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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

2. Ungleichheiten und Familiengenerationen

verfasst von : Tamara Bosshardt

Erschienen in: Geld, Generation und Ungleichheit

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Gemeinsamkeiten stellen ein Gefühl der Verbundenheit zwischen Menschen her, während die eigene Individualität meist erst durch Unterschiede zu Anderen erfahren wird. Einige Unterschiede bleiben gesellschaftlich weitgehend folgenlos. Andere Unterschiede werden hingegen genutzt, um Menschen in Gruppen einzuteilen, welchen Möglichkeiten eröffnet oder verwehrt werden. Welche Unterschiede und Gruppenzugehörigkeiten gesellschaftlich relevant werden, ist dabei nicht naturgegeben, sondern eine Folge von historisch gewachsenen sozialen Machtverhältnissen.
Gemeinsamkeiten stellen ein Gefühl der Verbundenheit zwischen Menschen her, während die eigene Individualität meist erst durch Unterschiede zu Anderen erfahren wird. Einige Unterschiede bleiben gesellschaftlich weitgehend folgenlos. Andere Unterschiede werden hingegen genutzt, um Menschen in Gruppen einzuteilen, welchen Möglichkeiten eröffnet oder verwehrt werden. Welche Unterschiede und Gruppenzugehörigkeiten gesellschaftlich relevant werden, ist dabei nicht naturgegeben, sondern eine Folge von historisch gewachsenen sozialen Machtverhältnissen (Burzan 2010, S. 525).
Wenn Unterschiede zwischen Menschen systematisch mit Vor- und Nachteilen verknüpft sind, diese Unterscheidungen aber nicht notwendigerweise gemacht werden müssten, ist von sozialer Ungleichheit die Rede. Soziale Ungleichheiten können auf mehreren Ebenen und in Bezug auf unterschiedliche Dimensionen beobachtet werden. Ökonomische Ungleichheiten sind zwar nur eine Form unter anderen sozialen Ungleichheiten. Sie spielen in kapitalistischen Gesellschaften aber eine besonders wichtige Rolle. Denn durch den universalen Tauschwert von Geld wird die eigene ökonomische Ausstattung auch in vielen anderen Lebensbereichen relevant und prägt somit individuelle Lebenschancen (Schimank 2009).
Auch die Familie hat einen prägenden Einfluss auf die späteren Lebenschancen. Sie ist der Ort an dem nicht nur Werte und Normen, sondern auch materielle Güter von einer Generation an die nächste weiter gegeben wird. Damit spielen Generationenbeziehungen eine wichtige Rolle bei der Reproduktion sozialer Ungleichheiten. Dieses Kapitel befasst sich zunächst mit den Fragen, was soziale Ungleichheiten sind und welche Ungleichheitsdimensionen in der Schweiz relevant sind. In einem zweiten Teil steht die Familie als Funktionssystem in der modernen Gesellschaft im Vordergrund. Damit werden die Akteure intergenerationaler Beziehungen, ihr Verhältnis zueinander und ihre Einbettung in grössere gesellschaftliche Strukturen in den Blick genommen. Die Ausführungen bilden den ersten Teil der Makro-Mikro-Makro Erklärung: der Logik der Situation (siehe Abbildung 1.​1).

2.1 Soziale Ungleichheit

Menschen machen unterschiedliche Bildungsabschlüsse, erzielen unterschiedliche Einkommen und verfügen über unterschiedliche Vermögenswerte. Mit diesen Unterschieden gehen auch unterschiedliche Chancen auf ein gutes Leben einher. Die Verteilung von relevanten Gütern wie Einkommen und Vermögen ergibt sich meist nicht zufällig, sondern sie werden durch soziale Prozesse hervorgebracht. Damit gehören soziale Ungleichheiten zu den Kernthemen der Soziologie. Die Beschreibung von sozialen Ungleichheiten erfolgt meist durch die Benennung von Ungleichheitsdimensionen, wie etwa Einkommen oder Vermögen, sowie deren ungleicher Verteilung zu einer gegebenen Zeit in einem gegebenen Raum. Diese Analyse der Sozialstruktur einer Gesellschaft hat in der soziologischen Forschung eine lange Tradition. Ausgehend von dualen Klassen (Marx und Engels 1848), über mehrdimensionale Klasseneinteilungen (z. B. Erikson und Goldthorpe 1992; Weber 2009; Wright 1997) und die Beschreibung von Schichten anhand von Prestigeskalen (Duncan 1961; Ganzeboom u. a. 1992), führte die Sozialstrukturanalyse zur detaillierten Herausarbeitung sozialer Millieus und damit verbundener Lebensstile (Hradil 2018; Lüdtke 1989).
Die Beschäftigung der Soziologie mit sozialen Ungleichheiten hat bislang nicht zu einer einheitlichen Theorie und der Ausbildung von allgemeinen Hypothesen geführt. Entsprechend kritisiert Barlösius (2004, S. 112), dass die Lebensstil- und Milieuforschung im Bereich der Beschreibung der Sozialstruktur stecken bleibt und sich kaum mit grösseren Zusammenhängen zwischen sozialer Ungleichheit und politischen und ökonomischen Institutionen, die diese Ungleichheiten hervorbringen, befasst. Nichtsdestotrotz ermöglicht der Fokus auf soziale Ungleichheiten einen spezifischen Blickwinkel, aus welchem vielfältige Themenbereiche beschrieben und analysiert werden können (Burzan 2010, S. 525).
Einige Versuche, systematisch über soziale Ungleichheiten nachzudenken, gibt es aber selbstverständlich. Gegenstand dieses Kapitels ist es, darzustellen, wie die Verteilung erstrebenswerter Güter, gesellschaftliche Machtverhältnisse und individuelle Lebenschancen zusammenhängen. Im Folgenden wird dazu der Prozess der Erzeugung sozialer Ungleichheiten anhand von verschiedenen Strukturebenen genauer erläutert. Sie erleichtern das Verständnis der sozialen Prozesse, durch welche Ungleichartigkeiten zu sozialen Ungleichheiten werden. Der daran anschliessende Abschnitt beschreibt die vier Ungleichheitsdimensionen Nation, Schicht, Geschlecht und Alter die zwischen und innerhalb von Familien relevant werden. Zuletzt wird der Frage nachgegangen, welche Relevanz diese vier Dimensionen in der Schweiz haben.

