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2021 | Buch

Innovative Entwicklungen in den deutschen Staatsanwaltschaften

Aufgaben und Zukunft der Staatsanwaltschaft im gesellschaftlichen Wandel

herausgegeben von: Dr. Ralf Peter Anders, Prof. Dr. Kirsten Graalmann-Scheerer, Prof. Dr. Jan Henrik Schady

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

Buchreihe : Edition Forschung und Entwicklung in der Strafrechtspflege

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Über dieses Buch

In diesem Band setzen sich Autorinnen und Autoren aus der Wissenschaft und/oder staatsanwaltschaftlichen Praxis aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Entwicklung, der Rolle, dem aktuellen Zustand und den Anforderungen an eine moderne Staatsanwaltschaft im hierarchischen Gefüge auseinander und versuchen, Wege für eine künftige Ausrichtung sowie eine Absicherung der Staatsanwaltschaft in Deutschland als „Wächterin des Gesetzes“ in einem Rechtsstaat aufzuzeigen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Bestandsaufnahme

Frontmatter
Die Belastung der Staatsanwaltschaften – Zahlen und Fakten
Zusammenfassung
Der Beitrag befasst sich mit der Belastung der Staatsanwaltschaften bei den Landgerichten in der Bundesrepublik, indem er zunächst die Zahl der bundesweiten Verfahrenseingänge und -erledigungen über einen Zeitraum von 15 Jahren auswertet. Hierbei wird sowohl nach Arten der Erledigung als auch nach einzelnen Bundesländern differenziert; zudem werden weitere wesentliche staatsanwaltschaftliche Geschäfte in die Betrachtung einbezogen. Sodann nimmt der Beitrag am Beispiel Schleswig-Holsteins einige für die Belastung spezifische Deliktsbereiche und Phänomene besonders in den Fokus. Ferner wird zu den Zahlen und Daten der Arbeitslast die Personalentwicklung im selben Zeitraum ins Verhältnis gesetzt. Schließlich gibt der Beitrag einen Überblick über die Auswirkungen gesetzgeberischer Reformtätigkeit der vergangenen Jahre auf Umfang und Komplexität von Ermittlungsverfahren und damit die Belastung der Staatsanwaltschaften.
Kjell Gasa
Zwischen Rampenlicht und Unsichtbarkeit. Öffentliche und professionsinterne Herausforderungen an die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit
Zusammenfassung
Wie wird Rechtsstaatlichkeit als öffentliches Gut ‚produziert‘? Um diese Frage zu beantworten, ist nicht nur ein Blick auf die Richterschaft und andere Berufsgruppen in der Justiz vonnöten, sondern auch eine systematische Bestandsaufnahme staatsanwaltlichen Tuns. Denn trotz einer zunehmenden öffentlichen, oft auch institutionenkritischen Aufmerksamkeit sind Staatsanwaltschaften bislang kaum Gegenstand der soziologischen Forschung zu Recht und Justiz. Die vorliegende empirische Untersuchung der Arbeitswirklichkeit und der Herausforderungen der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit bemüht sich, dieses Forschungsdefizit anzugehen. Auf Grundlage von Interviews, Gruppendiskussionen und einer standardisierten Onlinebefragung analysiert der Beitrag das professionelle Selbstverständnis der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit und damit verbundene neue Herausforderungen in ihrer täglichen Arbeit wie ihrer Stellung in der Öffentlichkeit.
Birgit Apitzsch, Berthold Vogel
Der Jugendstaatsanwalt gemäß §§ 36 und 37 JGG: Anspruch und Wirklichkeit
Zusammenfassung
Das Gesetzesprogramm rund um den Jugendstaatsanwalt1 (Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwendet der Beitrag für alle betroffenen Personengruppen einheitlich das männliche Geschlecht. Männliche, weibliche und diverse Personen sind damit gleichermaßen angesprochen). fällt mit den §§ 36 und 37 JGG vergleichsweise knapp aus: „Für Verfahren, die zur Zuständigkeit der Jugendgerichte gehören, werden Jugendstaatsanwälte bestellt“ und diese „Jugendstaatsanwälte sollen erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein.“2 (Der Beitrag ist auf dem Stand von Juni 2020. Durch das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder vom 16. Juni 2021 (BGBl. 2021 I, S. 1810) ist § 37 JGG m.W.v. 1. Januar 2022 um verbindlichere Anforderungen ergänzt worden.) Allerdings kann zwischen dem Anspruch eines Gesetzesprogramms und dessen Umsetzung in der Praxis, also seiner Wirklichkeit, eine – zuweilen große – Lücke klaffen. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den theoretischen und praktischen Fragen rund um den Jugendstaatsanwalt. Im Fokus stehen dabei seine zentrale Funktion als Weichensteller, das ihn betreffende – historisch und international gerahmte – Gesetzesprogramm selbst, die Rechtswirklichkeit und die ihn betreffenden Reformbestrebungen.
Michael Sommerfeld

