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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Einleitung

verfasst von : Tamara Bosshardt

Erschienen in: Geld, Generation und Ungleichheit

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Elternschaft ist ein zeit- und kostenintensives Projekt. Viele Menschen unterstützen ihre Kinder mit Geldgeschenken und Zahlungen auch nachdem diese volljährig geworden und damit zumindest im rechtlichen Sinn eigenständig sind. Daneben helfen erwachsene Kinder ihren Eltern bei Alltagsaufgaben, beschenken diese und leisten in manchen Fällen gar substantielle finanzielle Unterstützung.
Elternschaft ist ein zeit- und kostenintensives Projekt. Viele Menschen unterstützen ihre Kinder mit Geldgeschenken und Zahlungen auch nachdem diese volljährig geworden und damit zumindest im rechtlichen Sinn eigenständig sind. Daneben helfen erwachsene Kinder ihren Eltern bei Alltagsaufgaben, beschenken diese und leisten in manchen Fällen gar substantielle finanzielle Unterstützung. Finanzielle Transfers sind neben dem Teilen von Wohnraum und praktischer Hilfe ein wichtiger Teil der lebenslangen funktionalen Solidarität zwischen Generationen (Bengtson und Roberts 1991). Trotz oder vielleicht gerade aufgrund der fortschreitenden gesellschaftlichen Individualisierungs- und Differenzierungstendenzen weisen aktuelle Forschungsergebnisse aus der Familiensoziologie auf erstaunlich starke Beziehungen zwischen Erwachsenen und ihren Eltern hin (Hank 2015, Nauck und Steinbach 2009). In Anbetracht der steigenden Scheidungsraten (Rausa 2020) formulierte Sieder (1997) kurz vor der Jahrtausendwende symptomatisch: „The younger generation more easily divorces a partner than a parent.“ (zit. nach Ostner 2004, S. 175).
Ob und in welchem Umfang sich Erwachsene und ihre Eltern gegenseitig unterstützen können, hängt stark von ihren jeweiligen ökonomischen Ressourcen ab. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene bedeutet lebenslange familiale Solidarität daher häufig lebenslange Ungleichheit von Unterstützungsstrukturen. Dies kann dazu führen, dass sich kleine Unterschiede über den Lebenslauf hinweg zu relevanten Ungleichheiten kumulieren (Szydlik 2021a). In der Schweiz besteht die rechtliche Pflicht zum Unterhalt der eigenen Kinder bis diese eine „angemessene Ausbildung“ abgeschlossen haben (Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1996). Sowohl die Möglichkeiten zum Unterhalt als auch die Beurteilung der Angemessenheit einer Ausbildung sind dabei abhängig von der ökonomischen Lage der Eltern. In der frühen Kindheit bringen die Wohnsituation und die Ausstattung des Haushalts erste Ungleichheiten hervor. In der Schulzeit müssen Computer und Schulmaterialien oder Nachhilfeunterricht finanziert werden. Im jungen Erwachsenenalter können manche Eltern ihre Kinder während eines Studiums oder beim Auszug aus dem Elternhaus unterstützen. Andere sind hingegen darauf angewiesen, dass ihre Kinder möglichst bald eine Ausbildung abschliessen und selbst zum Familieneinkommen beitragen.
Die vorliegende Arbeit untersucht aktuelle finanzielle Transfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern in der Schweiz. Da der Reichtum in der Schweiz jedoch sehr ungleich verteilt ist (Fluder u. a. 2017), stellt sich die Frage, wie es um die Verteilung der finanziellen Transfers zwischen Familiengenerationen steht. Welche Bevölkerungsgruppen geben mehr, welche geben weniger Geld an ihre Kinder? Profitieren insbesondere diejenigen erwachsenen Kinder von finanzieller Solidarität, die auf ökonomische Unterstützung angewiesen sind oder fliesst Geld vorrangig dort, wo es im Überfluss vorhanden ist? In welchen Bevölkerungsgruppen geben Erwachsene mehr Geld an ihre Eltern als sie von diesen bekommen? Wie wirken sich Finanztransfers auf die Ungleichheit zwischen und innerhalb von Familien und Generationen aus? Zur Klärung dieser Fragen untersucht die vorliegende Dissertation Geldtransfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern in der Schweiz aus einer soziologischen Perspektive.
