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2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

„Ihre Forschung ist nicht systemrelevant.“ Qualitative Sozialforschung in der Krise. Ein Kommentar

verfasst von : Jo Reichertz

Erschienen in: Krisen des Feldzugangs

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Der mit dem Coronavirus und dessen Gefährlichkeit begründete Lockdown des gesellschaftlichen Lebens nicht nur in Deutschland von März 2020 bis April 2021 hat zu einem Stillstand fast jeder Art von ‚kontaktgebundener‘ Sozialforschung geführt – unabhängig davon, ob sie qualitativ/interpretativ oder quantitativ vorgeht.

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Fußnoten
1
Die Corona Pandemie hatte natürlich auch eine Fülle von Publikationen zur Folge, die schon sehr früh weitreichende Folgen für die Gesellschaft prognostizieren. Hier nur einige wenige Verweise: Latour (2021); Volkmar und Werner (2020); Kortmann und Schulze (2020).
 
2
Vieles von dem hier Geschriebenen berührt nicht nur die empirische Sozialforschung, sondern jede Art von wissenschaftlicher Arbeit, bei der die Corona-Pandemie zur Folge hat, dass man bestimmte Methoden der Datenerhebung bzw. der Datenrekonstruktion und Datenauswertung nicht mehr anwenden darf. Betroffen, wenn auch indirekt und auf andere Weise, ist auch die wissenschaftliche Praxis, welche für die Arbeit gut funktionierende Bibliotheken und/oder Archive benötigt. Neben der Forschung sind auch die universitäre Lehre, das Prüfungswesen, die Karrieren und die Verwaltung massiv betroffen. Wenn ich hier dennoch auf die empirische Sozialforschung und deren Probleme engführe (und die anderen Themen nur streife), dann allein aus dem Grund, weil ich mich damit besser auskenne.
 
3
Zum Zeitpunkt der letzten Durchsicht dieses Artikels, also im Sommer 2022, ist die Lage zwar relativ entspannt (der Vortrag wurde im Sommer 2021 gehalten), aber niemand weiß, was im Herbst und Winter 2023 passieren wird. Registrieren konnte man in den letzten zwei Jahren, dass in der Forschung die Arbeit teilweise massiv umgestellt wurde: Arbeitspraktiken, die auf persönliche Anwesenheit angewiesen sind, wurden sehr stark ersetzt durch Praktiken der Fernanwesenheit. Es ist gerade nicht so geworden, dass Forschung wieder so stattfindet wie vor der Pandemie, sondern sowohl die Universitäten als auch die Forschenden haben verschiedene Arbeitspraktiken auf Fernanwesenheit umgestellt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die durch den Krieg Russlands mit der Ukraine verursachte Knappheit an Energie dazu führt, dass man auch an den Hochschulen und Instituten nicht nur die Raumtemperaturen herabsenkt, sondern zudem empfiehlt, wenn möglich die Forschungsarbeiten von zuhause aus zu betreiben. Da niemand genau weiß, was im Herbst und Winter 2023 an Forschung noch möglich sein wird, verschieben Projektleiter_innen den Start eines Projekts, wenn möglich, in das Frühjahr 2022, um dann wieder mit mehr Körperanwesenheit arbeiten zu können.
 
4
Zu den ersten Projektergebnissen siehe Keysers und Nebowsky 2020; Reichertz 2020c, Reichertz et al. 2020; Nebowsky und Spiekermann 2021; Reichertz 2021c, 2023; Roth und Reichertz 2020.
 
5
In der Tat hat die DFG sich mittlerweile darauf eingestellt. So hat sie im März 2022 auf ihrer Homepage Hinweise bei Beeinträchtigung von Forschungsvorhaben und Biografien durch die Pandemie für alle Antragsteller_innen veröffentlicht. Dort wird konstatiert, dass die durch die Corona Pandemie ausgelösten Beeinträchtigungen in der Forschungstätigkeit „einen unmittelbaren Einfluss auf die Genese und den Fortgang von Forschungsprojekten und auch wissenschaftlichen Lebensläufen“ (DFG 2022) haben. „Diese Beeinträchtigungen schlagen sich letztlich im zeitlichen und inhaltlichen Projektverlauf sowie in den persönlichen Expertisen nieder und treten spätestens in der Begutachtung neuer und fortzusetzender Forschungsprojekte zutage. Um dieser Problematik individuell Rechnung zu tragen, haben Antragstellenden die Möglichkeit, die Auswirkungen der Pandemie sowie Strategien zu deren Bewältigung im Forschungsantrag sowie im Lebenslauf zu thematisieren. Relevante Punkte umfassen den betroffenen Zeitpunkt und Zeitrahmen im Projektverlauf, die Benennung konkreter Einschränkungen sowie alternativer Lösungswege bei der Projektbearbeitung. (….) Gutachtende und Gremienmitglieder werden gebeten, die genannten Einschränkungen in den individuellen und gesamtfachlichen Kontext zu setzen und bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.“ (DFG 2022). Für mich klingt das allerdings wenig beruhigend, sondern es nährt eher die Befürchtungen, dass kontaktgebundene Forschung in Zukunft weniger stattfindet.
 