Die Staatsanwaltschaft als Teil der Rechtsordnung

Frontmatter
Verhältnis der Staatsanwaltschaft zur Polizei
Zusammenfassung
Der Beitrag behandelt das (Spannungs-)Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei und ihren von unterschiedlichen Interessen geprägten Kampf um die faktische Kontrolle der Ermittlungen. Obwohl der Grundsatz der sogenannten „Sachleitungsbefugnis“ der Staatsanwaltschaft als Herrin des Verfahrens unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze in § 160 Absatz 1, 161 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 152 Abs. 1 GVG seine – scheinbar – unverrückbare rechtliche Grundlage hat, kontrastiert diese Rechtsposition zur Rechtswirklichkeit, in der der Staatsanwaltschaft insbesondere in vielen Bereichen der kleinen und mittleren, zunehmend aber auch der schwereren Kriminalität im Rahmen des Vorverfahrens nur noch eine Statistenrolle zukommt. Die Autoren beleuchten, weshalb die Ermittlungen unter Außerachtlassung dieser gesetzlichen Vorgaben von der Polizei hier weitgehend in eigener Verantwortung durchgeführt werden und welche Auswirkungen dies auf die Gesetzmäßigkeit des Ermittlungsverfahrens haben kann. Sie legen dar, dass dem nur durch eine bessere technische und personelle Ausstattung der Staatsanwaltschaft entgegengewirkt werden kann und stellen organisatorische Reformen zur Stärkung deren Rechtsposition zu Diskussion.
Margarete Koppers, Matthias Weidling
Das Verhältnis der Rechtsanwaltschaft zur Staatsanwaltschaft
Zusammenfassung
Die Beziehung zwischen Rechtsanwaltschaft und Staatsanwaltschaft lässt sich auf den drei Ebenen der Rechtspolitik, des Berufsrechts sowie der allgemeinen Strafrechtspflege näher beleuchten. Mit Blick auf die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sind beide auf dasselbe kohärente Ziel der Verteidigung des freiheitlichen Lebens und Denkens verpflichtet. Auf der berufsrechtlichen Ebene garantieren die mit Rechtsanwälten besetzten Disziplinargerichte das wertvolle Privileg einer vollen und funktionierenden Selbstverwaltung, dazu die gesetzliche Übertragung des Anschuldigungsmonopols auf die Generalstaatsanwaltschaft und die Mitwirkung von Berufsrichtern in den Senaten des Anwaltsgerichtshofes eine sinnvolle Strukturvorgabe, die die Dienststrafgerichte von unsachlich-unredlicher Kritik freihalten. Schließlich sind beide Institutionen im Strafprozess auf die Vermeidung staatlichen Unrechts im Sinne der Wahrheitsfindung, d. h. unter evidenter Einbindung entlastender Tatsachen, ausgerichtet.
Otmar Kury
Staatsanwaltschaften und Gerichtshilfe als Kooperationspartner im System einer Sozialen Strafrechtspflege
Zusammenfassung
Der Beitrag stellt die im deutschen Strafrecht relativ unbekannte Gerichtshilfe dar. Die Gerichtshilfe wird im Kontext einer Sozialen Strafrechtspflege gemeinsam mit der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht auch als Ambulanter Sozialer Dienst der Justiz bezeichnet. Die Staatsanwaltschaften sind als Ermittlungs- und Vollstreckungsbehörden im deutschen Strafrecht weichenstellende Akteure. Mit einem täterorientierten Ansatz können die Staatsanwaltschaften durch den Einsatz der Gerichtshilfe frühzeitig wichtige Erkenntnisse über die Persönlichkeit von Beschuldigten und Verurteilten gewinnen. Der Beitrag zeigt das Aufgabenfeld und das Profil der Gerichtshilfe auf und beschreibt die derzeitige Situation, das Potenzial der Gerichtshilfe wie auch mögliche strafjustizielle Perspektiven. Relevant ist die Überzeugung, dass Strafjuristen und Fachkräfte der Sozialen Arbeit in den Staatsanwaltschaften gemeinsam kriminalpolitische Akzente setzen können.
Stefan Thier
Pressearbeit der Staatsanwaltschaften in der modernen Mediengesellschaft
Zusammenfassung
In der modernen Mediengesellschaft wird das Bild der Justiz in der Öffentlichkeit zunehmend durch die Medienberichterstattung geprägt. Der Beitrag beleuchtet die tatsächlichen Rahmenbedingungen, unter denen die Kommunikation über Ermittlungsverfahren und Strafprozesse heute stattfindet und setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit bei der Öffentlichkeitsarbeit von Staatsanwaltschaften neben klassischen Kommunikationswerkzeugen auch die sog. Litigation-PR zur Anwendung gelangt. Die Autorin stellt die rechtlichen Grundlagen der Pressearbeit de lege lata dar, ausgehend von gesetzlichen Auskunftsansprüchen der Medien gegenüber der Staatsanwaltschaft hin zu proaktiver Medienarbeit. Sodann gibt sie einen Überblick über verschiedene Vorschläge für die Einführung konkreter gesetzlicher Regelungen für die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaften und den im Frühjahr 2019 vorgestellten Gesetzentwurf des Arbeitskreises Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP) zur Justiziellen Medienarbeit in Strafverfahren.
Ulla Hingst

