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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Erklärung(en) finanzieller Transfers

verfasst von : Tamara Bosshardt

Erschienen in: Geld, Generation und Ungleichheit

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Solidarität gehört zu den Grundbegriffen der Soziologie und wird als „Querschnittsthema“von der Soziologie des Sozialstaats bis zur Soziologie der Familie und Partnerschaft aufgegriffen. So beschreibt Schneider Familie als „exklusive Solidargemeinschaft, die auf relative Dauer angelegt ist“. Aufgrund der vielfältigen Bezüge könnte vermutet werden, dass eine ausgereifte soziologische Solidaritätstheorie vorliegt.

3. Erklärung(en) finanzieller Transfers

Tamara Bosshardt1  
© Der/die Autor(en) 2024
Tamara BosshardtGeld, Generation und Ungleichheit10.1007/978-3-658-43924-8_3

Zusammenfassung

Solidarität gehört zu den Grundbegriffen der Soziologie und wird als „Querschnittsthema“von der Soziologie des Sozialstaats bis zur Soziologie der Familie und Partnerschaft aufgegriffen. So beschreibt Schneider Familie als „exklusive Solidargemeinschaft, die auf relative Dauer angelegt ist“. Aufgrund der vielfältigen Bezüge könnte vermutet werden, dass eine ausgereifte soziologische Solidaritätstheorie vorliegt.

Solidarität gehört zu den Grundbegriffen der Soziologie und wird als „Querschnittsthema“ von der Soziologie des Sozialstaats bis zur Soziologie der Familie und Partnerschaft aufgegriffen (Huinink u. a. 2001; Tranow 2013). So beschreibt Schneider (2008, S. 13) Familie als „exklusive Solidargemeinschaft, die auf relative Dauer angelegt ist“. Aufgrund der vielfältigen Bezüge könnte vermutet werden, dass eine ausgereifte soziologische Solidaritätstheorie vorliegt. Allerdings wird das Konzept der Solidarität meist schlagwortartig und ohne klare Abgrenzung verwendet, was seine analytische Tragfähigkeit für gesellschaftliche Beobachtungen stark einschränkt (Dallinger 2009). Bevor finanzielle Solidarität zwischen Generationen empirisch untersucht werden kann, sind daher einige Erläuterungen hilfreich.

Der Begriff der Solidarität entstammt dem römischen Recht und bezeichnete dort die gemeinsame Bürgschaft einer Familie im Falle der Verschuldung eines ihrer Mitglieder (Schmelter 1991). Vom „für einander einstehen“ entwickelte sich der Solidaritätsbegriff in der Soziologie zu einem Konzept, dass den Zusammenhalt der Gesellschaft im kleineren wie im grösseren Rahmen beschreibt. Durkheim (2004) unterscheidet die mechanische von der organischen Solidarität. Der mechanische Zusammenhalt im Kleinen ergibt sich aus der Zugehörigkeit zur selben Gruppe, etwas derselben Familie oder Dorfgemeinschaft. Organische Solidarität hingegen ergibt sich in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der die Individuen durch ihre Spezialisierung aufeinander angewiesen sind. Im ersten Fall entsteht Solidarität also aus der Gleichheit, im zweiten Fall aus der Verschiedenheit der Beteiligten. In beiden Fällen geht es jedoch um Zusammenhalt und Kooperation. Diese Aspekte stehen auch bei Hondrich und Koch-Arzberger (1992) im Zentrum. Sie definieren Solidarität als Unterstützung bei gemeinsamen Zielen und ungleichen Möglichkeiten, die unter der Annahme erfolgt, der oder die andere würde – gesetzt dem Fall, dass die sozialen Rollen vertauscht wären – dasselbe für einen tun.

In diesem Kapitel steht die Logik der Selektion im Vordergrund (siehe Abbildung 1.​1). Sie gibt Aufschluss darüber, warum Akteure in bestimmten Situationen solidarisch handeln. Im folgenden Abschnitt werden die handlungstheoretischen Grundlagen von Solidarität dargestellt. Anschliessend wird das ONFC Modell nach Szydlik (2000) präsentiert. Das ONFC Modell zeigt auf, dass Opportunitäten, Bedürfnisse, familiale und kulturelle Strukturen zur Erklärung von Intergenerationensolidarität relevant werden und setzt die verschiedenen Einflussfaktoren zueinander in Beziehung. Im letzten Abschnitt werden Hypothesen formuliert.

3.1 Solidarisches Handeln erklären

Solidarität kann sich sowohl auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt auf der Makroebene, als auch auf Beziehungen und Handlungen zwischen Personen beziehen (Dallinger 2000). Je nach Fragestellung haben beide Anknüpfungen ihre Berechtigung. Die vorliegende Analyse untersucht intergenerationale finanzielle Solidarität als konkrete finanzielle Unterstützung zwischen Familiengenerationen. Daher fokussieren sich die folgenden Ausführungen darauf, solidarisches Handeln als zwischenmenschliche Interaktion zu beschreiben, die gewissen Gesetzmässigkeiten folgt.

Hechter (1987, 17 f.) beschreibt Solidarität als das Zusammenspiel von sozialen Normen und dem Ausmass ihrer Folgeleistung in Handlungssituationen. Er unterscheidet damit Solidarnormen, an welchen sich das Handeln von Akteuren orientieren kann, von beobachtbarem solidarischem Handeln. Daran anknüpfend definiert Tranow (2013, S. 398) Solidarnormen konkreter als „[...] Sollens-Erwartungen, dass Akteure in bestimmten Situationen einen kompensationslosen Transfer privater Ressourcen zugunsten anderer Individuen oder einer Gemeinschaft erbringen“. In dieser knappen Definition sind drei relevante Punkte enthalten: (1) Solidarnormen werden nicht immer, sondern nur „in bestimmten Situationen“ aktiviert. (2) Solidarisch ist nur, wer für den Transfer privater Ressourcen keine unmittelbare Kompensation erhält. (3) Solidarisches Handeln ist nichts, was man für sich alleine tut. Vielmehr bezeichnet es ein Handeln, das sich auf andere Menschen bezieht und ist damit eine Form des sozialen Handelns, das in spezifischen Solidargemeinschaften auftritt (Weber 1980, S. 11).

Im Folgenden stehen die konkrete Handlungssituation sowie Bedingungen und Hindernisse für solidarisches Handeln im Fokus. Entlang der Definition von Tranow wird zunächst geklärt, in welchen Situationen Solidarnormen relevant werden. Anschliessend wird ausgeführt, in welchem Umfang von wem Solidarität erwartet werden kann. Zuletzt wird auf institutionalisierte öffentliche und private Solidarität zwischen Generationen eingegangen.

Situationen und Motivationen für Solidarität

Warum kommt es zu finanziellen Transfers zwischen Generationen? Nach oben erläuterter Definition fallen Geschenke oder Unterstützungszahlungen, für die es keine direkte Gegenleistung gibt, unter den Begriff des solidarischen Handelns. Anders als in manchen Bereichen der Ökonomie versteht die soziologische Perspektive solidarisches Handeln aber keineswegs als irrational und uneigennützig (Maurer 2011). Vielmehr dient es dazu, gemeinsame Ziele einer sozialen Gruppe zu verwirklichen (Dallinger 2009, S. 246). Auch wenn Kooperationen gegenüber dem unabhängigen Handeln einzelner Akteure Vorteile mit sich bringen, ist solidarisches Handeln jedoch nicht selbstverständlich. Noch grösser wären die individuellen Vorteile nämlich für Akteure, die von den Errungenschaften kooperativer Anstrengung profitieren, sich selbst aber nicht daran beteiligen. Wenn ein Transfer zugunsten Anderer nicht mit unmittelbaren Vorteilen der Agierenden verbunden ist, spricht Tranow (2013, 406 f.) deshalb von kritischen Transfersituationen in welchen passende Solidarnormen aktiviert werden. Bereitstellungs-, Verteilungs- und Unterstützungssituationen gehören zu den Basissituationen, in welchen Solidarnormen zur Anwendung kommen (Lindenberg 2014, S. 36). Zur Aufrechterhaltung des Gruppenzusammenhalts werden zusätzlich Loyalitätsnormen relevant (Tranow 2013, S. 412–413).

