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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

Leben, lieben, kämpfen – in einem anderen Land

verfasst von : Imran Ayata

Erschienen in: Transformation und Emanzipation

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Die Resilienz und die widerständigen Strategien der Migrantinnen und Migranten gegenüber institutionellem und alltäglichem Rassismus sowie ökonomischer und sozialer Ausgrenzung verdienen viel größere Anerkennung. Es ist erstaunlich, wie schwer Deutschland sich als Land tut, in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung zukunftsweisende Antworten auf Fragen zu finden, die bleiben werden. Es bedarf eines Perspektivwechsels, der darin besteht, Einwanderung und Migration als nichts Temporäres oder Vergängliches, sondern als gesellschaftliche Normalität zu begreifen. Denn das Jahrhundert der Migration hat für Almanya erst begonnen. Das Deutschland von morgen wird sehr viel stärker von Einwanderung geprägt sein, als es heute schon ist. Dabei ist es mitnichten die Aufgabe von Menschen mit Einwanderungsgeschichte, Almanya zu bereichern, weder ökonomisch noch kulturell. Ist es nicht merkwürdig, wenn in einer Demokratie dies von manchen eingefordert wird und anderen nicht? Warum müssen überhaupt Migrantinnen und Migranten produktiv und erfolgreich sein, um ohne Wenn und Aber dazuzugehören?

Welches Zuhause?

Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen seinen Nachbarstaat Ukraine ist wiederkehrend nicht nur von einer Zeitenwende die Rede, sondern auch vom ersten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Welches Verständnis von Europa dieser Feststellung auch zugrunde liegen mag, das ehemalige Jugoslawien scheint nicht Teil davon zu sein. Die Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, die 1991 begannen und zehn Jahre dauerten, waren für mich aber genau das: ein Krieg in Europa, der ein Ende und einen Anfang zugleich markierte. Vorbei war es mit der Legende, dass Krieg früher war. Krieg, das war immer ganz weit weg. Krieg, das war Schulunterricht. Krieg, das war Hitler. Und dann brach er in jenem Land aus, das ich als Autoputland kannte. Und als Titoland.
Damals teilte sich meine Großfamilie in einen pro- und einen anti-sowjetischen Block. Besonders viele sympathisierten mit dem Maoismus. Selbst Enver Hoxha-Groupies ließen sich in meiner Familya ausmachen. Nur zu Titos Jugoslawien schien sich kein Verwandter zu bekennen. Als dann der Staatschef Jugoslawiens starb, war mein Vater trotzdem traurig. Die Mulatos, unsere jugoslawischen Hausgenossen, die im Laufe der Kriegsjahre zu serbischen Nachbarn wurden, waren sehr viel trauriger. „Ach, Komšija, Tito war guter Mann, Tito war Frieden“, prostete Gospodin Mulato im Hof meinem Vater nostalgisch zu, der zustimmend ein doppeltes „Jawohl, richtig!“ entgegnete. Frau Maier, unsere einzige deutsche Nachbarin in der stabilen 18-Familien-Kanakenhood, wütete von ihrem Küchenfenster, die Herrschaften sollten ihre Heimatangelegenheiten leise oder am besten woanders klären.
Die Kriege in Jugoslawien veränderten das Leben meiner Eltern in Ulm und das von vielen Einwanderinnen und Einwanderern aus der Türkei in Deutschland, die nicht mehr mit dem Auto in den Sommerferien in das Land fuhren, aus dem sie als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter gekommen waren. Fortan wurde geflogen, was anfangs sehr teuer war, bis sich Jahre später der Billigfliegertourismus durchsetzte. Man verplemperte nicht mehr Urlaubstage auf dem Autoput, der Europastraße 5, die wir E5 nannten. E5, so als wäre es Vitaminersatz. Einige Wochen vor dem Beginn der Schulferien hatte sich unsere kleine Wohnung in ein Ausnahmegebiet verwandelt, dominiert vom Diktat der Reisevorbereitungen. An diesen Tagen eilten meine Eltern nach Feierabend von einem Kaufhaus zum anderen, von einem Geschäft zum nächsten. Viel Zeit blieb ihnen für das Shopping nicht. Die Geschäfte schlossen wochentags um 18 Uhr, an Samstagen schon am frühen Nachmittag. Sale hieß noch Winter- oder Sommerschlussverkauf, letzterer fand zum Leidwesen meiner Familie meist erst nach unserem Türkeiurlaub statt.
In den Sommerferien kannten wir nur eine Destination: die Türkei. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler erzählten von Ferien in Ländern, auf die ich in Landkarten zeigen konnte. Dafür kannte ich den Autoput, das eigenartige Grau, das uns nach Villach umgab, die Strecke zwischen Zagreb und Belgrad, die mir endlos vorkam, obwohl mein Vater schnell fuhr und selbst in brenzligen Situationen zu Überholmanövern ansetzte, gegen die meine Mutter ohne Unterlass rebellierte. Meine Schwester und ich schlugen uns mal auf ihre, mal auf seine Seite.
Auch auf der Rückbank hatte jeder seine Seite, und wehe einer überschritt die imaginäre Grenzziehung, die mitten durch den Rücksitz verlief. Rassismus ging damals anders: Wir hörten von Geschichten, in denen großgewachsene Jugoslawen auf der E5 mit Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern aus der Türkei auf dem Weg in die Heimat Schnipp Schnapp machten und sie anschließend in Kühlschränken einfroren. Auch wenn wir uns über diese Horrormärchen amüsierten, ein bisschen furchteinflößend fanden wir sie trotzdem. Verwundert waren wir über Einheimische in Bulgarien, die in gebrochenem Türkisch auf Rastplätzen uns nach Musikkassetten von Zeki Müren, Bülent Ersoy und Samime Sanay fragten. Meine Eltern hatten Mitleid mit ihnen, sie hätten wohl eine solche Sehnsucht nach der „Musik ihrer Heimat“. Noch ehe ich nachfragen konnte, was es denn mit den Parkplatzbulgaren und Türkiye auf sich hatte, erzählten meine Eltern von der türkischen Minderheit in Bulgarien und davon, dass sie ihre Sprache nicht sprechen und ihre Musik nicht hören dürften. Dann sind das die Kurden Bulgariens, warf meine Schwester ein, aber das wurde im Auto überhört.
So fuhren wir weiter in Richtung Türkei, immer genervter und angestrengter von der langen Reise. Ich beobachtete in der Gastarbeiterkarawane wie Männer (Frauen saßen damals kaum am Steuer) fast an der Windschutzscheibe klebten, so müde waren sie von den Strapazen der E5. Mein Vater verpasste sich gelegentlich Backpfeifen und biss in eine Zitrone, um wach zu bleiben.