Aktuelle Herausforderungen

Frontmatter
Neue Herausforderungen bei der Verfolgung von Straftaten mit terroristischem Hintergrund durch die deutschen Staatsanwaltschaften
Zusammenfassung
Die Gestalt des Terrorismus hat sich über die Jahrzehnte grundlegend gewandelt. Im Zeitalter des islamistischen und rechtsextremistischen Terrorismus sind die potenziellen Täter von den Ermittlungsbehörden nur schwer auszumachen. Die hiermit verbundene Herausforderung hat seit 09/11 zu massiven Anstrengungen des Gesetzgebers und aller Sicherheitsbehörden für eine Verbesserung der Sicherheitsarchitektur geführt. Der Beitrag zeigt für den Bereich der Strafverfolgung auf, wie das strafrechtliche Instrumentarium der Staatsanwaltschaften deren Tätigkeit stark in das Vorfeld möglicher Taten verschoben hat. Er beleuchtet zudem, wie die Zusammenarbeitsstrukturen der deutschen Staatsanwaltschaften bei der Terrorismusbekämpfung parallel dazu grundlegend neu geordnet wurden, um im föderalen Justizsystem zu einer engen und schlagkräftigen Vernetzung zu kommen. Aus Sicht des Autors führt die Summe aller Maßnahmen zu einer Verbesserung der Reaktionsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaften. Er hält sie für unverzichtbar. Lösungen für weitere Herausforderungen, wie etwa die Bewältigung riesiger sichergestellter Datenmengen, zeichnen sich hingegen bisher nur schemenhaft ab.
Achim Brauneisen
Die Staatsanwaltschaft und die gesamtgesellschaftliche Strafverfolgung 
Zusammenfassung
Auf den ersten Blick lässt sich die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft als repressives Strafverfolgungsorgan deutlich von dem Tun der Akteure der gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention, das sich der Kriminalitätsvorbeugung widmet, abgrenzen. Überschneidende Kreise des Handelns werden dagegen schon bei den repressiven Aufgaben und insbesondere bei der präventiven Tätigkeit der Polizei gesehen. Betrachtet man die Aufgabenwahrnehmung genauer, sind die Grenzziehungen aber nicht mehr so präzise, wenn etwa Phänomene wie die Jugendkriminalität – hier insbesondere am Beispiel der Häuser des Jugendrechts – oder der häuslichen Gewalt beleuchtet werden.
Der Beitrag (Ich danke Frau Oberstaatsanwältin Dr. Lisa Kathrin Sander sowie Herrn Oberstaatsanwalt Jochen Fabricius, Herrn Staatsanwalt Dr. Hanno Frielinghaus und Herrn Staatsanwalt Dr. Benjamin Krause für die wertvollen Diskussionen und Anregungen aus ihrer praktischen Erfahrung.) will den Einfluss der gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention auf die Arbeit der Staatsanwaltschaft nachzeichnen und sinnvolle Bereiche der Zusammenarbeit definieren, ohne die durch die Gewaltenteilung vorgezeichnete Grenzziehung zu überspielen. Der Beitrag stützt sich dabei auf frühere Untersuchungen des Verfassers, die sowohl die Organisationsformen der gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention (Fünfsinn 1996, S. 111 ff.) als auch deren Einfluss auf die moderne Strafgesetzgebung (Fünfsinn 2008, S. 909 ff.) betrachten, und will nunmehr darüber hinaus Nachweise für das Zusammenwirken der gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention und der Arbeit der Staatsanwaltschaft liefern.
Im Einzelnen sollen über die Wiederholung der tragenden Ideen (1) und unter Nachzeichnen der verschiedenen Organisationsformen der gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention (2) die Wirkungen dieser Strukturen beleuchtet werden (3). Dabei werden vor allem Einflüsse auf die Arbeit der Staatsanwaltschaft (4) anzusprechen sein. Neben den schon erwähnten Problemkreisen der häuslichen Gewalt (4a) und der Jugendkriminalität (4b) sollen auch die Phänomene der Drogenkriminalität (4c), des Extremismus und Terrorismus (4d) und der Internetkriminalität (4e) in den Blick genommen werden. Die Untersuchung endet mit einem Fazit und einem Ausblick (5).