In Bereitstellungssituationen stehen kollektive Güter im Zentrum der Solidaritätsforderungen. Unter Gütern können sowohl materielle oder immaterielle Vorteile wie etwa eine gemeinsam organisierte Grundversorgung oder der gute Ruf einer Gemeinschaft verstanden werden. Kollektiv ist ein Gut, sobald es einen Nutzen für die gesamte Gruppe hat. Das Besondere bei kollektiven Gütern ist, dass Gruppenmitglieder von ihrer Nutzung auch dann nicht ausgeschlossen werden können, wenn sie sich nicht an deren Bereitstellung beteiligen (Olson 1992). Wenn aber alle Mitglieder einer Gruppe nur „trittbrettfahren“und sich nicht an der Bereitstellung eines kollektiven Gutes beteiligen, kann das kollektive Gut nicht realisiert werden. Hier setzen soziale Normen an, die von allen Gruppenmitgliedern einen adäquaten Beitrag zur Bereitstellung der kollektiven Güter fordern. In Bereitstellungssituationen bedeutet solidarisches Handeln also das Leisten eines Beitrages zu einem allgemeinen Gut, welches auch ohne eigenen Beitrag genutzt werden könnte (Tranow 2013, S. 409).

Was sind nun die kollektiven Güter in der Solidargemeinschaft Familie? Jede Familie mag sich eigene kurz-, mittel- oder langfristige konkrete Ziele setzen, für die sie sich gemeinsam einsetzen wollen. So gestalten manche Familien einen gemeinsamen Alltag, feiern Geburtstage oder begehen zusammen kulturelle Feierlichkeiten, sie kümmern sich um gemeinsame Haushalte, um Kinder und Haustiere. Hierbei handelt es sich bereits um sehr konkrete Zielsetzungen. Eine generellere Antwort auf kollektive Güter in Familien gibt Abschnitt 2.​2, in welchem die spezifischen Leistungen des Funktionssystems Familie diskutiert werden. Als kollektive Interessen zählen demnach die biologische Reproduktion, also das Gebären von nachfolgenden Generationen sowie die Deckung des Grundbedarfs zur Sicherung des Überlebens aller Familienangehöriger. Weiter gehört dazu die Sozialisation, d.h. das Grossziehen von Kindern und die Integration in verschiedene gesellschaftliche Kontexte. Damit verknüpft ist die Zuweisung zu einem Platz in der gesellschaftlichen Statushierarchie. Dies erfolgt in modernen Gesellschaften primär über die Erlangung eines bestimmten Bildungsstatus und einer entsprechenden Berufsposition, die ein Einkommen generiert. Zuletzt leisten Familien idealerweise einen Beitrag zur sozialen Reproduktion indem sie Kontakt- und Bindungsbedürfnisse abdecken. Bereitstellungsnormen sollen dafür sorgen, dass sich alle Familienmitglieder an der Verwirklichung dieser Familienleistungen beteiligen.

Die Mitgliedschaft in einer Solidargemeinschaft geht mit dem Nutzen der kollektiven Güter aber auch mit Kosten ihrer Bereitstellung einher. Dabei kann es sich sowohl um materielle Kosten wie Geld, aber auch um immaterielle Kosten, wie etwa Zeit oder kognitive Arbeit, sogenannten mental-load (Daminger 2019), handeln. Die Zuweisung von Nutzen und Kosten zu einzelnen Mitgliedern wird gemeinsam in Verteilungssituationen ausgehandelt. Dabei hat jedes Mitglied der Gruppe ein Interesse daran, den eigenen Nutzen zu maximieren und die eigenen Aufwände zu minimieren. Verteilungsprobleme werden unter Rückgriff auf Gerechtigkeitsprinzipien gelöst, welche als soziale Normen Handlungsrichtlinien bieten (Tranow 2013, S. 409). Dazu gehören das Gleichheitsprinzip, nach welchem alle Beteiligten den gleichen Anteil erhalten bzw. leisten müssen. Das Anrechtsprinzip koppelt eine Ungleichbehandlung an zugeschriebene Merkmale, etwa Geschlecht, Verwandtschaft oder Staatsbürgerschaft. Das Leistungsprinzip legitimiert eine ungleiche Verteilung des Nutzens mit ungleichen Beiträgen der Mitglieder, etwa unterschiedlichen finanziellen Beiträgen oder zeitlichen Investitionen. Zuletzt gesteht das Bedarfsprinzip schlechtergestellten Mitgliedern grössere Nutzenanteile oder geringere Lasten zu (Liebig und Sauer 2016, S. 49). In Verteilungssituationen zeigt sich Solidarität dadurch, dass sich auch diejenigen Gruppenmitglieder an einem Gerechtigkeitsprinzip orientieren, die von diesem benachteiligt werden (Tranow 2013, S. 410).

An die Überlegungen zu Verteilungssituationen lassen sich Theorien zur Reziprozität anknüpfen. Gegenseitigkeit gilt als wichtiges Motiv für Generationensolidarität und ist im familialen Kontext in verschiedenen Formen anzutreffen (Kohli und Künemund 2003). Hollstein (2005) unterscheidet zunächst direkte wechselseitige Reziprozität von indirekter Reziprozität. Direkte Reziprozität wird je nach zeitlichem Verzug des Gebens und Nehmens in drei Typen aufgeteilt: Im Falle der unverzüglichen Reziprozität wird im direkten Tausch Hilfe gegen Geld oder eine Ware gegen Bezahlung gegeben. Der Wert des Ausgetauschten ist hinreichend bestimmbar und gleichwertig, so dass keine über den direkten Tausch hinausgehenden Erwartungen aufgebaut werden. Bei verzögerter Reziprozität muss der Wert einer Gabe nicht eindeutig festgestellt werden können und die Gegenleistung kann später erfolgen. Hier steht die Beziehung oder der Aufbau einer Beziehung zwischen Geber*in und Nehmer*in stärker im Fokus als bei der direkten Reziprozität. Zuletzt kann bei generalisierter Reziprozität eine sehr lange Zeitspanne zwischen Geben und Nehmen liegen. Diese Form der Reziprozität tritt in engen Beziehungen auf, die dauerhaft angelegt sind, wie enge Freundschaften, Partnerschaften oder Familienbeziehungen. Der Wert des Ausgetauschten ist nur schwer vergleichbar, da auch Waren oder Geld gegen emotionale Nähe getauscht werden und die Tauschpartner*innen im Falle von Eltern-Kind-Beziehungen sehr ungleiche Voraussetzungen mitbringen können.

Im familialen Kontext kommt es regelmässig zu indirekter Reziprozität. Wer zu einer Solidargemeinschaft gehört hilft deren Mitgliedern und erwartet von diesen Unterstützung. Das Geben und Nehmen muss nicht zwischen denselben Personen stattfinden, aber innerhalb der Gemeinschaft wird gegeben und erhalten. Nach dem generativen Prinzip unterstützen Eltern ihre Kinder, weil sie früher selbst von ihren Eltern unterstützt wurden. Es bildet sich eine vorwärtsgerichtete Kette von Gebenden und Empfangenden. Zuletzt kann nach dem Stellvertretungsprinzip auch rückwärts gegeben werden, wenn erwachsene Kinder ihre alten Eltern unterstützen, weil diese ihrerseits ihre Eltern im Alter gepflegt haben. Wenn Eltern ihre Eltern unterstützen und pflegen um in Zukunft von ihren Kindern Unterstützung zu erhalten ist vom demonstration effect die Rede (Cox und Stark 2013).