Harte Währung: Erfolg

Die Geschichten vom Autoput, das Leben der Mulatos und meiner Eltern sowie Millionen von Einwanderinnen und Einwanderern sind noch immer viel zu wenig eingeschrieben in das Narrativ Deutschlands, in der erfolgreiche Migrationsbiografien inzwischen einen größeren Anteil haben. Denn Erfolg ist die entscheidende Währung, wenn es um Einwanderung und Migration geht. Egal, ob Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft, wer im Sinne der Mehrheitsgesellschaft Erfolg ausweisen kann, gehört nicht nur dazu, sondern gestaltet und prägt mit. So ist der deutsche HipHop ohne Rapperinnen und Rapper mit Migrationsgeschichte nicht vorstellbar – der Fußball, die Literatur oder der Film ebenso. Verbunden sind diese Erfolgsgeschichten oftmals mit Repräsentantinnen und Repräsentanten der zweiten und dritten Generation, die gelegentlich mit einer gewissen Ignoranz und Überheblichkeit auf die erste Generation blicken, auf die Art, wie sie deutsch sprechen, auf ihr einfaches proletarisches Leben, ihre Musik oder ihre Gastarbeiterliteratur. Man selbst ist cooler, erfolgreicher, neu-deutscher oder postmigrantischer. Dabei hat ihr Erfolg seinen Ursprung in der Generation der Gastarbeiter, deren Lebensleistungen in Almanya verkannt bleiben. Ohne sie, wären wir nicht die, die wir heute sind.
Überfällig ist, dass gerade die zweite und dritte Generation diesen Pionierinnen und Pioniern mehr Respekt zollen. Dafür gibt es Anknüpfungspunkte, zum Beispiel in der Musik der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter. Als ich gemeinsam mit dem Münchner Künstler Bülent Kullukcu vor knapp zehn Jahren das Album Songs of Gastarbeiter Vol. 1 herausgab, waren das mediale Echo und die öffentlichen Reaktionen überwältigend. Mit unserer Compilation dokumentierten wir die Musik unserer Eltern, die zum Alltag von Millionen Menschen in diesem Land gehörte, in der deutschen Öffentlichkeit aber völlig unbekannt war. Anfang 2022 schafften wir es endlich, das Folgealbum Songs of Gastarbeiter Vol. 2 auf den Markt zu bringen (Ayata und Kullukcu 2022). Ein musikalisch diverses Album, das politische Protestsongs und Partymusik zusammenführt und ein Aufruf gegen falsch verstandene Homogenität ist. Damit wollen wir Vorurteilen und Klischees, die gegenüber dieser Generation noch immer bestehen, etwas entgegenstellen, ihrer Musik eine größere Bühne geben und einen Beitrag dazu leisten, dass sie nicht verloren geht.
Mit Songs of Gastarbeiter richten wir den Blick auf die Menschen dieser Generation, die mit ihrer Musik ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen thematisierten, sich nicht nur leidend, sondern auch kämpferisch und ironisch gaben. Sie waren scharfsinnige Beobachterinnen und Beoachter der deutschen Gesellschaft und Politik, die nicht selten einfach nur eine Party feierten. Ebenso wertvoll ist es, die Erinnerungen an hunderte von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern initiierte Streiks Anfang der 1970er Jahre zu beleben, bei denen sie für mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen und Gleichberechtigung kämpften. Wer sich mit der Geschichte der Migration in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, setzt sich früher oder später nicht nur mit dem wilden Streik bei Ford in Köln (1973) auseinander, sondern landet auch beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss. Dort legten im selben Jahr Gastarbeiterinnen den gesamten Betrieb lahm. Sie waren zuvor in die sogenannte „Leichtlohngruppe 2“ eingestuft worden und erhielten für die gleiche Arbeit einen geringeren Stundenlohn als Männer. Dem Kampf der Gastarbeiterinnen um „eine Mark mehr“ schloss sich später ein Großteil der Belegschaft an und die Forderung konnte durchgesetzt werden (vgl. Braeg 1973). Insgesamt verdienen die Resilienz und die widerständigen Strategien der Migrantinnen und Migranten gegenüber institutionellem und alltäglichem Rassismus sowie ökonomischer und sozialer Ausgrenzung größere Beachtung. Dabei lassen sich Verbindungslinien und Brüche von wilden Streiks bei Ford bis zur Kampagne #SayTheirNames der Initiative 19. Februar Hanau ausmachen.