Helmut Fünfsinn
Umsetzung der Opferrechte in der Praxis – Sachstand und neue Ansätze
Zusammenfassung
Die Strafprozessordnung sieht eine Vielzahl von Verletztenrechten vor, die in den letzten 30 Jahren stetig erweitert worden sind. Dieser Beitrag nimmt die in der Strafprozessordnung normierten Unterrichtungspflichten sowie einige ausgewählte Informations-, Schutz- und Beteiligungsrechte in den Blick und zeigt die Herausforderungen auf, die sich insbesondere für die Staatsanwaltschaften bei der Umsetzung dieser Rechte in der Praxis ergeben. Ausgehend von diesem Befund werden Wege sichtbar gemacht, wie die Verletztenrechte in der Praxis wirksam umgesetzt werden können. Der Beitrag verdeutlicht auf diese Weise, dass eine opferschonende Strafrechtspflege ohne weitere gesetzgeberische Reformen erreicht werden kann. Für die weitere Entwicklung mahnt der Beitrag zugleich empirische Erhebungen an, die einen belastbaren Aufschluss über den Umsetzungsstand der einzelnen Verletztenrechte sowie die Auswirkungen dieser Rechte auf das Strafverfahren geben.
Stephanie Gropp, Ulrike Stahlmann-Liebelt
Opferschutz – eine Fehlerquelle im Strafprozess?
Zusammenfassung
Zum Opferschutz kann das Strafverfahren kaum beitragen, wenn das mögliche Opfer zugleich die Zeugenrolle einnimmt und das Urteil mit dessen Aussage steht oder fällt. Unter solchen Voraussetzungen besteht die Gefahr eines falschen Schuldspruchs durch vorweggenommenen Opferschutz. Mit der Revision ist auf missverstandener Fürsorge für das vermeintliche Opfer beruhenden Fehlurteilen nur beizukommen, wenn der Beschwerdeführer einen durchgreifenden Verfahrensfehler geltend macht oder der Tatrichter seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten rechtsfehlerhaft begründet hat. Aufgrund eigener Beobachtungen des Verf. beim Beseitigen von Urteilen, die sich in der Wiederaufnahme als falsch erwiesen haben, stellt der Beitrag Aufmerksamkeit verdienende Gefahrenlagen vor.
Johann Schwenn
Staatsanwaltschaft heute: Aufgaben, Organisation und Vorgaben
Zusammenfassung
Im Strafrecht spiegelt sich das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Individuum. Ein in Denkweisen der Vergangenheit erstarrter Staat verhindert die evolutionäre Anpassung des Rechts an die dynamische gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Entwicklung. Recht und Sein fallen auseinander. Das Recht erleichtert nicht mehr den Alltag und trägt zum inneren Frieden bei, sondern schafft stattdessen selbst Konflikte. Streit vermag es oft nur noch auf als unbefriedigend empfundene Weise zu lösen. Für Abhilfe sorgen sollen Bürokratismus und vermehrt auch Repression. Beides nährt (unbeabsichtigt, aber absehbar) die Unzufriedenheit. Das stärkt die politischen Ränder.
Strafrecht als Allheilmittel überfordert die Strafjustiz. Eine Welle von Verfahren zur Bewältigung der Kleinkriminalität bindet die vorhandenen Kapazitäten: sie fehlen zur Bearbeitung der Fälle von Schwerkriminalität. Strukturelle Probleme der Justiz nebst äußerst begrenzter Weisungsbefugnis gegenüber der Polizei, verstärkt von politischen Sonderwünschen und vor allem einer auf das Messen und Wiegen fixierten, von den Finanzministern vorgegebenen Organisationsmaxime verhindern sachgerechte Schwerpunktbildung. Diese ist jedoch, exemplifiziert am neuen Recht der Vermögensabschöpfung, Voraussetzung für sachgerechte Aufgabenbewältigung.
Folker Bittmann

