10.1 Einleitung
10.2 Theoretische Grundlagen
10.2.1 Grundlagen der Agilität
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Ein größeres Bewusstsein für sich selbst, ihre wichtigsten Stakeholder und das Umfeld, in dem sie ihr Geschäft betreibt.
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Ein größeres Wissen über ihre wichtigsten Schwachstellen und die Auswirkungen, die diese Schwachstellen auf die Organisation haben könnten; sowohl negativ als auch positiv.
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Die Fähigkeit, sich an veränderte Situationen mit neuen und innovativen Lösungen anzupassen und/oder die Fähigkeit, die bereits vorhandenen Werkzeuge anzupassen, um mit neuen und unvorhergesehenen Situationen umzugehen.
Dimension | Ausprägung |
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Situationsbewusstsein(„situation awareness“) | - Fähigkeit, Gelegenheiten (Opportunities) und Krisen positiv zu bewerten - Fähigkeit, Krisen und deren Konsequenzen zu erkennen und darauf zu reagieren - Erweitertes Verständnis für die Faktoren zur Auslösung einer Krise - Bewusstsein für intern und extern verfügbare Ressourcen - Verständnis für operative Minimalanforderung, um sich von der Krise zu erholen - Bewusstsein für die Anforderungen, Erwartungen und Limitierungen in den Beziehungen zu internen und externen Stakeholdern |
Umgang mit organisationalen Schlüsselstellen („management of keystones vulnerabilities“) tangibel und intangibel | - Gebäude - IT-Ausstattung - Manager, Entscheidungsträger und relevante Personen - Beziehungen zwischen internen und auch externen Funktions- und Organisationseinheiten - Kommunikationsstrukturen - Wahrnehmung der strategischen Vision der Organisation |
Anpassungsfähigkeit („adaptive capacity“) | - Führung und Entscheidungsstrukturen - Akquisition und Umgang mit Informationen und Wissen - Kreativität und Flexibilität, die die Organisation fördert oder toleriert |
„an effective integration of response ability and knowledge management in order to rapidly, efficiently and accurately adapt to any unexpected (or unpredictable) change in both proactive and reactive business/customer needs and opportunities without compromising with the cost or the quality of the product/process“ (Ganguly et al., 2009, S. 411)
10.2.2 Digitale Transformation und Unternehmenskultur
10.2.3 Entwicklungsstufen von Organisationen
„Im Holokratie-Ansatz wird eine Organisation (z. B. Unternehmen, Institution, Verein etc.) als Menge zusammenwirkender und dennoch autonom handelnder Rollen beschrieben. Jede Rolle ist über einen speziellen Zweck, einen Zuständigkeitsbereich und Aufgaben definiert.“ (Grote & Goyk, 2018, S. 81)
10.2.4 Charakteristika von agiler Führung
10.2.5 Führungsansätze bei agiler Führung
Bezeichnung Führungsansatz | Kurzerklärung des Führungsansatzes | Relevanz agile Führung |
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Beidhändige Führung | Die Digitalisierung beeinflusst die Kerngeschäfte von Unternehmen stark. Es gilt deshalb, kurzfristig mit sogenanntem „schließendem Verhalten“ für Effizienz und eine Verbesserung der Produktion zu sorgen. Dies geschieht mittels Top-down-Führung. Um Innovationen kreieren zu können und Neuland zu erschließen, benötigt es gleichzeitig ein „öffnendes Verhalten“, welches Freiräume für Mitarbeitende schafft. Im Kern bedarf es somit der Fähigkeit, gleichzeitig innovativ (effektiv) und kostenorientiert (effizient) agieren zu können. Diese Beidhändigkeit wird auch als Ambidextrie („ambidexterity“) bezeichnet. | Unternehmen, welche eine solche beidhändige Führung einsetzen, sind eher erfolgreich und können (eher) langfristig überleben als Unternehmen, die beidhändige Führung vernachlässigen. Zu diesem Schluss kommen gemäß Duwe mehrere empirische Studien übereinstimmend. |
Servant Leadership | Das Ziel von Servant Leadern ist die Verbesserung der Leistung des Teams. Dazu müssen sie in der Lage sein, Kontrolle abzugeben und dem Team zu vertrauen. Servant Leader sollen ihren Geführten dienen, beispielsweise, indem sie keine Vorgaben zur Organisation des Teams machen, sondern das Team bei seiner Selbstorganisation unterstützen. Gleichwohl Bedarf es zum Ende klarer Regeln der (Selbst-)Organisation. „Moderne“ bzw. „agile“ Konzepte sind nicht regelfrei. Speziell im Rahmen der Selbstorganisation sind Regeln von hoher Bedeutung. | In Scrum sollte beispielsweise der Scrum Master die Rolle eines Servant Leaders einnehmen. |
