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2024 | Buch

Framing Commodities

Ein Beitrag zur Erklärung der Preiskrise für Rohstoffe am Beispiel von Agrarprodukten

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Über dieses Buch

Die Jahre 2007/2008 brachten eine Preiskrise für Agrarprodukte und Nahrungsmittel, wie seit Jahrzehnten nicht mehr bekannt. Weltweit litten bis zu 115 Mio. Menschen zusätzlich Hunger. Unerhört war, dass die Krise im Vorfeld unerkannt blieb: Produktion und Verbrauch wurden wie in den Vorjahren angemessen prognostiziert, nicht aber die Preisspitzen und die Volatilität. Das Buch untersucht die Zusammenhänge, die zu dieser Preisekrise führten sowie auch die Gründe, warum deren Ursachen so lange unerkannt blieben.

Während in der Wissenschaft, in der Politikberatung und in den Medien ganz überwiegend „realwirtschaftliche“ Faktoren von Störungen bei Angebot und Nachfrage (unzureichende Ernten in einzelnen Ländern, geringe Bevorratung, Biosprit-Boom, Nachfrageerhöhung v.a. in Asien) diskutiert wurden, lassen sich diese Argumente leicht dekonstruieren. Weder einzeln noch im Zusammenwirken können realwirtschaftliche Faktoren die Höhe und v.a. die Volatilität der Preise auch nur annähernd erklären.

Dem gegenüber beklagen langjährige Akteure auf den Terminmärkten das zunehmende Auftreten neuer Akteure, die gewaltige Finanzvolumen einsetzen. Sie nutzen Terminbörsen für Rohstoffe – darunter Agrarrohstoffe – zur Absicherung ihrer Anlagen in anderen Märkten, da sich die Werte bei Rohstoffen angeblich gegenläufig zu anderen Anlageklassen bewegen. Zudem scheint es bei Terminkontrakten auf Rohstoffe eine Strategie zu geben, wie sich risikoarm verlässliche Renditen erzielen lassen.