Europäisierung

Frontmatter
Mehr Europa wagen auch in der Europäischen Rechtspolitik – eventuell der Anfang vom Ende für Eurojust, die erfolgreiche Europäische Justizbehörde für justizielle Zusammenarbeit in der EU?
Zusammenfassung
Mit Eurojust und der Europäischen Staatsanwaltschaft wird es künftig zwei verschiedene Modelle der grenzüberschreitenden Kriminalitätsbekämpfung auf justizieller Ebene geben. Eurojust ist eine etablierte und effiziente EU Agentur, die immer mehr, auch und gerade von deutschen Staatsanwaltschaften in Anspruch genommen wird, um grenzüberschreitende Ermittlungen erfolgreich zu führen. Ob die Zentralisierung der Ermittlungen bei einer EU Behörde oder Kooperation der nationalen Behörden mit Hilfe einer EU Behörde der bessere Ansatz für eine effektive Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität ist, ist eine rechtspolitisch fundamentale Entscheidung auf europäischer Ebene und sollte auf der Basis klarer Erfahrungen entschieden und darf nicht etwa durch Finanzentscheidungen faktisch vorweggenommen. Kompetenzausweiterungen ohne Erfahrungswerte für die Europäische Staatsanwaltschaft sind verfrüht und für das europäische Projekt eher gefährlich als nützlich. Gegenwärtig müssen Eurojust und die Europäische Staatsanwaltschaften angemessen ausgestattet werden.
Klaus Meyer-Cabri
Der Europäische Haftbefehl und das europäische Auslieferungsrecht zur Strafverfolgung und -vollstreckung
Zusammenfassung
Der Europäische Haftbefehl, entstanden als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, hat sich zu einem effektiven Instrument der Kriminalitätsbekämpfung entwickelt und die Zusammenarbeit der europäischen Staaten auf dem Gebiet des Strafrechts befördert. Überkommene nationale Vorbehalte gegenüber dem Auslieferungsrecht – wie das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit und das Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger – wurden zugunsten einer funktionierenden europäischen strafrechtlichen Kooperation modifiziert oder gar aufgegeben. Auch seine „letzte Krise“ hat der Europäische Haftbefehl überstanden. Nachdem der EuGH den weisungsabhängigen deutschen Staatsanwaltschaften die Befugnis abgesprochen hat, Europäische Haftbefehle auszustellen, sind an die Stelle der Strafverfolgungsbehörden über eine europarechtsfreundliche Auslegung des deutschen Strafverfahrensrechts die Gerichte getreten. Nicht zuletzt dieser Umstand zeigt, dass sich der Europäische Haftbefehl fest in der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen etabliert hat, wenn es auch weiterhin noch Probleme zu lösen gibt, wie etwa die Anpassung des Strafvollzugs an menschenwürdige Standards auf gesamteuropäischer Ebene.