Strukturebenen sozialer Ungleichheit

Als relevante Perspektive wird soziale Ungleichheit in viele, thematisch engere Theoriestränge, wie etwa die Bildungssoziologie oder die feministische Theorie eingebunden und entwickelt sich damit parallel zur allgemeineren Theoriebildung. So gibt es kaum Autor*innen, die sich um ihrer selbst willen mit sozialen Ungleichheiten befassen. Im deutschsprachigen Raum verweist Schwinn (2020, S. 385) lediglich auf die Arbeiten von Reinhard Kreckel, der sich eingehend mit sozialen Ungleichheiten auseinandergesetzt hat und damit einem eigentlichen Theoretiker sozialer Ungleichheit am nächsten kommen. Kreckel (2004, S. 17) versteht soziale Ungleichheiten wie folgt:
„Soziale Ungleichheit im weiteren Sinne liegt überall dort vor, wo die Möglichkeiten des Zuganges zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden.“
Kreckel (ebd., S. 15–18) verdeutlicht sein Verständnis sozialer Ungleichheiten mit vier verschiedenen Abgrenzungen. Erstens sind soziale Ungleichheiten nicht mit biologischen Unterschieden gleichzusetzen. Biologische Unterschiede – etwa zwischen den Geschlechtern – werden zwar für die Legitimierung für sozialer Ungleichheiten herangezogen, die Verknüpfung von biologischen Merkmalen und systematischer Benachteiligung oder Bevorzugung beruht aber auf sozialem Handeln und nicht auf biologischer Notwendigkeit. Zweitens grenzt Kreckel soziale Ungleichheiten von gleichwertiger Andersartigkeit ab. So können arbeitsteilige Gesellschaften ihre Produktivität durch eine Spezialisierung der Berufe steigern. Die Entwicklung verschiedener Berufe bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass unterschiedliche Berufe und Berufspositionen systematisch mit Vor- oder Nachteilen verknüpft sein müssen. Drittens können Ungleichheiten auf verschiedenen Ebenen z. B. zwischen Individuen, Haushalten, Gruppen oder Regionen beobachtet werden. Zuletzt ist soziale Ungleichheit nicht gleichbedeutend mit Ungleichheiten zwischen hierarchisch geordneten Einheiten wie gesellschaftlichen Klassen oder Schichten. Neben dieser vertikalen Dimension können soziale Ungleichheiten auch Benachteiligungen sein, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Minderheit, etwa aufgrund des Geschlechts oder einer Einwanderungsgeschichte, erfahren werden.
Die prozedurale Verknüpfung der verschiedenen Strukturebenen sozialer Ungleichheit ist in Abbildung 2.1 dargestellt. Zu Beginn stehen Determinanten, d. h. bestimmende Faktoren sozialer Ungleichheit, die durch soziale Prozesse bzw. soziale Mechanismen mit ungleichen Verteilungsergebnissen in verschiedenen Ungleichheitsdimensionen verknüpft sind. Soziale Ungleichheiten zeigen sich nicht nur im Einkommen, sondern in sehr vielfältigen Bereichen wie der Bildung, der Gesundheit, der Wohnsituation oder in sozialen Interaktionsmöglichkeiten (ebd., S. 20). Problematisiert wird also nicht die Vielfältigkeit von sozialen Gütern oder Positionen und davon abgeleitete Unterschiede. Im Zentrum stehen die Einschränkungen, die dazu führen, dass nicht jede*r die Möglichkeit hat, soziale Güter oder Positionen zu erlangen, welche mit besseren Lebenschancen in Verbindung stehen.
Dahrendorf (1992, S. 39–41) siedelt Lebenchancen zwischen Handlungsvoraussetzungen und vollzogenen Handlungen an. Genauer beschreibt er Lebenschancen aus einem Zusammenspiel von vorhandenen Optionen und Orientierungshilfen. Optionen ergeben sich aber nicht nur aus einem möglichst grossen Angebot an Waren, Lebensentwürfen oder politischen Einstellungen. Erst die Anrechte auf ein spezifisches Angebot gehen mit echten Wahlmöglichkeiten einher. Je nach gesellschaftlichem Bereich sind Anrechte etwa durch eine zu geringe Kaufkraft, fehlende politische Mitbestimmungsrechte oder Einschränkungen der Meinungs- und Gewissensfreiheit begrenzt. Gesellschaftlicher Wohlstand wird für Dahrendorf durch ein vielfältiges Angebot erreicht, welches breiten Bevölkerungsschichten zur Verfügung steht.
Kreckel (2004, S. 13–14) betont die Kontingenz von Ungleichheitsstrukturen. Historische Prozesse bilden bewusst oder als unbeabsichtigte Folge Machtverhältnisse heraus, die von folgenden Generationen oft als natürliche Gegebenheiten wahrgenommen werden. Aus diesen Machtverhältnissen leiten sich nun strukturierte Formen sozialer Ungleichheit ab. Allerdings beschreibt Kreckel historisch gewachsene Machtverhältnisse als soziale Tatsachen, die durch soziales Handeln reproduziert werden und damit prinzipiell auch veränderbar sind.
Personen kollaborieren vorzugsweise mit Menschen, die ihnen ähnlich sind oder besonders nahe stehen. So werden in der Regel Familienangehörige, langjährigen Bekannte oder politisch Gleichgesinnte eher begünstigt als nicht Verwandte, Fremde oder politische Gegner*innen. Diese Vorliebe für ähnliche Kooperationspartner*innen nennt Kreckel (ebd., S. 83 f.) selektive Assoziation. Wer Teil einer einflussreichen Familie oder eines gut vernetzten Bekanntenkreises ist, kann dieses soziale Kapital in andere Vorteile umwandeln (vgl. Bourdieu 1983). Im Umkehrschluss führt selektive Assoziation zum systematischen Ausschluss Andersartiger aus Kooperations- und Solidaritätsnetzwerken. Geschieht dies in Bereichen, für welche die Gruppenzugehörigkeit inhaltlich nicht relevant wäre, liegt Diskriminierung vor. Nachteilig wirkt sich insbesondere die Zugehörigkeit zu Gruppen aus, welche aufgrund von aktueller oder historischer Diskriminierung in Machtpositionen untervertreten sind. Vorteilhaft wirkt sich hingegen die Zugehörigkeit zu privilegierten Gruppen aus, welche in Machtpositionen übervertreten sind. Bei leicht erkennbarer Gruppenzugehörigkeit kommt es auch zwischen einander fremden Personen häufig zu selektiver Assoziation bzw. Diskriminierung. Durch die rasche Einordnung, wer zu meiner Gruppe gehört und wer nicht, kann selektive Assoziation so auch über den Bekanntenkreis hinaus gesellschaftlich relevant werden. Die Migrationsgeschichte und das Geschlecht sind Merkmale, die in der Regel von Aussenstehenden durch die körperliche Erscheinung, die Sprache oder den Namen klar erkennbar sind.

