr) die positivsten Auswirkungen hat. Die negativsten Auswirkungen wurden für das Szenario 4 (automatisierte Privatwagen) geschätzt. Es wurde jedoch angenommen, dass in allen Szenarien einige positive Effekte erzielt werden. Es zeigte sich, dass die Auswirkungen im Szenario 2 (marktgetriebene geteilte Mobilität) für die Experten am schwierigsten einzuschätzen waren.
Insgesamt wurden für die Shared-Mobility-Szenarien (2 und 3) positivere Effekte angenommen als für das Privat-Pkw-Szenario (4), vor allem aufgrund der bei letztgenanntem gestiegenen Pkw-Nutzung. Die Experten gehen davon aus, dass eine aktive öffentliche Hand in Szenario 3 die Entwicklung maßgeblich positiv beeinflussen kann.
Angesichts der erwarteten Nutzervorteile von avF besteht allerdings auch die Befürchtung vor negativen gesamtverkehrlichen Effekten von avF. Beispielsweise kann die Automatisierung einzelner privat genutzter Fahrzeuge die Nutzung des Pkw attraktiver machen, da die Zeit im Fahrzeug für andere Zwecke als das Fahren verwendet werden kann (Stark et al. 2018). Folgend werden die Entwicklungsperspektiven für avF im städtischen Raum näher betrachtet.

1.2.6 Entwicklungsperspektiven für avF im städtischen Raum

Weil mit der Einführung des avF die traditionellen Grenzen zwischen den Verkehrssystemen verwischen könnten, werden sie als ein „Game-Changer“ gesehen (VDV 2015). Denn das automatisierte Fahrzeug kann im Prinzip alles sein: ein privates Auto, ein Taxi, ein Bus, ein Car-Sharing-Fahrzeug oder ein Sammeltaxi. Somit könnte es Teil des öffentlichen Verkehrssystems werden, es könnte aber auch in weiten Teilen die Existenz des heutigen öffentlichen Nah- und Fernverkehrs infrage stellen.
Viele Studien befassen sich mit der Untersuchung von möglichen Auswirkungen der avF-Technologie auf den öffentlichen Nahverkehr. Beispielsweise wird hier die Fallstudie von Almlöf et al. (2019) erwähnt. Neben Automatisierung ist Shared Mobility ein wichtiges Konzept, das als (Teil-)Lösung der Verkehrsprobleme in Städten wahrgenommen wird. In einer Simulation des Nachfragemodells wurden die Auswirkungen des avF auf das Verkehrssystem in Stockholm untersucht und vier verschiedene Szenarien entlang der beiden Dimensionen Sharing (niedrig/hoch) und Entwicklung des öffentlichen Verkehrs (passive/aktive öffentliche Hand) betrachtet (Almlöf et al. 2019). Für die Dimension Sharing wurden zwei verschiedene Fälle für den Einsatz von Fahrzeugen angenommen:
  • Im ersten Fall ist das Auto noch in Privatbesitz und darf nur für private Fahrten innerhalb jedes Haushalts verwendet werden. Das Auto ist jedoch zugänglich für Personen ohne Führerschein, z. B. Kinder.
  • Im zweiten Fall wird Sharing eingeführt und ein Taxidienst basierend auf fahrerlosen Autos angenommen. Der Taxidienst kann von jedermann abgerufen werden, und nach Beendigung der Fahrt holt das Auto den nächsten Fahrgast ab.
Für die Dimension Entwicklung des öffentlichen Verkehrs wurden zwei verschiedene Fälle von öffentlichen Verkehrsdiensten herangezogen:
  • Mit einer passiven öffentlichen Hand funktioniert das öffentliche Verkehrssystem im Wesentlichen wie heute, jedoch mit einem starken Anstieg des Serviceniveaus.
  • Mit einer aktiven öffentlichen Hand wird eine neue Art von On-Demand-ÖV entwickelt. In diesem Dienst sind die Hauptlinien mit hoher Kapazität noch intakt, aber mit einer Substitution von Nebenlinien mit einem On-Demand-Shuttle-Service.
Die Modellergebnisse zeigen, dass das erhöhte Serviceniveau im öffentlichen Verkehr einen relativ geringen Einfluss auf die Nachfrage hat. Im Gegensatz dazu führt der Übergang von einem privaten Pkw zu einem taxiähnlichen Dienst zu erheblichen Rückgängen im öffentlichen Verkehr, Zufußgehen und Radfahren. Auch wenn der Autoverkehr in den Simulationen zugenommen hat, bleibt der öffentliche Verkehr das wichtigste Verkehrsmittel in den zentralen, dichteren Regionen Stockholms, was auf die räumliche Effizienz des öffentlichen Verkehrs hinweist. Insgesamt hängt das Ausmaß der Auswirkungen der selbstfahrenden Technologie wahrscheinlich von geografischen, kulturellen und technologischen Faktoren ab.
Die UITP International Association of Public Transport, als weltweit agierender internationaler Verband für den öffentlichen Verkehr, skizziert ähnliche Szenarien und betont, dass avF nur zur Umsetzung staatlicher Zielvorgaben beitragen können, wenn sie als gemeinsam genutzte Flotten in den ÖPNV eingegliedert sind (UITP International Association of Public Transport 2017; Cerfontaine 2018). Abb. 1.10 zeigt drei Szenarien für die Einführung des avF.