Georg-Friedrich Güntge
Der Europäische Staatsanwalt
Zusammenfassung
Der Beitrag führt in die Regelungen der Verordnung zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft und setzt sich mit den Erwartungen an diese neue Einrichtung der Europäischen Union und die Umsetzung in Verordnung und zu erwartendem nationalen Gesetz auseinander. Die Organisation mit den Europäischen Staatsanwälten in Luxemburg und den Dezentralen Europäischen Staatsanwälten, die in Deutschland zugleich als nationale Staatsanwälte tätig sein werden (Doppelhutmodell), wird vorgestellt. Die Arbeitsweise der EuStA wird dadurch charakterisiert, dass sie einerseits in internationalem Umfeld agiert, andererseits nationales Strafverfahrensrecht anwenden soll. Wie das in der Praxis funktioniert und ob das ein Modell für nationale Ermittlungen in grenzüberschreitenden Fällen werden kann, bleib abzuwarten. Die EuStA-VO enthält verschiedenen Regelungsoptionen für die Zusammenarbeit mit nicht an der Verordnung teilnehmenden Mitgliedstaaten und Drittstaaten. Der Versuch, eine Einrichtung der EU in das traditionelle System der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit einzubeziehen, wird kritisch beleuchtet.
Ralf Riegel
Das Verhältnis der Staatsanwaltschaft zur Ministerialverwaltung – justizpolitische Steuerung, Einzelfallweisungen und der böse Anschein der politischen Einflussnahme
Zusammenfassung
Das Verhältnis der Staatsanwaltschaft zur Ministerialverwaltung wird bestimmt durch das im Gerichtsverfassungsgesetz verankerte Recht der Ministerialverwaltung zur Aufsicht und Leitung hinsichtlich der Staatsanwaltschaften, welches der Ministerialverwaltung ein sog. externes Weisungsrecht vermittelt. Dieses Weisungsrecht prägt entscheidend die Rollenverteilung zwischen Justizministerium, Staatsanwaltschaft und Parlament im Bereich der Strafverfolgung. Es ermöglicht eine politisch-parlamentarische Verantwortung für staatsanwaltschaftliches Handeln, birgt jedoch zugleich die Gefahr, zu politischen Zwecken missbraucht zu werden, weshalb es wiederkehrend im Zentrum der Kritik steht. Der Beitrag verweist auf rechtspolitische Vorstöße und europäische Impulse der jüngeren Zeit und untersucht zentrale Argumentationslinien im Hinblick auf die hinter den Forderungen nach Abschaffung des externen Weisungsrechts stehenden Anliegen, um diese einer Bewertung zu unterziehen.
Jan Schady

