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15.04.2016 | Fahrwerk | Interview | Online-Artikel

"Die Kunst bei unserer Allradlenkung ist die Modularität"

verfasst von: Michael Reichenbach

8:30 Min. Lesedauer

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Interviewt wurden:
Dr.-Ing. Dirk Kesselgruber

Dr.-Ing. Dirk Kesselgruber ist Vice President Steering Engineering bei ZF TRW.

Dr.-Ing. Christoph Elbers

Dr.-Ing. Christoph Elbers ist Leiter der Vorentwicklung und Fahrdynamik in der ZF-Division Pkw-Fahrwerktechnik.

Lenkungen müssen präzise, sicher und CO2-effektiv, aber auch kostengünstig sein. Im Interview mit ATZ und Springer Professional antworten Dr. Christoph Elbers und Dr. Dirk Kesselgruber von ZF und ZF TRW, was ihre Allradlenkung zum automatisierten Fahren beiträgt und welche Entwicklungen in der Unternehmensgeschichte als revolutionär bezeichnet werden können.

Herr Dr. Elbers, Herr Dr. Kesselgruber, Sie haben in einen Prototyp auf Kompaktwagenbasis ein Allradlenksystem eingebaut, das aus elektrischer Front-Servolenkung und aktiver Hinterachskinematik besteht. Was trägt Ihre Allradlenkung zum automatisierten Fahren bei?

Kesselgruber: Der Zielkonflikt zwischen aktivem Fahrer und komfortablem Passagier lässt sich mit passiven Fahrwerksystemen heute nicht mehr auflösen. Mit der Automatisierung des Fahrens erlebt die Fahrwerkregelung eine Renaissance. Denn Themen wie Hinterachslenkung und aktive Aufbauregelung waren ja schon einmal da, hatten aber ein Nischendasein in Premiumfahrzeugen gefristet. Durch die hohen Komfortanforderungen beim automatisierten Fahren werden diese Themen heute für alle Endkunden interessant. So bekommt die Fahrdynamikregelung einen neuen Schwerpunkt in der Branche.

Elbers: Was wird möglich, wenn ich die Systeme vernetze, die ich als Bremse, Lenkung und Aufhängung sowieso an Bord habe? Dann kann ich die Quer-, Längs- und Vertikaldynamik verknüpfen und es lassen sich weitere Funktionen integrieren, die sich für zukünftige teil- oder vollautomatisierte Fahrzeuge nutzen lassen, um zum Beispiel automatisierte Lenkmanöver wie Überhol- und Spurwechselvorgänge durchführen zu können. Beim autonomen Fahren muss ich den Insassen nicht mehr als aktiven Fahrer mit seinem Wunsch nach Rückmeldung von der Straße sehen, sondern als Passagier, der es komfortabel haben will. Der möchte möglichst beschleunigungsfrei den Alltag genießen. Das Wanken und Nicken und die Störgrößen der Fahrbahnanregungen im hoch- wie im niederfrequenten Bereich muss ich für ihn mit aktiven Stoßdämpfern beherrschen und minimieren. Erst dann kann ich das Fahrzeug zum Beispiel als Büro nutzen.

Welche neuen Aufgaben kann das Fahrwerk übernehmen?

Elbers: Das klassische Fahrwerk ist jetzt so gut und auf dem Entwicklungsweg zur asymptotischen Annäherung an einem Optimum angelangt, dass ich da sehr viel Arbeit hineinstecken muss, um es noch ein paar wenige Prozente zu verbessern. Viel Potenzial liegt hingegen in neuen Funktionen von Assistenzsystemen. Denn hier, mit Kamera und Radar aus unserem Haus, in Kombination mit unseren mechatronischen Systemen bekomme ich wesentlich mehr für den Endkunden heraus, in dem ich die Sicherheit, die Fahrdynamik und den Komfort erhöhe. Und wenn Sie dann in Zukunft das Automobil automatisch fahren lassen wollen, Ihnen als Passagier aber beim Tippen mit dem Smartphone schlecht wird, dann kann ich den Mehrwert und die gewonnene Freiheit nicht optimal nutzen. Also spielt hier der (aktive) Fahrkomfort eine immer wichtigere Rolle.

