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14.08.2023 | Keramik + Glas | Schwerpunkt | Online-Artikel

Glas steckt voller Überraschungen

verfasst von: Dieter Beste

7:30 Min. Lesedauer

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Längst sind nicht alle Geheimnisse des vermeintlich alltäglichen Werkstoffs gelüftet. Jüngst erst kreierten amerikanische Wissenschaftler mit Glas ein neues Material, das fünfmal leichter und viermal stärker ist als Stahl. 

Um zu beschreiben, was Glas ist, wird es häufig als "unterkühlte Flüssigkeit" bezeichnet. Anders als viele Festkörper, die auf mikroskopischer Ebene eine kristalline Struktur aufweisen, bilden die Moleküle im Glas eine unregelmäßige dreidimensionale Anordnung aus – analog einer Flüssigkeit. Dies ist der Grund dafür, dass Glas makroskopisch vollkommen homogen und isotrop erscheint. Helmut. A. Schaeffer und Roland Langfeld lassen im Buchkapitel "Was ist Glas?" die Jahrtausende umfassende Geschichte des Werkstoffs Revue passieren und konstatieren, dass uns Glas heutzutage so vertraut ist, dass wir den Werkstoff "im täglichen Leben gebrauchen, ohne ihn sonderlich zu hinterfragen."

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2023 | Buch

Advances in Glass Research

This book covers preparation methods, characterization, and applications of most glass families. It reports the fundamentals of glass, challenges in the development, traditional and new manufacturing processes, characterization techniques …

Doch der etwas andere Werkstoff Glas hat es in sich. Längst sind nicht alle physikalischen Phänomene entziffert. Zum Beispiel das Schwingungsverhalten. Kürzlich berichteten Matthias Fuchs und Florian Vogel von der Universität Konstanz in "Physical Review Letters", wie es ihnen unter Rückgriff auf eine alte, seinerzeit verworfene Theorie schließlich doch gelang, ein schlüssiges theoretisches Modell dafür zu entwickeln.

Die Wahrnehmung von Glas täuscht. Wir meinen intuitiv zu wissen, was Glas ist, aber sind meilenweit davon entfernt alle Wege zu kennen, wie sich chemische, physikalische, mechanische, thermische und optische Eigenschaften des amorphen Materials auf eine spezifische Anwendung hin optimieren lassen. Auch deshalb verwunderte im Juli die Meldung, dass es Forschern der University of Connecticut zusammen mit Kollegen der Columbia University und dem Brookhaven National Lab gelungen war ein Glas zu entwickeln, das fünfmal leichter und viermal stärker ist als Stahl. Die amerikanischen Wissenschaftler berichten in der Zeitschrift "Cell Reports Physical Science" wie ihnen der Coup gelang: sie beschichteten eine DNA-Struktur mit Glas. "Bei der gegebenen Dichte ist unser Material das stärkste bekannte", ordnet Mitautor Seok-Woo Lee die Entwicklung ein. 
Das offenbar überaus robuste und zugleich leichte Glasmaterial von geringer Dichte versetzt uns auch deshalb in Erstaunen, weil der Alltag lehrt, das Glas leicht zerspringt. Tatsächlich zerspringe Glas, aber in der Regel aufgrund eines Fehlers in seiner Struktur, zum Beispiel eines Risses, eines Kratzers oder eines fehlenden Atoms, betonen die amerikanischen Wissenschaftler. Ein makelloser Kubikzentimeter Glas könne einem Druck von 10 Tonnen standhalten. Das sei mehr als das Dreifache des Drucks, der kürzlich das Tauchboot Oceangate Titan in der Nähe der Titanic implodieren ließ.

Aktuelle Fragen in der Glasforschung

Die Antworten darauf, wie sich der Werkstoff Glas für so unterschiedliche Anwendungsfelder wie Elektronik, Optoelektronik, Photonik, Bauwesen, Medizin, oder Lagerung von Atommüll optimieren lässt, müssen jeweils individuell gefunden werden, und sie unterscheiden sich nicht nur in Nuancen. Die Autoren des Buchkapitels "Overall Aspects of Glasses for Photonic Devices" fassen die aktuellen Forschungsherausforderungen allein für Anwendungen in der Photonik in sieben Punkten zusammen:

