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2018 | Buch

Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung

herausgegeben von: Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster, Prof. Dr. Jürgen Boeckh, Prof. Dr. Hildegard Mogge-Grotjahn

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Über dieses Buch

Das Handbuch stellt den „State of the Art“ zu den Themen Armut und soziale Ausgrenzung dar. Beides nimmt in unserer Gesellschaft, in Europa und weltweit zu. Dies betrifft nicht nur die materielle Versorgung und Verteilung, sondern bezieht weitere soziale, ökonomische und politische Aspekte ein. In der nunmehr 3. Auflage greift das Handbuch diese multifaktoriellen Zusammenhänge auf und fügt zentrale Erkenntnisse von Theorie und sozialer Praxis zusammen. Es zeichnet sich durch einen interdisziplinären Zugang aus, in dem sich eine Vielzahl human-, geistes- und sozialwissenschaftliche Perspektiven bündeln. So werden u.a. wirtschaftliche Zusammenhänge, sozialethische Bewertungsmaßstäbe, juristische und verwaltungsmäßige Bearbeitungsformen, Bewältigung in und durch motopädagogische und ästhetische, bzw. medienpädagogische Praxis, geschichtliche Erfahrungen von und im Umgang mit Armut, soziale Beteiligungsstrukturen und individuelle Problemlösungskapazitäten dargestellt. Es wird deutlich: Armut und soziale Ausgrenzung entstehen im sozialen Kontext und sind deshalb auch politisch und gesellschaftlich veränderbar.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Armut und soziale Ausgrenzung: Ein multidisziplinäres Forschungsfeld

Armut ist ganz offensichtlich eine die verschiedensten gesellschaftlichen Formationen überdauernde – quasi zeitlose – Tatsache Armut gehört zur Menschheitsgeschichte als Teil der Gestaltung von Lebensbedingungen, nicht aber zum Menschen im Sinne einer anthropologischen Konstante bzw Gesetzesmäßigkeit. Und so ist Armut nicht nur die „schlimmste Art der Unfreiheit“ (A. Stolypin, russ Premierminister 1906–1911), sondern bringt immer auch soziale Akteure hervor, die versuchen, diese Verletzung von Menschenrecht zu überwinden Es waren und sind individuelle und kollektive Akteure, die private wie öffentliche Ressourcen, Strategien und Perspektiven zur Armutsbekämpfung mobilisieren bzw entwickeln wollen – vom kleinen Wirkungskreis des Einzelnen bis hin zu weltweiten Interventionen internationaler und supranationaler Institutionen.

Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh, Hildegard Mogge-Grotjahn

Th eorien der Armut und sozialen Ausgrenzung

Frontmatter
Armutsforschung: Entwicklungen, Ansätze und Erkenntnisgewinne

Armutsforschung ist ein zirkulärer Prozess Hier werden sozioökonomische Verteilungsstrukturen, ihre Ergebnisse, die daraus im geschichtlichen Verlauf gezogenen politischen und sozialen Schlussfolgerungen sowie deren Be-Wert-ung analysiert. Dieses mündet dann in eine Analyse der Ressourcen- bzw. Machtzugänge einer Gesellschaft. Armutsforschung ist eng an bestehende, gewünschte bzw. verworfene Wert- und Normvorstellungen und deren soziale Interessenträger gebunden. Im Nachfolgenden werden unterschiedliche Zugänge zur Armutsproblematik daraufh in untersucht, welches Verständnis von Armut sie aufweisen, welche Methoden sie anwenden, ob sie sich eines Indikatorensets bedienen und ob sie sich bestimmten Traditionslinien zuordnen lassen. Dabei werden Entwicklungen ebenso deutlich wie Querverbindungen. In jedem Falle gibt es eine beachtliche Vielfalt von Ansätzen zur Bestimmung von Armut bzw. Prozessen sozialer Ausgrenzung. Die nachfolgende Darstellung geht vom Diskurs in Deutschland aus und weitet ihn dann nach Europa und darüber hinaus auf die Welt aus.

Norman Best, Jürgen Boeckh, Ernst-Ulrich Huster
Gesellschaftliche Ein- und Ausgrenzung
Der soziologische Diskurs

Der soziologische Blick auf Armut als eine Erscheinungsform gesellschaftlicher Ausgrenzung führt zu einem der Hauptthemen soziologischer Theoriebildung: der Analyse der Ursachen sozialer Ungleichheiten und ihrer Folgen für die Einzelnen wie für Gesellschaften insgesamt. Damit verbunden sind normative Fragen der gesellschaftlichen Bewertung von Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung. Nicht zuletzt führt die Ungleichheitsforschung zur Beschäftigung mit den Zusammenhängen zwischen strukturellen, kulturellen und subjektbezogenen Merkmalen und Prozessen, durch die soziale Ungleichheiten reproduziert werden oder auch überwunden werden können. Die empirische Erforschung sozialer Ungleichheit bezieht sich auf die Erfassung einzelner Ungleichheitsdimensionen (z. B. Bildungs-Ungleichheit, gesundheitliche Ungleichheit, materielle Ungleichheit) und/oder das messbare Ungleichheitsgefüge ganzer Gesellschaft en (z. B. das Schichtungsgefüge, die Einkommensverteilung). Theorien sozialer Ungleichheit fragen nach den Voraussetzungen und Bedingungen, die zu unterschiedlichen Ungleichheitsgefügen führen. Der Beitrag geht auf ausgewählte klassische und moderne soziologische Konzepte sozialer Ungleichheit ein und diskutiert die Tauglichkeit von Begriff en wie Klasse, Schicht, Lebenslage oder Milieu für das Verständnis heutiger Armutslagen und Ausgrenzungsprozesse. Aktuelle Forschung und Theoriebildung beschäftigen sich mit neuen Formen der Prekarisierung und der Tendenz, soziale Ungleichheit (erneut) zu individualisieren. Das interdisziplinäre Konzept der Intersektionalität stellt einen theoretischen Rahmen zur Verfügung, der es erleichtert, die wechselseitigen Verschränkungen von Diskriminierungs- und Ungleichheits-Dimensionen zu analysieren. Und die aktuellen Auseinandersetzungen um die inhaltliche Bedeutung und politische Umsetzung von Inklusion fordert zu einer Überwindung enger disziplinärer Grenzen sowie politischer und professioneller Ressort-Grenzen auf. Die Beschäftigung mit gesellschaftlicher Ein- und Ausgrenzung, ihren Ursachen und Folgen führt zu der Frage, welche gesellschaftlichen Strukturen als gerecht und legitim erscheinen.

Hildegard Mogge-Grotjahn
Ungleichheit und Armut als Movens von Wachstum und Wohlstand?