Sobald das Terrain der Reziprozität verlassen wird, werden in Solidargemeinschaften Unterstützungsnormen relevant. Unterstützungssituationen liegen vor, wenn Personen zur Lösung eines Problems oder in einer Notlage auf die Hilfe von Anderen angewiesen sind (Tranow 2013, S. 411). Dabei stellt sich die Frage, welche Situationen als unterstützungswürdig angesehen werden, in welchem Umfang Unterstützung erwartet werden kann und wer zur Hilfe verpflichtet ist. Mit Ausnahme von lebensbedrohlichen Situationen existieren keine objektiven Massstäbe nach welchen die Hilfsbedürftigkeit bemessen werden kann. Vielmehr hängt die Einschätzung, ob und in welchem Ausmass eine Person in einer bestimmten Situation Hilfe erwarten kann, vom Wohlstandsniveau und den Werthaltungen einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft ab (Kersting 1998). Auch wenn die Hilfsbedürftigkeit nach subjektiver Einschätzung besteht, ist noch nicht geklärt, wer Hilfe anbieten soll. Je mehr Personen zur Unterstützung in Frage kommen, desto geringer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass es jede*r Einzelne tut. Dies weil Zuständigkeiten nicht geklärt sind und das nicht-Eingreifen Anderer die eigene Einschätzung der tatsächlichen Hilfsbedürftigkeit mindert (Elster 2015, 228 f.). Solidarität zeigt sich in Unterstützungssituationen wenn Handelnde mit eigenen Ressourcen helfen, auch wenn sie dadurch keinen direkten Vorteil erlangen oder andere ebenfalls helfen könnten (Tranow 2013, S. 412).

Hier lassen sich sowohl Transfers aus Verpflichtung einordnen, als auch altruistische Transfermotive. In ihrer theoretischen Reinform bilden sie die Pole eines Spektrums an Freiwilligkeit. Bei Transfers aus Verpflichtung handelt es sich um eine institutionalisierte Form von Unterstützungsnormen. Personen unterstützen ihre Eltern oder Kinder, weil sie gesetzlich dazu verpflichtet sind und andernfalls soziale oder rechtliche Sanktionen drohen. Die Motivation durch angedrohte Sanktionen wird als externer Standpunkt bezeichnet. Fühlt sich eine Person dagegen verpflichtet, weil sie überzeugt ist, dass die Unterstützungsnormen sinnvoll und richtig sind, spricht Tranow (ebd., S. 403) von einem internen Standpunkt.

Reiner Altruismus orientiert sich dagegen nur am Wohlergehen der begünstigten Person, und schliesst eigene Vorteile oder die Verhinderung eigener Nachteile aus. Monroe (2001) beschreibt Altruismus als eine Form des zielorientierten Handelns, wobei das Ziel die Steigerung des Wohlbefindens einer anderen Person ist. Ob dieses Ziel tatsächlich erreicht wird, ist dabei zweitrangig. Relevanter ist hingegen, dass die Handlung bedingungslos erfolgt und nur das Wohlergehen der begünstigten Person gesteigert wird. In Anbetracht generalisierter oder indirekter Reziprozitätserwartungen dürfte deutlich geworden sein, dass reiner Altruismus selten vorkommt (Arrondel und Masson 2006). Nichtsdestotrotz spielt der Fokus auf das Wohlergehen der begünstigten Personen in Kombination mit anderen Motiven eine wichtige Rolle (Kohli und Künemund 2003).

Solidarisches Handeln ist für diejenigen, die einen Transfer leisten, nicht mit unmittelbaren Vorteilen verbunden. Der Vorteil von stabilen Solidargemeinschaften ergibt sich vielmehr aus längerfristiger Reziprozität und zukünftigem Unterstützungspotential. Auch wenn gerade keine Solidaritätssituation vorliegt haben Gruppenmitglieder ein Interesse daran zu wissen, ob sich andere Mitglieder auch weiterhin an den gemeinsamen Interessen orientieren. Es handelt sich um eine Loyalitätssituation. Dazu ist der Austausch von positiven Beziehungssignalen hilfreich. Unter positiven Beziehungssignalen wird Kommunikation verstanden, die das gegenseitige Wohlwollen und die Orientierung an gemeinsamen Zielen ausdrückt. Starke positive Beziehungssignale kombinieren das Signal mit einem direkten Beitrag zur Erreichung der gemeinsamen Ziele, sind nicht einfach vorzutäuschen und führen nicht zu neuen Aushandlungsproblemen über gegenseitige Erwartungen (Lindenberg 1998, S. 85–87). Grössere Transfers gehen folglich meist auf kritische Transfersituation zurück. Kleinere Transfers finden jedoch auch ohne kritische Transfersituationen statt. Sie signalisieren Loyalität und werden insbesondere in engen Solidargemeinschaften oder bei langfristiger Reziprozität häufiger erwartet.

Hier lassen sich Transfermotive wie Zuneigung oder Freude am Geben einordnen (Szydlik 2000, S. 124). Im Vordergrund steht nicht was gegeben wird, sondern dass etwas gegeben wird. Es geht nicht um konkreten Bedarf oder Nutzen der gebenden oder empfangenden Person, sondern primär um den Erhalt und die Stärkung einer Beziehung an sich (Adloff und Mau 2005; Simmel 1908). Dieses Motiv ist insbesondere auch für regelmässigere kleinere Transfers wie Geburtstagsgeschenke oder das Gastgeschenk relevant, denn auch „kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“. Natürlich kann auch hier davon ausgegangen werden, dass der*die Gebende in Zukunft von der gestärkten sozialen Beziehung profitiert und allenfalls auch konkrete Transfers erhalten wird. In Abgrenzung von der langfristigen Reziprozitätserwartung steht aber die Beziehung an sich im Vordergrund während langfristige Reziprozitätserwartungen wiederum als eine Folge der gestärkten Beziehung betrachtet werden können. Wie so oft lassen sich Transfermotive aber lediglich analytisch klar voneinander abgrenzen, in der Realität spielen sie in der Regel zusammen (Künemund und Motel 2000).

Adressaten und Ansprüche an Solidarität

Die Ausführungen zu den Solidarnormen haben gezeigt, dass solidarisches Handeln der Realisierung kollektiver Ziele dient. Wer Teil einer Solidargemeinschaft ist, kann davon ausgehen, dass sich alle an den gemeinsamen Zielen beteiligen, in Notsituationen unterstützen, bei der Verteilung der Kosten und Nutzen fair behandeln und nicht unerwartet alleine dastehen. Solidarische Transfers finden statt, weil entsprechende Normen aktiviert werden. Solidarnormen zeichnen sich weiter dadurch aus, dass nicht alle Menschen Anrecht auf solidarische Unterstützung haben, sondern dass sich nur Mitglieder innerhalb einer spezifischen Solidargemeinschaft wechselseitig verpflichtet sind (Derpmann 2020). Es gibt also Verpflichtungen bestimmte Personen zu unterstützen, andere jedoch nicht. Je nach Situation wird Unterstützung von einer anderen Solidargemeinschaft erwartet: etwa vom Staat, von der Herkunftsfamilie oder innerhalb einer Partnerschaft.

Schnabel und Tranow (2020, S. 10–12) sprechen in Bezug auf diese Fragen vom Solidarradius, der über soziale Grenzziehungen Personen in Solidargemeinschaften ein- oder aus diesen ausschliesst. Sobald mehrere Personen ein Unterscheidungsmerkmal als relevant einstufen und sich zusammenschliessen, werden aus sozialen Grenzziehungen „Wir“-Gruppen, an welche Solidaritätserwartungen anknüpfen können. Diese Grenze kann sich an erworbenen oder angeborenen Merkmalen orientieren. Kommunitäre, erlebte Zusammengehörigkeiten entstehen auf der Basis von gemeinsamer Praxis einer kollektiven Identität, etwa der Verwandtschaft oder der Nationalität. Differenzielle bzw. geteilte Zugehörigkeiten basieren dagegen auf ähnlichen politischen Zielen, der Zugehörigkeit zum selben Geschlecht oder zur selben Spezies.

Grenzziehungen betonen die Gleichheit innerhalb der „Wir“ Gruppe und die Andersartigkeit von denjenigen, die nicht zur Gruppe gehören. Erst die Abgrenzung nach aussen ermöglicht die Ausbildung und Aufrechterhaltung einer Gruppenidentität (Derpmann 2014). Je klarer und enger die Grenzen einer Gruppe gezogen werden können, desto stärker können Gruppenzugehörigkeiten verpflichtend wirken. Zugehörigkeiten zu grösseren Gruppen, die etwa auch sich unbekannte Personen beinhalten, werden typischerweise weniger stark als persönlich verpflichtend angesehen, da sie weniger exklusiv sind. Sozialstaatliche Arrangements sind ein gutes Beispiel für inklusivere Solidaritätsbeziehungen mit weniger emotionalen Verbindungen (Tranow und Schnabel 2019). Exklusivere Solidaritätsbeziehungen werden gestärkt, indem eine Solidargemeinschaft – etwa die Familie – für die Beteiligten regelmässig relevant gemacht wird. Dazu können häufiger Kontakt und gemeinsame Rituale dienen, in welchen übergeordnete Ziele einer Gruppe betont und gefeiert werden (Lindenberg 1998, S. 83).