Determinanten und Dimensionen

Hradil und Schiener (2001, S. 34) beschreiben Determinanten sozialer Ungleichheit als „soziale Positionen von Menschen in Beziehungsgeflechten, wie etwa das Geschlecht, das Alter, den Beruf, die Wohnregion, die ethnische Zugehörigkeit, die Kohortenzugehörigkeit (Geburtsjahrgang), die an sich keine Besser- oder Schlechterstellung darstellen, aber diese mit hoher Wahrscheinlichkeit nach sich ziehen“. Dagegen zählen für Solga u. a. (2009, S. 16–19) auch Merkmale wie das Bildungsniveau zu Ungleichheitsdeterminanten, bei denen eine Besser- und Schlechterstellung möglich ist. Darüber hinaus machen die Autor*innen darauf aufmerksam, dass erworbene Merkmale sowohl Determinanten wie auch Dimensionen von Ungleichheit sein können. So kann ein hohes Einkommen einen höheren Bildungsabschluss erleichtern und dieser wiederum kann zu einem höheren Einkommen führen.
Die Verknüpfung von Determinanten und Dimensionen erfolgt über die Beschreibung von sozialen Mechanismen und Prozessen. Hier setzen sozialwissenschaftliche Theorien an, die erklären wollen, wie und warum bestimmte Determinanten systematisch mit Ungleichheitsdimensionen zusammenhängen. Dazu gehört die Frage, warum soziale Ungleichheiten entstanden sind, welche Funktionen sie erfüllen und warum sie immer noch bestehen. Weiter muss geklärt werden, warum gewisse Personengruppen in Bezug auf ein Merkmal besser gestellt sind als andere und nicht umgekehrt. Warum es in allen Gesellschaften Ungleichheiten gibt und warum sie in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich gross ist, ist ebenfalls erklärungsbedürftig. Zuletzt stellt sich die Frage, ob soziale Ungleichheiten unvermeidlich sind und ob oder wie viel soziale Ungleichheit legitim ist (Hradil und Schiener 2001, S. 36).
Im einfachsten Fall hinge jeweils eine Determinante, etwa das Bildungsniveau, über einen einfachen sozialen Prozess, zum Beispiel die Abfrage der Bildungsjahre, mit einer einzigen Dimension wie dem Einkommen zusammen. In der Realität wird das Einkommen aber von mehr als einer Determinante beeinflusst. So zeigen Studien, dass neben dem Bildungsniveau auch das Alter, die ethnische Zugehörigkeit, das Geschlecht, die körperliche Attraktivität oder die sozialen Kontakte für die Höhe des erzielten Einkommens relevant sein können. Welche dieser Zusammenhänge wahrgenommen und welche davon als gerecht und/oder sinnvoll empfunden werden ist Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungen und historischer Prozesse.
Es ist aber nicht nur so, dass verschiedene Determinanten in sozialen Prozessen additiv zusammenwirken. Wenn das der Fall wäre könnten alle Determinanten direkt miteinander verglichen und in Bezug auf die damit einhergehenden Vor- und Nachteile verrechnet werden. Im Gegensatz dazu hat die feministische Forschung darauf hingewiesen, dass sich Benachteiligungen oftmals nicht nur addieren, sondern auf komplexere Weise miteinander interagieren. Der Begriff Intersektionalität (Crenshaw 1989) bezeichnet die Tatsache, dass die Kombination von Gruppenzugehörigkeiten oft mit anderen Lebenschancen einhergeht als dies für Angehörige der einen und anderen Kategorie der Fall ist. Die Vor- und Nachteile von Determinanten sozialer Ungleichheit wie Geschlecht, Alter, Migrationserfahrungen und Klassenzugehörigkeit können sich je nach Kontext und Merkmalskombination verstärken oder abschwächen (Winker und Degele 2020, S. 189). So erleben Schwarze Frauen eine andere Lebensrealität als Schwarze Männer oder weisse Frauen. Die unterschiedlichen Erfahrungen können auch nicht in einer Addition dieser Erlebnisse abgebildet werden.
Diese Erkenntnisse führten in der amerikanischen Forschung ab den 1970er Jahren zu einem verstärkten Interesse an der gemeinsamen Analyse von Rassen-, Klassen- und Geschlechtsunterschieden und dem Zusammenspiel dieser Dimensionen. Dabei stellt sich erstens die Frage, ob neben Klasse, Rasse und Geschlecht auch andere Kategorien relevant sind. Zweitens bleibt zu klären, wie viele Kategorien eine Analyse berücksichtigen kann und soll. Das Bewusstsein der historischen Kontingenz von sozialen Prozessen der Ungleichheitsproduktion und -reproduktion geht jedoch mit der Notwendigkeit einher, die Kategorien der Analyse je nach Untersuchungsgegenstand und -ebene zu hinterfragen, die Auswahl theoretisch zu fundieren und gegebenenfalls anzupassen (ebd., S. 190–192).
Der historischen Kontingenz von ungleichheitsrelevanten Strukturprinzipien ist sich auch Kreckel (2004, S. 375) bewusst, wenn er davon spricht, dass jede Gesellschaftstheorie eine historisch und geografisch begrenzte Reichweite habe. Für die europäischen Gesellschaften gegen Ende des 20. Jahrhunderts macht er vier zentrale Organisationsprinzipien aus: Nation, Klasse, Geschlecht und Alter(Kreckel 1991, 1998). Diese vier Organisationsprinzipien sind besonders wirkmächtig, weil sie einerseits ubiquitär sind, d.h. weil alle Personen im Hinblick auf Nation, Klasse, Geschlecht und Alter eingeordnet werden können. Andererseits sind mit ihnen zugeschriebene Eigenschaften, aber auch spezifische Interessenlagen und sozialstaatliche Anrechte verknüpft (Barlösius 2004, S. 90–91).

Soziale Ungleichheit in der Schweiz

Die Schweiz ist ein wohlhabendes Land. Die Vermögen und Einkommen sind jedoch ungleich verteilt und die Einkommensungleichheit nimmt seit den 1950er Jahren stetig zu. Im Jahr 2004 verdienten die einkommensschwächsten 40 % der Bevölkerung lediglich 20 % der gesamten Einkommenssumme, während die 20 % mit den höchsten Löhnen über 45 % der gesamten Lohnsumme erhielten (Levy 2009, S. 50 f.). Im Jahr 2010 erhielten die einkommensstärksten 10 % knapp 30 % der gesamten Lohnsumme, die einkommensschwächsten 10 % teilten sich dagegen 3,3 % der Lohnsumme auf (Fluder u. a. 2015). Während die Schweizerische Einkommensungleichheit im Vergleich mit anderen OECD Staaten einen mittleren Rang einnimmt, gehört die Schweiz bei der Vermögensungleichheit zu den Spitzenreitern. So verfügte das wohlhabendste Prozent der Schweizer*innen im Jahr 2013 über 41.4 % des gesamten Vermögens (Fluder u. a. 2017). Da sehr geringe, nicht steuerpflichtige Einkommen und Vermögen sowie Gelder, die aufgrund von Steuerhinterziehung nicht korrekt deklariert werden, in der Statistik fehlen, ist davon auszugehen, dass das Ausmass der Ungleichheit tendenziell unterschätzt wird. Auch in der Schweiz sind soziale und ökonomische Ungleichheiten anhand der oben genannten vier Kategorien Nation, Klasse, Geschlecht und Alter strukturiert. Die Sichtbarkeit sozialer Unterschiede tritt jedoch aufgrund des vergleichsweise hohen Niveaus an materiellem Wohlstand nicht so stark zutage wie in anderen Ländern (Levy 2009, S. 12). Im folgenden wird auf die sozialen Unterschiede nach Nation, Klasse, Geschlecht und Alter in der Schweiz eingegangen.
Benachteiligungen in der Dimension Nation zeigen sich beispielsweise anhand der politischen Mitbestimmungsrechte. Wer zwar in der Schweiz lebt, den schweizerischen Pass aber nicht besitzt, wird vom politischen Stimm- und Wahlrecht auf nationaler Ebene bis heute ausgeschlossen. Lediglich auf kantonaler und kommunaler Ebene finden sich vereinzelt Ausnahmen. Damit haben über 20 % der in der Schweiz wohnhaften Personen keine politischen Rechte (ebd., 56 f.). Eine Einbürgerung berechtigt zwar zur Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen. Allerdings werden Personen mit Namen, die eine Migrationsgeschichte vermuten lassen, signifikant häufiger von Wahllisten gestrichen (Portmann und Stojanović 2019). Hier zeigt sich, dass auch die rechtliche Gleichstellung nicht vor Diskriminierung aufgrund von zugeschriebener Andersartigkeit schützt. Unterschiede nach Nationalität und Migrationsgeschichte dürften für die Ungleichheitsstrukturen in der Schweiz folglich relevant sein. So stellen auch Oris u. a. (2017, S. 78) fest, dass Personen die im Ausland geboren wurden, im Alter ein erhöhtes Armutsrisiko haben.
Die grösste Relevanz für das Risiko der Altersarmut zeigte in der Untersuchung von Oris u. a. (ebd.) aber der erreichte Bildungsabschluss. Er kann als Indikator für die Klassenzugehörigkeit betrachtet werden. Auch in der Schweiz ist die Relevanz von offiziellen Bildungsabschlüssen und das durchschnittliche Bildungsniveau in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Während in den 1950er Jahren knapp ein Drittel nach der obligatorischen Schulzeit keine weitere Ausbildung absolviert hat, verbleiben im Jahr 2007 9 von 10 Personen im Bildungssystem. In derselben Zeit hat sich der Anteil der Personen mit tertiärem Bildungsabschluss mehr als verdoppelt (Levy 2009, S. 41 f.). Der Kampf um begehrte Positionen dürfte sich mit der allgemeinen Erhöhung des Bildungsniveaus wohl noch verstärkt haben.
Gerade in der Schweiz ist die Geschlechterungleichheit ein relevantes Thema. Erst 1971 wurde in der Schweiz das Stimm- und Wahlrecht für Frauen eingeführt. Einzelne Kantone verweigerten sich der Einführung gar bis 1990. Über die letzten Jahrzehnte steigerte sich der Frauenanteil in politischen Gremien. Doch auch nach der „Frauenwahl“ im Jahr 2019 sind Frauen mit einem Anteil von 42 % im Nationalrat und weniger als 30 % im Ständerat und den kantonalen Regierungen und Parlamenten deutlich untervertreten (Seitz 2020). In Bezug auf ökonomische Ungleichheiten stellen Oris u. a. (2017, S. 78) ein höheres Armutsrisiko für Frauen fest. Dies führen sie auf die tieferen Bildungabschlüsse von Frauen in höherem Alter zurück. Da sich die Bildungschancen von Frauen und Männern während der letzten Jahre jedoch angeglichen haben, bleibt offen, welche Rolle das Geschlecht für ökonomische Ungleichheiten noch spielt.
Zuletzt wird mit dem Alter eine Dimension angesprochen, die eine Besonderheit aufweist. Im Gegensatz zu den anderen Dimensionen verändert sich die Zugehörigkeit zu Altersgruppen für alle Personen ständig. Es zeigen sich zwar grosse Verteilungsunterschiede nach Alter (Fluder u. a. 2017). Da jedoch alle Menschen vom Alterungsprozess betroffen sind, kommen sie durch ihre wechselnde Gruppenzugehörigkeit mal in eine bevorteilte, mal in eine benachteilige Lage. Dadurch werden soziale Ungleichheiten nach Alter bereitwilliger akzeptiert. Insofern erstaunt es nicht, dass das Alter als Strukturprinzip bislang weniger Beachtung gefunden hat (Barlösius 2004, S. 93). In der vorliegenden Arbeit wird es jedoch durch den Fokus auf Generationenbeziehungen und deren Veränderungen über die Altersspanne als zentrale Analysekategorie betrachtet, die im Bereich der Familienbeziehungen insbesondere im intersektionalen Zusammenspiel mit anderen Dimensionen relevant wird (vgl. Abschnitt 4.​2).