Die ökonomische Theorie diskutiert den Zusammenhang zwischen Ungleichheit oder Armut einerseits und wirtschaftlichem Wachstum sowie Wohlstand andererseits. Wichtige Theoretiker in diesem Zusammenhang sind insbesondere: Adam Smith, John Stuart Mill, Milton Friedman, Friedrich August von Hayek, John Maynard Keynes, John Rawls, Amartya Sen.Es lassen sich im Prinzip zwei konträre Positionen ausmachen: Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit werden durch Ungleichheit bedroht und führen zu einer geringeren Wohlstandsentwicklung, wenn infolge von Ungleichheit das Funktionieren des Wirtschaftssystems durch Störung des sozialen Friedens gefährdet ist, so die eine These. Der Antrieb zur Erzielung von allgemeinem Wohlstand wird auf Ungleichheit zurückgeführt, so die Gegenthese. Die Armen würden sich mit Blick auf den nachahmenswerten Lebensstandard der Reichen anstrengen und so zur allgemeinen Wohlstandsentwicklung der Gesellschaft beitragen; die Reichen investieren gewinnbringend in Arbeitsplätze und schaff en Voraussetzungen für das (unbeabsichtigte) Wohlergehen der Ärmeren.Die politischen Handlungsaufforderungen sind von daher konträr: Zum einen erwächst aus der Notwendigkeit, die benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu befähigen, ihre Lage selbst überwinden zu können, der Bedarf nach stärkerer öffentlicher Intervention. Zusätzlich kann eine wachsende Ungleichheit dazu führen, dass den Armen Kaufkraft fehlt, während die Reichen ihre Sparsummen erhöhen, was zu einer sinkenden Nachfrage und Beeinträchtigung des Wirtschaftswachstums führt. Der Gegenposition geht es jedoch generell um den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und die maximale Freisetzung von Marktkräft en bzw. um den Verzicht auf die soziale Korrektur des Marktgeschehens.

Dieter Eißel
Soziale Teilhabe als sozialstaatliches Ziel
Der sozialpolitische Diskurs

Der Sozialstaat zielt auf Kompromisse in einer Gesellschaft, die durch gegensätzliche soziale Interessen geprägt ist. Im historischen Ausgangspunkt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts betraf dieses die widerstreitenden Interessen von Lohnarbeit und Kapital. Diese Gegensätzlichkeit besteht fort, auch wenn sich die Binnenstruktur der Gesellschaft weiter ausdiff erenziert hat. Die historisch ausgeprägte sozialstaatliche Kompromissstruktur fordert als Grundprinzipen des sozialen Zusammenlebens unterschiedliche Werthaltungen ein: Eigenverantwortung – das Erbe des bürgerlichen Liberalismus, Solidarität – das Erbe der Arbeiterbewegung und Subsidiarität – das Erbe christlicher Ethik. Sozialstaatlichkeit stellt folglich immer eine Verbindung unterschiedlicher Wertvorstellungen dar, dessen Binnengewichtung allerdings interessebedingt zwischen den drei Grundprinzipien von Sozialstaatlichkeit differiert. Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität sind geschichtlich betrachtet von unterschiedlichen sozialen Trägern entwickelt und durchgesetzt worden und bilden zusammen die tragenden Prinzipien der sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert herausbildenden Sozialstaatlichkeit in Deutschland.Sozialstaatlichkeit zielt zunächst auf die Teilhabe an der Erwerbsarbeit als Grundlage von der Wahrnehmung von Eigenverantwortung. Zugleich geht es um die Beteiligung am gesellschaftlichen Wohlstandszuwachs, über Löhne und zunehmend über soziale Leistungen einschließlich sozialer Dienste. Sozialstaatlichkeit ist eine besondere Ausprägung des neuzeitlichen Staates. Der Staat, damit auch der Sozialstaat, muss sich stets von neuem vor seinen Bürgerinnen und Bürgern legitimieren: Gelingt ihm der soziale Kompromiss, geht dieser einseitig zu Lasten eines Teils der Gesellschaft oder stellt er gar die Grundlagen sozialstaatlicher Umverteilung, nämlich die ökonomische Wertschöpfung, in Frage? Der Sozialstaat hat Akteure, Befürworter und Gegner. Dabei geht es um Verteilung. Hier widerstreiten zahlreiche Konzepte zwischen einer umfassenden sozialen Integration, einer partiellen Teilhabe, einer fürsorglichen Absicherung von Mindeststandards oder gar einer nur noch residualen Unterstützungsleistung. Zugleich wird der sozialstaatliche Kompromiss immer wieder in Frage gestellt. Und schließlich gibt es stets neue Versuche, diesen Integrationsansatz auf die sich verändernden Bedingungen etwa in Europa oder weltweit zu beziehen. Nachdem lange Zeit im wirtschaftspolitischen Diskurs radikale wirtschaftsliberale Konzepte vorherrschten, mehren sich nunmehr national und weltweit Stimmen, die eine gerechtere Teilhabe aller am Wohlstand auch mit dem Ziel verfolgen, dadurch langfristig die Grundlagen von Wirtschaftswachstum zu sichern.Mit dem Konzept von der sozialen Inklusion wird dieser Widerstreit neu formuliert, nicht aber neu entdeckt. Auch dieser Entwurf sucht nach einem sozialen Kompromiss, nun aber in einem umfassenderen Maße als bei vorherigen Konzepten: Es werden soziale Teilhabe und individuelle Potentiale eng miteinander verknüpft, ohne allerdings dafür nachprüfbare Parameter vorzugeben. Die Vorstellung von sozialer Inklusion präzisiert den Sozialstaats-Diskurs von der Handlungs- und Akteursebene aus betrachtet, zugleich unterliegt sie dem Dilemma jedes umfassenden gesellschaftspolitischen Konzepts: Es ist weniger operationalisierbar und seine Ergebnisse sind weniger messbar. Damit unterliegt es in besonderem Maße der Gefahr eines nicht lösbaren Legitimationsproblems.

Ernst-Ulrich Huster
Soziale Inklusion: Utopie, Vision oder konkreter Gestaltungsauftrag?

Soziale Inklusion ist, wie sein Gegenstück soziale Exklusion, ein vielschichtiger Begriff, dessen Wurzeln in der Underclass-Debatte in Großbritannien und den Vereinigten Staaten sowie in der französischen Armutsforschung liegen. Eine allgemein anerkannte Definition des sich immer weiter verbreitenden und inhaltlich auch verändernden Terminus soziale Inklusion gibt es bis heute nicht. Ausgehend von der Entstehung des Begriffs lässt sich Inklusion grundsätzlich durch die Modi der gesellschaftlichen Zugehörigkeit – Interdependenz und Partizipation – beschreiben. Soziale Inklusion ist, genau wie ihr Gegenpart soziale Exklusion, sowohl als Zielbestimmung als auch als der Weg zu deren Erreichung zu verstehen. Das Ausmaß sozialer Exklusion in einer Gesellschaft und damit auch sozialer Inklusion ist stets von politischen und damit von normativen Entscheidungen abhängig. Welche Mechanismen für die Exklusionsprozesse im Bildungs- und auch im Gesundheitsbereich in den Fokus gerückt werden, hängt von der theoretischen Herangehensweise ab. Ausgehend vom Menschenbild eines autonom handelnden Individuums (homo oeconomicus) kommt man zu anderen Ergebnissen, als wenn man die gesellschaftlichen Einflüsse auf das Handeln der Menschen (homo sociologicus) in den Vordergrund der Betrachtung stellt. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen beschreiben einerseits die Schwierigkeiten bei der Definition des Inklusionskonzeptes, auf der anderen Seite verdeutlicht die Darstellung auch das Potential, welches gerade in dieser Offenheit liegt. Soziale Inklusion ist bestimmt durch unterschiedliche, teils gegensätzliche Interessen, vermittelt aber auch zwischen ihnen, sie kann nicht auf die Grundannahme individueller Handlungsoptionen verzichten, wie sie umgekehrt nicht von der sozialen Gebundenheit des Handelns absehen kann. Nur so kann Inklusion verschiedenste Handlungsansätze miteinander verbinden und eine Möglichkeit bieten, dem Ziel Inklusion näher zu kommen.