Menschen gehören mehreren Solidargruppen an, woraus sich Interessenskonflikte ergeben können (Schnabel und Tranow 2020, S. 10). Die Frage ob Eltern ihr Erspartes in eine Paartherapie oder die Ausbildung ihrer Kinder investieren oder ob sie mit einer Spende Menschen in Krisengebieten unterstützen wollen, ist mit verschiedenen Solidaritätsradien verknüpft. So konkurrieren hier die Solidargemeinschaften Paar, Familie und Menschheit um das vorhandene Geld. Für jede Solidargruppe existieren entsprechende Solidaritätsnormen: Einerseits sollen Paare in ihre Beziehung investieren, Familien sollen sich bei Bedarf unterstützen und die Menschenrechte sowie eine privilegierte finanzielle Situation fordern Grosszügigkeit zugunsten von Menschen in Not. Je ähnlicher sich Gruppenmitglieder sind und je dichter die Beziehungen zwischen ihnen – je stärker eine Gruppenzugehörigkeit also identitätsstiftend wirkt – desto stärker ist auch die Verbundenheit zur jeweiligen Gruppe womit auch die Solidaritätserwartungen steigen. Dies zeigt sich etwa in Familien und Freundschaften.

Starke Solidarität ist immer dann vorteilhaft, wenn der Wert der kollektiv hergestellten oder geteilten Güter hoch ist und keine institutionalisierten Normen vorhanden sind. In diesem Fall muss die Gruppe die Kontrolle darüber übernehmen, dass die Mitglieder angemessene Beiträge leisten. Oftmals kommt es zu grosszügiger gegenseitiger Unterstützung in Bedarfssituationen, die von aussen betrachtet als Altruismus interpretiert werden kann, bei der es sich aber tatsächlich um einer starken Solidargruppe angemessene Beiträge zum kollektiven Gut der Risikominimierung handelt. Der hohe Wert der kollektiven Güter geht mit einer Betonung der Gruppenidentität und der hohen Relevanz von Solidarität in der Definition von Situationen einher. Die Abhängigkeit aller von der Solidargemeinschaft verhindert den Bezug auf eigene Interessen und die Maximierung des Eigennutzes und so gilt nicht das Beitrags- oder Leistungsprinzip sondern das Gleichheitsprinzip bei der Verteilung von Kosten und Nutzen als angemessen. Daneben kommt das Bedarfsprinzip immer dann zum Zug, wenn die Bedürftigkeit eines Gruppenmitglieds dessen zukünftigen Beiträge gefährden würde. So unterstützen Eltern ihre Kinder bis diese selbstständig für sich sorgen können (Lindenberg 1998, S. 97–98).

Die Herstellung und Teilung kollektiver Güter kann sich von starken zu schwachen Solidargemeinschaften verschieben und umgekehrt (ebd., S. 99–101). Die Ausweitung der marktförmigen Produktion im Rahmen der funktionalen Differenzierung (siehe dazu Abschnitt 2.​2) ging mit einer Auslagerung von familialen Pflichten an schwache Solidargemeinschaften wie Sozialversicherungen einher. Damit verschieben sich auch Zuständigkeitsnormen in der öffentlichen Wahrnehmung. So werden in Ländern mit starken Sozialstaat weniger starke Unterstützungsnormen zwischen den Familiengenerationen beobachtet, während in Ländern mit schwachen sozialstaatlichen Leistungen hohe Ansprüche an starke Solidargemeinschaften wie die Familie vorherrschen (Brandt 2013). Eine Verschiebung von schwachen, inklusiveren zurück zu starken, exklusiveren Solidargemeinschaften tritt auf, sobald schwache Solidargemeinschaften keine ausreichenden Leistungen (mehr) erbringen. Starke persönliche Solidargemeinschaften unterstehen allerdings nicht der staatlichen Kontrolle und legen ihre Zielsetzungen unabhängig vom demokratischen Aushandlungsprozess fest. Bei zu hoher sozialer, ökonomischer oder politischer Ungleichheit kann es zur Bildung starker Solidargemeinschaften von Benachteiligten zur Verbesserung ihrer eigenen Situation kommen. Als eine Abwehrreaktion darauf können sich starke Solidargemeinschaften auch unter Privilegierten durchsetzten, die dadurch ihre Vorteile bewahren wollen (Lindenberg 1998, S. 102).

Solidarische Normen verlangen den Transfer von angemessenen Beiträgen. Was ein angemessener Transfer ist, hängt von der Situation und der Solidargemeinschaft ab (Schnabel und Tranow 2020, S. 15). Die Beurteilung der Angemessenheit kann sich an drei verschiedenen Prinzipien orientieren: an den Möglichkeiten einer Person, an der Gleichheit aller Beteiligten oder am individuellen Nutzen der Beteiligten. Im ersten Fall gilt als angemessen, dass Personen mit höherer Ressourcenausstattung höhere Beiträge leisten. Im zweiten Fall, wird von allen Gruppenmitglieder derselbe Beitrag verlangt. Im letzten Fall sollen diejenigen Mitglieder höhere Beiträge leisten, die stärker von der Bereitstellung eines kollektiven Guts profitieren. Wenn der individuelle Nutzen von der Beitragsleistung weitgehend entkoppelt ist, eine Person also keinen eigenen Anreiz zur Beitragsleistung hat, sind besonders starke Solidarnormen nötig. Hier zeigt sich auch einer der Unterschiede zwischen schwachen und starken Solidargemeinschaften. Solidarische Transfers reduzieren Ungleichheiten innerhalb einer Solidargemeinschaft. Während schwächere Solidargemeinschaften durch ihre grössere Inklusivität gesamtgesellschaftlich meist ungleichheitsreduzierend wirken, ist bei starken Solidargemeinschaften meist das Gegenteil der Fall: Mitglieder starker Solidargemeinschaften sind in Bezug auf ihre sozioökonomische Ausstattung oft sehr ähnlich, sodass Ungleichheiten durch sie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eher zementiert als abgebaut werden.

Solidarität und Generationenbeziehungen

Solidarisches Handeln kann in den unterschiedlichsten Kontexten und auf allen Ebenen der Gesellschaft beobachtet werden (Prisching und Lessenich 2003). Staaten bilden Wirtschaftsgemeinschaften, kleinere Unternehmen schliessen sich zu grösseren Genossenschaften zusammen, Menschen solidarisieren sich in Freundesnetzwerken und Partnerschaften, sie schliessen Versicherungen ab oder sind durch ihre Staatsangehörigkeit berechtigt, bestimmte Sozialleistungen zu beziehen. Die Art und der Umfang von institutionalisierter Solidarität zwischen Generationen wirkt sich wiederum auf private Transfer in Familien aus.

In der Schweiz stützt sich die Altersvorsorge auf drei Säulen (Leimgruber 2008). Die Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV, 1. Säule) ist im Umlageverfahren organisiert. Jüngere erwerbstätige Generationen bezahlen in die Kasse ein während bezugsberechtigte ältere Generationen Renten ausbezahlt bekommen. Die entspricht einer rückwärtsgerichteten generalisierten Reziprozität. Staatlich organisierte finanzielle Transfers zwischen Generationen fliessen also von den jüngeren an die älteren Generationen. Die erste Säule ist insofern solidarisch, als die Höhe der Beiträge mit dem Einkommen steigen, während alle Personen auch bei tiefen Beiträgen Anrecht auf eine Rente haben, welche die grundlegenden Lebenskosten im Alter decken soll. Da die Höhe der Rente ist jedoch nach oben begrenzt ist, ergibt sich ein Umverteilungseffekt zugunsten der finanziell schwächeren Rentenberechtigten (Brunner-Patthey und Wirz 2005).