Ausblick

Frontmatter
Die elektronische Akte im Strafverfahren: Chancen und Risiken
Eine Betrachtung ausgewählter technischer und datenschutzrechtlicher Aspekte der Digitalisierung
Zusammenfassung
Mit der Einführung einer elektronischen Aktenführung gehen – wie mit jeder technischen Neuerung – Chancen und Risiken einher. Der laufende Prozess der Digitalisierung betrifft hierbei alle Justizbereiche. Der nachfolgende Beitrag betrachtet einige ausgewählte technische und datenschutzrechtliche Aspekte der Einführung der elektronischen Akte mit Blick auf die spezifische Situation der Strafverfolgungsbehörden. Praktische Erfahrungen mit einer führenden elektronischen Strafakte liegen indes bislang nicht vor; entsprechende Pilotvorhaben stehen erst vor der Umsetzung, die bisherigen praktischen Erfahrungen beschränken sich weitgehend auf elektronische Hilfs- oder Duplo-Akten. Eine Betrachtung der spezifischen Chancen und Risiken einer elektronischen Aktenführung im Strafverfahren wird die anstehenden Pilotierungsvorhaben daher begleiten müssen, zumal viele Detailfragen erst im Rahmen der täglichen Arbeit zutage treten werden.
Andy Mitterer
Strukturwandel durch technische Entwicklung: ®Evolution in der justiziellen Arbeitswelt
Zusammenfassung
Der Beitrag beleuchtet schlaglichtartig, welche Auswirkungen die ab 2026 flächendeckend verpflichtende elektronische Aktenführung in Strafsachen auf die Geschäftsabläufe in Gerichten und Staatsanwaltschaften und auf die dortigen Arbeitsplätze und die Beschäftigten haben können. Mobile Arbeitsplätze versprechen gerade den jüngeren Generationen mehr Flexibilität in der Gestaltung des Alltags und der Einteilung der Arbeitszeit, werden aber auch neue Mechanismen zur Erfassung und Begrenzung der Arbeitszeiten erfordern. Durch Filter- und Suchfunktionen werden sich umfangreiche Aktenbestände schneller und effizienter durchdringen lassen. Neue Herausforderungen werden sich auf den Feldern der Personalführung und des Gesundheitsmanagements stellen. Speziell für die Staatsanwaltschaften verspricht der elektronische Rechtsverkehr vor allem einen erheblich schnelleren Daten- und Aktenaustausch an den so wichtigen Schnittstellen zu ihren polizeilichen Ermittlungspersonen und den Gerichten, was zur Beschleunigung von Ermittlungen beitragen wird.
Ralf Köbler
Privatisierung staatlicher Strafverfolgung durch interne Ermittlungen
Zusammenfassung
Privatisierungstendenzen der Strafverfolgung sind mannigfaltig; solche in Form der sog. internen Ermittlungen stehen nicht nur für einen faktisch-partiellen Rückzug staatlicher Strafverfolgung, sondern könnten auch in rechtlicher Hinsicht erhebliche Konsequenzen für die Geltung anerkannter strafprozessualer Maximen zeitigen, sollten sie insoweit nicht domestiziert werden. Im Falle der Umsetzung eines Verbandsstrafrechts dürfte sich die Bedeutung der internen Aufklärungsbemühungen noch steigern; ohnehin bestehende Zielkonflikte würden sich dann voraussichtlich verschärfen. Dieser Beitrag macht mit Blick auf die Verwertbarkeit von im Rahmen interner Ermittlungen gefertigter Interviews den Vorschlag einer Zurechnungslösung.
Ralf Peter Anders
Perspektiven staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit
Zusammenfassung
Der Beitrag befasst sich mit der Entwicklung der Staatsanwaltschaft seit ihrer Einführung vor über 170 Jahren bis in die heutige Zeit. Die Verfasserin betrachtet die Aufgaben der Staatsanwaltschaft, deren rechtliche Stellung und Rolle im gesellschaftlichen Wandel, Verfahren und hierarchischen Gefüge. Sie setzt sich mit den Anforderungen an eine Staatsanwaltschaft im digitalen Zeitalter sowie den damit verbundenen vielfältigen Herausforderungen angesichts der Schnelllebigkeit gesellschaftlicher und wissenschaftlich-technischer Entwicklungen in den letzten Jahren auseinander.
Kirsten Graalmann-Scheerer
Metadaten
Titel
Innovative Entwicklungen in den deutschen Staatsanwaltschaften
herausgegeben von
Dr. Ralf Peter Anders
Prof. Dr. Kirsten Graalmann-Scheerer
Prof. Dr. Jan Henrik Schady
Copyright-Jahr
2021
Electronic ISBN
978-3-658-34219-7
Print ISBN
978-3-658-34218-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-34219-7

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