Johannes D. Schütte
Das Maß der Armut: Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext
Der sozialstatistische Diskurs

Aus individueller Sicht ist es ein schweres Los, in Armut leben zu müssen. Aus der Sicht eines Sozialstaates stellt das Vorhandensein von Armen unter der Wohnbevölkerung die Verfehlung eines wichtigen sozialpolitischen Ziels dar. Diese beiden Perspektiven sind auch maßgeblich für den sozialstatistischen Diskurs; sie müssen aber sorgfältig unterschieden werden. Soll einzelnen armen Menschen mit sozialstaatlichen Maßnahmen geholfen werden, so ist die Voraussetzung hierfür, dass sie identifiziert werden können Für den Sozialstaat als Akteur, der das Ziel der Armutsbekämpfung bzw. Armutsvermeidung mit allgemeinen Gesetzen oder anderen institutionellen Regelungen und Instrumenten verfolgt, genügt eine Statistik, die lediglich die Zahl, den Bevölkerungsanteil und die durchschnittliche „Schwere“ der Armutslage von anonym bleibenden Menschen aufzeigt. Außerdem ist es wichtig, die Dauer von Armutslagen und das Ausmaß der Aufstiege aus und der Abstiege in Armutslagen zu ermitteln. Dem Entstehen, dem Bestehenbleiben und dem Verschwinden von Armut liegen soziale Prozesse zugrunde. Auch hierbei ist zwischen der individuellen Sicht und der gesellschaftlichen Sicht zu unterscheiden. Ein Individuum kann in Armut absinken, es kann in Armut verharren oder es kann aus Armut in eine nicht mehr als arm zu kennzeichnende Lebenslage aufsteigen. Es kann auch in eine arme Familie hineingeboren werden oder aus dem Ausland zuwandern und arm sein oder die Armutslage durch Auswanderung oder durch Tod verlassen. Gesellschaftlich gesehen kann ein bestimmter Bevölkerungsanteil von Armen dauerhaft vorhanden sein, ohne dass dieselben Individuen dauerhaft arm bleiben müssen. Es genügt, dass der Zustrom von Individuen in die Armut etwa dem Abstrom von Individuen aus der Armut entspricht. Damit sollte auch klar sein, dass man nur von armen Menschen sprechen sollte, aber nicht von armen Regionen, armen Ländern, armen Schichten oder armen ethnischen Gruppen; denn diese Bezeichnungen würden nur dann zutreffen, wenn man unterstellen könnte, dass alle Individuen in einer Region, in einem Land oder in einer Gruppe als arm angesehen werden müssen Es gibt in einem hochentwickelten Land vermutlich keine sozialen Prozesse, die zu einer derart geringen Heterogenität führen. Der Zweck von Armutsgrenzen ist es, eine Unterscheidung zwischen Armen und Nicht-Armen treffen zu können. Sie liegen daher explizit oder implizit allen Überlegungen über Armut in den Artikeln dieses Handbuchs zugrunde. Dabei stellen die beiden genannten Perspektiven unterschiedliche Anforderungen an die Ausgestaltung. Die deskriptive Klassifizierung von Personen als arm oder nicht arm ist eine Voraussetzung für weitergehende Ursachenanalysen. Derartige Ursachenanalysen sind aber nicht Gegenstand dieses Beitrags.

Richard Hauser
International vergleichende Armutsforschung

Internationale Vergleiche zum Thema Armut spielen eine immer größere Rolle Sie dienen sowohl dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn als auch dem Soll-Ist-Vergleich im politischen Raum. Dies gilt in weltweitem Maßstab, aber insbesondere für Vergleiche innerhalb der Europäischen Union. So wurde im Rahmen des Lissabon-Prozesses der Europäischen Union die Bekämpfung von Armut zu einem zentralen Ziel erkoren und für den Bereich der sozialen Eingliederung eine regelmäßige empirische Armutsberichterstattung implementiert.Dieser Beitrag beginnt mit grundsätzlichen methodischen Überlegungen zur international vergleichenden Armutsforschung (Abschnitt 1) Einige der in dem Beitrag von Richard Hauser in diesem Band zum Thema Armutsmessung diskutierten Probleme stellen sich dabei in besonderem Maße.Im Abschnitt 2 wird dann dargestellt, welche Arten von Fragestellungen es gibt, also was eigentlich miteinander verglichen werden soll Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, gibt es unterschiedliche methodische Probleme.In Abschnitt 3 folgt dann eine ausführlichere Beschreibung der Armutsberichterstattung in der Europäischen Union als ein wichtiges Anwendungsbeispiel von international vergleichender Armutsforschung.Wir beschränken uns dabei auf Untersuchungen, die sich auf entwickelte Länder beziehen und auf quantitative Armutsforschung, die repräsentative Ergebnisse für die Bevölkerung verschiedener Länder. anstrebt Qualitative Armutsforschung, die typischerweise mit kleinen, nicht-repräsentativen Stichproben arbeitet, aber die ausgewählten Fälle viel intensiver untersucht, als es mit repräsentativen Bevölkerungsstichproben möglich ist, wird nicht behandelt Auch institutionelle Vergleiche werden nur insoweit angesprochen, als es für die Erklärung von Armuts phänomenen erforderlich ist.

Wolfgang Strengmann-Kuhn, Richard Hauser
Soziale Mobilität

Ausgehend von der modernisierungstheoretischen Annahme von Lipset und Bendix stellt der Beitrag den historischen Verlauf der Mobilität seit dem ausgehenden Spätmittelalter in Deutschland dar. Der Beitrag startet nach einer Einleitung mit einer grundbegrifflichen Aufklärung und einer Übersicht über Mobilitätstheorien und schließt mit einer Zusammenfassung. Als wesentliche Einflussgrößen der Mobilität werden gesellschaftliche Strukturwandel herausgestellt wie der Wandel von einer Agrar-, über eine Industrie- bis hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft, aber auch etwa demographische Prozesse, die bis in das 20. Jahrhundert hinein die Mobilitätsverläufe stark beeinflussen. In Folge des gesellschaftlichen Strukturwandels werden ab dem 19. Jahrhundert Bildung und Qualifikation immer wichtiger für die Platzierung und Positionierung. Seit den 1970er Jahren ist schließlich ein leichter Rückgang des Mobilitätsanstiegs vor allem in den oberen und unteren Statusgruppen zu beobachten, der zu einer Verfestigung und Vererbung von Reichtumslagen, als auch von Armutslagen führt

Christian Steuerwald
Die Entwicklung des Rechts der Armut zum modernen Recht der Existenzsicherung

Das moderne Recht der Existenzsicherung geht auf das Recht der Armut zurück und hat seine Quellen damit im Polizeirecht. Während der Arme früher grundsätzlich aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen war, indem ihm seine Eigenschaft als Rechtsperson abgesprochen wurde, wird er im demokratischen Rechtsstaat durch das Recht grundsätzlich eingeschlossen und zwar durch das verfassungsrechtliche Institut der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das zusammen mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) den Schutz des soziokulturellen Existenzminimums verbürgt. Das deutsche Recht widmet sich im SGB II und im SGB XII diesem Fürsorgerecht, das sich mit seinen Strukturprinzipien deutlich vom übrigen Recht abgrenzt. Ein Blick in die einschlägigen Regelungen zeigt, dass das Recht die Armut selbst nicht beseitigt, sondern einhegt und als Referenzsystem erhebliche Bedeutung für den modernen sozialen Interventionsstaat erlangt hat.