2.2 Die Familie als soziales System

Was ist Familie? Oder genauer: Was bleibt von „der Familie“ nachdem sich die Soziologie ausführlich mit Fragen nach ihrer Deinstitutionalisierung, Destandardisierung und ihrem Zerfall befasst hat (vgl. Konietzka u. a. 2021; Richter 2000)? Mit der Individualisierungsthese wurde zurecht darauf hingewiesen, dass die oftmals zitierte idealtypische bürgerliche Kleinfamilie bestehend aus Mutter, Vater und Kindern eigentlich immer nur ein Idealtypus war. In dessen Schatten haben sich die Formen des familialen Zusammenlebens im Laufe der letzten Jahrzehnte pluralisiert (Burkart 2006). Aktuelle Familienforschung zeigt, dass die steigenden Scheidungs- und sinkenden Fertilitätsraten der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts aber keine Einbahnstrasse sind (Esping-Andersen 2016). Familienbeziehungen sind nach wie vor hoch relevant, Generationenbeziehungen gelten aufgrund der höheren Lebenserwartung der Eltern gar als bedeutsamer als jemals zuvor (Fingerman u. a. 2020).
Doch nicht nur die gelebten familialen Realitäten sind plural, auch das soziologische Interesse an Familien hat unterschiedliche Schwerpunkte. Die Familie wird sowohl als gesellschaftliche Institution, als auch als soziale Gruppe und damit als Handlungs- und Lebenskontext thematisiert. Eine anschlussfähige soziologische Definition muss daher beiden Ebenen gerecht werden und möglichst unabhängig von historischem und kulturellem Kontext sinnvoll verwendet werden können. Nave-Herz (2018, S. 124) nennt drei Kriterien, die Familien unter anderen sozialen Gruppen auszeichnen: Erstens übernehmen Familien sowohl Reproduktions- wie auch Sozialisationsfunktionen. Zweitens umfassen Familien Mitglieder, die mindestens zwei Generationen angehören. Drittens zeichnen sich Familien durch Solidaritäts- und Kooperationsbeziehungen aus. Doch längst nicht alle Familien erfüllen die Sozialisationsfunktion hinreichend oder gehen kooperativ und solidarisch miteinander um. Die vorgeschlagenen Kriterien sind insofern ebenfalls als Normvorstellungen zu verstehen. Sie beziehen sich aber stärker auf die Handlungsebene – auf das doing family (vgl. Schier und Jurczyk 2008) – und stehen damit einer konstruktivistischen Position näher.
In den folgenden Abschnitten wird zunächst dargestellt, welche Aufgaben der Familie in modernen Gesellschaften zugeschrieben werden und welche systemspezifischen Funktionen sie leistet. Anschliessend werden verschiedene Ebenen des familialen Zusammenhalts vorgestellt. Zuletzt wird diskutiert, inwiefern die Aufgaben und Leistungen der Familie in verschiedenen Phasen des Lebenslaufs verortet werden können und wie sich dies auf unterschiedlichen Ebenen des familären Zusammenhalts auswirkt.