Die meisten Untersuchungen von intergenerationaler Solidarität basieren auf der statistischen Auswertung von quantitativen Umfragedaten. Erste Analysen von finanziellen Transfers zwischen Generationen konzentrierten sich auf nationale Datensätze aus den USA (Cooney und Uhlenberg 1992; McGarry 1999), Deutschland (Kohli u. a. 2000; Szydlik 2000), und Frankreich (Attias-Donfut und Wolff 2000). Leider erschweren Unterschiede bei den Stichproben und Fragestellungen den internationalen Vergleich. Die Verfügbarkeit von länderübergreifenden Befragungen hat das Interesse an international vergleichenden Analysen genährt, welche das sozialwissenschaftliche Feld der letzten Jahrzehnte dominierten (Albertini u. a. 2007; Attias-Donfut u. a. 2005; Brandt und Deindl 2013; Deindl 2011; Fokkema u. a. 2008; Szydlik 2016).
Abhängig davon, wer befragt wird und wie die Frage genau formuliert wird, wurde von unterschiedlichen Transferraten berichtet. Eine nationale Erhebung ermittelte, dass zwischen 3.3% und 8.5% der in der Schweiz lebenden Erwachsenen zwischen 45 und 80 Jahren im letzten Jahr materielle Unterstützung von über 500 Franken an Söhne und Töchter gegeben hat. Dabei wurden Unterhaltszahlungen, zu welchen die Eltern rechtlich verpflichtet waren, nicht mitgezählt. Im gleichen Zeitraum haben zwischen 3.5% und 4.6% der 25- bis 64-Jährigen ihre Eltern im Umfang von mehr als 500 Franken materiell unterstützt (Csonka und Mosimann 2017). Studien, die nur Erwachsene mit Kindern untersuchen, ergeben, dass 21% der über 50-Jährigen Schweizer*innen1 finanzielle Transfers an mindestens ein erwachsenes Kind gegeben haben (Szydlik 2016). Rund 14% der Kinder der über 50-Jährigen Befragten hat ihrerseits finanzielle Unterstützung von den Eltern erhalten (Deindl 2011). Je nach Untersuchungsanlage variieren die Transferraten also deutlich.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Erforschung intergenerationaler Solidarität gehört die Einsicht, dass es zwar eine grosse Vielfalt an Eltern-Kind-Beziehungen gibt, die von Entfremdung bis zur Symbiose reichen. Insgesamt wird familiale Solidarität aber nicht schwächer, wie dies aufgrund von soziodemografischen Entwicklungen befürchtet wurde (Fux 2019). Vielmehr erfüllt sie eine wichtige Integrationsfunktion in funktional differenzierten Gesellschaften (Nauck und Steinbach 2009). Gemeinsam ist den Analysen aber auch die Erkenntnis, dass längst nicht alle erwachsenen Kinder finanzielle Transfers von ihren Eltern erhalten. Intergenerationale finanzielle Solidarität hängt von den Bedürfnissen und Opportunitäten der Eltern und Kinder ab, sowie von weiteren Familienstrukturen und dem gesellschaftlichen Kontext (Szydlik 2012a, 2016). Bisherige Analysen haben bereits unterschiedliche Aspekte beleuchtet. So wurde der Frage nachgegangen, wer von Intergenerationentransfers profitiert (z. B. Albertini und Radl 2012; König 2016; Szydlik 2016) und welche Faktoren das Geben und den Erhalt von Geld beeinflussen. Dabei wurden sowohl Einflussfaktoren auf familialer Ebene (z. B. Booth und Kee 2009; Emery 2013) als auch auf kulturell-kontextueller Ebene untersucht (z. B. Deindl 2011; Deindl und Isengard 2011; Mudrazija 2016). Zuletzt untersuchten einige Studien wie finanzielle Transfers mit anderen Dimensionen intergenerationaler Solidarität zusammenhängen (z. B. Isengard u. a. 2018a; Leopold und Raab 2011).