Transfers von der älteren an die jüngere Generation werden im Regelfall hingegen privat geleistet. Auf die Finanzierung ihrer grundlegenden Lebenskosten haben nicht erwerbstätige, junge Menschen, etwa während der Ausbildung, in der Schweiz keinen grundsätzlichen rechtlichen Anspruch. Stipendien werden nur im nachgewiesenen Bedarfsfall übernommen, ihr Bezug ist oft mit grossen Hürden verbunden (vgl. Scherrer 2021; Schmidlin u. a. 2018). Insofern kann hier kaum von gesamtgesellschaftlicher Generationensolidarität gesprochen werden, sondern eher von einer strikten bedarfsorientierten Unterstützung. Staatliche Ausgaben zugunsten der jüngeren Generation fliessen eher ins Bildungssystem und nicht in den direkten Lebensunterhalt der Jugendliche und junge Erwachsene. Die Hauptverantwortung für die Deckung der Lebenskosten junger Erwachsener liegt in der Schweiz also nach wie vor bei diesen selbst oder in deren Familien. Letzteres ist durch die rechtliche Unterhaltspflicht festgelegt, die Eltern verpflichtet, ihre Kinder auch nach deren Volljährigkeit bis zum Abschluss einer angemessenen Erstausbildung zu unterstützen (Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1996).

Philosophische Auseinandersetzungen mit filialen Pflichten kommen zwar zum Schluss, dass Kinder ihren Eltern nichts schulden (Betzler und Bleisch 2015). Die schweizerische Gesetzgebung sieht allerdings vor, dass direkte Nachkommen mit ausreichendem Einkommen für den Unterhalt von Eltern in Notsituationen aufkommen müssen (Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 2000). Die Unterstützungspflicht folgt der Reihe der Erbberechtigung. Kissling (2008) bezeichnet diese Regelung daher als „pervertierte Erbschaftssteuer“, da von Eltern in Notlagen wohl kaum etwas geerbt wird, die eigentlich erbberechtigten Kinder ihre Eltern aber unterstützen müssen. Direkte Nachkommen, die tatsächlich etwas erben, sind in der Regel aber von einer Erbschaftssteuer befreit (Brülhart und Parchet 2014). Dadurch werden Nachkommen aus weniger vermögenden Schichten beim Aufbau eigener Vermögen behindert, während Nachkommen aus vermögenden Schichten beim Vermögensaufbau durch die Steuerbefreiung staatliche Unterstützung erhalten.

Wer durch bestimmte Regelungen begünstigt wird, hat ein Interesse daran, diese Regelungen aufrechtzuerhalten. Wer hingegen zu einer benachteiligten Gruppe gehört, würde von der Verringerung von sozialen Ungleichheiten profitieren (Schimank 2005, S. 247–249). Soziale Ungleichheiten gehen folglich mit Interessenkonflikten zwischen Bevor- und Benachteiligten einher. Um die Position der eigenen Gruppe zu sichern oder zu verbessern, kooperieren Menschen mit anderen. Durch regelmässige gegenseitige Unterstützung und deren zukünftige Erwartung entstehen solidarische Gemeinschaften, in denen mehr oder weniger starke Unterstützungsnormen gelten. Wenn es zu Aushandlungen über die Bereitstellung von kollektiven Gütern, die Unterstützung von Hilfsbedürftigen, die Verteilung von Ressourcen oder zu Loyalitätsfragen kommt, werden Unterstützungsnormen aktiviert. Je näher das solidarische Umfeld, desto vielseitigere und höhere Erwartungen bestehen an gegenseitige Solidarität. Solidarische Transfers können unterschiedliche Folgen haben. Transfers zwischen starken und schwächeren Gruppenmitgliedern reduzieren Ungleichheiten innerhalb der Gemeinschaft und stärken die gesamte Gruppe. Verlaufen die Grenzen solidarischer Gruppen aber zwischen Bevorteilten und Benachteiligten, ist damit zu rechnen, dass Ungleichheiten zwischen Gruppen bestehen bleiben oder sich gar verschärfen.

Diese Mechanismen führen eher dazu, dass sich auch kleinere Ungleichheiten über den Zeitverlauf verstärken. Dieses von Merton (1968) als Matthäus-Effekt beschriebene Phänomen wurde in der soziologischen und ökonomischen Forschung bekannt (Keuschnigg und Wolbring 2017). So heisst es in Matthäus 13,12: „Denn wer hat, dem wird gegeben werden, und er wird haben im Überfluss. Wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen werden, was er hat. “(zit. nach Zürcher Bibel, 2012). Kumulative Vorteilsprozesse können bei der Entstehung, der Reproduktion und dem Wandel von Ungleichheitsstrukturen eine Rolle spielen.

Es lassen sich ein weiteres und ein engeres Verständnis von kumulativen Vorteilsprozessen unterscheiden. Ein weiteres Verständnis beschreiben etwa Blau und Duncan (1967) in ihren Beobachtungen von rassistischen Einkommensunterschieden. Schwarze Männer verdienten nicht nur grundsätzlich weniger als weisse Männer, sie erzielten mit höheren Bildungsabschlüssen auch weniger Einkommenszugewinne als dies bei weissen Männern der Fall war. Hier kumulieren sich sowohl direkte als auch indirekte Benachteiligungen. Empirisch lassen sich solche kumulativen Vorteile mit Interaktionseffekten messen, sie führen aber nicht zwingend zu einer Verstärkung der Ungleichheiten über die Zeit.

DiPrete und Eirich (2006) definieren ein engeres Verständnis kumulativer Vorteilsprozesse durch die Zunahme der Besserstellung einer Person oder Gruppe im Zeitverlauf. Als Referenzbeispiel dienen mathematische Wachstumsmodelle, Diffusionsprozesse oder Ansteckungsraten, in welchen die Höhe des Zugewinns von der aktuellen Höhe einer Ressource abhängt. Dieser Effekt lässt sich etwa bei der Verzinsung von Ersparnissen beobachten wo – im Falle von positiven Zinsen – diejenigen mehr Zinsen erhalten, die mehr Erspartes haben. Wenn mehr bekommt, wer bereits mehr hat, ist eine Zunahme der absoluten Ungleichheit die Folge. Bei gleichen Zuwachsraten erhöht sich zwar die absolute, nicht aber die relative Ungleichheit. Prozesse kumulativer Vor- bzw. Nachteile führen zu rechtsschiefen Verteilungen von begehrten Gütern. Da rechtsschiefe Verteilungen aber auch durch andere Prozesse zustande kommen können, ist eine analytische Auseinandersetzung mit den konkreten Mechanismen, die zu einer Verteilung führen, aber nach wie vor unerlässlich.

3.2 Kontexte finanzieller Intergenerationentransfers

Nach Weber (1980) ist die Soziologie eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und in seinem Ablauf und seinen Wirkungen erklären will. Diese Definition ist weitgehend unbestritten. Im Gegensatz dazu herrscht jedoch grosse Uneinigkeit darüber, wie genau soziologische Erklärungen aussehen und welche Faktoren in die Erklärung sozialen Handelns einbezogen werden sollen.

Zu den einfachsten Handlungstheorien gehören Rational Choice Theorien, die auf drei Grundannahmen beruhen (Opp 1999): Erstens verfolgen Akteure mit ihren Handlungen bestimmte Ziele. In Entscheidungssituationen werden zweitens Handlungsrestriktionen und -opportunitäten relevant. Drittens wird davon ausgegangen, dass immer diejenige Handlungsoption ausgewählt wird, mit welcher die eigenen Ziele unter Berücksichtigung der Restriktionen am besten umgesetzt werden können. In ihrer einfachsten Form orientiert sich die Rational Choice Theorie am homo oeconomicus. Sie lässt ausschliesslich egoistische, materielle Ziele und „objektiv“feststellbare Fakten, wie etwa das Einkommen oder gesetzliche Bestimmungen als Handlungsopportunitäten und -restriktionen zu. Ausserdem geht die enge Form der Rational Choice Erklärung davon aus, dass die handelnden Akteure vollständig über relevante Ressourcen, Restriktionen sowie die Folgen ihrer Handlungen informiert sind.