  • Computersimulationen zur Untersuchung der Strukturbildung in Gläsern: Wenn die Bestandteile des Glases geschmolzen sind und die Technik des Schmelzabschreckens angewandt wird, bilden die Atome Verbindungen und ordnen sich ständig neu an, um ihr thermodynamisches Gleichgewicht zu finden; in diesem Moment haben wir eine dynamische Struktur. Nach der Wärmebehandlung des Glases haben wir dann eine statische Struktur.
  • Strukturelle Relaxation in Gläsern: Hierbei handelt es sich um ein dynamisches Phänomen, das kooperative atomare Bewegungen beinhaltet und bei dem sich die Glasstruktur mit der Temperatur und der Zeit verändert. 
  • Grenzflächenphänomene: Wenn Glas als Substrat verwendet wird, fungiert die Grenzfläche als Zustandsgrenze, die Veränderungen zwar kontrolliert, aber nicht aufhält. Wenn beispielsweise die Temperatur steigt, nimmt die Mobilität der Ionen im Glas zu (sowohl anionisch als auch kationisch), was zu einem Ionenaustauschprozess an der Grenzfläche führen kann. 
  • Photonische Bauelemente: Hier gilt es, die optischen Signalverluste im Glas zu verringern. So wurden in den letzten Jahrzehnten viele Verfahren zur Reinigung von Gläsern entwickelt, mit besonderem Augenmerk auf die Durchlässigkeit im mittleren Infrarotbereich.
  • Quantenphotonik: Photonische und optoelektronische Bauelemente auf der Grundlage dünner Schichten sind für verschiedene Forschungsbereiche von Interesse, insbesondere für die Materialwissenschaft, die integrierte Quantenphotonik und das Quanten-Engineering. In diesem Rahmen ist 3D-Glas eine gute Annäherung, um diese Geräte zu erhalten, jedoch ist dessen Herstellung in 3D durch Drucken noch eine große Herausforderung.
  • Quarzglas: Neue Anwendungen von photonischem Glas haben viele neuartige Geräte und Komponenten hervorgebracht, die über die ursprüngliche Verwendung hinausgehen, wobei ein Großteil dieser Entwicklung auf der erfolgreichen Herstellung von Quarzglas beruht. Dennoch leidet Quarzglas unter einigen Nachteilen (kurzer Transmissionsbereich, schmales Emissionsband, hohe Phononenenergie, optische Verstärkung, geringe Löslichkeit von Seltenen Erden und niedriger Verstärkungskoeffizient), die den weiteren Ausbau der entsprechenden Materialien und Geräte einschränken. 
  • Leuchtdioden: Eine weitere Herausforderung im Bereich der Glastechnologien ist die Entwicklung von Leuchtdioden (LEDs), die im Gegensatz zu herkömmlichen Glühbirnen effizienter sind, wenig Energie verbrauchen und eine längere Lebensdauer aufweisen. In diesem Sinne ist es notwendig, transparentere Gläser mit hoher Verstärkung herzustellen, damit das Licht in den verschiedenen gewünschten sichtbaren Farben emittiert werden kann.

Grundsätzlich lassen sich Verbesserungen der Glaseigenschaften auf zwei Wegen erzielen: durch Änderung der Zusammensetzung und technische Fortschritte bei der Verarbeitung. "Schott war der Erste, der moderne Gläser durch systematische Variationen der chemischen Zusammensetzung entwickelt hat", sagt Lothar Wondraczek, Inhaber des Lehrstuhls für Gaschemie II am Otto-Schott-Institut für Materialforschung der Universität Jena. Aus seinen Beobachtungen habe Otto Schott (1851-1935) Zusammenhänge zwischen Chemie und praktischen Eigenschaften abgeleitet und gemeinsam mit dem Physiker Adolf Winkelmann, damals Professor an der Uni Jena, diese Erkenntnisse in mathematische Regressionsmodelle überführt. In gewisser Weise, sagt Wondraczek, waren diese Arbeiten ein Vorläufer dessen, was heute einen Teil des Maschinellen Lernens ausmacht.