Knut Hinrichs
Der Wert der Armut
Der sozialethische Diskurs

In diesem Beitrag werden die religiösen Traditionen der monotheistischen Religionen im Blick auf sozialethische Bewertungen der Armut dargestellt. Neben der von allen Religionen betonten, grundlegenden Aufgabe der Überwindung jeder Form der skandalösen Armut, die wesentlich mit sozialer Ausgrenzung verbunden ist, wird dabei auch die Perspektive freiwillig gewählter Formen des individuellen Verzichts thematisiert, wie sie insbesondere in Teilen des Christentums und des Islams praktiziert werden.Der Diskurs über Armut ist – ähnlich wie derjenige über den Reichtum – mit starken Werturteilen verknüpft, sei es, dass skandalisierend, verurteilend oder auch bewundernd über die jeweiligen Sachverhalte gesprochen wird. Ein wesentlicher Grund für diese mit starken Werturteilen verknüpfte Redeweise über Armut bzw. Reichtum liegt darin, dass beide Phänomene eng mit dem gesellschaftlichen Status und mit Erfahrungen sozialer Ungleichheit verbunden sind. Beides ist speziell in Gesellschaft en, die sich dem normativen Leitbild der Gleichheit aller Menschen und der Geltung von Menschenrechten auf der Grundlage einer allen zukommenden Menschenwürde verpflichtet wissen, in starker Weise legitimierungsbedürftig.In der Geschichte des Judentums, des Christentums und des Islams sind Armut und Reichtum von Beginn an intensiv diskutiert worden. Der Schutz und die Unterstützung der Armen, insbesondere als Verpflichtung der reicheren Bevölkerungsgruppen, stehen jeweils im Mittelpunkt. Seit dem 19. Jahrhundert wird in Europa im Horizont der Auseinandersetzungen um die „soziale Frage“ darüber hinaus von den Kirchen auch nach ökonomischen Ursachen von Reichtum und Armut sowie entsprechenden sozialpolitischen Folgerungen gefragt. In einer Vielzahl von Stellungnahmen haben die Kirchen seither soziale Reformvorschläge entwickelt und sich in den Diskurs über die Fragen von Armut und Reichtum eingebracht. Um den gesellschaftlich notwendigen Diskurs sachlich führen zu können, hat im Jahr 1997 das „Gemeinsame Wort der Kirchen: Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ die regelmäßige Erstellung von Armuts- und Reichtumsberichten gefordert (vgl Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit 1997: Nr 219), wie es 1999 vom Deutschen Bundestag beschlossen wordenist. Gerade wurden die Arbeiten an dem V. Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung abgeschlossen.Armut ist ebenso wie Reichtum ein schillernder Begriff, für den es keine einheitlich akzeptierte Definition gibt. Dies gilt auch für die zumeist verwendeten und in hohem Maße bewährten relationalen Armuts- und Reichtumsdefinitionen, welche sich wesentlich auf Aspekte des materiellen Einkommens und Vermögens beziehen. Allerdings ist die materielle Dimension nur ein – wenngleich wesentlicher – Aspekt, um Armut zu bestimmen. In einem weiteren Sinn lässt sich Armut als soziale Ausgrenzung und mangelnde Teilhabe definieren (vgl. grundlegend: Döring et al. 1990), welche die Handlungsspielräume von Menschen in gravierender Weise einschränken und von grundlegenden Teilhabechancen an den Lebensbedingungen der Gesellschaft ausschließen. Im Anschluss an die Sozialtheorie von Pierre Bourdieu resultieren gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten aus der Verfügbarkeit über ökonomisches Kapital, daneben aber auch über kulturelles und soziales Kapital, d. h. aus angeeigneten Wissensbeständen, Kompetenzen und Orientierungsfähigkeiten sowie aus der Bedeutung sozialer Zugehörigkeiten und Kontaktnetze, die oft wesentlich die Fähigkeiten für eine eigenverantwortliche Lebensführung mitbestimmen (vgl. Bourdieu 1983). Armut in diesem Sinn ist die Ausgrenzung aus sozialen Kontaktnetzen, das Fehlen von Kompetenzen und nicht zuletzt die eingeschränkte Möglichkeit des Verfügens über materielle Ressourcen. Diese Formen von Armut werden in den religiösen Traditionen der monotheistischen Religionen als Skandal erfahren, der beseitigt, zumindest deutlich reduziert werden muss.In dem folgenden Beitrag sollen zunächst die biblischen Perspektiven zum Thema Armut als Grundlage des jüdischen und des christlichen Verständnisses aufgezeigt werden, wie sie vermittelt vor allem durch die Geschichte des Christentums für die abendländische Kultur grundlegend geworden sind. Ergänzt wird diese Perspektive durch wesentliche Aspekte des islamischen Verständnisses von Armut, um sodann in konstruktiver Aufnahme der religiösen Perspektiven sozialethische Bewertungsmaßstäbe und Handlungsperspektiven für die Gegenwart aufzuzeigen.

Traugott Jähnichen
„Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen …“
Armut und Kunst

Ein Armut präsentierendes Kunstwerk lässt sich beschreiben als künstlerisch gestaltete, sinnlich erfahrbare Objektivierung von Vorstellungen über das faktische Phänomen Armut. Dessen Rezeption findet gemeinhin im Rahmen der Kategorien des Ge- bzw. Missfallens statt. Die Analyse, wie der Künstler mit seinem Gegenstand verfahren ist, wie er also Armut in einen Kunstgegenstand transformiert, steht weniger im Mittelpunkt der Kunstbetrachtung. Im Kunstwerk schlagen sich Ansichten der Künstler über die Armut nieder, die als sinnliche Erscheinungen mehr dem Gefühl und weniger der Urteilskraft des Rezipienten anheimgestellt sind. Dass sich dessen gefühltes Gefallen wiederum nicht urteilslos auf das Kunstwerk bezieht, sondern im Kunstwerk existente Urteile als die seinen wieder- oder auch anerkennt, soll samt einer kurzen Darstellung von Struktur und Inhalt eben dieser Urteile aufgezeigt werden. Dabei werden Beispiele aus verschiedenen Kunstformen hinzugezogen, denn es kann hier nicht um eine stringente ‚Kunstgeschichte der Armutsdarstellungen‘ gehen, sondern darum, einige Grundzüge der künstlerischen Beschäftigung mit Armut aufzuzeigen. Dass Künstler reale Armut in einen ästhetischen Gegenstand transformieren, beweist die eines ästhetizistischen Zynismus eigentlich unverdächtige Käthe Kollwitz (1867–1945), wenn sie schreibt: „Daß eigentliche Motiv aber, warum ich von jetzt an zur Darstellung fast nur das Arbeiterleben wählte, war, weil die aus dieser Sphäre gewählten Motive mir einfach und bedingungslos das gaben, was ich als schön empfand.“ (Kollwitz 1983, S. 268) Und fortfahrend nennt sie auch Kriterien dafür, was ihr gefi el: „Ohne jeden Reiz waren mir Menschen aus dem bürgerlichen Leben. Das ganze bürgerliche Leben schien mir pedantisch. Dagegen einen großen Wurf hatte das Proletariat.“ (ebd.)Der ästhetische „Reiz“ besteht offensichtlich in der schlichten Unterschiedenheit des proletarischen vom bürgerlichen Leben. Käthe Kollwitz scheint in der Armut, mit der sie sich künstlerisch befasste, etwas ‚Bedeutendes‘ zu entdecken, das sie in der wohlgeordneten Belanglosigkeit des Bürgerlebens vermisste.