Laterale Führung | Laterale Führung heißt Führung von der Seite. Dies meint Führung, ohne über eine Weisungsbefugnis zu verfügen (Führung ohne „formale Macht“). Dadurch müssen sich lateral führende Personen eine Legitimation erarbeiten. Dies gelingt, indem beispielsweise Expertenwissen genutzt und die Person als integer wahrgenommen wird. Aufgrund der nicht vorhandenen formalen Macht erreichen lateral Führende nicht immer, was sie sich vorgestellt haben. Für die laterale Führung sind die drei Konzepte bzw. Bereiche „Verständigung“, „Macht“ und „Vertrauen“ von besonderer Bedeutung. | In netzwerkartig strukturierten Organisationen, in Organisationen mit vielen Projekten und in Organisationen mit flachen Hierarchien ist laterale Führung von besonderer Bedeutung. In der Praxis kommt es vor, dass dieser Ansatz von Personen, welche Macht innehaben, eingesetzt wird. Es wird dabei aber versucht, diese Macht nicht auszunutzen und dennoch auf Augenhöhe zu führen. |
Positive Leadership (Preussig & Sichart, 2018, S. 2065–2155) | Positive Leadership basiert auf der positiven Psychologie und der Glücksforschung. Das Fördern der Stärken der Mitarbeitenden liegt im Fokus. Dieser Ansatz steht stark mit dem Flow-Konzept des Psychologen Mihály Csíkszentmihályi in Verbindung. | Der Mensch wird als „das einzig Sichere“ angesehen und alles andere als volatil. Dadurch wird der Fokus auf den Menschen gelegt. |
10.2.6 Instrumente bei agiler Führung
Bezeichnung agiles Instrument inkl. Quellen | Kurzerklärung des agilen Instruments | Relevanz agile Führung |
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Scaled Agile Framework (SAFe) | Ein Framework, welches dazu dient, die Agilität innerhalb der Organisation zu skalieren. Es bietet eine agile Ablauforganisation und baut stark auf Scrum auf. | (Scrum ist für die Anwendung auf ein Team konzipiert.) SAFe hilft z. B., wenn im Rahmen eines Programms parallel zusammenhängende Projekte ablaufen. Herstellung einer Gesamtsicht. |
Kanban-Board (Gresser & Freisler, 2017, S. 126 ff.) | Auf dem Board ist sofort ersichtlich, welche Aufgaben im Projekt existieren und wie der Status jeder Aufgabe ist. Es gilt das „Pull-Prinzip“ (mögliche „klassische“ Phasen eines Kanban-Boards: Backlog, To-do, Doing, Done) | Stammt ursprünglich aus dem Kaizen und der Produktionsindustrie. Es ist nun aber schon lange ein etabliertes Instrument im Projektmanagement und im Bereich der Organisation sowie Prozesse. |
Stand-up-Meetings (Hofert, 2016, S. 103 f.) | Täglich stattfindende, 5- bis 15-minütige Meetings, welche klar strukturiert sind und im Stehen stattfinden. | Sind in Projekten relevant und dienen dazu, zu sehen, woran gerade gearbeitet wird und was bereits erledigt wurde. Schneller Austausch an Informationen zwischen Mitgliedern eines Teams und darüber hinaus. |
Teamentscheidung (Hofert, 2016, S. 223–226) | Das Team entscheidet demokratisch, beispielsweise bei Optionsentscheidungen, man stimmt bei jeder Option mit „Ja“ oder „Nein“ ab oder enthält sich, und es wird die Option mit der Stimmenmehrheit gewählt. | Verteilt die Verantwortung einer Entscheidung auf mehrere Personen. |
Konsultativer Einzelentscheid (Hofert, 2016, S. 195 ff.) | Beim konsultativen Einzelentscheid ist es das Ziel, dass eine Person mit ihrem Wissen und ihrer Kompetenz unter Konsultation des Teams entscheidet. | Dieses Instrument ist bei Entscheidungen, bei denen keine klaren Optionen vorhanden sind, relevant (Wissensentscheidungen). |
Konsent (Bartonitz, 2018, S. 86–87 | Beim Konsent werden Vorschläge in Entscheidungsprozessen angenommen, wenn nicht etwas Schwerwiegendes dagegenspricht. Einwände gegen den Vorschlag werden als Vorschläge der Verbesserung mit einer guten Absicht angesehen. Personen, die Einwände vorbringen, werden eingeladen (aufgefordert), die Lösung mit ihrem Einwand zu verbessern, um so eine Entscheidung treffen zu können. | Im Konsent wird nicht die „absolut“ und „für immer gültige“ beste Lösung angestrebt. Wichtig ist, dass eine Entscheidung getroffen und eine Lösung erzeugt wird, um keinen Stillstand in der Organisation zu haben. |