Aufgaben und Leistungen der Familie

Bereits Durkheim (2004) beschrieb den gesellschaftlichen Wandel als eine Bewegung weg von einer mechanischen Solidarität gleichartiger Teile hin zu einer organischen Solidarität zwischen spezialisierten Funktionen. Daran schliesst die systemtheoretische Perspektive an, welche die gegenwärtige Gesellschaft als funktional differenziert betrachtet (Baraldi u. a. 1997, S. 65 ff.). In der vormodernen, segmentär differenzierten Gesellschaft erbringt jedes einzelne Teilsystem alle notwendigen Funktionen selbst. Auf unterster Ebene sind hier Familien bzw. Haushalte als gesellschaftliche Segmente angesiedelt. Die einzelnen Haushalte fungieren relativ autonom als ökonomische Produktions- und Konsumeinheiten. In ihnen wird Arbeit und Besitz organisiert. Darüber hinaus erfüllt die Hausgemeinschaft auch soziale Funktionen, zieht Kinder gross, lebt Religiosität und spricht Recht (Meyer 1992, S. 32).
Um die Komplexitätsverarbeitungskapazität einzelner Systeme zu steigern, wurden immer mehr der ehemals familialen Funktionen in andere Systeme ausgelagert (Mayntz 1988). Gearbeitet wird häufiger auch ausser Haus, das Bildungssystem übernimmt einen grossen Teil der Sozialisationsleistung und das staatliche Rechtssystem übt das Gewaltmonopol aus. Diese Auslagerung wird wahlweise als „Funktionsverlust“ (Ogburn 1969) oder „Funktionsentlastung“ (Mitterauer und Sieder 1977) beschrieben. Aus dieser Perspektive ist die Familie, der „Stabilitätsrest“ (Schelsky 1967) der in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt beschleunigten Wandels übrig bleibt (Meyer 1992, S. 32). Dem gegenüber steht die Auffassung, dass die Familie im Zuge der Ausdifferenzierung der Gesellschaft nicht nur Funktionen verloren, sondern auch „eigenste Funktionen“ (König und Nave-Herz 2002) ausgebildet habe. Tyrell (1976) beschreibt diesen Vorgang als funktionale Spezialisierung und thematische Reinigung unter der Wahrung relativer Autonomie.
Dass die Familie an Multifunktionalität eingebüsst hat, ist also unumstritten. Dieser Funktionsverlust ist aber nicht an einen Bedeutungsverlust gekoppelt; vielmehr zeigt sich eine Spezialisierung und Intensivierung der Funktionen von Familie (Burkart 2005, 198-200). Die Funktionen von Familie wandeln sich im Laufe der Zeit und in Abhängigkeit von ihrer systemischen Umwelt; sie sind historisch kontingent. Neue Funktionen können dazu kommen, alte wegfallen, bisherige an Relevanz abnehmen oder erstarken. Das bedeutet wiederum, dass Leistungen von Familie immer nur für eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit beschrieben werden können (Nave-Herz 2014).
Davon auszugehen, dass Funktionen und Leistungen von allen Familien gleichermassen und zuverlässig erbracht würden, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Treffend drückt es Ostner (2004, S. 177) mit der Feststellung aus, dass lediglich naive Funktionalist*innen annehmen würden, dass Familie auch wirklich funktioniert, wie wir es erwarten. Hilfreich sind daher gemäss Kaufmann (1994, S. 50) Unterscheidungen zwischen Aufgaben, Leistungen und Funktionen der Familie. Unter Aufgaben versteht er gesellschaftliche Erwartungen an Familien oder einzelne Familienmitglieder in ihren sozialen Rollen innerhalb der Familienkonstellation. Aufgaben sind gesellschaftlich erwartete Leistungen, die durch soziale oder rechtliche Normen institutionalisiert sein können. Davon grenzt Kaufmann typischerweise erbrachte Leistungen der Familie ab. Damit sind Leistungen im systemtheoretischen Sinne gemeint, die sowohl für Mitglieder einer Kernfamilie, als auch für entferntere Verwandte oder andere Teilsysteme erbracht werden. Zuletzt werden unter gesamtgesellschaftlichen Funktionen systemspezifische Leistungen verstanden, auf welche andere Teilsysteme angewiesen sind und die exklusiv durch die Familie und kein anderes Funktionssystem erbracht werden.
Nach Kaufmann (ebd.) sind die systemspezifischen Leistungen der Familie in der westlichen Moderne die biologische Reproduktion, also das gebären von Kindern, die primäre Sozialisation dieser Kinder und deren Statuszuweisung in der sozialen Hierarchie. Daneben leistet die Familie die soziale Reproduktion aller ihrer Mitglieder. Zunächst sind alle Teilsysteme auf Teilnehmer*innen und damit auf die biologische Reproduktion von sterblichen Menschen angewiesen. Im besten Fall werden Kinder in intakte Familien geboren und dort sozialisiert, um zu gesellschaftskompatiblen Erwachsenen werden, die später in anderen funktionalen Systemen spezifische Rollen einnehmen können. Kaufmann (ebd., S. 52) spricht davon, dass Familien Humanvermögen produzieren, „d.h. sie produzieren die personelle Umwelt aller anderen gesellschaftlichen Teilsysteme, von der deren Leistungsfähigkeit abhängig ist“. Dies tun sie zunächst alleine und später im Zusammenspiel mit anderen Systemen, wie dem Bildungs- oder Rechtssystem und dem Arbeitsmarkt (Meyer 1992, S. 41).
Die Herstellung von Humankapital (Becker 1993) ist insbesondere für das Wirtschaftssystem relevant. Diesem kommt in kapitalistischen Gesellschaften eine Vorrangstellung gegenüber den anderen Teilsystemen zu (Kühl 2018; Schimank 2015). Dies steht der klassischen systemtheoretischen Annahme der Gleichrangigkeit aller funktionalen Teilsysteme entgegen. Burkart (2005, S. 221) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Grundproblem der Differenzierungstheorie“. Sie fokussiere sich auf die funktionale Differenzierung und handelt segmentäre Differenzierungsformen, Hierarchien zwischen und Stratifizierung innerhalb von Systemen lediglich als Überreste vergangener Entwicklungsstufen ab. Damit werde einerseits systematisch übersehen, dass es auch innerhalb von Familien hierarchische Unterschiede gibt (siehe dazu Abschnitt 2.2). Andererseits werde die statusvererbende Funktion von Familie ausgeblendet.
Die Zuordnung von Menschen zu Positionen innerhalb der Statushierarchie ist die dritte Funktion von Familie. Soziale Positionen werden nicht primär nach funktionalen Aspekten und individueller Leistung vergeben, wie dies eine funktionalistische Sichtweise vermuten lassen würde (vgl. Davis und Moore 1945; Mayntz 1961). Vielmehr zeigt die Mobilitätsforschung, dass die Statusposition der Eltern für die Erfolgschancen der Kinder nach wie vor hoch relevant ist (Jann und Combet 2012). Neben biologischer Reproduktion, Sozialisation und Statuszuweisung ist auch die soziale Reproduktion für andere Systeme relevant. Die Familie integriert ihre Mitglieder als Persönlichkeiten mit all ihren Interessen und ihrer Gefühlswelt und nicht nur im Hinblick auf einen spezifischen Aspekt der Person. Durch die Deckung der elementaren Bindungsbedürfnisse leisten Familien einen wichtigen Beitrag zur Herstellung von Individualität und Identität und damit zur psychischen Stabilisierung ihrer Mitglieder (Burkart 2005, 2006).