Rainer Homann
Bilder von Fremden
Konstruktionen nationaler (Nicht-) Zugehörigkeit als Voraussetzung sowie Bestandteil sozialer Ausgrenzung

Die thematische Kopplung der Themen Flucht/Migration und Armut verdichtet zwei Diskursstränge zu Ungleichheit in Gestalt spezifischer Fremdheitsbilder. Sie knüpft zudem an die beobachtbare Restauration ethnisch-völkischer Homogenitätsphantasien an. Armut und deren Ursachen erscheinen vorrangig als Migrationsphänomene, die als „Ansturm“ oder „Flut“ gesellschaftliche Verhältnisse in Deutschland bedrohen würden Globale und historische Hintergründe asymmetrischer Weltwirtschaft sbeziehungen als Armutsursachen werden im Gegenzug dethematisiert. Notstands- und Überlastungsrhetoriken im Migrationsdiskurs legen zudem nahe, dass die Situation des Teils der Wohnbevölkerung in Deutschland, der von Armut betroffen bzw. bedroht ist, durch Zuwanderung begründet sei und verschärft würde Erzeugt wird eine Unterscheidung zwischen national als zugehörig bzw. als nichtzugehörig erachteten Armen. Dies forciert zugleich eine Unterscheidung zwischen berechtigt und unberechtigt erscheinenden sozialen Teilhabeansprüchen und -bedürfnissen entlang der Differenzlinie nationaler Zugehörigkeit. Letztlich kommt es zu einer Umcodierung vertikaler Verteilungskonfl ikte und Teilhabeausschlüsse in horizontale Konkurrenz: aus der sozialen wird eine nationale Frage.

Thomas Kunz

Geschichte der Armut und sozialen Ausgrenzung

Frontmatter
Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis

Armut ist eine relative, in den jeweiligen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Kontext eingebettete Größe. Im abendländischen Kulturkreis, dessen Einheit im Christentum wurzelte, war Armut allgegenwärtig und eine ständige Bedrohung Abgesehen davon, wie der biblischen Überlieferung in der Praxis entsprochen wurde, konnte es innerhalb der kulturellen Einheit des Abendlandes eine breite Skala sozialer Einstellungen im Blick auf die Armut geben, weil der metaphorische Charakter der religiösen Sprache und die Vielschichtigkeit des biblischen Verständnisses von Armut eine Anpassung an veränderte Situationen und unterschiedliche Interpretationen neuer Phänomene ermöglichten. Armut trat in der Geschichte des Abendlandes unterschiedlich in Erscheinung. Dies zeigt sich terminologisch darin, dass die Begriffe pauper und paupertas (arm, Armut) verschiedene Bedeutungen gewannen: Stand seit dem 6. Jahrhundert zunächst die fehlende Teilhabe an der gesellschaftlichen Macht im Vordergrund, so bildete seit der Jahrtausendwende die ökonomische Not den Kern dessen, was durch den Begriff Armut bezeichnet wurde. „Arm“ konnte sich in der mittelalterlichen Gesellschaft sowohl auf fehlende Ressourcen für ein angemessenes ständisches Leben beziehen als auch auf Gruppen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst sichern konnten. Freiwillige und unfreiwillige Armut wurden unterschieden, aber auch aufeinander bezogen. In der abendländischen Geschichte der Armut lassen sich Wendepunkte grob markieren: Bis ca. 1100 dominierte ein in der Feudalordnung verankertes Verständnis von Armut im Sinne der Abhängigkeit der „Armen“ von den potentes. Mit dem Wiedererstehen der Stadtkultur und dem Vordringen der Geldwirtschaft in Mittelund Westeuropa seit dem 11. Jahrhundert entstand die neue Armut der Lohnarbeiter. Zugleich radikalisierten die Armutsbewegungen die Orientierung am armen Leben. Jesu Nach der Schwarzen Pest (1348) setzte eine zunehmende Marginalisierung und Demütigung der „unwürdigen“ Armen ein. Die Unterstützung der „wirklichen“ Armen war im Abendland unbestritten; die „unwürdigen“ hingegen wurden seit dem späten Mittelalter immer stärker kriminalisiert und einer repressiven Sozialdisziplinierung unterworfen, bis um 1800 die gesellschaftliche „Nützlichkeit“ der Armen entdeckt wurde. In den gesellschaftlichen Entwicklungen traten Deutungsmuster zutage, die von dem Armen als Objekt der Caritas und Bruder Christi über die moralische Disqualifizierung des Armen bis hin zu dessen Dämonisierung reichten. Dem breiten Spektrum von sozialen Haltungen entsprach eine große Bandbreite von Bewältigungsstrategien der Armen – von der Selbsthilfe über Migration, Kriminalität und Vagabundentum bis hin zu Revolten. Während bei den Zeitgenossen religiöse und moralische Erklärungen der Armut dominierten, hat die historische Forschung das Spannungsverhältnis von Bevölkerungswachstum und Nahrungsspielraum als maßgeblich für die Massenarmut im vorindustriellen Europa herausgearbeitet und Krisen „alten Typs“ (Missernten etc.) für die kurzfristigen Verschärfungen der Lebensbedingungen namhaft gemacht.

Gerhard K. Schäfer
Von der mittelalterlichen Armenfürsorge zur sozialen Dienstleistung: Ausdifferenzierung und Integration

Die kommunale Armenfürsorge ist dem zentralen Sozialstaat geschichtlich und systematisch vorgelagert, zugleich tritt sie immer wieder dort in den Vordergrund, wo zentrale Sicherungssysteme in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind. Dieses zeigte sich nicht nur nach den beiden Weltkriegen, sondern als Folge der Massenarbeitslosigkeit auch während der Weltwirtschaftskrise und verstärkt seit Mitte der 1970er Jahre. Die Fürsorge unterliegt einer widersprüchlichen Legitimation: Sie soll das bestehende System abhängiger Erwerbsarbeit teils mehr erzieherisch, teils unter Sanktionsandrohung mehr disziplinierend als vorherrschenden Rahmen der Subsistenzsicherung stabilisieren, so auch durch den Abstand der gewährten Leistungen von den Markteinkommen unterer Lohngruppen (Lohnabstandsgebot). Zugleich steht sie seit ihren Anfängen in der christlichen Armenfürsorge immer unter dem Gebot der Bewahrung von Menschenwürde, indem sie vorleistungsfrei einen existenzminimalen Lebensstandard absichern soll. Parallel zur Entwicklung und institutionellen Ausfächerung der Arbeiterpolitik seit Mitte des 19. Jahrhunderts kommt es auch zu einer arbeitsteiligen Ausdifferenzierung der die vormalige Armenfürsorge zunehmend ersetzenden sozialen Dienstleistung. Dieses geschieht zunächst auf der Ebene freier Träger im 19. Jahrhundert, dem der Staat durch seine Gesetzgebung in der Weimarer Republik folgt. Die Bereiche Kindheit und Jugend, Gesundheit, Wohnungslosigkeit, Erwerbslosigkeit – und andere Felder der Fürsorge – bekommen in dieser Zeit eigene institutionelle Regelungen und Zuständigkeiten.Die Armenfürsorge ist daneben geschichtlich und aktuell immer auch ein Schrittmacher der Sozialgesetzgebung, indem sie bestimmte soziale Risiken sichtbar macht und eine sozialrechtliche Lösung notwendig erscheinen lässt: so bei den Folgen von Arbeitslosigkeit, beim Schwerbehindertenrecht, bei der Absicherung des Pflegerisikos. Umgekehrt fallen der kommunalen Fürsorge immer dann Folgelasten zu, wenn die zentralen Sicherungssysteme ihrer Aufgabenstellung nicht oder nur unzureichend gerecht werden. Fürsorge und Sozialversicherung sind folglich von der Aufgabenstellung, deren Bewältigung und insbesondere von der Finanzierungsseite her voneinander abhängig. Einsetzend in den 1970er Jahren, verstärkt durch die Neuregelung der Grundsicherung für Arbeitsuchende kommt es vermehrt zu Ansätzen, die häufig getrennt arbeitenden einzelnen sozialen Dienste wieder stärker zu vernetzen und zu integrieren, weil sie so die konkreten Problemlagen der Betroffenen besser erfassen können. Auf der anderen Seite werden Teile der sozialen Dienste auch privat angeboten, es kommt zu einem neugestalteten Sozialmarkt. Dadurch werden die Zugänge zu sozialen Dienstleistungen (auch) abhängig von der Finanzkraft des Nachfragers.