Delegation Poker (Appelo, o. J.) | Dieses Instrument differenziert das Delegieren in unterschiedliche Stufen. Es ist so vorgesehen, dass der Delegationsgrad Stufe für Stufe erhöht werden soll, damit sich das Team daran gewöhnt. | Für Führungskräfte ist es oft schwierig, das richtige Maß an Delegation zu finden. Delegation kann die Qualität von Entscheidungen steigern. |
360-Grad-Feedback | Dabei soll eine Rundumbewertung von unterschiedlichsten Stakeholdern erfolgen. Diese wird kontinuierlich und nicht nur einmal im Jahr durchlaufen. | Feedback ist im agilen Kontext zentral. Da das Feedback aus mehreren Perspektiven stammt, sind die Qualität und die Akzeptanz besser. |
Team Recruiting (Hofert, 2016, S. 226 ff.) | Das Team stellt selbst fest, dass zusätzlich jemand benötigt wird, und führt den Einstellungsprozess selbst durch. Es gibt auch weniger starke Ausprägungen davon, z. B. dass das Team einfach über ein Vetorecht verfügt. | Der Einsatz des vollumfänglichen Team Recruitings setzt eine ausgeprägte Selbstorganisation voraus. |
10.3 Empirie
10.3.1 Methodik
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Was ist agile Führung?
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Was sind allgemein die Voraussetzungen für agile Führung?
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Welche Kompetenzen und Fähigkeiten benötigen Mitarbeitende in agiler Führung?
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Ist agile Führung im Interesse der Mitarbeitenden?
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Was sind die Vorteile agiler Führung?
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Agilität in der Praxis
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Voraussetzungen für agile Führung aus Praxissicht
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Ansätze und Ausprägungen agiler Führung
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Treffen von Entscheidungen in agiler Führung
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Vorteile des agilen Führens
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Führungsansätze agiler Führung
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Instrumente agiler Führung
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Mitarbeitende bei agiler Führung
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Benötigte Kompetenzen und Fähigkeiten der Mitarbeitenden bei agiler Führung
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Agile Führung im Interesse der Mitarbeitenden
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Überforderung von Mitarbeitenden bei agiler Führung
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Interviewte Person (anonymisiert) | Relevante Rolle/Position | Unternehmen anonymisiert |
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1 | Lead Link Marketing & Communication | Holokratisches KMU |
2 | Lead Link Talent | Holokratisches KMU |
3 | Chief Operation Officer; Solution Architect | Ein KMU, welches holokratisch organisiert war, bis vor einiger Zeit Holokratie als fast zu extrem empfunden und die Organisationsform deshalb angepasst wurde, sodass dieses nun als Mischform bezeichnet werden kann. Da holokratische Aspekte überwiegen, wurde es für die Auswertung dennoch zur Kategorie der holokratischen Unternehmen gezählt. |
4 | Service Delivery; Coach; versch. Rollen im People & Partnership Circle | Holokratisches KMU |
5 | Coach; Aus- und Weiterbildungsverantwortlicher | Holokratisches KMU |
6 | Co-Leitung | Holokratisches KMU |
7 | Holacracy-Implementation-Lead | Holokratisches KMU |
8 | Agile Coach | Schweizer Großunternehmen 1 |
9 | Innovationscoach; Agile Coach | Schweizer Großunternehmen 2 |
10 | Werkleitung agile Transformation; Owner User Experience | Global agierendes Großunternehmen |
11 | Agil Master | Global agierendes Großunternehmen (Interviewpartner 10 und 11 arbeiten im selben Unternehmen) |
10.3.2 Erkenntnisse Empirie
10.3.2.1 Agilität in der Praxis
10.3.2.2 Voraussetzungen für agile Führung aus Praxissicht
10.3.2.3 Ansätze und Ausprägungen agiler Führung
„Ich muss nicht jeden fragen und nur wenn jeder Ja sagt, ist es Okay. Genau, ich sage jetzt mal, ich komme herein und sage, ich habe eine Spannung, ich mache jetzt ab morgen einen Kiosk und verkaufe dort „Schoggistängeli“. (…) wenn dieser Einwand, den irgendjemand hat, nicht aufweisen kann, dass er in seiner Rolle betroffen ist und vor allem das Geschäft geschädigt wird, (…) muss mir nachgewiesen werden können, dass mit meiner Kiosk-Idee das Geschäft geschädigt wird. Das kann fast niemand. (…) Und das ist der Shift. Vorhin hätte ich garantiert von irgendjemandem wegen einer Befürchtung ein Nein gekriegt, und das wäre dann einfach unter den Tisch gefallen. Und so werden ja auch viele gute Initiativen verunmöglicht.“ (Interviewpartner 7, 2020, D7:31)