Kesselgruber: Wenn man es wirklich ernst meint, den Fahrer aus der gesamten Regelkette zu nehmen, wird dies mit einem Standardfahrwerk in der Form nicht mehr gehen. Es wird sicherlich eine Art Einstiegsklasse geben, die über eine einfache Quer- und Längsführung den Fahrer bis zu einige Minuten Dauer von der Fahraufgabe entbinden wird. Erklärtes Ziel ist es aber, über eine deutlich längere Zeit hinweg und in deutlich komplexeren Fahrsituationen zu automatisieren. Hier wird eine maximale Ausfallsicherheit der wichtigsten Fahrwerkregelfunktionen erwartet.

Elbers: Die Kunst der zukünftigen Fahrwerke wie unserer Allradlenkung ist also die Modularität. Der OEM soll für den Endkunden frei wählen können, welche Systemausprägung angesagt ist. Das ist bei unserem modularem Hinterachssystem möglich: Die Basishinterachse kann in Verbindung mit einer elektrischen Vorderachslenkung konventionell aufgebaut sein. Ich kann sie aber auch mit der Hinterachskinematik AKC kombinieren, sodass ich sowohl sportlich agil als auch komfortabel unterwegs bin, oder sie mit einem elektrischen Antriebssystem in Richtung E-Mobilität nutzen.

Kesselgruber: Das müssen Sie sich wie eine Legoplatte vorstellen, wo sie durch Aufstecken verschiedener Produkte eine große Varianten- und Funktionsvielfalt realisieren können. Wichtig ist, dass die Domänen Bremse, Lenkung, Vertikaldynamik und Antrieb immer mehr durch die Vernetzung zusammenrücken. Wenn ich sie einzeln ansteuere, kann ich nicht so viel herausholen, als wenn ich sie im Verbund agieren lasse. Eins plus eins wird quasi zu drei. Durch die Verknüpfung der Vorder- mit der Hinterachse erhalte ich auch Vorteile bei My-split-Bremsungen, aber auch auf My-low-Strecken. Die Hinterachse hat höchste Giersensibilität und damit sehr schnelle Wirkung bei Gefahrenbremsungen.

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In den weltweiten Märkten gibt es unterschiedliche Erwartungen der Endkunden. Wo in der Triade wird Ihre Allradlenkung zuerst angenommen? In welchem Fahrzeugsegment?

Elbers: Wir sind mit der Hinterachskinematik gestartet mit dem Porsche 911 als Turbo, GT3 und GT3 RS sowie dem Audi Q7. Diese sind in Serie und stellen also zwei recht unterschiedliche Fahrzeugsegmente als Anwendung dar. Alle Fahrzeuge kommen aus Europa und bringen so einen Kristallisationspunkt mit sich. Nach dem Produktstart gibt es normalerweise eine Durchdringung erst einmal in die Breite innerhalb des Segments, dann mit dem Kosten-Nutzen-Effekt auch eine Migration in untere Klassen. Wir kommen aus der Nische heraus in preissensiblere Segmente.

Kesselgruber: Neben Europa sehe ich momentan in den USA ein sehr starkes Interesse. Hier bei uns in Europa liegt der Schwerpunkt der Endkunden auf der erlebbaren Fahrdynamik, in Nordamerika aber sind die Themen Trailering/Anhängerbetrieb und Manövrierbarkeit der großen Trucks und Pick-ups ein heißes Eisen. Das Interesse ist dort auch durch uns wiederbelebt worden.

In den Pkw verbaute Systeme müssen sich heute an ihrer CO2-Bilanz messen lassen. Wie viel Mehrgewicht bringt Ihre Allradlenkung auf die Waage?

Elbers: Grundsätzlich, wenn ich zusätzliche Systeme habe, die mir Sicherheit, Komfort und Agilität verbessern, kosten mich diese auch Gewicht. Unsere Bauteile sind aber so entwickelt, dass sie zum einen belastungsgerecht optimiert sind und alternative Leichtbaumaterialien mit nutzen. Zum anderen arbeiten beide Lenkungen vorne und hinten nach dem Power-on-Demand-Prinzip. Sie benötigen nur dann Energie, wenn auch tatsächlich gelenkt wird. Das spart Kraftstoff und CO2-Emissionen.

Ein Schwerpunkt der Forschung liegt auf dem energieeffizienten Fahrwerk. Welche Aktivitäten haben ZF und ZF TRW hier gemeinsam, um die verschärften Anforderungen an den CO2-Ausstoß von Verbrennungsmotorfahrzeugen und den Wunsch nach Reichweitenerhöhung von Elektroautos zu erfüllen?