Neue Gläser aus dem Computer

Glas lässt sich in nahezu unbegrenzter Vielfalt aus Mischungen beinahe aller Elemente des Periodensystems herstellen. Einzige Voraussetzung sei, so Wondraczek, dass sich die Bestandteile gemeinsam schmelzen lassen und die Schmelze danach schnell genug abgekühlt wird: "So groß die Vielfalt in der Zusammensetzung, so vielfältig sind auch die Eigenschaften der resultierenden Gläser." Allerdings gestaltet sich die Suche nach dem Zusammenhang von Zusammensetzung und Eigenschaft meist äußerst mühsam, da Glas anders als kristalline Materialien keine geordnete innere Struktur aufweist, aus der sich eindeutige Eigenschaftszuschreibungen ableiten ließen. Stattdessen bleiben seine atomaren Bestandteile nach dem Abkühlen mehr oder weniger so angeordnet, wie sie auch im flüssigen Zustand vorlagen. "Glas besitzt im Gegenteil zu Metallen die faszinierende Eigenschaft beim Abkühlen ohne Kristallisation zu erstarren und hat keine definierte Schmelztemperatur. Unterhalb der Transformationstemperatur stellt Glas eine eingefrorene, unterkühlte Flüssigkeit zugleich einen Sonderzustand der Materie dar", beschreibt Roman Teschner im Buchkapitel "Glas- ein faszinierender Werkstoff" diesen Glasübergang. 

Zwar gibt es im Glas grundsätzlich keine wiederkehrende, periodische Anordnung der Atome, aber doch eben auch keine reine Zufälligkeit, betont Wondraczek. Stattdessen existierten bestimmte Bauregeln und Zusammenhänge, die sich aus der Interaktion der Bestandteile miteinander ergeben. "Eine besondere Herausforderung ist es also, genau diejenigen Bauregeln und chemischen Zusammenhänge zu finden, die für eine bestimmte Eigenschaft oder Eigenschaftskombination von Bedeutung sind." So kann das Zusammenspiel bestimmter chemischer Komponenten in einem Fall zur Verbesserung der mechanischen Festigkeit führen. Soll das Glas aber für Batterieanwendungen auch eine festgelegte Ionenleitfähigkeit aufweisen, können gänzlich andere chemische Zusammenhänge relevant sein.

Genome Mining in der Glasentwicklung

Zusammen mit Zhiwen Pan und Jan Dellith hat Wondraczek in der Zeitschrift "Advanced Science" einen neuen Weg für die Suche nach korrelierten Abhängigkeiten aufgezeigt, den die Jenaer Materialforscher Genome Mining nennen. Die den praktischen Glaseigenschaften zugrundeliegenden struktur-chemischen Zusammenhänge bezeichnen sie – in Anlehnung an die Lebenswissenschaften – plakativ als Gene; die Gesamtheit aller Eigenschaften eines Werkstoffs ergibt sich so gesehen aus seinem Genom. 

Vergleichbar mit in der Bioinformatik verwendeten Ansätzen wird mit diesem Konzept nach den eigenschaftsbestimmenden "Genen" gesucht. Exemplarisch haben sich die Jenaer Wissenschaftler die Leitfähigkeit für Natriumionen angesehen und in komplexen polyionischen Gläsern ergründet, welche Kombinationen chemischer Komponenten ursächlich für die praktisch erreichbare Leitfähigkeit sind. Solche ionenleitenden Gläser können zum Beispiel in Festkörperbatterien ihre Anwendung finden. "Zunächst benötigen wir dafür einen ausreichend großen und verlässlichen Satz aus experimentellen Daten, welchen wir dann mit Methoden der Genomanalyse untersuchen können", sagt Zhiwen Pan, Erstautor der Publikation. 

Proof of Concept mit polyionischem Glas

Die Jenaer Forscher untersuchten polyionisches Glas, das aus einer Kombination von Oxiden, Fluoriden, Sulfaten, Phosphaten und Chloriden besteht. Das Material ist derart komplex, dass sich Aussagen zur Struktur und räumlichen Anordnung der Grundelemente nur sehr begrenzt machen lassen und resultierende Eigenschaften kaum vorhersagbar sind. Anstatt in aufwendigen Laborversuchen wie in der Vergangenheit, können nun mit dem Genome Mining optimale Zusammensetzungen mithilfe analytischer Modelle identifiziert werden. Davon wird die industrielle Praxis sicherlich profitieren, denn "wir konnten außerdem zeigen, dass die gefundenen "Gene" nun sehr gut zu dem Wenigen passen, was wir aus spektroskopischen Untersuchungen über die Struktur dieser Gläser wissen", resümiert Wondraczek.
 

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