Die UITP International Association of Public Transport empfiehlt, autonome Fahrzeuge in urbanen Räumen als Teil eines aus verschiedenen Komponenten bestehenden Gesamtkonzeptes einzusetzen (Cerfontaine 2018):
  • Die Hauptlinien des ÖPNV bleiben bestehen und werden ausgebaut. Sie sind das „Rückgrat“ des urbanen Mobilitätssystems und dienen dazu, die vor allem morgens und abends auftretende Spitzennachfrage mit maximaler Effizienz zu bedienen.
  • Automatisierte Minibus-Systeme ersetzen einen Teil des heutigen Busverkehrs. Sie dienen, on demand und im Linienverkehr, als Zubringer zu den ÖPNV-Hauptlinien.
  • Automatisierte Kleinbusse im Ridesharing-Modus befriedigen außerhalb der Stoßzeiten die Nachfrage nach innerstädtischen Direktverbindungen.
  • Automatisierte Car-Sharing-Taxis geben die Möglichkeit, für einzelne Wege individuell unterwegs zu sein.
Städte und Kommunen sind aufgefordert, durch rechtzeitige Tests und durch regulatorische Maßnahmen hierfür den Rahmen zu schaffen.
Unternehmen im Bereich Car-Sharing haben sich auch mit Einsatzszenarien für autonome Fahrzeuge im ÖPNV bzw. im Umweltverbund beschäftigt. Beispielsweise sind folgende drei primäre Formen denkbar (Zielstorff 2018):
  • Automatisierte Linienbusse:
    Bei diesem Konzept fahren vollautomatisierte Fahrzeuge im Linienverkehr mit festgelegten Haltestellen. Dieses Konzept ist dem klassischen ÖPNV sehr nah und stellt eine Ergänzung zu bestehenden Verkehrslinien dar.
  • Automatisierte Ridesharing-Shuttles:
    Bei diesem Konzept verkehren Shuttle-Busse im Ridesharing-Modus on demand. Es ist noch unklar, ob die Shuttle-Busse am Ende Bestandteil des ÖPNV sein oder aber in Konkurrenz stehen werden.
  • Automatisierte Car-Sharing-Fahrzeuge/„Robo-Taxis“:
    Durch den Einsatz autonomer Fahrzeuge verschmelzen die Betriebsmodelle von Taxi und Car-Sharing zu einer Dienstleistung. Dieses Konzept weist gegenüber dem Ridesharing-Ansatz wegen der geringen Besetzung der Fahrzeuge Nachteile bei der Verkehrsentlastung auf und kann im ungünstigsten Fall zu einem rasanten Anstieg der Verkehrsbelastung führen.
Das Ziel des 3-jährigen und im September 2021 abgeschlossenen Projektes SPACE (Shared Personalised Automated Connected vEhicles) war es, zu untersuchen, wie man den öffentlichen Verkehr in den Mittelpunkt der Revolution der automatisierten Fahrzeuge stellen und zum Aufbau eines kombinierten Mobilitäts-Ökosystems beitragen kann (UITP International Association of Public Transport 2021a). Dazu wurde u. a. eine Liste verschiedener Anwendungsfälle für den Einsatz von avF in Umgebungen mit unterschiedlicher Dichte definiert – von städtischen Umgebungen, Vororten und kleinen Städten bis hin zu ländlichen Gebieten. Abb. 1.11 zeigt 13 Anwendungsfälle, die als Betriebskonzepte von avF identifiziert wurden und in die verschiedenen Umgebungen integriert werden können. Diese Anwendungsfälle werden derzeit auch in anderen Projekten, wie dem aktuellen Projekt SHOW (SHared automation Operating models for Worldwide adoption), berücksichtigt3.
Es wurde im SPACE-Projekt eine High-Level-Referenzarchitektur entwickelt, die darauf abzielt, mithilfe einer sog. Flottenmanagementplattform eine umfassende und nahtlose Integration fahrerloser Fahrzeuge mit anderen IT-Systemen im Mobilitätssystem zu gewährleisten. Abb. 1.12 zeigt diese Referenzarchitektur mit allen wesentlichen Funktionen, um die Integration neuer AV-Flotten in die öffentlichen Verkehrssysteme zu gewährleisten.
Die hier dargestellten Entwicklungsszenarien für die Integration von avF in den öffentlichen Personennahverkehr betrachten vor allem die Durchsetzung von Shared-Mobility-Dienstleistungen, die Stärke der Einflussnahme durch die öffentliche und die private Hand sowie verschiedene Einsatzmöglichkeiten von automatisierten Fahrzeugen unterschiedlicher Größe als Einflussfaktoren auf die Entwicklungspfade. Insgesamt werden positive Auswirkungen auf die Gesellschaft durch den Einsatz von avF im ÖPNV und somit die Stärkung des ÖPNV gesehen. Demgegenüber steht aber auch die Gefahr, dass durch den Einsatz von privaten automatisierten Fahrzeugen sowie taxiähnlichen Diensten automatisierter Fahrzeuge das Fahren komfortabler wird und somit die Verkehrsbelastung insgesamt zunimmt. Die genannten Einsatzszenarien sehen eine Ergänzung der bisherigen Linienbus-Angebote, die z. T. auch als vollautomatisierte Fahrzeuge denkbar sind, durch automatisierte Shuttles als On-Demand- oder Ridesharing-Lösungen sowie automatisierte Car-Sharing-Taxis.