Ernst-Ulrich Huster

Gesellschaftliche Prozesse und individuelle Lebenslage: Erscheinungsformen und Ergebnisse von Armut und sozialer Ausgrenzung

Frontmatter
Einkommen und soziale Ausgrenzung

Die Verfügbarkeit über Einkommen und Vermögen bestimmt in zentraler Weise die gesellschaftlichen Teilhabe- und Verwirklichungschancen eines Menschen – sowie der von ihm ggf. abhängigen Familienmitglieder. So erweitert ein hohes Einkommen und Vermögen zum einen individuelle bzw. familiäre Spielräume für die Förderung und Entwicklung von Interessen, Kenntnissen und Fähigkeiten. Zugleich steigen mit dem Einkommen und Vermögen die Möglichkeiten, in allen relevanten Lebenslagen (v.a. Wohnen, Bildung, Gesundheit) höherwertige Dienst- und Sachleistungen in Anspruch zu nehmen. Zum anderen ist gerade das Vorhandensein von Vermögen häufig wieder selbst Quelle für weiteres Einkommen bzw. Wohlstand, so dass sich durch die Verteilung der Einkommens- und Vermögensbestände strukturelle Auswirkungen auf den Partizipationsgrad der Menschen ergeben. Die Analyse zur Einkommens- und Vermögensverteilung zeigt eine zunehmende Verteilungsschieflage in Deutschland. Wachsender Wohlstand wird begleitet von sich verfestigender Armut und Überschuldung. Hauptbetroffene der gesellschaftlichen Spaltung sind vor allem Migrantinnen und Migranten, niedrig qualifizierte und/oder arbeitslose Menschen sowie allein Erziehende. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die einkommensgebundenen Armutsrisiken eher von sozialen bzw. strukturellen Ursachen abhängen (Einkommenspolarisierung) als dass sie ein individuelles. Versagen darstellen Auch das Sozialversicherungssystem ist immer weniger in der Lage, eine umfassende Lebensstandardsicherung zu gewährleisten (z. B. Altersarmut) Und die Mindestsicherungssysteme sind schon von ihrer Philosophie her nicht auf das Überspringen der Armutsgrenze ausgelegt. Unterschiedliche Modelle zum Grundeinkommen zielen darauf ab, die Refinanzierungsgrundlagen der Sozialversicherung zu reformieren bzw. den Zusammenhang zwischen Arbeit und Einkommen vollständig aufzuheben. Es bleibt allerdings unklar, inwieweit diese Modelle tatsächlich geeignet sein können, einkommensbedingte Armut und soziale Ausgrenzung dauerhaft zu verhindern.

Jürgen Boeckh
Arbeitsförderung und Grundsicherung: Ansätze, Ergebnisse und Risiken

Arbeitslosigkeit ist eines der größten Armutsrisiken. Neben dem engen Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Armut auf der Mikroebene von Personen und Haushalten besteht ein enger Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Armut auf der gesellschaftlichen Ebene. In der Summe bedrohen weit verbreitete arbeitslosigkeitsbedingte Armutslagen die soziale Kohäsion, stellen das Wirtschafts- und Sozialsystem in Frage und gefährden die politische und soziale Legitimation eines Sozialstaats Armutsvermeidung und Armutsbekämpfung sind sowohl aus ethischer Sicht, aber auch aus polit-ökonomischer Sicht zentrale Aufgaben der Sozialpolitik und begründen die kollektiv finanzierten Systeme sozialer Sicherung bei Arbeitslosigkeit.Allerdings zeigt die hohe Betroffenheit von relativer Einkommensarmut in Arbeitslosenhaushalten, dass die Unterstützungssysteme bei Arbeitslosigkeit nur unzureichend vor Armut schützen und in der Lage sind, Armut zu bekämpfen – und dies anscheinend in immer geringerem Maße. Die Leistungsempfängerquote von Arbeitslosengeld sinkt und die Dauer und Höhe des Leistungsanspruches nimmt ab, während im Gegenzug die Bedeutung der Grundsicherungsleistungen für die Sicherung des Lebensunterhalts von Arbeitslosen und Arbeitslosenhaushalten steigt. Wird Armut normativ gleichgesetzt mit einem Leben am soziokulturellen Existenzminimum, dann hat in Deutschland die Betroffenheit von Armut aufgrund von Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren zugenommen.Der enge Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Armut verweist zugleich auf die zentrale Bedeutung der Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik sowie der in diesem Rahmen erbrachten sozialen Dienstleistungen. Entscheidend für die Vermeidung und Bekämpfung von Armut ist dabei, inwieweit, in welchem Umfang und wie schnell eine (dauerhafte) Arbeitsmarktintegration der Betroffenen gelingt. Die Bilanz der Arbeitsförderung fällt für die verschiedenen Instrumente zwar sehr unterschiedlich aus. Empirische Befunde der Evaluationsforschung, die Entwicklung des Leistungsrechts wie auch die Leistungsdaten zeigen jedoch, dass der Trend in der Arbeitsmarkt- dem der Sozialpolitik folgt und aufgrund ausgeprägter Leistungshierarchien durch soziale Selektivität im Zugang zu den Unterstützungsmaßnahmen geprägt ist.Auf diesem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen in der Armuts- und Arbeitsmarktpolitik und der Struktur des Gesamtleistungssystems zur Sicherung bei Arbeitslosigkeit stellt sich die grundlegende Frage, ob durch einen erhöhten finanziellen und leistungsrechtlichen Druck Arbeitslosigkeit und Armut tatsächlich erfolgreich(er) bekämpft werden kann. Die Wirkungszusammenhänge, die diese Politik im Einklang mit der These der sozialstaatsinduzierten Arbeitslosigkeit unterstellt, sind unbewiesen. Vielmehr besteht eine erfolgreiche Bekämpfung von Armut aufgrund von Arbeitslosigkeit insbesondere darin, die Schaffung von Arbeitsplätzen (mit existenzsichernden Löhnen) zu fördern und die aktive Arbeitsförderung stärker auf diejenigen Arbeitslosen auszurichten, die der Unterstützung in besonderem Maße bedürfen.