Elbers: Alternative Materialien, neue Konstruktionen, Funktionsintegration und optimal an die Belastung angepasste Bauteile - mit diesen Stichworten und Beispielen sind die strategischen Ansätze umschrieben, die es für automobilen Leichtbau gibt. Besonders wirkungsvoll purzeln die Kilos, wenn es gelingt, möglichst viele dieser Leichtbaustrategien zu kombinieren. Im Pkw-Fahrwerk ist dies vor allem dann möglich, wenn man das Gesamtsystem Pkw-Achse unter Leichtbauaspekten neu überdenkt. Dies hat ZF zum Beispiel bei seinem Konzept einer Leichtbauhinterachse für Pkw getan. Zentrales Bauteil ist eine radführende Querblattfeder. Sie ist zum einen aus GFK, einem glasfaserverstärkten Kunststoff, mit deutlich geringerer Masse als der in Pkw-Achsen noch vorherrschende Werkstoff Stahl und hat eine hohe Anzahl klassischer Achsfunktionen wie Federung, Stabilisierung und Radführung in einem Element integriert.

Wie spielen bei Ihnen die Themen Bionik und 3-D-Druck zusammen?

Elbers: Neben neuen Materialien und Funktionsintegration ist für uns - etwas in die Zukunft geblickt - auch die Bionik ein heißes Thema. Wir können der Natur einiges abgucken. Und mit neuen Fertigungsverfahren wie der generativen Fertigung samt 3-D-Druck lässt sich die Bionik auch immer realistischer in Produkte umsetzen. Wir sollten darüber nachdenken, Strukturen zu generieren, die wir heute noch nicht effizient produzieren können. Ich bin flexibler in der Fertigung, ändere die CAD-Datei, erhalte schnell ein anderes Produkt, ohne in Werkzeuge gehen zu müssen. Aber wir sind mit Sicherheit heute noch nicht so weit, dass wir sagen können, Fahrzeug-Strukturbauteile mit der generativen Fertigung bei voller Belastbarkeit machen zu können.

Kesselgruber: Daneben haben wir noch die Elektromobilität, die für Reichweite und Wirtschaftlichkeit weiter optimiert werden muss. Jetzt in der Kombination aus ZF und ZF TRW kann das wichtige Thema Bremsrekuperation und Rückspeisung in die Batterie verbessert werden. Wir kennen die Eigenschaften von traditionellem Antrieb, E-Antrieb und Verzögerungstechnik, sodass wir nicht nur die Effizienz der Bauteile, sondern auch die der Regelstrategien optimieren. Nun können wir mit jeder Art der Antriebsarchitektur umgehen: Dass ist der große Vorteil der TRW-Integration. Es gibt keine Produktlücken bei uns.

Die Lenkung ist so alt wie das Automobil selbst. Welche Entwicklungen können in der Unternehmensgeschichte als revolutionär bezeichnet werden, welche zeichnen sich schon heute für die Zukunft ab?

Kesselgruber: Ich wollte jetzt nicht bis zu den Kutschen zurückgehen, aber bei der Lenkung gibt es drei Entwicklungssprünge. In den 1970er-Jahren fasste die hydraulische Servolenkung in der gesamten Marktbreite Fuß, womit ein Lenksystem das erste Mal von einem reinen Getriebe zu einer systemischen Betrachtungsweise fortentwickelt wurde. Dabei wurden auch akustische Themen erstmals gesetzt. Man konnte jede Art von Automobil mit Leichtigkeit zumindest ein- und ausparken. In den 1980er-Jahren gab es die zweite regelungstechnische Verbesserung, die Servotronic von ZF und die EPAS von TRW als elektrohydraulische Lenkungen. Hier haben wir Zielkonflikte elektronisch geregelt aufgelöst wie zwischen Leichtgängigkeit beim Parken und hoher Präzision bei schneller Fahrt. Die Pumpe wird nun fahrsituativ betrieben, verbraucht seit den 1990ern nicht mehr unnötig viel Kraftstoff. Dann haben alle im dritten Sprung auf die elektromechanische Lenkung in den 2000er-Jahren gewartet, weil man damit nun fahrerunabhängig Momente und Winkel stellen konnte. Erstaunlicherweise ist sie ja nicht über das Premiumsegment in die Fahrzeuge gekommen, sondern über die Kleinwagen.

Herr Dr. Elbers, Herr Dr. Kesselgruber, vielen Dank für das interessante Gespräch.

Den anderen Teil des Interviews können unsere Leser in der ATZ 6-2016 lesen, die am 27. Mai 2016 erscheinen wird.

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