Eine unrühmliche Rolle kommt langjährig ausgewiesenen Vertretern der Wissenschaft zu: Sie legen theoretisch und empirisch dar, dass Spekulation auf den Terminmärkten ganz überwiegend keine signifikant (negative) Rolle bei den Preisentwicklungen zuzumessen ist. Diese Sichtweise setzt sich in den Internationalen Organisationen durch. Lediglich der Untersuchungsausschuss des US-Senats folgt den Einwänden der Praktiker, die auf folgende Sachverhalte verweisen: Die Wissenschaft nutzt eine völlig unangemessene Datenbasis, die nicht geeignet ist, übermäßige Spekulation aufzudecken. Sie setzt zur Analyse methodische Werkzeuge ein, die gerade bei hoher Volatilität der Preise unangemessen sind. Sie nutzten Theorien, die nur in idealen (theoretischen) Umgebungen Erklärungsgehalt bieten und in der Praxis keinerlei Relevanz besitzen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Kapitel 1. Die Preiskrise für Agrarrohstoffe und ihre Folgen
Zusammenfassung
Preiskrisen für Agrarrohstoffe sind ein wiederkehrendes Problem für die Menschheit. Die Forschung hat gezeigt, dass diese Krisen i.d.R. erstens räumlich begrenzt sind und zweitens in erster Linie ein Armutsproblem. Vor diesem Hintergrund werden die Ausgangslage und Akteure in der gebotenen Kürze vorgestellt. Problematisiert wird, dass die Preiskrise trotz des erheblichen weltweiten Sachverstandes in Wissenschaft und Praxis im Vorfeld weitgehend unbemerkt einsetzte und in ihrem Ausmaß alle Prognosen übertraf. Erstaunlich ist dabei, dass Erzeugung und Verbrauch von Agrargütern relativ gut prognostiziert wurden, die Abweichungen zu Preisprognosen und v.a. die Volatilität der Preise dazu geradezu abenteuerlich erscheint.
Gerhard Halder
Kapitel 2. Agrarprodukte und Terminmärkte: Konventionelle Zugänge und Praktiken
Zusammenfassung
Vorgestellt werden zunächst Kennzahlen und Zusammenhänge zur weltweiten Erzeugung wichtiger Agrargüter im Vorfeld der Preiskrise. Es zeigt sich, dass durch Ertragssteigerungen in den letzten Dekaden Rekordernten eingefahren wurden. Auch die erzeugten Kalorien pro Kopf der Weltbevölkerung haben sich deutlich erhöht. Diese Befunde verdecken jedoch die Tatsache, dass die Steigerungen vielfach nicht als Brotgetreide verwendet werden, sondern als Viehfutter und für andere Zwecke. Anschließend wird die Funktionsweise der Terminmärkte erläutert, die der Absicherung und der Preisbildung dienen. Gezeigt werden typische Akteure, Regulierungen und Instrumente. Das Kapitel schließt mit einer Darstellung der drastischen Veränderungen, die sich nach der Jahrtausendwende einstellten: Deregulierungen und das Auftreten neuer Akteure auf den Rohstoffmärkten. Sie versuchen mit erheblichen finanziellen Mitteln, auf den Rohstoffmärkten Finanzmarktrisiken abzusichern, die sie an anderer Stelle eingegangen sind.
Gerhard Halder
Kapitel 3. Erkennen, erklären, kommunizieren, beeinflussen
Zusammenfassung
Die folgenden Abschnitte stellen Grund konzepte vor, die mit dem Begriff des Framings verbunden sind. Die grundlegenden Gedanken hinter dem Begriff des Framings sind die Vereinfachung einer komplexen Realität, die auf den Menschen einwirkt, aber auch ihre Sortierung und Ordnung. Anders als der deutsche Begriff der Rahmung bezieht sich der englische Begriff des Frame nicht nur auf eine Begrenzung, sondern auch auf die innere Struktur, die ein Objekt (hier die Rahmung) zusammenhält. Der Ansatz des Framings wurde von Callon (1999) auf die Finanzmärkte angewendet. Autoren der Social Studies of Finance zeigen, dass Framing im Zentrum der Preisbildungsprozesse von Finanzmärkten steht. Der Preisbildungsprozess lässt sich als sozialer Prozess beschreiben, in dem globale Mikrostrukturen (Knorr-Cetina und Bruegger, 2002), die performative Wirkung kalkulativer Devices mit ihrer Tendenz zu gleichgerichtetem Handeln sowie komplexe, Framing-bezogene Kommunikation zusammenwirken.
Gerhard Halder
Kapitel 4. Wie funktionieren Terminmärkte? Erklärungen der Social Studies of Finance
Zusammenfassung
“[The market is] everything. Everything. How loudly he’s screaming, how excited he gets, who’s selling, who’s buying, where, which centre, what central banks are doing, what the large funds are doing, what the press is saying, what’s happening to the CDU, what the Malaysian prime minister is saying, it’s everything – everything all the time” (Knorr-Cetina und Bruegger 2002c, S. 168). In der genannten Schrift antwortet ein international erfahrener Händler in einem offenen Interview auf die Frage, was der Markt für ihn sei. Preisbildungsprozesse an den Terminmärkten lassen sich entsprechend als sozialen Prozess beschreiben, in dem erstens globale Mikrostrukturen (Knorr-Cetina und Bruegger 2002a), zweitens die performative Wirkung kalkulativer Devices mit ihrer Tendenz zu gleichgerichtetem Handeln sowie drittens komplexe Framing‐Prozesse zusammenwirken (Hardie und MacKenzie, 2007). Grundlegend dabei ist, dass elektronische Werkzeuge Akteure weltweit zu einem Netz „unsichtbarer Nähe“ verbinden. Vor diesem Hintergrund non-verbaler Kommunikation erfolgen „Plausibilisierungen“ (als Teilaspekt von Framing) der Preisbewegungen durch Akteursnetzwerke. Ein Merkmal der Akteursnetzwerke ist asymmetrische Information (innerhalb und zwischen Akteursnetzwerken). Aber bereits grundlegend lässt sich argumentieren, dass die Einführung und Etablierung neuer Märkte (für Produkte oder Produktklassen; hier der Terminmärkte für Agrarrohstoffe bezüglich „neuer“ Akteure aus der Rendite suchenden Finanzwirtschaft) bedarf Prozesse der Vereinbarung und Standardisierung, z.B. des Produkts, der Spezifikationen, der Bewertung der Werthaltigkeit, den Formen und Räumen des Austauschs. Diese komplexen Prozesse und Vereinbarungen werden unter dem Begriff des Marketizations gefasst (Berndt und Boeckler, 2009).
Gerhard Halder
Kapitel 5. Anwendung: Framing Commodities
Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden framings vorgestellt, die in den Schriften zur Preiskrise für Nahrungsmittel der Jahre 2007/2008 deutlich werden. Jedes einzelne Framing beruht auf einem nachweisbaren „disentanglement“, also einer Herauslösung des zentralen Arguments eines Frames aus einem ursprünglichen (komplexeren) Zusammenhang und seiner konstruktiven Verbindung mit neuen Elementen (entanglement). Neben Framings, deren herausgelöste und neu verknüpfte Information (scheinbar!) steigende Preise für einzelne Agrargüter nahelegt, lassen sich drei Metaframings identifizieren. Sie werden so bezeichnet, weil der jeweils herausgelöste und neu verknüpfte argumentative Kern nahelegt, Investitionen in (Agrar-)Rohstoffe seien grundsätzlich eine lukrative Anlageform - unabhängig von der jeweiligen Lage der Fundamentalfaktoren von Angebot und Nachfrage.
Gerhard Halder
Kapitel 6. Ergebnis: Ökonomische Theorien und Modelle – und die Praxis
Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden die wesentlichen Ergebnisse zusammengefasst. Erstens hat sich gezeigt, dass die Knappheit von Angebot und Nachfrage (Fundamentalfaktoren) nicht annähernd in der Lage ist, die Höhe der Preise und v.a. ihre Volatilität zu erklären. Zweitens, dass trotz der drastischen Wortwahl von einem weitgehenden Versagen der US-Agrarökonomie zu sprechen ist. In Kenntnis der hochproblematischen Datenlage und der Begrenztheit der methodischen Werkzeuge, deren Einsatz bei volatilen Preisen schlicht unangemessen ist, argumentieren sie vehement gegen die Möglichkeit, dass die Ereignisse auf den Terminmärkten einen wesentlichen Beitrag zur Krise leisten. Drittens wenden sie erklärend idealtypisches Lehrbuchwissen an, das Praktiker als weltfremd entlarfen. Letztlich wird die Krise nur erklärbar, wenn die Preisbildungsprozesse auf der Mikroebene Beachtung finden: Es sind letztlich komplexe Framing-Prozesse, die in Verbindung mit technischen Devices und intensiver Kommunikation das aufbauen, was euphemistisch als "eine Erwartungskomponente der Marktteilnehmer" bezeichne wird (LBBW 2008. S. 96).
Gerhard Halder
Backmatter
Metadaten
Titel
Framing Commodities
verfasst von
Gerhard Halder
Copyright-Jahr
2024
Electronic ISBN
978-3-658-42930-0
Print ISBN
978-3-658-42929-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-42930-0