1.2.7 Ausblick für die Etablierung von avF

In der Fachwelt der Mobilitätsforschung dominiert die Erwartung, dass avF in absehbarer Zeit zugelassen werden – auch wenn in Teilen der allgemeinen wie auch der Fach-Öffentlichkeit weiterhin Skepsis hinsichtlich der baldigen technischen und organisatorischen Reife herrscht. Wird sich die Automatisierung des Straßenverkehrs als Fluch oder als Segen für Konzepte nachhaltiger Mobilität erweisen? Es gibt viele Herausforderungen für die Etablierung von avF, damit die Potenziale der Technologie ausgeschöpft und unerwünschte Begleiterscheinungen abgemildert bzw. abgewendet werden können.
Mögliche Folgen und Wirkungen des avF
Die Technikfolgenabschätzung sieht sich mit einem für die Disziplin nicht untypischen Dilemma konfrontiert: Einerseits lässt sich angesichts der vielen Unwägbarkeiten noch wenig Belastbares über mögliche Technikfolgen von avF sagen. Andererseits hat die Technologie erhebliches Transformationspotenzial, sodass ein „rechtzeitiges“ Gestalten ihrer Entwicklung gesellschaftlich wünschenswert scheint (Fleischer und Schippl 2018).
Da die Probleme und Lösungen im Zusammenhang mit avF komplex sind, ist es wichtig, die möglichen Auswirkungen verschiedener Anwendungsfälle und Szenarien auf allen Ebenen der Gesellschaft zu diskutieren und zu untersuchen (Barnard et al. 2019). Daher wird international versucht, einen systematischen Ansatz zu verfolgen, um potenzielle Auswirkungen zu diskutieren und die dahinter liegenden Wirkungsmechanismen und Wirkungspfade festzulegen. In Teilen ungewiss bleiben jedoch vor allem die – sich auf verschiedenen Zeitskalen unterschiedlich ausprägenden – Anpassungsreaktionen der Nutzer, da diese einem komplexen Entscheidungskalkül unterliegen, in das nicht nur individuelle Präferenzen, sondern auch vielfältige soziale Faktoren einfließen.
Ausrichtung an gesellschaftlichen Zielen und Bedürfnissen der Nutzer
Die hohen Erwartungen an den Beitrag von avF zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele können nur erfüllt werden, wenn die angebotenen Mobilitätslösungen von einer ausreichend großen Population genutzt werden (ERTRAC 2021). Das heißt, avF muss Kriterien erfüllen, die sich aus gesellschaftlichen Zielen ableiten lassen. Es wird eine besondere Herausforderung sein, attraktives und bezahlbares avF für alle Bürger, Benutzer und Kunden sicherzustellen und Geschäftsmodelle zu implementieren, die eine nachhaltige Bereitstellung von Mobilitätsdiensten ermöglichen, die die Inklusion von z. B. ländlichen Regionen oder Gebieten mit „Verkehrsarmut“ in den Verkehrsverbund der Städte unterstützen. Drei Hauptgebiete der Herausforderung sind laut ERTRAC: Infrastruktur, Validierung sowie Künstliche Intelligenz und Daten.
Generell stellt die breite Spanne der Akteure mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Anforderungen an avF eine Herausforderung dar. Mögliche Konflikte bestehen zwischen den Bedürfnissen der Nutzer und den Anforderungen der Verkehrsunternehmen und der Kommunen (Stark et al. 2018). Während beispielsweise ÖPNV-Betreiber den Wunsch haben, individualisierte On-Demand-Angebote anzubieten, ist der Anwendungsfall des „Robo-Taxis“ unter Kommunalvertretern umstritten, die leere Kilometer und ein erhöhtes Verkehrsaufkommen befürchten. Bezüglich der Bedürfnisse der Nutzer zeigt sich beispielsweise, dass Sicherheit zu den wichtigsten Anforderungen zählt, jedoch kaum in technischer Hinsicht, sondern in Bezug auf den Schutz vor Kriminalität und Belästigung. Dies stellt wiederum Anwendungsfälle infrage, die Mitfahrgelegenheiten beinhalten.
„Neuerfindung“ von Städten
Um das Endziel nachhaltiger, urbaner Mobilitätssysteme zu erreichen, müssen Städte an einer Kombination von Lösungen arbeiten, in denen die Anwendung von avF beispielsweise als starke multimodale Alternative zum Privat-Pkw von Bedeutung sein kann (UITP International Association of Public Transport 2021b). Diese Lösungen sollten folgende Ansätze berücksichtigen:
  • Gestaltung von Städten rund um den öffentlichen Nahverkehr und aktive Mobilität
  • Optimierung des Verkehrs- und Straßenmanagements
  • Einsatz innovativer und effizienter öffentlicher Verkehrssysteme
Fazit Abschn. 1.2
Sharing und Integration von avF sind die Schlüssel für die Mobilitätswende. Damit avF zu einer besseren Mobilität beitragen, müssen diese in Flotten gemeinsam genutzter Fahrzeuge eingeführt und in öffentliche Verkehrsdienste integriert werden.