Das Forschungsgebiet aktuelle finanzielle Transfers zwischen Generationen mag bereits sehr spezifisch wirken. Bei genauerem Hinsehen ist es jedoch hilfreich, weitere Abgrenzungen vorzunehmen. Finanzielle Transfers zwischen Generationen können zunächst nach dem Zeitpunkt ihres Auftretens abgegrenzt werden. Erbschaften sind mortis-causa Transfers, die nach dem Ableben eines Elternteils von den Kindern erhalten werden. Natürlich können Eltern auch von ihren verstorbenen Kindern erben. In der Schweiz treten Eltern als Erben ihrer Kinder aber äusserst selten in Erscheinung (Stutz 2008, S. 88). Sie sind für Fragen der Ungleichheitsreproduktion über Generationen hoch relevant und bilden ein eigenes Forschungsfeld (z. B. Beckert 2013; Szydlik 2004). Sogenannte inter-vivos Transfers finden dagegen zu Lebzeiten der Eltern statt. Hier wird in der Forschung eine weitere Differenzierung zwischen Schenkungen und aktuellen Transfers vorgenommen. Unter dem Begriff Schenkung werden grössere finanzielle Transfers verstanden, die aber noch zu Lebzeiten der Eltern stattfinden. Oft werden sie als vorgezogene Erbschaften eingeordnet, die Eltern bereits weitergeben, da sie ihre Kinder etwa beim Kauf von Immobilien unterstützen wollen (Vogel und Künemund 2013). Neben dem Bedarf der Beschenkten und allfälliger Zuneigung zwischen Familienmitgliedern können aber auch die Umgehung der erbrechtlichen Regelungen oder die Erwartung von z. B. praktischen Hilfeleistungen Gründe für Schenkungen sein (Szydlik 2009).
Während für die Abgrenzung zwischen Erbschaften und Schenkungen durch den Zeitpunkt des Transfers klare Kriterien bestehen, ist die Unterscheidung von aktuellen Transfers und Schenkungen empirisch nicht immer eindeutig. Beide finden zu Lebzeiten der Elterngeneration statt. Somit können aktuelle Transfers und Schenkungen auch in beide Richtungen fliessen: von Eltern zu erwachsenen Kindern, aber auch von erwachsenen Kindern zu den Eltern. Gemeinsam ist den beiden Transferarten auch, dass im Gegensatz zu Erbschaften weniger rechtliche Regelungen bestehen. So gibt es unter besonderen Umständen zwar die Pflicht zur Unterstützung (ausführlicher dazu Abschnitt 3.​1), darüber hinaus gibt es aber keine Vorgaben zu Häufigkeit oder Aufteilung auf verschiedene Familienmitglieder. Bei der Vergabe von Schenkungen und aktuellen Transfers existiert also mehr Spielraum für die Gebenden als bei Erbschaften, was wiederum heisst, dass es auch mehr zu erklären gibt. Trotz der Parallelen zwischen Schenkungen und aktuellen Transfers werden Schenkungen aufgrund ihrer Seltenheit, der Höhe der transferierten Beträge und den daraus abgeleiteten Auswirkungen auf Ungleichheitsstrukturen eher gemeinsam mit Erbschaften als mit aktuellen Transfers untersucht (Leopold und Schneider 2010; Szydlik 2006). Denn während Erbschaften und Schenkungen zu den Vermögensübertragungen gehören, werden aktuelle finanzielle Transfers gemeinsam mit praktischer Hilfe und der zur Verfügung Stellung von Wohnraum als funktionale Teile der Generationenbeziehungen untersucht. Einige Untersuchungen fokussieren sich auf einzelne Aspekte der funktionalen Solidarität (Brandt 2009; Deindl 2011; Haberkern 2009), andere betrachten Geld, Raum und Hilfe zwischen Generationen gemeinsam (Isengard 2018; Isengard u. a. 2018a; König 2016).
Eine Eingrenzung lohnt sich auch in Bezug auf den Generationenbegriff, mit welchem Menschen unterschiedlicher Altersklassen voneinander unterschieden werden. Je nach thematischem Zusammenhang werden dazu mehr oder weniger beliebige Grenzen zwischen den Geburtsjahrgängen gezogen. Mannheim (1928) spricht bei Menschen, die zu ähnlicher Zeit im selben historisch-sozialen Raum geboren werden zunächst von Generationslagerung. Wenn diese Geburtskohorten von denselben Lebensumständen und kollektiven Erfahrungen geprägt werden, wird die Generationslagerung zum Generationszusammenhang. Das Verbindende der Generationen zeigt sich jedoch nur dann, wenn Menschen eines Generationszusammenhangs auf dieselbe Weise von den gemachten kollektiven Erfahrungen geprägt werden. Rosenthal (2000, S. 163–164) macht jedoch darauf aufmerksam, dass in Bezug auf bestimmte Themenbereiche auch anderen Merkmale wie das Geschlecht, die Schicht oder die ethnische Gruppe relevanter als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe sein können. Darüber hinaus betont sie die Relevanz des Generationenverhältnisses: Generationen konstituieren sich immer auch in Abgrenzung von älteren und jüngeren Generationen. Erst über die Differenz wird Identität hergestellt (vgl. Derrida 1973; Schnabel und Tranow 2020). Im Gegensatz zu einer absoluten Verwendung kann der Generationenbegriff folglich auch relativ verwendet werden, um etwa Familiengenerationen voneinander zu unterscheiden. Die Zuordnung zur Kinder- oder Elterngeneration ergibt sich durch die Verwandtschaftsbeziehung zu einer anderen Generation. So sind an eine relative Generationenposition oft auch spezifische Normen und Rollenerwartungen geknüpft.