„Wir haben zum Beispiel auch sechs Wochen Ferien, weil Mitarbeiter so gut argumentieren konnten, dass diese sechste Woche einfach die Leistung steigert, und die haben wir jetzt, und auch so kann man sich einbringen.“ (Interviewpartnerin 2 2020)
Führungsansatz | Häufigkeit der Nennung | Bemerkung |
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Laterale Führung | Von allen | Zwei interviewte Personen haben laterale Führung explizit genannt, der Rest hat Eigenschaften davon implizit erwähnt. |
Servant Leadership | Von allen | Sämtliche interviewten Personen haben mehrere Aspekte genannt, welche der dienenden Führung zuzurechnen sind. |
Transformationale Führung | Von allen | Gemäß Hofert unterscheidet sich Servant Leadership kaum von transformationaler Führung (Hofert, 2019, S. 120). Dadurch wird der Vollständigkeit halber hier auch die transformationale Führung noch aufgeführt. |
Positive Leadership | Von allen | Wurde von beiden interviewten Personen global agierender Großunternehmen genannt. Grundlegende Aspekte davon werden aber auch in den anderen befragten Unternehmen eingesetzt. |
Beidhändige Führung | Von zwei Interviewpartnern | Dieser Ansatz wurde nur von zwei Interviewpartnern genannt, welche beide in Schweizer Großunternehmen tätig sind. |
Instrument | Unternehmen, welche es verwenden | Bemerkung |
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Delegation Poker | Nur Nicht-Holokratieunternehmen | Da das Instrument, welches dazu dient, das richtige Maß an Delegation zu finden, nur von den drei nicht-holokratischen Unternehmen eingesetzt wird, macht es den Eindruck, als ob nur diese Unternehmen beim passenden Maß der Delegation Unterstützung bräuchten. In Holokratie sind die Rollen mit den Accountabilities äußerst klar definiert, und bei Unklarheiten bzw. Spannungen werden diese in einem entsprechenden Meeting angesprochen und geklärt. Somit existiert, zumindest bei den befragten Holokratieunternehmen, kein Bedürfnis nach diesem Instrument. |
Scaled Agile Framework (SAFe) | Nur Nicht-Holokratieunternehmen | Auch dieses Instrument wird von den befragten Unternehmen ausschließlich von den Nicht-Holokratieunternehmen verwendet. Da es um das Skalieren der Agilität geht, ist es durchaus schlüssig, dass nur die drei Großunternehmen dies verwenden und nicht die holokratischen KMU. |
Kanban-Board | Alle Unternehmen | Sämtliche befragten Unternehmen setzen das Kanban-Board ein. In der Regel verwenden sie es als digitales Tool, sowohl Trello als auch Jira wurden mehrmals genannt. |
Stand-up-Meetings | Alle Unternehmen | Stand-up-Meetings sind in allen befragten Unternehmen alltäglich. |
Team Recruiting | Mehrheit der Unternehmen | Das Team wird von den meisten befragten Unternehmen in den Rekrutierungsprozess neuer Mitarbeitender eingezogen. Die Ausprägungen sind sehr unterschiedlich. Während bei einigen Unternehmen das Team in der Rekrutierung vom Feststellen des Personalbedarfs bis zur Einstellung einer Person eigenständig bleibt, gibt es in anderen Unternehmen beispielsweise für das Team lediglich ein Vetorecht. „Rekrutierung von einem Mitarbeiter war früher Sache des Teamleaders (…). Heute undenkbar! Heute macht das hauptsächlich das Team, weil, das Team weiß viel besser, wo sind die Pains, wo sind die Skills, die wir benötigen, welche Person würde ins Team passen etc.“ (Interviewpartner 9, 2020). |
360-Grad-Feedback | Global agierendes Großunternehmen | Feedback spielt in allen befragten Unternehmen eine Rolle. Aber das Instrument 360-Grad-Feedback wird nur vom größten der befragten Unternehmen eingesetzt. |
10.3.2.4 Mitarbeitende bei agiler Führung
„Also die Leute wollen das, wir merken das auch an der Jobfront, dass das ein Selling Point ist, dass man agil, eine agile Organisation hat mit Selbstverantwortung. Die Leute suchen das.“ (Interviewpartner 5, 2020)
„Und wenn diese Person die Leute glücklich macht, muss ich meine Führungsstruktur so anpassen (…) vermutlich wäre ein Einstein auch nicht gewillt gewesen, in eine agile Organisation zu gehen.“ (Interviewpartner 3, 2020)