Im nächsten Kapitel wird näher darauf eingegangen und ein Entwicklungspfad aus der Perspektive einer Kommune beschrieben, mit der Zielsetzung, die Mobilitätswende innerhalb der nächsten 10 Jahre zu erreichen, und darzustellen, wie und in welchen Formen sich avF in Städten und in Verbindung mit den umliegenden Gemeinden als Teil eines Mobilitäts-Ökosystems etablieren wird.

1.3 Leitbild automatisiertes Fahren – ein Szenario

Robert Yen, Bettina Abendroth, Jens Schippl, Constantin Pitzen und Heiner Monheim
In den vergangenen Jahren sind sowohl in wissenschaftlichen Fachartikeln als auch in Büchern die verschiedensten Szenarien hinsichtlich der Integration des automatisierten Fahrens in unser Verkehrssystem entwickelt worden. Einige Beispiele davon finden sich in Abschn. 1.2 in diesem Buch. Im folgenden Beitrag geht es darum, ein Szenario für die Einführung von automatisiertem Fahren zu zeichnen, das Rücksicht nimmt auf die Herausforderungen unserer Zeit. Das Szenario beschreibt, wie automatisiertes Fahren einen Beitrag zur Mobilitätswende leisten kann. Dieses Szenario dient als Leitbild für das ganze Handbuch und vermittelt eine konkrete Perspektive für die Mobilität der Zukunft, in der automatisierter ÖPNV ein relevantes Angebot für eine nachhaltige Mobilität in einem Umfeld mit hoher Lebensqualität ist.

1.3.1 Automatisiertes Fahren im Licht der Mobilitätswende

Im deutschsprachigen Raum hat sich der Begriff der „Mobilitätswende“ etabliert. Es gibt kaum eine verkehrspolitische Ansprache, in der dieser Begriff nicht zumindest einmal Verwendung findet. Der Begriff Mobilitätswende beschreibt eine Abkehr vom bestehenden Mobilitätssystem zu einer neuen, nachhaltigeren und klimaneutralen Mobilität von Menschen und Gütern, die sowohl soziale Aspekte berücksichtigt als auch die Lebensräume der Menschen respektiert und nicht dem Verkehr unterordnet. Die tatsächliche Mobilitätswende scheint derzeit jedoch häufig eher eine Vision als ein konkretes Vorhaben zu sein. Im Jahr 2018 lag laut dem deutschen Statistischen Bundesamt der Anteil des Straßenverkehrs an den CO2-Emissionen in der EU bei 26 %. Davon waren 62 % durch den Motorisierten Individualverkehr (MIV) verursacht. „[…] während der CO2-Gesamtausstoß seit 1990 um 23 % sank, erhöhten sich die CO2-Emissionen im Straßenverkehr im gleichen Zeitraum um 24 %. Am deutlichsten stieg der CO2-Ausstoß zwischen 1990 und 2018 bei den leichten Nutzfahrzeugen (+58 %). Die CO2-Emissionen von Lkw und Bussen stiegen um 24 %, die der Pkw um 19 %“ (Statistisches Bundesamt 2020). Entsprechend dem Europäischen Verband der Automobilhersteller lag die Automobildichte je 1000 Einwohnern im Jahr 2015 in der Europäischen Union bei 553 Fahrzeugen und wuchs bis ins Jahr 2019 auf 569 Fahrzeuge an (European Automobile Manufacturers’ Association ACEA 2021). Selbst wenn es gelänge, diese immer noch wachsende Anzahl an Fahrzeugen zu elektrifizieren und die dafür notwendige Ladeinfrastruktur bereit zu stellen, würden die bei der Produktion der Fahrzeuge entstehenden CO2-Emissionen (sogenannte graue Emissionen) einen großen Teil des über den Lebenszyklus der Fahrzeuge erreichten CO2-Einsparungserfolges von vornherein zunichte machen. Dazu kommt, dass die zunehmende Anzahl an Fahrzeugen die Straßen und Plätze unserer Städte verstopft und auch im ländlichen Raum immer mehr Flächen durch den steigenden Siedlungs- und Verkehrsbedarf versiegelt werden. So sind die Siedlungs- und Verkehrsflächen von 1992 bis 2019 um 23,6 % gewachsen, die Verkehrsflächen allein um 9,8 % (Umweltbundesamt 2021). Mehr versiegelte Flächen führen in Verbindung mit den klimatischen Veränderungen zu immer mehr Hitzestressperioden, lokalen Überschwemmungen, verringerter Grundwasserbildung, Verlusten von Grünflächen und Abnahmen der Bodenfruchtbarkeit (Umweltbundesamt 2022).