In einer weiter gefassten Form der Rational Choice Theorie wird die marktwirtschaftlich-kapitalistische Grundorientierung aufgebrochen indem die interpersonelle, kulturelle und historische Varianz von Zielen mitgedacht wird. Es sind nun auch individuelle Ziele zulässig, die nicht (primär) egoistisch sind. Darüber hinaus kommen als erklärende Handlungsopportunitäten und -restriktionen weitere Faktoren wie soziale Normen oder persönliche Einstellungen in Frage. Entscheidendes Kriterium ist nicht die „objektive“Messbarkeit, sondern der tatsächliche Zusammenhang mit der beobachteten Handlung. Zuletzt wird nicht angenommen, dass die Akteure vollständig informiert sind, sondern dass ihre Wahrnehmung einer Situation relevanter sein kann, als die sogenannt objektiven Fakten.

Für die soziologische Erklärung von Handlungsentscheidungen im familialen Kontext hat sich ein weites Verständnis der Rational Choice Theorie als zielführend erwiesen (Konietzka u. a. 2021, S. 100). Der folgende Abschnitt stellt das ONFC-Modell vor, welches relevante Einflussfaktoren auf verschiedenen Ebenen sichtbar macht. Daran anschliessend werden Opportunitäten und Bedürfnisse der Akteure, sowie kontextuelle Einflussfaktoren auf finanzielle Transfers zwischen Generationen vorgestellt.

ONFC-Modell

Ott (2001) versteht die Familie als eine soziale Gruppe, die sich neben den verwandtschaftlichen Beziehungen durch die emotionale Verbundenheit ihrer Mitglieder auszeichnet. Die Annahme eines materiell und nicht-emotional orientierten homo oeconomicus ist für die Erklärung von Familienbeziehungen somit nicht zielführend. Auch sind Emotionen keine knappen Güter und so argumentiert eine ökonomistische Perspektive grundsätzlich am Thema vorbei. Allerdings macht Ott (ebd., S. 129) darauf aufmerksam, dass auch emotional orientierte Interaktionen durch familieninterne und -externe Rahmenbedingungen geprägt werden, die sich mit ökonomischen Modellen beschreiben lassen. Insbesondere kann der Vergleich von verschiedenen Rahmenbedingungen und die systematische Aufstellung von empirisch prüfbaren Hypothesen bei der Bestimmung handlungsrelevanter Aspekte und deren Verhältnis zueinander hilfreich sein.

Für die Familiensoziologie findet sich bei (Huinink 2001, S. 152) eine gehaltvolle Ausformulierung von handlungstheoretischen Grundannahmen. Er nimmt an, dass Akteure durch ihre Handlungen versuchen, ihr psychisches und physisches Wohlbefinden zu verbessern. Dieses Ziel möchten sie möglichst effizient und nach ihren subjektiven Massstäben einer bestmöglichen Lebensgestaltung verfolgen. Entscheidungen finden im Kontext einer inneren und äusseren Gelegenheitsstruktur statt. Handlungsopportunitäten und -restriktionen können auf unterschiedlichen Ebenen wirksam werden: Auf der Mikroebene finden sich die einzelnen Akteure mit ihren individuellen ökonomischen, sozialen, psychischen und genetischen Ressourcen. Auf einer höheren Ebene sind soziale Beziehungen zwischen Akteuren angesiedelt, die in einem Kooperations- oder Konkurrenzverhältnis stehen können. Auf der Makroebene können schliesslich kulturelle, soziale, ökonomische, politische und ökologische Rahmenbedingungen relevant werden.

In Familien gibt es unterschiedliche Arten von Beziehungen: Zwischen Partner*innen, zwischen Geschwistern und zwischen Eltern und Kinder. Um die Solidaritätsbeziehungen zwischen Erwachsenen und ihren Eltern zu erklären entwickelte Szydlik (2000, 2021a) das ONFC-Modell (Opportunity, Need, Family und Cultural Context, siehe Abbildung 3.1). Es benennt vier Gruppen von Einflussfaktoren für familiale Solidarität: Opportunitäten und Bedürfnisse auf individueller Akteursebene, sowie Familienstrukturen und kulturelle Kontexte und ordnet diese schematisch an. Das ONFC-Modell wurde in der Erforschung von Generationenbeziehungen breit rezipiert, es bietet eine hilfreiche Ausgangslage für die Erklärung von Intergenerationensolidarität auf der individuellen Ebene, die über den ganzen Lebenslauf relevant bleibt (Höpflinger 2021, S. 34).
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Abbildung 3.1

Modell familialer Generationensolidarität.

(Quelle: Eigene Darstellung nach Szydlik (2000))

Das Modell basiert auf der handlungstheoretischen Annahme, dass individuelle Bedürfnisse solidarisches Handeln auslösen. Opportunitätsstrukturen wiederum strukturieren, ob und wie es zur Bedürfnisbefriedigung kommt. Einerseits kann Solidarität in Familien also durch Bedarfssituationen ausgelöst werden. Dies kann der Fall sein, wenn erwachsene Kinder oder Eltern zu wenig finanzielle Mittel zur Verfügung haben, um ihre Lebenskosten zu decken. Andererseits wird Solidarität durch Opportunitäten erst ermöglicht. Dazu gehört etwa eine finanzielle Situation, die es erlaubt, Geld für Andere auszugeben. Es spielen aber auch zeitliche Opportunitäten eine Rolle, sowie die Frage ob es ausreichenden Kontakt und Nähe zwischen den Generationen gibt (ebd., S. 47).

Solidarität zwischen Erwachsenen und ihren Eltern findet in einem weiteren Kontext statt. Dieser beinhaltet sowohl die Familienkonstellation als auch kulturell-kontextuelle Strukturen. Im Bereich der Familienstrukturen werden weitere Familienmitglieder, die Unterstützung brauchen oder leisten könnten, erwartete und tatsächliche Rollenverteilungen zwischen Generationen und Geschlechtern sowie die Familien- und Sozialisationsgeschichte relevant (Szydlik 2021a, S. 104). Zum Bereich der kulturell-kontextuellen Strukturen gehören gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie wohlfahrtsstaatliche Arrangements, das Wohlstandsniveau der Wohnregion und die Arbeits- und Wohnungsmarktsituation des Wohnorts, die Migrationsgeschichte und gruppenspezifische Normen (Szydlik 2000, S. 50). Warum und wie sich einzelne Einflussfaktoren auf finanzielle Transfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern auswirken, wird in den nächsten beiden Abschnitten erläutert.

Opportunitäten und Bedürfnisse

Zu Opportunitätsstrukturen gehören alle Aspekte, die sich auf die Möglichkeiten der Beteiligten auswirken, Transfers zu leisten. Das sind einerseits konkrete Ressourcen und andererseits Gelegenheitsstrukturen, die soziale Interaktion zwischen Familiengenerationen fördern oder hindern. Bedürfnisse bilden entsprechend die Nachfrageseite nach familialer Solidarität (Szydlik 2021a). Da solidarische Kooperation in der Regel vorteilhaft ist (Lindenberg 1998) kann davon ausgegangen werden, dass Eltern und Kinder sich gegenseitig unterstützen, sobald Bedarf besteht und Möglichkeiten zur finanziellen Unterstützung gegeben sind (Schenk u. a. 2010).

Angehörige höherer sozialer Klassen haben finanzielle Ressourcen und damit mehr Möglichkeiten zur Unterstützung von Verwandten (Szydlik 2021a, S. 100). Entsprechend kommen aktuelle Transfer in höheren Schichten häufiger vor (Huang u. a. 2018). Im Falle von Transfers von Eltern an Kinder lässt sich dies sowohl für kombinierte Schichtindikatoren bestätigen (König 2016) als auch für die einzelne Betrachtung von Bildung (Deindl 2011) und Einkommen (Deindl und Isengard 2011). Wer hingegen einer tiefern soziale Schicht angehört, hat eher Unterstützungsbedarf. Auf Seiten der Eltern ist zudem der Gesundheitszustand ein wichtiger Indikator von Möglichkeiten und Bedürfnissen (Huang u. a. 2018). So zeigen Untersuchungen, dass ein schlechter Gesundheitszustand nicht nur die Möglichkeiten zur Unterstützung der Kinder einschränkt, sondern dazu führen kann, dass Eltern ihrerseits auf Unterstützung angewiesen sind (Schaller und Eck 2019).

