2018 | OriginalPaper | Buchkapitel
Von der mittelalterlichen Armenfürsorge zur sozialen Dienstleistung: Ausdifferenzierung und Integration
verfasst von : Ernst-Ulrich Huster
Erschienen in: Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung
Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden
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Die kommunale Armenfürsorge ist dem zentralen Sozialstaat geschichtlich und systematisch vorgelagert, zugleich tritt sie immer wieder dort in den Vordergrund, wo zentrale Sicherungssysteme in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind. Dieses zeigte sich nicht nur nach den beiden Weltkriegen, sondern als Folge der Massenarbeitslosigkeit auch während der Weltwirtschaftskrise und verstärkt seit Mitte der 1970er Jahre. Die Fürsorge unterliegt einer widersprüchlichen Legitimation: Sie soll das bestehende System abhängiger Erwerbsarbeit teils mehr erzieherisch, teils unter Sanktionsandrohung mehr disziplinierend als vorherrschenden Rahmen der Subsistenzsicherung stabilisieren, so auch durch den Abstand der gewährten Leistungen von den Markteinkommen unterer Lohngruppen (Lohnabstandsgebot). Zugleich steht sie seit ihren Anfängen in der christlichen Armenfürsorge immer unter dem Gebot der Bewahrung von Menschenwürde, indem sie vorleistungsfrei einen existenzminimalen Lebensstandard absichern soll. Parallel zur Entwicklung und institutionellen Ausfächerung der Arbeiterpolitik seit Mitte des 19. Jahrhunderts kommt es auch zu einer arbeitsteiligen Ausdifferenzierung der die vormalige Armenfürsorge zunehmend ersetzenden sozialen Dienstleistung. Dieses geschieht zunächst auf der Ebene freier Träger im 19. Jahrhundert, dem der Staat durch seine Gesetzgebung in der Weimarer Republik folgt. Die Bereiche Kindheit und Jugend, Gesundheit, Wohnungslosigkeit, Erwerbslosigkeit – und andere Felder der Fürsorge – bekommen in dieser Zeit eigene institutionelle Regelungen und Zuständigkeiten.Die Armenfürsorge ist daneben geschichtlich und aktuell immer auch ein Schrittmacher der Sozialgesetzgebung, indem sie bestimmte soziale Risiken sichtbar macht und eine sozialrechtliche Lösung notwendig erscheinen lässt: so bei den Folgen von Arbeitslosigkeit, beim Schwerbehindertenrecht, bei der Absicherung des Pflegerisikos. Umgekehrt fallen der kommunalen Fürsorge immer dann Folgelasten zu, wenn die zentralen Sicherungssysteme ihrer Aufgabenstellung nicht oder nur unzureichend gerecht werden. Fürsorge und Sozialversicherung sind folglich von der Aufgabenstellung, deren Bewältigung und insbesondere von der Finanzierungsseite her voneinander abhängig. Einsetzend in den 1970er Jahren, verstärkt durch die Neuregelung der Grundsicherung für Arbeitsuchende kommt es vermehrt zu Ansätzen, die häufig getrennt arbeitenden einzelnen sozialen Dienste wieder stärker zu vernetzen und zu integrieren, weil sie so die konkreten Problemlagen der Betroffenen besser erfassen können. Auf der anderen Seite werden Teile der sozialen Dienste auch privat angeboten, es kommt zu einem neugestalteten Sozialmarkt. Dadurch werden die Zugänge zu sozialen Dienstleistungen (auch) abhängig von der Finanzkraft des Nachfragers.