Über den Lebenslauf ändern sich Normen, Erwartungen und Kontexte, in denen Menschen stehen. Im jüngeren und höheren Alter sind Menschen besonders auf die Unterstützung anderer angewiesen. Diese Hilfe ist teilweise öffentlich, teilweise privat organisiert. Wohlfahrtsstaatliche Institutionen transferieren in der Schweiz hauptsächlich Geld von jüngeren, arbeitenden Generationen zu älteren, pensionierten Generationen. Im Gegensatz dazu folgen Geldflüsse in Familien typischerweise dem Kaskadenprinzip, da mehr Geld von den Eltern zu den erwachsenen Kindern fliesst als umgekehrt (Kohli 1999). Nichtsdestotrotz ist das Alter auch ein Armutsrisiko. Dies gilt zunehmend auch für die reiche Schweiz (Ebbinghaus u. a. 2019). Wenn öffentliche Wohlfahrtssysteme nicht ausreichende Leistungen bereit stellen, sind es oft familiale Solidaritätsstrukturen, die in die Bresche springen (Brandt 2013). Somit kann funktionale Solidarität in beide Richtungen beobachtet werden: Abwärts der Generationenlinie von Eltern zu Kindern aber auch aufwärts von der jüngeren an die ältere Generation (Bucx u. a. 2012).
Obwohl oder vielleicht gerade weil die Intergenerationenforschung in den letzten Jahrzehnten viele Bereiche systematisch erschlossen hat, gibt es zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für weitere Forschung. In bisherigen Untersuchungen wurde sowohl die Perspektive von erwachsenen Kindern als auch diejenige der Eltern berücksichtigt. Allerdings basieren die meisten Analysen auf Befragungen von Personen über 50 Jahren. Damit ist die Perspektive der Eltern bzw. der älteren Kinder deutlich übervertreten. Nur selten wurden jedoch beide Perspektiven gleichzeitig untersucht (Hank 2015, S. 480). Um einen adäquaten Vergleich herzustellen, ist dies jedoch von grosser Bedeutung, da vergangene Untersuchungen zeigen, dass verschiedene Methodiken zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen können (Emery und Mudrazija 2015).
Die Schweiz ist zwar kein EU-Mitgliedsland, trotzdem wurde sie in vielen europäischen Vergleichsstudien berücksichtigt. Internationale Studien fokussieren sich aber häufig auf Unterschiede zwischen Staaten, wie etwa die wohlfahrtsstaatlichen Regime. Dadurch übersehen sie leicht Unterschiede, die innerhalb der einzelnen Länder existieren. Ebenso ist für Analysen auf subnationaler Ebene ein grösseres Sample erforderlich. Um diese Lücke zu schliessen, hat das (SwissGen Projekt (König u. a. 2023) 2018/2019 umfangreiche Daten zu Generationenbeziehungen in der Schweiz gesammelt. Mit über 10’000 Befragten erlaubt der Datensatz differenzierte Auswertungen von Auf- und Abwärtstransfers. SwissGen befragt Erwachsene, die in der Schweiz leben, zu Generationenbeziehungen mit ihren Eltern. Damit werden gleich mehrere Datenlücken geschlossen: Die Perspektive der erwachsenen Kinder erhält mehr Gewicht und es werden auch Generationenbeziehungen zu Eltern berücksichtigt, die im Ausland leben. Bei der Untersuchung von Einwanderungsgesellschaften wie der Schweiz ist es essentiell, die Lebensrealität von Personen mit Migrationsgeschichte abzubilden.