Notwendiger Perspektivenwechsel

Menschen setzen sich in Bewegung, verlassen ihr Zuhause, bauen in einem anderen Land eine Existenz auf, lieben und kämpfen, erfinden sich und ihr Umfeld neu, schaffen sich Zugänge zu ökonomischen und gesellschaftlichen Ressourcen, verändern Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir leben in einer fluiden Migrationsgesellschaft, in der Fragen der Einwanderung nicht mehr als Nebenthemen gelten können, die in die Zuständigkeit der Communities, der Sozialarbeiterindustrie oder Migrationsexpertinnen und -experten fallen. Aber kein Missverständnis: fluid bedeutet nicht sozial, nicht kulturell durchlässig.
Es ist erstaunlich, wie schwer Deutschland sich als Land tut, in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung zukunftsweisende Antworten auf Fragen zu finden, die bleiben werden. Es bedarf eines Perspektivwechsels, der darin besteht, Einwanderung und Migration als nichts Temporäres oder Vergängliches, sondern als gesellschaftliche Normalität zu begreifen. Ein solcher Perspektivwechsel zeichnet sich des Weiteren darin aus, dass er die sozialen und politischen Kämpfe sowie die Alltagsstrategien der Migrantinnen und Migranten in den Blick nimmt (vgl. Bojadzijev 2007) und sie als zentrale Akteurinnen und Akteure in der Migrationsgesellschaft versteht, also als handelnde Subjekte, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und manchmal dafür das Mittelmeer zu überqueren versuchen. „Der Migrant ist Protagonist, Akteur und Interpret des epochalen Dramas.“ (Di Cesare 2021, S. 35)
Verwunderlich ist, wie der politische Mainstream sich noch immer an das Dispositiv nationalstaatlicher bzw. europäischer Regulation klammert, wenn es um Einwanderung geht. Das gründet auf einer langen Geschichte, in der die Anwerbeabkommen nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiges Kapitel darstellen. Diese galten als Paradebeispiele und Referenz für die staatliche Steuerung von Einwanderung. Schon mit einer einfachen Suchmaschinenrecherche finden sich in der bundesrepublikanischen Geschichte viele Beispiele von Gesetzen und Verordnungen, die diesen Leitgedanken in sich tragen. So trat Anfang der 1980er Jahre das „Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern“ in Kraft. Der Name des Gesetzes war Programm. Denn gefördert werden sollte der „Wegzug von arbeitslosen Ausländern“, eine politökonomische Last gewissermaßen, die die damalige Bundesregierung mit der Zahlung einer so genannten Rückkehrhilfe loswerden wollte. In zwei Jahrzehnten waren aus Gastarbeitern Ausländer geworden, die später zu ausländischen Mitbürgern aufstiegen, dann Immigranten, Migranten, Menschen mit Migrationshintergrund bzw. Einwanderungsgeschichte oder neue Deutsche wurden. Wie auch immer die Bezeichnung dieser Gruppe lautet, die Vorstellung von staatlich gesteuerter Einwanderungspolitik zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte, die je nach Bedarf Menschen ins Land lockt und zurückweist, mal mit Rückkehrprämien, mal mit Abschiebungen und Ausweisungen.
Es ist nicht nur die staatliche Politik, die in – früher nationalstaatlichen und heute europäischen – Grenzen denkt, auf die Kraft der Regulation setzt und ein instrumentelles Verständnis von Einwanderung kultiviert. Elemente davon lassen sich in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sphären und Organisationen, aber auch bei den Gewerkschaften finden. Umso wichtiger ist es, dass wir eine gesellschaftliche Debatte initiieren, wie der Blick auf Menschen mit Einwanderungsgeschichte vom toxischen Dreieck der Bereicherung, Viktimisierung und Bedrohung befreit werden kann (vgl. Ayata 2022). Denn es ist mitnichten die Aufgabe von Menschen mit Einwanderungsgeschichte, Almanya zu bereichern, weder ökonomisch noch kulturell. Ist es nicht eigenartig, wenn in einer Demokratie dies von manchen eingefordert wird und anderen nicht? Warum müssen überhaupt Migrantinnen und Migranten produktiv und erfolgreich sein, um ohne Wenn und Aber dazuzugehören?