Ebenen des familialen Zusammenhalts

Was passiert denn nun in Familien ganz konkret? Wie werden die systemischen Leistungen für die Mitglieder aber auch für andere gesellschaftliche Systeme erbracht? Die Beobachtung von solchen konkreten, empirischen Phänomenen fällt gemeinhein leichter, wenn klar ist, was beobachtet werden soll. Dabei ist das in den 1990er Jahren entwickelte Konzept der intergenerationalen Solidarität von Bengtson und Roberts (1991) hilfreich. Das Konzept der Intergenerationensolidarität geht über die klassischen familiensoziologischen Ansätze hinaus, da es über den Zeithorizont des Aufwachsens und der Abhängigkeit von Kindern hinausreicht. Es bietet eine systematische Übersicht über Dimensionen des Zusammenhalts zwischen Erwachsenen und ihren Eltern und gehört zu den meist genutzten Ansätzen der Erforschung von Generationenbeziehungen in den letzten 30 Jahren (Hank 2015; Konietzka u. a. 2021).
Gestützt auf Theorien zur sozialen Organisation, Sozialpsychologie und der Entwicklungsperspektive der Familientheorie beschreiben die Autoren Generationenbeziehungen als mehrdimensionales Konstrukt. Aus klassischen soziologischen Ansätzen werden drei Grundannahmen übernommen: Menschen haben internalisierte Solidaritätsnormen, es besteht eine funktionale Arbeitsteilung zwischen Gruppenmitgliedern und Austauschbeziehungen orientieren sich an Regeln bzw. Normen. Die Sozialpsychologie zeigt, dass ähnliche Merkmale oder Einstellungen, enger Kontakt und Zuneigung für solidarischen Austausch relevant sind. Zuletzt hat die Familienforschung deutlich gemacht, dass sich Makrophänomene wie etwa die Sterblichkeit oder Fertilität einer Gesellschaft, auf familiale Konfigurationen und damit auch auf die Solidarbeziehungen zwischen den Familienmitgliedern auswirken (Bengtson und Roberts 1991; Roberts u. a. 1991). Das Modell der Generationenbeziehungen benennt sechs interdependente Dimensionen (siehe Tabelle 2.1). Während die strukturelle, die normative und die konsensuelle Dimension das Potential bzw. die Voraussetzungen für Kontakt zwischen Generationen beschreiben, adressieren die affektuelle, die assoziative und die funktionale Dimension die gelebte Solidarität bzw. die Aktualität der Generationenbeziehung (Szydlik 2000, S. 36).
Tabelle 2.1
Dimensionen der Generationensolidarität
Strukturell
Anzahl, Art und Wohndistanz der Familienmitglieder
Normativ
Identifikation mit Familienrollen, Verpflichtungsgefühle
Konsensuell
Gemeinsame Werte, Einstellungen und Überzeugungen
Affektuell
Emotionale Nähe, Gemeinschaftssinn, Affektion
Assoziativ
Kontakthäufigkeit und Interaktionsformen
Funktional
Geben und Nehmen von Geld, Zeit und Raum
Quelle: Eigene Darstellung nach Bengtson und Roberts (1991)
Die strukturelle Dimension beinhaltet die Anzahl der Mitglieder einer Familie, deren Bezug zueinander, die Wohndistanzen zwischen den Familienmitglieder und deren Gesundheitszustand. Damit bezieht sich die strukturelle Dimension auf die Voraussetzungen für familiale Interaktion. Gibt es überhaupt Eltern mit denen interagiert werden kann oder sind sie bereits verstorben? Wohnen die erwachsenen Kinder im selben Dorf oder sind sie ausgewandert? Und sind Eltern gesundheitlich in der Lage eine lange Reise für einen Besuch auf sich zu nehmen oder sind sie erkrankt und ihrerseits auf Unterstützung angewiesen? Normative Solidarität bezieht sich auf die Bedeutung, welche die (Herkunfts-)Familie für ein Individuum hat. Die Relevanz ergibt sich einerseits aus dem Grad der persönlichen Identifikation mit der eingenommenen Rolle (Mutter/Vater, Tochter/Sohn) und andererseits aus der Stärke der Verpflichtungsgefühle gegenüber anderen Familienmitgliedern. Dies hängt stark von gesellschaftlichen Normvorstellungen ab, die in Bezug auf Familienrollen oft geschlechtsspezifisch sind (Sharp und Blume 2016). Zudem kann die Gründung einer eigenen Familie und die Übernahme der Elternrolle zu Intrarollenkonflikten führen, die sich auf die Beziehung zu den eigenen Eltern auswirkt (Dahrendorf 1964). Unter der konsensuellen Dimension werden innerhalb der Familie geteilte Wertvorstellungen, Haltungen und Überzeugungen verstanden. Dabei sind sowohl die tatsächlichen Übereinstimmungen, als auch deren individuelle Wahrnehmung relevant (Bengtson und Roberts 1991, S. 857).
Affektive Solidarität bezeichnet die empfundene Zuneigung und Enge, das gegenseitige Verständnis und Vertrauen sowie den Respekt gegenüber anderen Familienmitgliedern. Mögen Eltern ihre Kinder und falls ja, können sie ihnen das auch zeigen? Die Wahrnehmung der Gegenseitigkeit dieser Empfindungen spielt ebenfalls eine Rolle. Bemüht sich eine Partei stark um die andere ohne dass etwas zurück kommt? Oder interessieren sich beide Generationen für die jeweils andere Lebensrealität? Unter assoziativer Solidarität wird die Häufigkeit und der Anlass intergenerationaler Interaktion verstanden. Es kann sich dabei um persönliche Treffen, aber auch um Kommunikation in Form von Telefonaten, schriftlichem oder digitalem Austausch handeln. Relevant ist dabei auch, welche Aktivitäten geteilt werden. Kommt es alltäglich und spontan zum Austausch oder nur im Rahmen sporadisch organisierter Familienfeste zum Kontakt? Zuletzt wird unter funktionaler Solidarität der Austausch materieller und immaterieller Ressourcen verstanden. Dazu gehören das Geben und Nehmen von Zeit in Form von Hilfe, geteilter Wohnraum sowie Geld- und Sachgeschenke. In diesen Bereich fallen finanzielle Transfers zwischen Familiengenerationen, die der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sind. Neben dem tatsächlichen Austausch spielt auch die Wahrnehmung der Reziprozität der Austauschbeziehung eine wichtige Rolle (ebd.).
Das Modell von Bengston und Roberts wurde dafür kritisiert, Generationenbeziehungen verkürzt darzustellen, da damit nur mehr oder weniger positive Beziehungen beschrieben werden können, während negative Aspekte ausgeklammert würden (Connidis und McMullin 2002). Die angemessene Darstellung von Ambivalenz sei für Generationenbeziehungen aber von grosser Relevanz (Lüscher und Hoff 2013). Nach Bengtson u. a. (2002) sei der Solidaritätsansatz keineswegs eindimensional konzipiert und blende Konflikte in Beziehungen auch nicht aus. Vielmehr beinhaltet das Solidaritätsmodell mehrere klar abgrenzbare Dimensionen von Generationenbeziehungen, welche jeweils in zwei entgegengesetzte Richtungen ausgeprägt sein können: Intimität oder Distanz, Übereinstimmung oder Widerspruch, Abhängigkeit oder Autonomie, Integration oder Isolation, Möglichkeiten oder Beschränkungen und Familiarität oder Individualismus. Da sich jeder Intergenerationenbeziehung in jeder Dimension eine Position zuweisen lässt, argumentieren die Autor*innen, dass mit dem bestehenden Ansatz sehr wohl auch ambivalente Beziehungen operationalisiert werden können. Ungeachtet dessen wurde vorgeschlagen, das Konzept der Intergenerationensolidarität um eine siebte Dimension zu erweitern, die explizit Konflikte misst (Giarrusso u. a. 2005). Allerdings bleibt auch dieses neue Solidaritäts-Konflikt-Modell lediglich eine Typisierung ohne weitere Erklärungskraft (Steinbach und Hank 2016).
Nichtsdestotrotz hat das Modell der Generationensolidarität während der letzten Jahrzehnte eine umfangreiche Intergenerationenforschung inspiriert. Nauck und Steinbach (2009, S. 7) unterscheiden vier Forschungsstränge im Feld der intergenerationalen Solidaritätsbeziehungen. Die ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen fokussierten sich auf das Verhältnis der verschiedenen Dimensionen intergenerationaler Solidarität (z. B. Roberts und Bengtson 1990). Andere Studien widmen sich der Bildung von Familien- und Beziehungstypologien indem sie die Ausprägungen von verschiedenen Dimensionen der familiären Solidarität kombinierten (für einen Überblick siehe Szydlik 2023). Einen dritten Strang bilden Analysen, die sich mit den unterschiedlichen Perspektiven auseinandersetzen, die Eltern und erwachsene Kinder auf Generationenbeziehungen haben (z. B. Giarrusso u. a. 2004; Kim u. a. 2014; Steinbach u. a. 2019). Der vierte und grösste Forschungsstrang versucht sozialstrukturelle und intrafamiliäre Einflussfaktoren zu identifizieren, die sich auf die Ausprägung einzelner Dimensionen intergenerationaler Solidarität auswirken (z. B. Bertogg 2017; Brandt 2009; Deindl 2011; Haberkern 2009; König 2016; Schmid 2013; Szydlik 2000).
Im Feld der intergenerationalen Solidaritätsforschung stellen bereits Roberts u. a. (1991, S. 38 f.) Handlungsbedarf in verschiedenen Bereichen fest: Erstens soll die Kompatibilität der Dimensionen mit anderen theoretischen Konzeptionen von Solidarität überprüft werden. Abschnitt 3.​1 verknüpft die Intergenerationenforschung daher mit handlungstheoretischen Überlegungen zur Solidarität. Zweitens bedarf die Strukturierung der Dimensionsbeziehungen untereinander weiterer Forschung. Drittens sollen Analysen, die sich auf die Erklärung einer Solidaritätsdimension konzentrieren, aber nicht nur andere Solidaritätsdimensionen berücksichtigen. Vielmehr dürften noch weitere Merkmale auf Individual- oder Familienebene zur Erklärung einer Dimension relevant sein. Viertens wird gefordert, dass eine Theorie der intergenerationalen Solidarität die Relevanz von Solidarbeziehungen für das individuelle Wohlbefinden thematisiert und herausarbeitet, welche Bedeutung familiale Solidarität über den Lebenslauf hat. Um dieser Forderung Rechnung zu tragen, wird im nächsten Abschnitt das Verhältnis der Generationen über den Lebenslauf genauer in den Blick genommen.