Zuletzt wurde der Intergenerationenforschung von verschiedenen Seiten eine unzureichende theoretische Anbindung attestiert (Nauck und Steinbach 2009; Steinbach und Kopp 2008). Andere Autoren weisen darauf hin, dass die Familiensoziologie viele Theorieentwicklungen integriert hat und zur Zeit unter dem Paradigma eines weicheren Rational-Choice Ansatzes „Normalwissenschaft“ betreibe (Hill und Kopp 2015). Die Einigung auf eine Vorgehensweise hat den Vorteil, dass in relativ kurzer Zeit viel Wissen generiert werden kann, da familienökonomische Modelle an vielen Stellen anschlussfähig sind ohne ihren theoretischen Kern zu verlieren. Andererseits weist Burkart (2006, S. 181) auf eine Verselbstständigung der empirischen Generationenforschung von theoretischen Überlegungen hin. So meint er gar zu beobachten, dass die theoretische Verortung mit der Steigerung der Komplexität empirischer Methoden abnimmt.
In diesem Sinne greift auch die vorliegende Untersuchung auf ein Erklärungsmodell für intergenerationale Transfers zurück, in dessen Zentrum die Opportunitäten und Bedürfnisse der Eltern- und Kindergeneration stehen (Szydlik 2000). Finanzielle Transfers zwischen Generationen sollen in dieser Analyse aber nicht als Selbstzweck, sondern in Hinblick auf ihre Auswirkungen auf ökonomische Ungleichheiten untersucht werden. Für die Erforschung von Ungleichheiten waren lange insbesondere theoretische Ansätze relevant, die sich auf die gesellschaftliche Makroebene beziehen. Seit den 1980er Jahren wird vermehrt versucht, Zusammenhänge auf der Makroebene über das individuelle Handeln von Akteuren auf der Mikroebene zu erklären (Otte u. a. 2020; Schwinn 2020). Dazu bietet sich Colemans (1986) Makro-Mikro-Makro- bzw. Badewannenmodell an, welches ab den 1990er Jahren durch die Arbeiten von Esser (1993) im soziologischen Diskurs als „Grundmodell der soziologischen Erklärung“ Bekanntheit erlangte.
Abbildung 1.1 zeigt das Makro-Mikro-Makro-Modell der soziologischen Erklärung (vgl. Esser 2003, S. 98) angewandt auf die Reproduktion von sozialer Ungleichheit durch finanzielle Transfers zwischen Familiengenerationen. Auf der gesellschaftlichen Makroebene soll erklärt werden, ob und wie soziale Ungleichheit über Familiengenerationen reproduziert wird. Die soziale Situation und die Ungleichheit in der Elterngeneration \(G_1\) wirkt jedoch nur indirekt auf die soziale Ungleichheit in der Kindergeneration \(G_2\). Direkt wirken die soziale Situation und die aktuellen Ungleichheiten hingegen auf die einzelnen Akteure auf der Mikroebene.
Die Makro-Mikro-Verbindung, auch Logik der Situation genannt, beschreibt Aspekte einer sozialen Situation, die für einzelne Akteure und ihre Handlungen relevant sind. Dort werden die Ungleichheiten als Handlungsbedingungen wirksam (Rössel 2005). In sogenannten Brückenhypothesen wird zudem expliziert, wie sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen, etwa Normen oder Restriktionen, auf die Akteure auswirken. In einem zweiten Schritt der Erklärung, der Logik der Selektion, wird eine Handlungstheorie angegeben, die empirisch prüfbare Aussagen darüber macht, wie Akteure unter bestimmten Voraussetzungen handeln. Hier geht es also um die Frage, welche Faktoren finanzielle Transfers zwischen Generationen begünstigen und welche dafür eher hinderlich sind.
Zuletzt wechselt die Erklärung von der Mikro- wieder auf die Makroebene. In der Logik der Aggregation werden die Handlungen der einzelnen Akteure zu einem kollektiven Phänomen zusammengefasst. Die Aggregation kann analytisch erfolgen, beispielsweise durch die Berechnung von Quoten, oder empirisch, wenn etwa angegeben wird, wie die Handlungen einzelner Akteure zusammenwirken (Opp 2014). Für die vorliegende Fragestellung geht es in diesem Schritt um die Auswirkungen der finanziellen Transfers auf die soziale Ungleichheit in der Kindergeneration. Mit diesem letzten Analyseschritt von der Mikro- zur Makroebene tut sich die Forschung zu sozialer Ungleichheit bislang am schwersten (Schwinn 2020, S. 385).