Denken in Grenzen

Es ist nicht hinnehmbar, Menschen mit Migrationsgeschichte zu Opfern zu machen oder als solche zu stigmatisieren, wie es noch immer viel zu häufig geschieht. Und es ist populistisch und rassistisch, Einwanderung als eine Gefahr für die Homogenität und die Wahrung „unserer Werte“ zu instrumentalisieren und bei Straftaten von Geflüchteten oder Migrant:innen statt rechtsstaatlicher Verfahren, reflexartig Abschiebungen zu fordern. Das tun nicht nur Rechtsextreme und Rechtspopulisten, diese Argumentation bemühen auch andere. Erst wenn wir dieses toxische Dreieck überwinden, wird es besser möglich, den eigentlichen Herausforderungen und Chancen einer Einwanderungsgesellschaft zu begegnen.
Die Autonomie der Migration (vgl. Moulier Boutang 2002) war in der Vergangenheit eine Herausforderung und sie wird auch in Zukunft die Konzepte gesteuerter Einwanderung und der Sicherung von Grenzen vor große Herausforderungen stellen. So wie zuletzt Menschen aus der Ukraine dem Krieg entflohen sind, werden künftig Menschen in Afrika oder auf einem anderen Kontinent den Folgen der Klimaerwärmung entkommen wollen. Sie werden sich auf den Weg machen und Grenzen überwinden. Donatella Di Cesare (2021) hat darauf hingewiesen, dass sich das „Innen“ und „Außen“ verfestigen, indem eine Gesellschaft die eigene Zugehörigkeit feiert, die eigene Gemeinschaft im Fokus hat und immer in Grenzen denkt. „Es ist diese metaphysische Dichotomie zwischen Innen und Außen – die Grundlage aller politischen Trennung – die zuallererst in Frage gestellt werden muss.“ (ebd., S. 36)
Dieses Abwehrkonzept aufrecht zu erhalten und zu verfestigen, ist das zentrale Motiv erstarkter Rechter und Autokraten, die den Nationalstaat stärken wollen, die Kriege führen, die Mauern an Grenzen bauen oder „unser Land“ und „unser Volk“ zurückholen wollen. Bezogen auf Einwanderung gibt es gleichwohl kein Zurück.
Dass rechtsextremistische und rechtspopulistische Parteien einen Rückfahrtschein in alte Zeiten lösen wollen, hat damit zu tun, dass sie Komplexität meiden, ohne Reue vereinfachen, und ihnen Hass und Lüge näher sind als gesellschaftliche Realitäten. Dabei wissen selbst sie, dass das Deutschland ihrer Imagination unwiederbringlich perdu ist, wofür schon allein die Demografie spricht. Nach Zahlen des Mikrozensus hatten in Deutschland 21,2 Mio. Menschen einen Migrationshintergrund. Das entspricht 26 % der Bevölkerung in deutschen Privathaushalten (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019). Der Anteil von Bürgerinnen und Bürgern mit Einwanderungsgeschichte wird in den nächsten Jahrzehnten signifikant wachsen – auch dann, wenn noch Billionen in die europäische Grenzagentur Frontex und die europäische Grenzkontrolle fließen sollten. Selbst bei einer Nulleinwanderung wird der Anteil von Migrantinnen und Migranten in Deutschland wachsen.