6
Dass die Bearbeitung des ethischen Problems keineswegs trivial ist, mag folgende Begebenheit erläutern. Ironischerweise habe ich auf einem Workshop, der mit der Software Zoom (als Freeware) organisiert wurde, berichtet, dass ich mit den Familien, die ich im Rahmen des Projekts Kommunikation und Demenz begleite, auch mittels WhatsApp kommuniziere. Mit Vehemenz wurde ich danach gefragt, ob ich diese Maßnahme von der Ethikkommission hatte genehmigen lassen. WhatsApp sei doch datenrechtlich vollkommen unsicher. Die betroffenen Familien darüber nicht aufzuklären, sei in hohem Maße unethisch. Eine Ethikkommission könne einer solchen Maßnahme nicht zustimmen. Wie gesagt – alles wurde in großem Rahmen via Zoom kommuniziert. Was in dieser Debatte nicht stattfand, das war die Klärung der Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Auf der einen Seite steht die Möglichkeit, dass WhatsApp die Metadaten der Handys der Nutzerinnen abgreift (aber wegen Ende-zu-Ende-Verschlüsselung keinen Zugriff auf die Inhalte oder versandte Bilder hat), auf der anderen Seite steht die Ermöglichung der Kommunikation mit Menschen, die unter der pandemiebedingten Isolation besonders leiden und für die in ihrem alltäglichen Leben WhatsApp ein viel genutztes Mittel ist, mit anderen zu sprechen und Informationen und Bilder zu teilen (vgl. auch Kaufmann und Peil 2020).
 
7
Ob eine solche nachhaltige Reisepolitik dem wissenschaftlichen Fortschritt und der wissenschaftlichen Kooperation guttut, darf bezweifelt werden. Zumindest die Industrie hat hier schon deutlich zurückgerudert. So nahm 2022 die Zahl der Geschäftsreisen trotz Energiekrise und Videokonferenzen deutlich zu. Der Grund hierfür: „Die Dienstreise ist die schnellste Möglichkeit, Vertrauen aufzubauen. Das können Sie ein online einfach nicht schaffen“, so Christoph Carnier, Präsident des Verbandes Deutsches Reisemanagement (ZEIT vom 29. Sep. 2022: 23).
 