Auf Seiten der Kindergeneration ist die Bildung ebenfalls relevant. Einerseits haben junge Erwachsene in der Ausbildungsphase einen höheren Unterstützungsbedarf (Lennartsson 2011). Andererseits haben Kinder mit hoher Ausbildung bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sie kommen somit seltener in finanzielle Notlagen und können ihre Eltern bei Bedarf besser unterstützen. Durch Investitionen in die Ausbildung der Kinder können Eltern deren sozialen Aufstieg ermöglichen bzw. sozialen Abstieg verhindern (Albertini und Radl 2012). Die expansion of the self-These (Nauck und Kohlmann 1999) geht davon aus, dass die starke Identifikation mit den eigenen Kindern dazu führt, dass Eltern den Erfolg der Kinder auch als eigenen Erfolg werten (Huinink 2001, S. 152). Dies dürfte das Interesse der Eltern am sozialen Status der Kinder zusätzlich stärken.

Mit dem Alter ändern sich individuelle Opportunitäten und Bedürfnisse. Darüber hinaus sind verschiedene Unterstützungsnormen altersspezifisch. So nimmt die Unterstützung von Eltern an Kinder mit deren steigendem Alter ab, da eine selbstständige Lebensführung erwartet wird (Hartnett u. a. 2013). Der Unterstützungsbedarf von Eltern kann im höheren Alter zunehmen, während die Möglichkeiten zur selbstständigen Erzielung eines Einkommens nach Erreichen des Rentenalters stark zurückgeht. Da nicht wenige Personen ihren Lebensunterhalt nicht durch erhaltene Rentenzahlungen decken können, stellt das Altern in der Schweiz für bestimmte Personengruppen ein Armutsrisiko dar (Guggisberg und Häni 2014).

Räumliche Nähe oder Distanz ist eine wichtige Voraussetzung bzw. Einschränkung für die konkreten Möglichkeiten, die Familiengenerationen haben, um sich gegenseitig zu unterstützten. Einerseits kann das Teilen von Wohnraum selbst eine Form der Unterstützung sein (Isengard u. a. 2018a). Andererseits zeigen Untersuchungen, dass bei steigender Distanz eher Unterstützung in Form von Geld zwischen den Generationen fliesst, während bei näherer Wohndistanz zeitliche Transfers in Form von praktischer Hilfe relevanter sind (Isengard u. a. 2018b).

Unabhängig von der Wohndistanz können mehr oder weniger Kontakte zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern bestehen. Durch den technologischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte können intensive Beziehungen auch über Ländergrenzen hinweg erhalten werden. König u. a. (2021) zeigen, dass insbesondere Personen aus familienzentrierten Wohlfahrtsstaaten wie den südlichen und osteuropäischen Ländern sowie Personen aus Drittstaaten, die im Gastland eher isoliert leben, regelmässigen Kontakt zu ihren Verwandten im Herkunftsland pflegen. Regelmässiger Kontakt zwischen Generationen bietet wiederum mehr Möglichkeiten, Geschenke zu geben und stärkt das Bewusstsein für allfällige Bedarfssituationen auf beiden Seiten.

Darüber hinaus können Zahlungen und Geschenke auch aus Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit, für emotionale Unterstützung und für das Interesse aneinander gemacht werden (Deindl 2011). Als universales Tauschmittel können Geld und Sachgeschenke auch als Gegenleistung für praktische Hilfe, etwa bei der Kinderbetreuung oder bei Haushaltsangelegenheiten eingesetzt werden (Aaberge und Brandolini 2015; Brandt u. a. 2008; Norton und Van Houtven 2006).

Kontexte

Generationenbeziehungen sind in der Regel in einen Familienkontext eingebettet. Die weiteren Familienbeziehungen beschreiben die Solidargemeinschaft innerhalb derer Transfers stattfinden. Neue Familiengründungen können konkurrierende Solidargemeinschaften darstellen (Noël-Miller 2013). So zeigen bisherige Untersuchungen, dass es nach einer Trennung der Eltern zu einer Fokusverschiebung auf eine neu gegründete Familie kommt, welche sich negativ auf die Transferchancen in der aufgelösten Familie auswirken kann (Clark und Kenney 2010). Ebenfalls relevant ist, ob das zweite Elternteil noch lebt. Der Tod eines Elternteils kann zu einer Verschiebung der Zuständigkeiten führen. Wenn Partner*innen sterben, können Generationenbeziehungen wieder relevanter werden. Kalmijn (2007) zeigt allerdings, dass dies nur für Mütter gilt. Väter haben nach einer Trennung oder einem Todesfall oft weniger Kontakt zu ihren Kindern, da sie häufig von der Beziehungsarbeit der Mütter profitiert haben.

Geschlechterunterschiede gibt es aber auch schon vor Trennungen oder Todesfällen. Frauen übernehmen noch immer den Grossteil der Familienarbeit. Als Mütter leisten sie Erziehungs- und Hausarbeit, als Grossmütter engagieren sie sich in der Enkelbetreuung (Igel 2012), als Töchter leisten sie häufiger Pflegearbeit als dies Söhne tun (Bühler-Niederberger 2020). Daraus ergibt sich nicht nur ein intensiverer Generationenkontakt der weiblichen Familienmitglieder, wie er von der kin-keeper hypothesis postuliert wird (Rossi und Rossi 1990). Die stärkere familiäre Einbindung geht auch mit einer schwächeren Einbindung auf dem Arbeitsmarkt einher. „Start und Stopp“sowie „Start und Wiedereinstieg“in den Arbeitsmarkt sind typisch weibliche Erwerbsmuster, die zu Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt und bei Rentenzahlungen führen (Oris u. a. 2017, S. 74).

In der Kindergeneration können weitere Geschwister um elterliche Zuwendungen konkurrieren. Wenn Eltern all ihre Kinder gleich behandeln wollen, bleibt mit jedem zusätzlichen Kind für jedes einzelne weniger übrig (Emery 2013). Umgekehrt kann der Wunsch nach Gleichbehandlung der Kinder dazu führen, dass Erwachsene mit Geschwistern auch etwas erhalten wenn ihre Geschwister in Bedarfssituationen sind. Wenn die elterlichen Ressourcen ausreichen, können Eltern allen Kindern etwas zukommen lassen und damit Konflikte vermeiden. Zuletzt können Geschwister auch in Konkurrenz zueinander stehen und um die Gunst ihrer Eltern buhlen. So zeigen Gonzalez und Lopes (2020), dass Transfers von Geschwistern an Eltern die eigenen Transferchancen erhöhen. Die Tatsache, dass andere auch helfen könnten, führt in diesem Fall nicht zur Verantwortungsdiffusion, sondern zu einem crowding-in Effekt.

Die Gründung einer eigenen Familie führt zu Veränderungen in der Solidargemeinschaft der Herkunftsfamilie (Bucx u. a. 2012). Zunächst ist festzuhalten, dass sich Partnerschaften direkt auf die finanzielle Situation auswirken. In Partnerschaften kommt es häufig zur Zusammenlegung der materiellen Ressourcen, wodurch Partner*innen die erste Anlaufstelle in finanziellen Bedarfssituationen sind. Damit können Partnerschaften zu einer Stabilisierung der ökonomischen Lage führen; sie gehen aber auch mit einem verringerten Intergenerationenkontakt einher (Fingerman u. a. 2020).

Wer sich um eigene Kinder kümmern muss, hat weniger Ressourcen, die in die Beziehung zu den Eltern fliessen können. So wird die mittlere Generation, die sowohl Erwartungen ihrer alternden Eltern als auch ihrer noch bedürftigen Kindern gerecht werden muss als Sandwich-Generation bezeichnet (Hämäläinen und Tanskanen 2019). Andererseits können eigene Kinder den Kontakt zu den eigenen Eltern stärken, da sich die Grosseltern für den Nachwuchs interessieren und die Verbindung stärken wollen. Die mittlere Generation, die eine gatekeeper-Funktion innehat, wird mit Zuwendungen bedacht, um sich den Zugang zu den Enkelkindern zu sichern (Igel und Szydlik 2011; Robertsons 1975). Allerdings können Enkelkinder auch eine direkte Konkurrenz um die elterlichen Zuwendungen darstellen (Szydlik 2016).