Rassismus – ein Thema aller

In der Einwanderungsgesellschaft zu leben, heißt, kontinuierlich über Rassismus zu sprechen. Doch selbst nach den NSU-Morden, nach Halle und Hanau mangelt es in Deutschland an einer breiten öffentlichen Debatte über Rassismus, dessen Bekämpfung längst ins Pflichtenheft der Mehrheitsgesellschaft gehört. Rassismus ist ein Thema der gesamten Gesellschaft und nicht delegierbar auf sogenannte Minderheiten. Das ist sogar grundfalsch. Rassismus ist das Thema aller, weshalb der Kampf gegen Rassismus und Hass in Almanya als gesamtgesellschaftliche Aufgabe leidenschaftlicher und energischer geführt werden muss. Der Singular ist irreführend, denn antirassistische Politik kann nur im Plural gedacht erfolgreich sein.
Bei den hitzigen Debatten um Identitätspolitik in Almanya könnte man einen anderen Eindruck gewinnen. Während die einen stärkere Repräsentation und Rechte von sogenannten Minderheiten einfordern, sehen andere darin den Rückfall in einen Opferwettbewerb und die Gefahr, in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft von wesentlichen Fragen abzulenken. Doch der Bezug auf Identität hat immer auch eine Klassendimension, so wie Klasse wiederum Identität stiftet. Interessant ist, auf welches Verständnis von Identität rekurriert wird. Identitäten sind niemals homogen und statisch – und weniger vom Ethnischen determiniert, als gemeinhin behauptet wird.
Wer vermag heute ernsthaft zu definieren, was deutsch ist, was Teile der deutschen Kultur oder deutsche Werte sein sollen. Identitäten können Gehhilfen sein. Sie helfen, Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu erkämpfen, neue Themen zu setzen und Perspektiven einzubringen. Das Spiel mit den Identitäten ist für Menschen mit internationaler Geschichte eine Technik der politischen und kulturellen Artikulation. Identitäten sind aber auch Fallen, weil der Bezug auf sie, manchmal ungewollt, Grenzziehungen zwischen „Ihr“ und „Wir“ oder „eure Heimat“ und „unser Albtraum“ nicht infrage stellt oder in diesen Kategorien verharrt (vgl. Aydemir und Yaghoobifarah 2019). Dass identitätspolitische Positionen stärker wahrnehmbar werden, hat auch damit zu tun, dass sich in einer zunehmend von Social Media geprägten Öffentlichkeit Positionen von Sprecherinnen und Sprechern anders verteilen und die Kapitalisierung der eigenen Biografie, Herkunft oder sexuellen Orientierung Bühnen und Abnehmer findet. Mit Sichtbarkeit und Repräsentation allein sind gesellschaftliche Veränderungen nicht möglich. Sie bedürfen politischer, rechtlicher und ökonomischer Interventionen. Ich kann so viele Essays und Artikel veröffentlichen, wie ich will, kann Likes und Retweets auf Twitter einsammeln oder im Kreise der Erfolgskanaken mit dem Bundespräsidenten über Diversität in Almanya parlieren, nichts davon wird das Leben von Rentnerinnen und Rentnern ändern, die als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in dieses Land eingewandert sind, oder einen Einfluss haben, wie ein Geflüchteter aus Syrien oder der Ukraine hier Fuß fassen kann.
Die eigene privilegierte Position ignorierend für die eigene Community zu sprechen, sich als deren Vertreterinnen und Vertreter zu behaupten und sich so Zugänge zu verschaffen und individuelle Karrieren zu ebnen, bedeutet mitnichten, Ausgrenzung und Rassismus infrage zu stellen. Denn es gibt keinen plausiblen Grund, sich damit zu arrangieren, dass sich die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft scheinbar daran gewöhnt hat, dass rassistische Diskriminierungen verharmlost, Menschengruppen stigmatisiert, Flüchtlingsheime, Aktivistinnen und Aktivisten sowie Politikerinnen und Politiker angegriffen werden. Indem wir dieser Gewöhnung nichts entgegenstellen, erfahren Nationalismus, Ressentiments und gruppenbezogener Hass weiter Akzeptanz.