In diesem Buch stehen finanzielle Transfers zwischen Generationen und ihr Einfluss auf die soziale und insbesondere die ökonomische Ungleichheit im Zentrum. Das Vorgehen orientiert sich am Grundmodell der soziologischen Erklärung. Kapitel 2 widmet sich dem ersten Teil des Modells, der Logik der Situation. Zunächst werden in Abschnitt 2.​1 die (1) Strukturebenen sozialer Ungleichheiten beschrieben. Danach wird auf (2) Determinanten und Dimensionen sowie (3) soziale und insbesondere ökonomische Ungleichheiten in der Schweiz eingegangen. Abschnitt 2.​2 beschreibt den sozialen Kontext, in dem finanzielle Transfers zwischen Familiengenerationen stattfinden. Hier werden (1) Aufgaben und Leistungen der Familie, (2) die unterschiedlichen Dimensionen von familialer Solidarität und (3) das Verhältnis der Generationen über die Lebensspanne thematisiert.
In Kapitel 3 steht die Logik der Selektion im Fokus. Zuerst wird die Theorie der Solidarität als allgemeine Handlungstheorie auf der Mikroebene beschrieben (Abschnitt 3.​1). Sie gibt an, (1) in welchen Situationen sich Akteure (2) wem gegenüber und in welchem Umfang solidarisch zeigen. (3) In einem dritten Schritt werden die theoretischen Überlegungen mit Generationenbeziehungen in Verbindung gebracht. Darauf aufbauend wird in Abschnitt 3.​2 ein konkretes Modell zur Erklärung finanzieller Transfers zwischen Generationen vorgeschlagen. Als Grundlage dient (1) das ONFC-Modell (Opportunity, Need, Family & Context) von Szydlik (2000). Es verortet Einflussfaktoren auf verschiedenen Ebenen und bildet (2) Opportunitäts- und Bedürfnisstrukturen der Kinder- und Elterngeneration sowie (3) den erweiterten familialen und kulturellen Kontext ab.
Die Prüfung der Hypothesen erfolgt mit Daten der ersten Welle des SwissGen Projektes (www.​suz.​uzh.​ch/​swissgen), die in den Jahren 2018/2019 erhoben wurden. Das Projekt wird in Kapitel 4 genauer vorgestellt. Die repräsentative Stichprobe (n=10’623 bzw. 20’698 Dyaden) bezieht sich auf die gesamte in der Schweiz wohnhafte Bevölkerung ab 18 Jahren. Der SwissGen-Fragebogen deckt alle wesentlichen Dimensionen von Generationenbeziehungen zu Müttern und Vätern aus Perspektive der erwachsenen Kinder ab. Die Daten erlauben differenzierte Analysen finanzieller intergenerationaler Solidarität in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, Landesteilen und über den Lebenslauf. Nach Vorstellung der Daten stehen die Analysemethoden (Abschnitt 4.​2) sowie die Operationalisierung der theoretischen Konzepte im Vordergrund (Abschnitt 4.​3).
Die empirischen Analysen folgen der Logik des Badewannenmodells. In Kapitel 5 werden die soziale Situation, in welcher finanzielle Transfers stattfinden sowie die Ungleichheitsstrukturen der Eltern- und Kindergeneration deskriptiv dargestellt. Kapitel 6 präsentiert multivariate Modelle zur Erklärung von Auf- und Abwärtstransfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern. Kapitel 7 stellt verschiedene Ansätze dar, wie die individuellen Transfers zusammengefasst werden könnten, um Aussagen über ihre Auswirkungen auf Ungleichheitsstrukturen treffen zu können. Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse der Analyse rekapituliert, bevor Anknüpfungspunkte für Forschung und Politik präsentiert werden.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
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Fußnoten
1
Um die sozialen Realitäten möglichst genau zu beschreiben, wird in dieser Arbeit eine möglichst inklusive Sprache verwendet. Alle Leserinnen und Leser, die sich dadurch in ihrer Geschlechtsidentität verunsichert fühlen, sind selbstverständlich immer mitgemeint.
 
Metadaten
Titel
Einleitung
verfasst von
Tamara Bosshardt
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43924-8_1

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