Die Erreichung der Klimaziele ist ohne eine Abkehr von unserem derzeitigen Mobilitätssystem nicht möglich. Es gibt drei Strategien, um unser Verkehrssystem an die bestehenden und künftigen Anforderungen anzupassen: Verbessern – Verlagern – Vermeiden. Mobilitätswende ist weit mehr als die ‚Antriebswende‘ weg von fossilen Brennstoffen zu elektrischen Antrieben. Hinzukommen muss eine massive Verlagerung des bisherigen Kfz-Verkehrs auf die Verkehrsarten des Umweltverbundes sowie eine grundlegende Umverteilung der Verkehrsflächen zu Gunsten von Fuß- und Radverkehr, Aufenthalt, öffentlichem Verkehr und vor allem auch Grünflächen, insbesondere für Bäume. Zur Mobilitätswende gehört auch eine systematische Vermeidung von hohen Verkehrsaufwänden durch eine bessere Verteilung der Nutzungen im Raum mit mehr dezentraler Versorgung und mehr Nutzungsmischung sowie kompakteren Baustrukturen. Die Mobilitätswende wird jedoch nur gelingen, wenn alle genannten Strategien verfolgt werden. Die Mobilitätswende umfasst somit notwendigerweise eine Veränderung unseres Mobilitätsverhaltens. Dies bedarf einer systemischen Betrachtung unserer Lebensräume und der Bedürfnisse der Menschen und nicht nur der Sicht auf den aktuellen Kfz-Verkehr und die dafür vorgehaltene Infrastruktur.
Ein Blick in die deutsche Geschichte des Verkehrs zeigt, dass sich durch das Aufkommen des Automobils als bestimmendes Verkehrsmittel nicht nur unser Mobilitätsverhalten, sondern auch das Bild unserer Städte veränderte. „Bis ca. 1930 wurden die öffentlichen Verkehrsmittel Bus und Bahn mit hoher Priorität berücksichtigt. Fuß- und Fahrradverkehr konnten den öffentlichen Raum sehr freizügig nutzen. Das Auto spielte eine untergeordnete Rolle. Ca. 80 % der damals fahrenden Kfz waren Liefer- und Lastwagen, der private Pkw war die Ausnahme. Es gab ein dichtes Netz von landesweiten und regionalen Bahnnetzen. Viele Städte hatten eigene Straßenbahnsysteme. Post- und Bahnbusse erschlossen die Fläche“ (Monheim, H., eingereicht 12/2021). Nach dem 2. Weltkrieg orientierte man sich im zerbombten Westdeutschland am amerikanischen Vorbild und priorisierte ein autozentriertes Verkehrssystem. Städte mit vormals kleinteiliger Parzellierung, Gassen und funktional gemischten Strukturen (Wohnen, Gewerbe, Gastronomie, Einkaufen und Märkte) wurden durch breite Straßenfluchten und große kubische Bauten strukturiert, die oft nur einer Funktion dienten. Die Planung sollte eine zunehmende Motorisierung ermöglichen und dafür den nötigen Platz bereitstellen. An den Stadträndern und im Umland „…fand [man] viele freie Flächen, auf denen entdichtete, zersiedelte Bau- und Verkehrsstrukturen etabliert werden konnten“ (Monheim, H., eingereicht 12/2021). Die Erschließung dieser Gebiete mit ÖPNV oder Bahn schien nicht dem Geist der Zeit zu entsprechen.
Wenn in diesem Handbuch die Integration des automatisierten ÖPNV als ein Instrument für die Mobilitätswende betrachtet wird, kann dies nicht ohne die Berücksichtigung der oben genannten Aspekte erfolgen. Das folgend beschriebene Szenario zu den künftigen Entwicklungen unseres Mobilitätssystems wird von diesen Aspekten geleitet und geht zum Teil auf sich daraus ergebende Fragestellungen, wie beispielsweise die räumlichen Strukturen, ein.

1.3.2 Szenario zur Entwicklung der Mobilität und des avF

Für die Einordnung des Szenarios ist der raum- und siedlungsstrukturelle Kontext zu betrachten, mit den Unterschieden städtischer, suburbaner und ländlicher Kulissen, wobei der suburbane und ländliche Raum in Deutschland immerhin 2730 Mittel- und Kleinstädte umfasst, also durchaus urbane Kerne. Die Integration des automatisierten Fahrens muss die raum- und siedlungsstrukturellen Rahmenbedingungen beachten und wird je nach Kulisse unterschiedliche Auswirkungen auf die Raumentwicklung haben. Diese Einordnung findet in einem Umfeld mit zum Teil widersprechenden Interessen von Industrie, Politik und Teilen der Zivilgesellschaft (Mitteregger, M. et al. 2020) statt. Eine Differenzierung der Mobilitätsentwicklung in urbanen, suburbanen und nicht-urbanen Räumen ist daher notwendig.
Die im folgenden Szenario gemachten Aussagen für die Entwicklung der Mobilitätssysteme hin zur Mobilitätswende werden von den Autoren als grundsätzlich machbar eingeschätzt. Leitende Motive sind einerseits die radikale Reduktion von Treibhausgasen sowie die Rückeroberung qualifizierter, öffentlicher Räume und die Sicherstellung der Versorgung der Menschen unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse.