Gerhard Bäcker, Jennifer Neubauer
Nachhaltigkeit von Beschäftigung
Anmerkungen für Deutschland

Mit einem Blick auf die Beschäftigungssituation in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union glänzt Deutschland derzeit mit Erfolgsmeldungen. Die relativ gute Performanz des deutschen Arbeitsmarktes ist einerseits gerechtfertigt, so etwa im Vergleich zu südeuropäischen Staaten. Auf der anderen Seite gilt es für Deutschland zu hinterfragen, ob und inwiefern sich der hiesige Arbeitsmarkt nachhaltig und damit zukunftsfest entwickelt. Der Beitrag geht in erster Linie auf Einkommensaspekte, aber auch auf soziale Ungleichheit in der Verteilung von Beschäftigung und Einkommen ein. Kennziffern, wie die Quote der relativen Einkommensarmut oder die Arbeitslosenquote werden allgemein oft mit Bezügen zur sozialen Ungleichheit dargestellt. Selten finden sich jedoch Debatten, welche in die entgegengesetzte Richtung argumentieren und soziale Ungleichheit als Mitursache für eine suboptimale Performanz einer Volkswirtschaft ansehen, so beispielsweise in Bezug auf das Wirtschaftswachstum oder mit Blick auf die Lebenszufriedenheit einer Gesellschaft. Auch diese Perspektive soll der Beitrag ansprechen, um die Nachhaltigkeit von Beschäftigungsmustern auch jenseits von sozialer Gerechtigkeit bewerten zu können.

Lutz C. Kaiser
Bildungsarmut und die soziale ‚Vererbung‘ von Ungleichheiten

In dem folgenden Beitrag wird der Zusammenhang von ungleichen materiellen Ressourcen und den sie verursachenden oder auf sie folgenden Bildungsmängeln diskutiert. Zunächst wird definiert, was unter Bildung verstanden werden muss und begründet, warum Bildung in wachsendem Maße auch für den materiellen Erfolg im Leben verantwortlich gemacht werden kann. Mit Bezug auf die Theorie Bourdieus wird Bildung daraufhin als „kulturelles Kapital“ interpretiert, welches durch die Übernahme eines spezifischen „Habitus“ im Herkunftsmilieu weiter gegeben wird. In einem weiteren Abschnitt werden psychologische Theorien über die genetisch bedingte Intelligenzentwicklung vorgestellt und mit Bezug auf die neuere Gehirnforschung verworfen. Anschließend werden Aufbau und Ergebnisse der PISA-Studie referiert und Entwicklungstendenzen des deutschen Schulsystems beschrieben und kritisiert. Besonders die Tatsache, dass es anderen Ländern durchaus gelingt, auch Kindern aus bildungsfernen Milieus zu Schulerfolgen zu verhelfen, beweist, dass in Deutschland noch dringend Handlungsbedarf in dieser Richtung besteht. Am Ende wird daher ein Blick auf bildungspolitische und pädagogische Konzepte geworfen, die eine Inklusion benachteiligter Kinder in das Bildungswesen und die Gesellschaft im Allgemeinen befördern können.

Carola Kuhlmann
Digitale Ungleichheiten

Medien stellen relevante Faktoren bei der Persönlichkeitsbildung, der kulturellen und politischen Teilhabe und in Hinblick auf die Ausbildungs- und Erwerbsfähigkeit dar. In Zeiten wachsender Mobilität, mannigfaltiger Entgrenzungen und umfassender Digitalisierung nehmen digitale Medien einen zentralen Stellenwert bezüglich der gesellschaftlichen Informationsverteilung, der Kommunikationsmöglichkeiten und der Unterhaltungsmöglichkeiten ein. Zugleich ist fraglich, ob mediale Potentiale von allen gleichermaßen genutzt werden können und damit die Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder durch digitale Medien erhöht wird oder ob mit digitalen Medien nicht auch exkludierende Wirkungen auf bestimmte Bevölkerungsgruppen einhergehen (vgl. Zillien und Haufs-Brusberg 2014, S. 12f.; Kümmel et al. 2004, S. 8.). Digitale Ungleichheiten können ihren Ursprung im ungleich verteilten Zugang zum Internet haben: Da das Internet in zahlreichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen eine zentrale Rolle spielt, würden diejenigen, die keinen oder nur einen begrenzten Zugang zum Internet haben, marginalisiert (vgl. Zilien und Haufs-Brusberg 2014, S. 77). Digitale Ungleichheiten können darüber hinaus in unterschiedlichen Nutzungspraxen und Wirkungsweisen digitaler Medien begründet sein. Der nachfolgende Beitrag beleuchtet Zugangs-, Nutzungs- und Beteiligungsmöglichkeiten unterschiedlicher Gesellschaftsmitglieder.

Tanja Witting
Gesundheitliche Ungleichheit und neue Morbidität

Chronische soziale Benachteiligung bzw. Armut gehen bei Erwachsenen mit reduzierter Gesundheit und geringerer Bildung und bei betroffenen Kindern zusätzlich mit einer geringeren neurokognitiven Entwicklung einher (vgl. Case et al. 2002). Der soziale Gradient für Gesundheit ist empirisch vielfach nachgewiesen worden. Es besteht wissenschaftlich Einigkeit darüber, dass dieser Zusammenhang über die gesamte Lebenspanne geht und alle demographischen Gruppen betrifft. Dieser ist unabhängig davon, wie in den verschiedenen Untersuchungen Armut bzw. soziale Klasse definiert wurde. Überwiegend wird in der Literatur von einer kausalen Beziehung ausgegangen. Wissenschaftliche Untersuchungen beschäftigen sich vor allem mit Unterschieden in den sozioökonomischen Merkmalen wie Ausbildung, beruflicher Status und Einkommen, wobei gleichzeitig einhergehende Unterschiede im Gesundheitszustand auch als „gesundheitliche Ungleichheit“ bezeichnet werden (vgl. Mielck 2010). Neuere wissenschaftliche Ansätze differenzieren zusätzlich nach Geschlecht, Familienstatus, Ethnizität und Migration, sozialer Integration, regionalen Bezügen, Verstädterung und Teilhabe an kulturellen Aktivitäten. Zunehmend wird auch eine größere Bedeutung der subjektiven Bewertung der sozialen und gesundheitlichen Situation durch die Akteure und Akteurinnen selbst eingeräumt (vgl. Kolip und Koppelin 2002). Die soziale Vulnerabilität von Gesundheit ist kein natürlicher oder a priori festgelegter Zustand. Sie entsteht im Kontext von sozialer Ungleichheit, die das Alltagsleben sozial benachteiligter, oftmals exkludierter Gruppen kennzeichnet. Armut und soziale Exklusion beeinträchtigen die Selbstverwirklichung durch den Mangel an Anerkennung und Akzeptanz, dem Gefühl von Machtlosigkeit, ökonomischer Einschränkungen und verminderter Lebenserfahrungen und -erwartungen. Soziale Inklusion wird dagegen als sehr wichtig u. a. für die materielle und psychosoziale Selbsthilfe und Selbstverwirklichung angesehen. In diesem Beitrag wird eine Übersicht zu diesem Themenkomplex gegeben. Gleichzeitig werden erste Perspektiven für eine inklusive Gesundheitsversorgung zu entwickeln versucht.