8
Alle Bestimmungen sind den Vorgaben einer deutschen Hochschule entnommen.
 
Literatur
Zurück zum Zitat Basch, J., Melchers, K., Kurz, A., Krieger, M., & Miller, L. (2020). It Takes More Than a Good Camera: Which Factors Contribute to Differences Between Face-to-Face Interviews and Videoconference Interviews Regarding Performance Ratings and Interviewee Perceptions? Journal of Business and Psychology. https://doi.org/10.1007/s10869-020-09714-3.CrossRef Basch, J., Melchers, K., Kurz, A., Krieger, M., & Miller, L. (2020). It Takes More Than a Good Camera: Which Factors Contribute to Differences Between Face-to-Face Interviews and Videoconference Interviews Regarding Performance Ratings and Interviewee Perceptions? Journal of Business and Psychology. https://​doi.​org/​10.​1007/​s10869-020-09714-3.CrossRef
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Zurück zum Zitat Keysers, V., & Nebowsky, A. (2020). Über Salutozentrismus und Fallstricke der Deutung ethnographischer Situationen. In R. Hitzler, S. Kreher, N. Schröer, & A. Poferl (Hrsg.), Ethnographie der Situation (S. 455–470). Oldib. Keysers, V., & Nebowsky, A. (2020). Über Salutozentrismus und Fallstricke der Deutung ethnographischer Situationen. In R. Hitzler, S. Kreher, N. Schröer, & A. Poferl (Hrsg.), Ethnographie der Situation (S. 455–470). Oldib.
Zurück zum Zitat Kortman, B., Schulze, G. G. (Hrsg.). (2020). Jenseits von Corona. transcript. Kortman, B., Schulze, G. G. (Hrsg.). (2020). Jenseits von Corona. transcript.
Zurück zum Zitat Kusenbach, M. (2003). Street phenomenology: The go-along as ethnographic research tool. Ethnography, 4(3), Special Issue: Phenomenology in Ethnography, 455–485. Kusenbach, M. (2003). Street phenomenology: The go-along as ethnographic research tool. Ethnography, 4(3), Special Issue: Phenomenology in Ethnography, 455–485.
Zurück zum Zitat Latour, B. (2021). Wo bin ich? Suhrkamp. Latour, B. (2021). Wo bin ich? Suhrkamp.
Zurück zum Zitat Nebowsky, A.-E., & Spiekermann, N. (2021). Kommunikativer Tod durch Demenz? Wie die Beziehungsidentität Kommunikationsmacht erhält. In O. Bidlo, V. Keysers, M. Roslon, & N. Schröer (Hrsg.), Facetten der Kommunikationsmacht (S. 180–196). Beltz Juventa. Nebowsky, A.-E., & Spiekermann, N. (2021). Kommunikativer Tod durch Demenz? Wie die Beziehungsidentität Kommunikationsmacht erhält. In O. Bidlo, V. Keysers, M. Roslon, & N. Schröer (Hrsg.), Facetten der Kommunikationsmacht (S. 180–196). Beltz Juventa.
Zurück zum Zitat Reichertz, J. (2020a). Corona und die Krise der Sozialforschung. Soziologie, 49(3), 336–339. Reichertz, J. (2020a). Corona und die Krise der Sozialforschung. Soziologie, 49(3), 336–339.
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Zurück zum Zitat Reichertz, J. (2021a). Die coronabedingte Krise der qualitativen Sozialforschung. Soziologie, 50(3), 313–335. Reichertz, J. (2021a). Die coronabedingte Krise der qualitativen Sozialforschung. Soziologie, 50(3), 313–335.
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Zurück zum Zitat Reichertz, J. (2023). „Die Krankheit geht ihren Weg und nimmt sie mit.“ Beobachtende Teilnahme von Paaren, von denen eine Person mit der Diagnose Demenz lebt. Ein Forschungsbericht. In S. Teupen, J. Serbser-Koal, F. Laporte Uribe, C. Dinand, & M. Roes (Hrsg.), Qualitative Forschung mit Menschen mit Demenz. Juventa. Reichertz, J. (2023). „Die Krankheit geht ihren Weg und nimmt sie mit.“ Beobachtende Teilnahme von Paaren, von denen eine Person mit der Diagnose Demenz lebt. Ein Forschungsbericht. In S. Teupen, J. Serbser-Koal, F. Laporte Uribe, C. Dinand, & M. Roes (Hrsg.), Qualitative Forschung mit Menschen mit Demenz. Juventa.
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Zurück zum Zitat Santana, F. N., Hammond Wagner, C., Berlin Rubin, N. et al. (2021). A path forward for qualitative research on sustainability in the COVID-19 pandemic. Sustain Sci, 16, 1061–1067.CrossRef Santana, F. N., Hammond Wagner, C., Berlin Rubin, N. et al. (2021). A path forward for qualitative research on sustainability in the COVID-19 pandemic. Sustain Sci, 16, 1061–1067.CrossRef
Zurück zum Zitat von Kleist, H. (1964) [1878]. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In H. von Kleist, Anekdoten, Kleine Schriften (S. 53–58). DTV. von Kleist, H. (1964) [1878]. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In H. von Kleist, Anekdoten, Kleine Schriften (S. 53–58). DTV.
Zurück zum Zitat Volkmar, M., & Werner, K. (Hrsg.). (2020). Die Coronagesellschaft. transcript. Volkmar, M., & Werner, K. (Hrsg.). (2020). Die Coronagesellschaft. transcript.
Metadaten
Titel
„Ihre Forschung ist nicht systemrelevant.“ Qualitative Sozialforschung in der Krise. Ein Kommentar
verfasst von
Jo Reichertz
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-42771-9_2