Für die Reduktion von Treibhausgasen und die Rückeroberung öffentlicher Räume für Fuß- und Radverkehr, Aufenthalt und Grünflächen muss das Verkehrsaufkommen mit privaten Pkw und betrieblichen Lkw und Lfw drastisch reduziert werden. Für die Versorgung der Menschen müssen dezentrale Angebotsstrukturen entwickelt werden, die eine ausreichende Nahversorgung sichern.
Die Angebotsstrukturen im ÖPNV müssen in ihrer Netz-, Haltestellen- und Taktdichte so verbessert werden, dass sie überall und zu jeder Zeit eine hohe Akzeptanz finden. Fuß- und Radverkehr müssen überall attraktive Infrastrukturbedingungen finden, die eine sichere und bequeme Nutzung ermöglichen.
Wir gehen davon aus, dass mittels avF attraktive Alternativen geschaffen werden können, weil ein Großteil der für Fahren und Parken gebrauchten Flächen des MIV durch die Alternativen des Umweltverbundes substituiert werden kann. Der ÖPNV kann mittels der avF-Optionen sein Angebot räumlich und zeitlich so verdichten, dass eine weitreichende Verlagerung von MIV-Fahrten auf kollektiv genutzte, automatisierte Verkehrsmittel möglich wird, die in ihren Formaten und Fahrplanangeboten und ergänzenden On-Demand-Angeboten bedarfsgerecht bereitgestellt werden.
Im Folgenden dargestellt sind die hypothetischen Randbedingungen für die Integration automatisierter Fahrzeuge im ÖPNV, die in Deutschland innerhalb der nächsten 10 Jahre Platz greifen können. Diese betreffen insbesondere den Busverkehr in den verschiedenen Formaten und Betriebsformen.
AvF-Angebote sind aber auch im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) denkbar. Sie können dort leichter implementiert werden, weil der SPV spurgeführt und auf exklusiven Fahrwegen erfolgt. Im kommunalen Schienenverkehr mit Straßen- und Stadtbahnen gelten dann ähnliche Bedingungen, wenn der Schienenverkehr auf eigenen, exklusiven Fahrwegen abgewickelt wird. Wo dagegen Straßen- und Stadtbahnen im gemischten Verkehr fahren, gelten für sie ähnliche Randbedingungen wie für die Busse. Die ergänzenden Paratransit-Angebote wie Car-Sharing, Rufbus, Anrufsammeltaxi (AST) und Anruflinientaxi (ALT) sind hinsichtlich ihrer Fahrverläufe ähnlich zu beurteilen wie Pkw-basierte avF-Systeme im MIV.
Methodik zur Beschreibung des Szenarios – Morphologischer Kasten
Die Methode des Morphologischen Kastens kommt ursprünglich aus dem Bereich des Marketings, eignet sich jedoch hervorragend für die Beschreibung jedes Szenarios. Das Szenario wird entlang wesentlicher Aspekte, Fragestellungen oder Parameter (vertikal angeordnet) beschrieben. Für jeden Aspekt gibt es mehrere Ausprägungen (horizontal angeordnet). Innerhalb eines Szenarios gibt es Abhängigkeiten zwischen den Aspekten, Fragestellungen und Parametern. Bestimmte Ausprägungen eines Aspekts können wiederum die Ausprägung anderer Aspekte bedingen oder verunmöglichen. Die Auswahl einer oder mehrerer Ausprägungen je Fragestellung bestimmt das Szenario.
Alle dunkelblauen Felder mit weißer Schrift der Abb. 1.13 beschreiben das gewählte Szenario. Die weißen Felder sind Ausprägungen, die nicht für das Szenario Anwendung finden.
Erläuterungen zu den Fragestellungen und Ausprägungen
Nr. 1. Was ist das leitende Motiv für die Integration des avF? Je nach Interessenslage können sich die Motive für die Einführung des avF sehr unterscheiden. Aus der Perspektive der öffentlichen Hand gilt es, eine Lösung für die Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Das gilt für mehr Flächeneffizienz und höhere Gestaltqualität im Verkehrsraum, höhere Verkehrssicherheit, weniger Emissionen und mehr soziale Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen.
Nr. 2. Welche räumlichen Voraussetzungen werden geschaffen? Um die Mobilitätswende zu schaffen, die zumindest Teilen der Bevölkerung einiges zumutet, ist es notwendig, die Verkehrsräume für den motorisierten Individualverkehr (MIV) zu reduzieren und stattdessen mehr öffentlichen Raum sowie Fahrrad- und Fußwege anzubieten. Quartiere müssen in einer Weise gestaltet werden, dass die Menschen auf kurzen Wegen die meisten ihrer Bedürfnisse erfüllen können. Anstatt Firmenwagen und Parkplatz werden von Unternehmen ÖV-Jahresabonnements oder E-Bikes angeboten, um den Verkehr zu reduzieren und freiwerdende Parkplatzflächen entweder für Mitarbeiterwohnungen oder Erweiterungen der Betriebsgebäude zu nutzen. So werden sich reine Gewerbegebiete zu Arealen mit Mischfunktionalität und zu ‚produktiven Städten‘ (vgl. Läpple, D. 2018) verändern. Alle diese Maßnahmen schaffen letztlich Lebensräume mit einer deutlich höheren Lebensqualität und verringern das Verkehrsaufkommen im MIV (Fahren und Parken). Die weitere Ausbreitung der Siedlungen in die Fläche wird zu Gunsten der Innenentwicklung gestoppt.