Umdenken und neue Kompromisslosigkeit

Im Grunde sollten wir uns gerade wegen der tektonischen Rechtsverschiebung und der anhaltenden rassistischen Gewalt einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung zuwenden, in deren Mittelpunkt die Frage steht, wie in Zeiten der Globalisierung, der fortwährenden Bewegung von Menschen über Grenzen hinweg, trotz aller Differenzen, ein gemeinsames, pluralistisch-solidarisches Leben möglich ist. Eine Debatte solcher Größenordnung und Relevanz in Gang zu bringen, mutet heute utopisch an.
Die Jahrzehnte des Neoliberalismus haben gesellschaftliche Praktiken und Strukturen der Solidarität substanziell geschwächt. Das ist politisch fatal, weil wir uns globalen Herausforderungen stellen müssen, die existenziell bedrohlich sind.
Notwendig ist nicht nur ein Umdenken, sondern ein Denken in radikalen Alternativen – wie wir leben, arbeiten, wirtschaften.
Gebraucht werden neue gesellschaftliche Allianzen, die das Soziale und Ökologische nicht als Gegensätze begreifen, sondern im Sinne eines guten Lebens für alle zusammenführen. Zu denken, sozial und ökologisch sei nicht miteinander vereinbar, spielt jenen in die Hände, die aus dieser Polarisierung Profit schlagen oder sie für Eigeninteressen instrumentalisieren. Ob Corona-Pandemie, Leben mit Grundsicherung, Erderwärmung, Artensterben, die Verschmutzung der Meere oder Migration, die globalen Aufgaben erfordern eine neue Form von Kompromisslosigkeit.
Welche Kraft eine solche Fokussierung entfalten kann, sehen wir bei Fridays for Future. Neben allen Argumenten und Fakten, politischer Leidenschaft und Kreativität setzt diese weltweit agierende Bewegung vor allem auf: Kein Kompromiss beim Klimaschutz. Das ist ihre Radikalität. Die Aktivistinnen und Aktivisten stellen darauf ab, dass es ohne eine Abwehr der Klimakatastrophe keine Zukunft geben kann. Ihre Anklage handelt davon, dass ihnen und künftigen Generationen die Zukunft genommen wird. Deswegen lässt sich Fridays for Future bis jetzt nicht beirren, so als wollten sie sagen: Wir haben keine andere Wahl, ihr auch nicht. Wenn wir so weitermachen, werden wir alle untergehen.
Eine solche Kompromisslosigkeit könnte auch das Denken in „Innen“ und „Außen“, in „Wir“ und „Sie“, überwinden und ein Sprungbrett dafür sein, mit etablierten Reflexen des Verstehens und Legitimierens zu brechen, sich gemeinsam gegen die Ethnisierung sozialer Fragen und gegen jedwede Form sexistischer und rassistischer Diskriminierung zu stellen und dem Hass sowie der Gewalt der Rechten zu begegnen. Für eine pluralistische und demokratische Gesellschaft bleibt es gewissermaßen eine kontinuierliche Aufgabe, kompromisslos zu sein, wenn es um ein solidarisches Zusammenleben und gleichberechtigtes Miteinander in Zeiten der Globalisierung und Migration sowie den geopolitischen Neuordnungen geht. Das ist alles andere als einfach, und bedeutet, es auszuhalten, in Selbstwidersprüchen zu leben. Es zeichnet sich ab, dass diese nicht weniger, sondern mehr werden. Daher bleibt die Anforderung für die Zukunft, diesen Widersprüchen politisch und kulturell zu begegnen. Und es bleibt die Ambiguitätstoleranz als notwendige Bedingung für eine Gesellschaft, die noch stärker von Migration konturiert sein wird. Denn das Jahrhundert der Migration hat für Almanya erst begonnen. Das Deutschland von morgen wird sehr viel stärker von Einwanderung geprägt sein, als es heute schon ist.
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Literatur
Zurück zum Zitat Aydemir, F., & Yaghoobifarah, H. (Hrsg.) (2019). Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein Aydemir, F., & Yaghoobifarah, H. (Hrsg.) (2019). Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: Ullstein
Zurück zum Zitat Bojadzijev, M. (2007). Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster: Westfälisches Dampfboot Bojadzijev, M. (2007). Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster: Westfälisches Dampfboot
Zurück zum Zitat Braeg, D. (1973). „Wilder Streik – das ist Revolution“: Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973. Berlin: Die Buchmacherei Braeg, D. (1973). „Wilder Streik – das ist Revolution“: Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973. Berlin: Die Buchmacherei
Zurück zum Zitat Di Cesare, D. (2021). Philosophie der Migration. Berlin: Matthes & Seitz Di Cesare, D. (2021). Philosophie der Migration. Berlin: Matthes & Seitz
Metadaten
Titel
Leben, lieben, kämpfen – in einem anderen Land
verfasst von
Imran Ayata
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-39911-5_9

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