Erst in den letzten Jahren wurde die Rolle von Migrationserfahrungen für den Ressourcenaustausch zwischen Generationen verstärkt erforscht (Bordone und de Valk 2016). Dabei nehmen transnationale Rücküberweisungen bzw. Remissen an Verwandte bereits seit einiger Zeit enorm an Bedeutung zu (Ratha u. a. 2016). Dies gilt in besonderem Ausmass auch für die Schweiz als Einwanderungsland mit hohem Anteil an Personen mit Migrationserfahrung. Wer in der ersten Generation migriert und transnationale Generationenbeziehungen pflegt, macht andere Erfahrungen als Personen, deren Eltern eingewandert sind (Baykara-Krumme und Fokkema 2019). Während bei ersteren Rücküberweisungen an Eltern oft ein Hauptziel der Migration sind (Mahmud 2020), dürften letztere stärker von Unterstützung ihrer migrierten Eltern profitieren, die durch die eigene Migration in die Zukunft ihrer Kinder investieren wollen (Albertini u. a. 2019).

Zuletzt weist die international vergleichende Generationenforschung auf die Bedeutung von gesellschaftlichen Strukturen auf Normvorstellungen und Erwartungshaltungen hin. Grosszügigere wohlfahrtsstaatliche Leistungen können zum bereits erwähnten crowding-in Effekt führen: Wer durch den Wohlfahrtsstaat unterstützt wird, hat selbst mehr zu geben (Mudrazija 2016). Andererseits ist Solidarität zwischen Familiengenerationen in Gesellschaften mit weniger staatlichen Leistungen selbstverständlicher (Hank 2015). Zuletzt wird in Gesellschaften, in denen ein sogenanntes Interdependenzmodell vorherrscht, von erwachsenen Kindern erwartet, dass sie ihre Eltern im Alter unterstützen (Bühler-Niederberger 2020).

3.3 Solidarität im Kontext

In diesem Kapitel wurde solidarisches Handeln aus einer soziologischen Perspektive beleuchtet. Was genau unterscheidet solidarisches Handeln von anderen Handlungsformen? In welchen Situationen unterstützen sich Menschen? Welche Motivationen können dahinter stehen? Wie ist das Solidaritätsverhältnis zwischen Generationen in der Schweiz ausgestaltet? Auf Grundlage dieser Ausführungen wurde in einem zweiten Teil das ONFC-Modell zur Erklärung aktueller finanzieller Transfers zwischen Familiengenerationen vorgestellt.

Die gegenseitige Unterstützung zur Erreichung gemeinsamer Ziele innerhalb der Solidargemeinschaft Familie ist eine weit verbreitete Lebensform, trotzdem bleibt sie erklärungsbedürftig (Strohmeier u. a. 2001, S. 12). Unter solidarischem Handeln wird ein Transfer zugunsten Anderer verstanden, der nicht unter der Annahme einer unmittelbaren Gegenleistung erfolgt. In kritischen Transfersituationen werden Solidarnormen aktiviert, da keine eigennützigen Anreize zum Transfer bestehen.

In Bereitstellungssituationen bedeutet solidarisches Handeln die Beteiligung an der Bereitstellung eines Kollektivgutes, von dem auch ohne eigener Beitrag profitiert werden könnte. Im Familienkontext können die biologische und soziale Reproduktion, die Sozialisation und das Erreichen eines hohen Status der Familienmitglieder als kollektive Güter betrachtet werden. In Verteilungssituationen handelt solidarisch, wer sich für eine gerechte Verteilung von Kosten und Nutzen einsetzt, die innerhalb der Solidargemeinschaft entstehen, auch wenn dies zum eigenen Nachteil ist. In diesen Bereich fallen direkte und indirekte Reziprozitätsnormen: Eltern sollen ihre Kinder unterstützen, weil auch sie selbst von ihren Eltern unterstützt wurden und Kinder sollen ihren Eltern im Alter helfen, weil sie in jüngeren Jahren von diesen unterstützt wurden. Altruistische Transfermotive und Transfers aus Verpflichtung kommen in Unterstützungssituationen zum Zug, in welchen Transferempfänger*innen zur Bewältigung einer Situation auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Zuletzt sind für die Aufrechterhaltung der Solidargemeinschaft regelmässige kleinere Transfers von Vorteil. Durch sie wird die Loyalität und das Vertrauen der Mitglieder einer Solidargemeinschaft gestärkt. Dazu gehören kleinere Zuwendungen und Geschenke, die aus Zuneigung oder der Freude am Geben gemacht werden.

Solidargemeinschaften erzeugen ein solidarisches „wir“, indem sie sich von „anderen“abgrenzen. Wer nicht zu einer Solidargemeinschaft gehört, kann ihr gegenüber keine Solidaransprüche geltend machen. Darüber hinaus können Solidargemeinschaften in Konkurrenz um das Engagement ihrer Mitglieder stehen. In welchem Umfang solidarische Transfers geleistet bzw. erwartet werden, kann sich an der individuellen Ressourcenausstattung, am Gleichheitsprinzip oder am individuellen Nutzen orientieren, den eine Person aus der Umsetzung des kollektiven Ziels zieht. Starke Solidargemeinschaften wie Familien basieren auf persönlichen Kontakten, sie leisten Unterstützung in vielfältigen Bereichen und sind exklusiver; schwache Solidargemeinschaften wie etwa sozialstaatliche Versicherungen unterstützen nur in Bezug auf vorab definierte Bedarfsfälle, sind aber inklusiver was den Zugang betrifft. Je inklusiver eine Solidargemeinschaft in Bezug auf die Mitgliedschaft und die geleistete Unterstützungen ist, desto eher kann sie zum Abbau von Ungleichheiten beitragen. Starke Solidargemeinschaften, deren Grenzen zwischen besser- und schlechtergestellten Personengruppen verlaufen, führen hingegen eher zu einer Reproduktion oder gar zur Verstärkung sozialer Ungleichheiten.

Die theoretischen Ausführungen weisen darauf hin, dass zur Erklärung finanzieller Transfers zwischen Generationen eine ganze Reihe von Einflussfaktoren relevant werden können. Das ONFC-Modell bietet eine hilfreiche Möglichkeit, die relevanten Faktoren zu strukturieren. Es begreift finanzielle Transfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern als Ergebnis rationaler Entscheidungen von individuellen Akteuren. Während Bedürfnisse Solidaritätsnormen aktivieren und dadurch Transfers evozieren, ermöglichen oder verhindern Opportunitätsstrukturen einen finanziellen Transfer zugunsten der anderen Generation. Im Sinne eines weiten Rationalitätsverständnisses sind für diese Entscheidungen aber nicht nur die Opportunitäten und Bedürfnisse von Eltern und Kindern ausschlaggebend, sondern auch die Einbettung der Handlung in einen Beziehungs- und Familienkontext sowie in gesellschaftliche Strukturen. Beziehungsstrukturen geben Auskunft über die Stärke und Salienz der Solidargemeinschaft zwischen Erwachsenen und ihren Eltern. Weitere Familienmitglieder können Konkurrenz oder alternative Adressat*innen der Solidaritätserwartungen sein. Zuletzt ist der Einbezug gesellschaftlicher Kontexte relevant, da er sich sowohl auf gesellschaftliche Unterstützungsnormen auswirkt, wie auch durch regionale Wohlstandsunterschiede wirksam wird.

Die theoretischen Überlegungen sollen in einem nächsten Schritt einer empirischen Prüfung unterzogen werden. Das folgende Kapitel stellt die dazu verwendete Datengrundlage, die SwissGen Befragung, vor. Danach werden die analytischen Implikationen der Datengrundlage und der theoretischen Perspektive diskutiert und die Operationalisierungen vorgestellt.

Metadaten
Titel
Erklärung(en) finanzieller Transfers
verfasst von
Tamara Bosshardt
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43924-8_3

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