Nr. 3. Welche Voraussetzungen hinsichtlich der digitalen Infrastruktur werden geschaffen? Wie in Abschn. 1.1 dieses Buches beschrieben, gibt es in Europa eine klare Präferenz für ein vernetztes automatisiertes Fahren. Dennoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass beispielsweise jede Lichtsignalanlage bereits von Anfang an ihren aktuellen Status digital über Funk dem Fahrzeug mitteilen wird. Dafür notwendige Investitionen sind für viele Kommunen nicht zu stemmen. Dennoch wird Infrastruktur zunehmend mit der Erneuerung der Anlagen digitalisiert werden. Da die Anforderungen an hochauflösende digitale Karten derzeit nicht standardisiert sind, ergibt es keinen Sinn, dass die öffentliche Hand den Herstellern der Fahrzeuge solche zur Verfügung stellt. Es gibt Konstellationen, in denen die Verkehrssituation nicht allein durch die Sensoren des Fahrzeugs erfasst werden kann. An diesen Stellen müssen über externe Sensoren als digitale Infrastruktur Informationen über die Verkehrssituation an das Fahrzeug übermittelt werden.
Nr. 4. Welche Voraussetzungen müssen die Fahrzeuge erfüllen? In den nächsten zehn Jahren werden in erster Linie SAE Level 4 Fahrzeuge erst in Pilotprojekten (sinnvollerweise bereits auf Strecken, auf denen später auch im Regelbetrieb ein automatisierter ÖPNV fährt), dann als etablierter ÖPNV unterwegs sein. Ein SAE Level 4 Fahrzeug kann unter bestimmten Rahmenbedingungen (geringe Geschwindigkeit, wenig komplexe Verkehrssituationen, gute Straßen- und Sichtverhältnisse usw.) alle Situationen automatisch bewältigen und erkennt die eigenen Systemgrenzen. SAE Level 3 Fahrzeuge werden als private PKWs auf dem öffentlichen Straßennetz unterwegs sein, aber ihre automatisierten Fahrfunktionen werden eher auf Autobahnen oder Überlandstraßen zum Einsatz gebracht werden. SAE Level 5 Test-Fahrzeuge des motorisierten Individualverkehrs als Teil großer Entwicklungsprojekte werden frühestens gegen Ende des diesem Szenario zugrunde gelegten Betrachtungszeitraums von zehn Jahren auch im städtischen Raum zu sehen sein.
Da die digitale Kommunikationsinfrastruktur erst nach und nach Verbreitung finden wird, müssen die Fahrzeuge fähig sein, mit der Infrastruktur zu kommunizieren, dürfen aber nicht vom Datenaustausch abhängig sein. Es wird erwartet, dass die neuen Fahrzeuge alle ‚Day 1 Applications‘ unterstützen. Day 1 Applications umfassen Funktionen wie „slow or stationary vehicle(s) traffic jam ahead warning, road works warning, weather conditions, emergency vehicle approaching […]“ (vgl. BMVIT 2016).
Nr 5. Welche organisatorischen Voraussetzungen müssen geschaffen werden? Allgemein benötigen Fahrzeuge, die SAE Level 4 unterstützen, immer noch eine betriebsführende Person als Technische Aufsicht, die – bei durch das Fahrzeug nicht mehr beherrschbaren Situationen – das Fahrzeug deaktivieren oder für dieses Fahrzeug Fahrmanöver freigeben kann (vgl. Straßenverkehrsgesetz StVG § 1d Abs. 3). Die institutionellen Voraussetzungen dafür müssen durch den Verkehrsbetrieb entsprechend dem gewählten Geschäftsmodell (siehe dazu Fragestellung Nr. 8) gewährleistet werden.
Nr. 6. Welche rechtlichen und technisch regulativen Voraussetzungen müssen geschaffen werden? Gesetze bzw. Gesetzesnovellen des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) zum autonomen Fahren in festgelegten Betriebsbereichen werden nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern in Kraft treten. Das deutsche StVG wird in seinen Grundzügen von anderen Ländern übernommen werden. Es sieht vor, dass fahrerlose Kraftfahrzeuge in festgelegten Betriebsbereichen im öffentlichen Verkehr genutzt werden dürfen. Die betriebsführende Person (Technische Aufsicht), in einer Leitstelle verortet, unterstützt, wenn notwendig, die Fahrfunktion des Fahrzeuges, kann das Fahrzeug jederzeit stoppen und Fahrfunktionen freigeben. Es sind Betriebsbereiche für den fahrzeugführerlosen Betrieb eines Kfz nach Maßgabe der einschlägigen Regelungen festgelegt.