Generationen und Lebenslauf

Die Beschreibung der Ebenen generationalen Zusammenhalts hat in den letzten Jahrzehnten eine vielfältige Generationenforschung hervorgebracht (2006). Allerdings bemängeln Fingerman u. a. (2020), dass die Erforschung der Familiensoziologie in verschiedenen Bereichen hinter den sozialen Entwicklungen zurückbleibt. Neben der Berücksichtigung von technologischen Entwicklungen und ökonomischen Umbrüchen muss die soziologische Familienforschung insbesondere auch sich wandelnde Familienstrukturen einbeziehen. Dabei geht es unter anderem um eine steigende Lebenserwartung bei sinkender Geburtenrate, um neue Familienformen und grössere Mobilität (Steinbach 2012, S. 93). Der demografische Wandel führt dazu, dass immer häufiger mehr als zwei Generationen relevante Lebensabschnitte miteinander verbringen, während gleichzeitig weniger Familienmitglieder auf derselben Generationenstufe vorhanden sind: Der Stammbaum gleicht vielmehr einer langen, dünnen Bohnenstange als einem Baum, der sich in die Breite verzweigt (Steinbach und Hank 2016, S. 376). In diesen bean-pole families (Lesthaeghe 2011) kommt der Eltern-Kind Beziehung aufgrund der längeren gemeinsamen Lebenszeit auch in verschiedenen Phasen des Erwachsenenalters der Kinder eine grosse Relevanz zu (Nauck und Steinbach 2009).
Eltern-Kind-Beziehungen finden im Kontext der Familie statt. Das funktional ausdifferenzierte Teilsystem Familie ist in sich wiederum segmentär und hierarchisch gegliedert (Tyrell 1976). Innerhalb von Familien sind also nicht alle gleich, vielmehr nehmen die Mitglieder einer Familie eine hierarchisch geordnete soziale Position ein, die sich aus den Differenzierungsachsen Geschlecht und Generation ergibt (Knijn und Komter 2004; Parsons und Bales 1955). Durkheim (1977) spricht neben der Differenzierung nach Geschlecht und Alter auch von einer Funktionszuteilung nach Abhängigkeitsbeziehungen (zit. nach Wagner 2001, S. 23). Aktueller formuliert Saraceno (2004, S. 84): „interdependencies and dependencies are the fabric households are made of, kinship networks are sustained, individuals develop their feelings of belonging.“
Der familiale Zusammenhalt wird oft als Gegengewicht zum aggressiven, kapitalistischen Marktumfeld verstanden, in welchem individualisierten und vereinzelten Arbeitenden wenig Zeit für Intimität und Verbundenheit bleibt. Der familiale Zusammenhalt bildet gewissermassen ein soziales Auffangnetz und einen Rückzugsort vor der sich ausbreitenden Wettbewerbslogik. Dass die Familie als Schutzraum vor dem Zugriff der Marktlogik fungieren kann, verstellt jedoch oft den Blick für Ungleichheiten innerhalb von Familien (Knijn und Komter 2004). Familiensolidarität, Abhängigkeiten und die damit verbundenen Erwartungen können auch belastend und einengend wirken. Dies gilt insbesondere für Kinder und nicht-erwerbstätige Frauen, für die in der patriarchalen Logik die hierarchisch tieferen Ränge vorgesehen sind (Saraceno 2004, S. 84).
Generationenbeziehungen sind aber nicht nur in den Familienkontext eingebettet. Das individuelle Handeln lässt sich immer auch zeitlich im Lebenslauf der Beteiligten verorten. Vergangene Entscheidungen und die Erwartung von zukünftigen Auswirkungen beeinflussen aktuelle Handlungen und soziale Beziehungen (Huinink 2001, S. 153–154). Gerade die Abhängigkeiten zwischen Familiengenerationen sind Veränderungen über den Lebenslauf unterworfen. In der Vergangenheit waren theoretische und empirische Versuche Generationenbeziehungen „von der Wiege bis zur Bahre“ (Szydlik 2021b) zu thematisieren selten (Nauck und Steinbach 2009). Neuere Entwicklungen der empirischen Datengrundlagen führten hingegen zur Formulierung ambitionierter Forschungsprogramme im Bereich der Lebenslaufsoziologie (Bernardi u. a. 2019; Steinbach 2012). Sie befasst sich mit dem Zusammenspiel von individuellen Lebensverläufen und sozialen Strukturen wie Arbeitsmärkten, Bildungssystemen und sozialen Ungleichheiten. Die Analyse der strukturellen Prägungen von individuellen Lebenschancen ermöglicht eine umfassendere Erklärung von sozialem Handeln. Darüber hinaus befasst sich eine Lebenslaufperspektive auch mit dem Rückwirken der individuellen Lebensentscheidungen auf soziale Strukturen, die letztlich nichts anderes sind als aggregierte Lebensläufe (Huinink und Hollstein 2020, S. 198).
Meulemann und Wiese (1989, S. 39–40) wiesen vor über 30 Jahren darauf hin, dass sich die Lebensentwürfe und -läufe durch das Abschütteln der „Herrschaft von Traditionen“ individualisiert hätten: Angestrebte Bildungsabschlüsse, gewählte Berufe, das Eingehen und Auflösen von Partnerschaften seien nicht mehr strikt vorgegeben, sondern hingen von „privaten Plänen oder von Gelegenheiten und Zufällen ab“. Die Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebensverlaufs sind für viele Menschen fraglos grösser geworden. Doch auch nach dieser Destandardisierung lassen sich verschiedene Lebensphasen ausmachen, die typischerweise aufeinander folgen (Abels u. a. 2009). Denn Übergänge zwischen Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und höherem Alter werden sowohl durch biologische Gegebenheiten wie die Pubertät oder das Ende der Fertilitätsphase, als auch durch gesellschaftliche Institutionen wie die Schulpflicht oder das Rentenalter geprägt (Rudinger 2017, S. 250).
Aus psychologischer Perspektive werden verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Entwicklungsaufgaben zugeordnet (Hutteman u. a. 2014). Gemäss Havighurst (1972) stehen nach der frühen und mittleren Kindheit sowie der Adoleszenz drei Phasen des Erwachsenseins mit jeweils spezifischen Entwicklungsaufgaben an. Mit dem frühen Erwachsenenalter kommen die Herausforderungen der Partner*innensuche und der Familiengründung, sowie der Einstieg in die Berufswelt. Im mittleren Erwachsenenalter steht die Erziehung der Kinder, die berufliche Entwicklung und die Verantwortungsübernahme im sozialen und öffentlichen Bereich an. Zuletzt geht es im späten Erwachsenenalter um den Umgang mit der Pensionierung, mit gesundheitlichen Einschränkungen und die Auseinandersetzung mit dem Tod von engen Bezugspersonen.
Diese verschiedenen Lebensphasen werden als gleichwertig aber unterschiedlich verstanden (Rudinger 2017, S. 261). Für die lebensspannenorientierte Forschung ist darüber hinaus relevant, dass die unterschiedlichen Phasen zusammen gedacht werden, da Menschen nicht unabhängig von ihrer Vergangenheit handeln und bei ihren Entscheidungen auch zukünftige Entwicklungen antizipieren. Neuere Phasenmodelle gehen von mehr Variabilität bei den Entwicklungsaufgaben sowie deren Geschwindigkeit und Reihenfolge aus. Welche Aspekte wie stark an ein bestimmtes Lebensalter gebunden sind, ist folglich eher eine empirische als eine analytische Frage. Zur empirischen Einordnung unterscheiden Meulemann und Wiese (1989, S. 40) Zäsuren von Passagen im Lebenslauf. Während Zäsuren Veränderungen bezeichnen, die fast alle Mitglieder einer Altersgruppe zur selben Zeit betreffen, handelt es sich bei Passagen um Veränderungen, die zwar von den meisten Personen vollzogen werden, allerdings im Rahmen einer grösseren Zeitspanne.
Der Nutzen von Lebensphasenmodellen für die empirische Forschung hängt von der jeweiligen Erkenntnisabsicht ab (Rudinger 2017, S. 253). Die Beschreibung eines „Normalstatus“ hilft dabei, Ausnahmen zu identifizieren. Im schlechtesten Fall dienen Vergleiche mit vorgefertigten Schemen der Bewertung und Normierung von abweichenden Personen. Im besten Fall können Phasenmodelle das Bewusstsein für die Verortung von Handlungen in individuelle Lebenslagen stärken. So ist gerade im Hinblick auf Generationenbeziehungen relevant, dass sich erwachsene Kinder und ihre Eltern nicht in derselben Lebensphase befinden. Sie haben dadurch andere Interessen an der Beziehung sowie andere Ressourcen und Bedürfnisse. Für die vorliegende Arbeit ist zudem ein dritter Aspekt relevant: Die Einteilung von kontinuierlichen Lebensverläufen in verschiedene Phasen verhilft zu mehr Übersichtlichkeit.
Viele Generationenbeziehungen zeichnen sich durch lebenslange Solidarität zwischen Eltern und ihren Kindern aus (Szydlik 2021a, S. 100). Mit den Lebensphasen verändern sich die Bedürfnisse nach Unterstützung, die Möglichkeiten, Hilfe zu leisten und die sozialen Normen, die festlegen, wer Anspruch auf Hilfe hat und wer Unterstützung leisten soll. Dies wirkt sich wiederum auf Generationenbeziehungen zwischen Familienmitgliedern aus, die sich in unterschiedlichen Lebensphasen befinden (Hank 2015, S. 480). Wenn erwachsene Kinder eigene Kinder haben, erfahren sie ausserdem die Doppelbelastung der mittleren „Sandwich-Generation“. Nicht immer lassen sich Erwartungen alternder Eltern an die erwachsenen Kinder gut mit den Bedürfnissen der eigenen Kindern vereinbaren. Aufgrund der vielseitigen Bezüge verortet Steinbach (2012, S. 98) die Erforschung von Generationenbeziehungen am Schnittpunkt von Familiensoziologie, sozialer Integration und Ungleichheit. Der nächste Abschnitt widmet sich daher Ungleichheiten in und zwischen Familien.

2.3 Ungleichheiten in und zwischen Familien

In diesem Kapitel wurden Ungleichheiten und Familiengenerationen thematisiert. Dabei wurden folgende Fragen adressiert: Welche der vielen Unterschiede zwischen Menschen sind für gesellschaftliche Verteilungsprozesse relevant? Wie entstehen soziale und ökonomische Ungleichheiten? Wie sieht die Situation in der Schweiz aus? Welche Rolle spielt die Familie in der gegenwärtigen, funktional differenzierten Gesellschaft? In welchem Zusammenhang stehen Generationenbeziehungen und Lebenslauf?
Soziale Ungleichheiten liegen überall dort vor, wo der Zugang zu begehrten Gütern und sozialen Positionen systematisch mit bestimmten Merkmalen verknüpft ist. Relevant ist aber nicht nur das Ausmass der Ungleichverteilung eines bestimmten Gutes, sondern das Verständnis von Prozessen, die soziale Ungleichheiten hervorbringen und reproduzieren. Die Unterscheidung von Strukturebenen sozialer Ungleichheit beschreibt, dass ungleiche Eigenschaften zu Determinanten sozialer Ungleichheit werden können, wenn sie über soziale Prozesse mit ungleichen Verteilungen von Gütern in Ungleichheitsdimensionen verknüpft sind. Diese ungleichen Verteilungen haben wiederum Auswirkungen auf individuelle Lebenschancen.
Welche Merkmale für ungleiche Verteilungen relevant gemacht werden, ist prinzipiell kontingent. Für die gegenwärtige Gesellschaft beschreibt Kreckel die Unterscheidungskriterien Nation, Schicht, Geschlecht und Alter als besonders wichtig. Ihre Salienz ist darauf zurückzuführen, dass sich ein Grossteil der Menschen in Bezug auf die nationale Zugehörigkeit, die Schicht- bzw. Klassenlage, das Geschlecht und das Alter eindeutig verorten lässt. Darüber hinaus lassen sich diese Zuordnungen leicht von aussen vornehmen. Dabei sind äussere Zuschreibungen und Einteilungen längst nicht immer korrekt; doch auch falsche Zuschreibungen können sozial strukturierend wirken. Da oft mehrere ungleichheitsrelevante Dimensionen intersektional zusammenwirken, ist die Beschreibung der sozialen Prozesse, die zu ungleichen Verteilungen führen, sehr komplex.
Soziale Prozesse, die Ungleichheiten hervorbringen oder verstärken, finden in sozialen Kontexten statt. In funktional differenzierten Gesellschaften werden Individuen in soziale Systeme, die sich als spezialisierte Kommunikationszusammenhänge konstituieren, eingebunden. Im Gegensatz zu anderen sozialen Systemen hat sich die Familie über eine Funktionsreduktion ausdifferenziert. Mit der biologischen Reproduktion, der Sozialisation, der Statuszuweisung und der sozialen Reproduktion ihrer Mitglieder erbringt sie aber nach wie vor unverzichtbare Leistungen für andere Systeme. Zwar wird Sorge- und Reproduktionsarbeit in der kapitalistischen Produktion oft unsichtbar gemacht. Sowohl der Arbeitsmarkt als auch die anderen Teilsysteme sind aber auf die (Wieder-)Herstellung von Personal angewiesen. Denn soziale Systeme funktionieren nur wenn es Menschen gibt, die in der Lage sind, systemrelevante Rollen einzunehmen.
Im Familiensystem können sechs Dimensionen von Zusammenhalt unterschieden werden: Die strukturelle, normative und konsensuelle Dimension beschreiben die Verfügbarkeit von Familienmitgliedern, die Identifikation mit der Familie sowie gemeinsame Werte und Überzeugungen. Diese Aspekte bilden das Potential für gelebte Generationensolidarität. Die Herstellung emotionaler Verbundenheit, die Aktualisierung der Gemeinschaft in direkten Kontakten und das Geben und Nehmen von materiellen Ressourcen, Zeit und Raum sind die konkreten Handlungen, über welche das soziale System Familie seine Leistungen erbringt. Sie werden mit der affektuellen, assoziativen und funktionalen Dimension beschrieben.
Das Sozialsystem Familie ist in sich durch Geschlechter- und Generationendifferenzen strukturiert. Das heteronormative Ideal basiert auf einem hierarchischen Verhältnis zwischen den Geschlechtern, wobei Frauen primär für die unbezahlte Reproduktionsarbeit zuständig sind, während Männer bezahlter Erwerbsarbeit nachgehen. In der heterosexuellen Kleinfamilie ergänzen sich diese vermeintlich natürlichen Spezialisierungsformen – allerdings nicht ohne die Reproduktion der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. So bleiben Frauen durch Arbeitsmarkt und Sozialstaat benachteiligt und sind damit häufiger auf informelle Unterstützung angewiesen. Männer sind hingegen besser in den Arbeitsmarkt und weniger stark in Familienkontexte integriert. Zwischen Eltern und Kindern besteht ein Abhängigkeitsverhältnis: Zunächst sind Kinder aufgrund von verlängerten Ausbildungsphasen auch im Erwachsenenalter oft noch von ihren Eltern abhängig. Im höheren Alter können Eltern wiederum auf die Unterstütztung ihrer Kindern angewiesen sein. Generationenbeziehungen verändern sich über die Lebensspanne, bis hin zur Umkehrung der Abhängigkeitsverhältnisse.
Soziale Ungleichheiten entstehen durch soziale Prozesse und wirken sich auf die individuellen Lebenschancen aus. Während die Ungleichheitsdeterminanten Nation und Schicht meist Unterschiede zwischen Familien adressieren, sind Geschlechts- und Altersunterschiede auch innerhalb von Familien relevant. Durch Solidarität und Zusammenhalt in materieller und immaterieller Form leisten Familien die soziale und biologische Reproduktion ihrer Mitglieder. Im nächsten Kapitel steht die Erklärung von solidarischem Handeln und insbesondere von finanziellen Transfers im Fokus.
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Metadaten
Titel
Ungleichheiten und Familiengenerationen
verfasst von
Tamara Bosshardt
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43924-8_2

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