Das Vorgehen bei der Zulassung der automatisierten Fahrzeuge für den für sie bestimmten Betriebsbereich wird in Richtlinien und europäischen Normen festgelegt werden. Deutschland verfügt bereits heute über diese Richtlinie. Parallel dazu werden durch die Gesetzgeber neue Mobilitätsangebote auch von privaten Anbietern ermöglicht (vgl. die Novelle zum Personenbeförderungsgesetz in Deutschland – BPBefG). Der regional oder kommunal verankerten Exekutive wird jedoch die Möglichkeit eingeräumt, regulierend in die Mobilitätsmärkte einzugreifen. Die Kommunen werden in bestimmten Bereichen regulierende Vorgaben für den automatisierten MIV (SAE Level 3) und die öffentlichen oder privaten Angebote des automatisierten ÖPNV treffen. Zudem werden Regelungen hinsichtlich der Nutzung bestimmter physischer wie auch digitaler Infrastruktur getroffen. Höchstgeschwindigkeiten für das avF müssen festgelegt werden. Es sind auch Regelungen zur Priorisierung des automatisierten ÖPNV im Verkehrsgeschehen denkbar.
Nr. 7. Welche Mobilitätsangebote soll es geben? Auch ohne Automatisierung werden inzwischen verschiedene neue Angebotsformen in Pilotprojekten getestet (z. B. flexible Shuttles wie MOIA in Hamburg/Hannover) oder sind in manchen Regionen bereits etabliert (z. B. verschiedene Formen des Car-Sharings, Ride-Hailing-Dienste wie UBER, Lyft oder DiDi). Es ist davon auszugehen, dass solche Angebote durch Wegfall des Fahrers wirtschaftlich attraktiver und um neue Varianten ergänzt werden. Für weitere Erläuterungen vgl. Abschn. 1.1.4 Mögliche Anwendungsfälle für Level 4 Fahrzeuge im vorliegenden Buch.
Nr. 8. Welche Geschäftsmodelle wird es geben? In Folge der Änderung des PBefG und der o. g. gesetzlichen Regelungen zum avF in bestimmten Betriebsbereichen kommt es zu folgenden Änderungen im Verkehrsmarkt:
  • Das Angebot für individuelle sowie gebündelte (pooling) Beförderungsdienstleistungen durch private Plattformen nimmt zu, entsprechend steigt die Nutzungsfrequenz. Ob und wie stark dies zum Verzicht auf private Motorisierung und zum Verzicht auf reguläre ÖPNV-Nutzung sowie Nutzung des Fuß- und Radverkehrs führt, ist schwer vorhersehbar. Es wird aber in jedem Fall Wechselwirkungen geben.
  • Sowohl öffentliche als auch private Anbieter betreiben den öffentlichen Personenverkehr. Jedoch kommen auch neue branchenfremde Akteure auf den Markt (Kaiser, O. S. und Malanowski, N. 2020). Die neuen Angebote werden vor allem die kleinteiligen Miniformate und die On-Demand-Angebote betreffen, die großformatigen Linienverkehrsangebote werden weiter konventionell gemacht. Welche Verlagerungen es zwischen diesen Teilsystemen des ÖV geben wird, ist schwer vorhersehbar und hängt von den jeweiligen Angebotsmengen und ihrer Tarifierung ab.
  • Es werden für die neuen Mobilitätsdienstleistungen Business-to-Business-Geschäftsmodelle geschaffen werden. Öffentliche Verkehrsbetriebe werden einzelne oder mehrere Bereiche der Wertschöpfungskette an spezialisierte private Unternehmen vergeben. Diese neuen Geschäftsmodelle ermöglichen es, dass auch kleinere Verkehrsbetriebe oder Kommunen neue Mobilitätsangebote etablieren können, ohne die dafür im konventionellen Angebotskontext notwendigen Ressourcen aufbauen zu müssen.
Das Risiko besteht darin, dass die Individualisierbarkeit zu günstigen Preisen auch wieder zu einem höheren Verkehrsaufkommen führen könnte. Eine Herausforderung für die Kommunen wird die Schaffung geeigneter Regulierungen sein, die dennoch private unternehmerische Initiativen und wirtschaftlichen Erfolg dieser zulassen.
Fazit Abschn. 1.3
Die in diesem Szenario gezeichnete Perspektive gewährt als Leitbild für das Handbuch einen ersten Überblick über die Zukunft der Mobilität und die Integration eines automatisierten ÖPNV, die in den folgenden Kapiteln differenzierter und konkreter ausgeführt (Kap. 26). In Kap. 7 wird praktische Unterstützung gegeben, wie die im Szenario dargestellte Perspektive konkret realisiert werden kann.
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Fußnoten
1
Es sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass einige wichtige Akteure, oft mit US-amerikanischem Hintergrund, eher eine Vision vermitteln, in der automatisierte Fahrzeuge perspektivisch auch ohne größere Vernetzung auskommen.
 
2
Die Änderungsrichtung kann sowohl steigend als auch fallend sein. Die angestrebte Richtung ist diejenige mit voraussichtlich vorteilhaften gesellschaftlichen Auswirkungen. Z. B. ein Rückgang des Reisens würde zwar die Nachteile des Reisens verringern (Unfälle, Umweltauswirkungen, Kosten …), allerdings soll es das Ziel eines Verkehrssystems sein, Mobilität zu ermöglichen (Rämä et al. 2018).
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Einleitung
verfasst von
Robert Yen
Cornelie van Driel
Jens Schippl
Bettina Abendroth
Torsten Fleischer
Willibald Krenn
Constantin Pitzen
Heiner Monheim
Copyright-Jahr
2024
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DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-66998-3_1

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