Fritz Haverkamp
Sozialräumliche Segregation: Ursachen und Folgen

Die sozialräumliche Konzentration bestimmter sozialer Gruppen in einem Stadtgebiet wird als Segregation bezeichnet. Sie entsteht als Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen der wachsenden sozialen Ungleichheit in der Wohnbevölkerung nach Klassen/Schichten, Geschlecht, Ethnie, Alter und sozialem Milieu, der Ungleichheit der städtischen Teilgebiete nach Merkmalen der Wohnungen, der Infrastruktur und Erreichbarkeit sowie den Zuweisungsprozessen sozialer Gruppen zu Wohnungsmarktsegmenten. Meist werden soziale und ethnische Segregation zusammen problematisiert und damit immer wieder soziale Probleme ethnisch konnotiert, indem z. B. Arbeitslosigkeit als Migrationsproblem verhandelt wird. Die Folgen von Segregation werden unterschiedlich diskutiert. Weit überwiegend wird Segregation negativ bewertet. Diese Bewertungen beziehen sich insbesondere auf nachteilige Effekte für die Sozialisierung der in diesen Wohnquartieren Lebenden sowie deren Teilhabechancen im Schulsystem und am Arbeitsmarkt. Für die Stadtgesellschaft werden mit Begriffen wie Parallelgesellschaften Abschottungen von Zugewanderten befürchtet. Gleichzeitig werden auch positive Effekte vermutet, da gerade für Zugewanderte die Integration durch die Nähe von Personen aus dem gleichen Herkunftsland erleichtert werde. Politisch wurde und wird vorwiegend auf die empirisch nicht systematisch belegten negativen Effekte reagiert.

Monika Alisch
Geschlecht: Wege in die und aus der Armut

Armut stellt eine multidimensionale Lebenslage dar, die an biografische Ereignisse und Lebensphasen gebunden oder aber dauerhaft verfestigt sein kann. Wege in diese Lage und auch aus ihr heraus sind ursächlich verknüpft mit der Teilhabe an Erwerbsarbeit und an Transfereinkommen, die überwiegend auf Erwerbsarbeit beruhen (Renten bzw. Pensionen, Arbeitslosengeld). Die Chancen zur Teilhabe an Erwerbsarbeit steigen mit wachsenden Qualifikationen (allgemein- und berufsbildenden Abschlüssen). Sowohl die Bildungschancen und -erfolge als auch die Zugänge zu Erwerbsarbeit und Einkommen sind geschlechtstypisch ausgeprägt. In der Organisation des horizontal und vertikal geschlechtstypisch segmentierten Arbeitsmarktes wie auch in den Sicherungssystemen des Wohlfahrtsstaates manifestiert sich eine historisch gewachsene Geschlechterordnung im Sinne von „politisch etablierte(n) Beziehungen zwischen unbezahlter Arbeit in der Familie und bezahlter Arbeit auf dem Arbeitsmarkt, sowie deren jeweilige Relation zu den Sicherungssystemen des Wohlfahrtsstaates“ (Brückner 2004, S. 27).Armutslagen sind ferner gekoppelt an Lebensformen (Alleinerziehende, Familien mit mehreren Kindern, Alleinlebende), und an Besonderheiten der alten bzw. neuen Bundesländer. Gerade in den auch nach mehr als 25 Jahren immer noch unterschiedlichen Lebenslagen und Armutsrisiken von Frauen und Männern in den neuen bzw. alten Bundesländern wird die fortdauernde Wirksamkeit der in den jeweiligen Gesellschaften der DDR bzw. der BRD vor der Wiedervereinigung impliziten Geschlechterordnungen und Geschlechterverhältnisse deutlich.Wege aus spezifischen Armutslagen von Frauen führen in erster Linie über die Förderung und Ermöglichung zum Erwerb eigenständigen Einkommens und daraus abgeleiteter Altersversorgung. Dies ist aber nicht allein durch sozialpolitische Rahmenbedingungen zu erreichen, sondern stellt auch eine Anfrage an die Lebensentwürfe und Biografieverläufe von Frauen und Männern dar. Somit führt die Analyse der strukturellen und der subjektgebundenen Ursachen weiblicher Armutsrisiken zu grundlegenden Anfragen an die in den ökonomischen und politischen Strukturen inkorporierten Muster und Leitbilder des Verhältnisses von bezahlter und nicht bezahlter Arbeit und an den Stellenwert sorgender Tätigkeiten in unserer Gesellschaft.

Hildegard Mogge-Grotjahn
Migration und soziale Ausgrenzung

Migration ist ein prägendes Merkmal der Menschheitsgeschichte. Migration ist ein in der Person der Migrantin bzw. des Migranten begründeter Akt, dem in der Regel auch soziale, politische und/oder ökonomische Problemlagen in der Herkunftsregion zugrunde liegen. Monokausale Ansätze zur Beschreibung von Migrationsbewegungen greifen deshalb in der Regel zu kurz, weshalb ein ganzes Bündel von Faktoren zur Erklärung von Wanderungsbewegungen herangezogen wird (Push und Pull Faktoren). Diese können sich im Zeitverlauf sowohl in ihrem Mischungsverhältnis wie in ihrer je individuellen Bedeutung verändern. Wanderungsbewegungen haben sowohl auf das Herkunfts- wie das Zielland mittelbare wie unmittelbare Auswirkungen. Dabei lässt sich feststellen, dass der Grad der Akzeptanz von Migrantinnen und Migranten in signifi kanter Weise mit der wirtschaftlichen Situation im Aufnahmeland korrespondiert. Aber auch die Gründe für die Migrationsbewegungen, der kulturelle Hintergrund des Herkunftslandes sowie die (absolute) Zahl der Zuwandernden und nicht zuletzt die tatsächliche bzw. unterstellte Integrationsbereitschaft der Zugewanderten haben einen entscheidenden Einfl uss auf die Willkommenskultur im Zielland.In Deutschland sind Migrationsbewegungen seit Jahrhunderten soziale Realität. Sie haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Dynamik entwickelt – und zwar in beide Richtungen. Aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen seit 2015 ist der Anteil der zugewanderten Migranten (= Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit) an der Gesamtbevölkerung angestiegen und liegt aktuell bei 10,5 Prozent (Statistisches Bundesamt 2017a). Ein erheblicher Teil dieser Migranten bzw. ihrer Nachkommen leben schon länger hier. Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung ist deshalb mit rund 21 Prozent deutlich höher (Statistisches Bundesamt 2016). Dennoch haben sich Gesellschaft und Politik lange Zeit dagegen gewehrt, Deutschland als Einwanderungsland zu begreifen. Diese „große Selbsttäuschung der bundesdeutschen Politik (…) hat sich gerächt“ (Huster 1995, S. 469). Denn bis heute zeigt sich die Bundesund Landespolitik trotz einer Vielzahl von Vorschlägen wie z. B. von der unabhängigen Kommission Zuwanderung aus dem Jahr 2001 weitgehend hilflos, wenn es darum geht, das in der Regel höhere soziale Ausgrenzungsrisiko von Migrantinnen und Migranten wirkungsvoll zu bekämpfen. Unterschiedliche Diskriminierungstatbestände (z. B. im Aufenthaltsrecht, am Arbeits- und Wohnungsmarkt) aber auch nicht angepasste individuelle Ressourcen der Migrantinnen und Migranten (z. B. Sprachdefizite, geringes (Aus-)Bildungsniveau, etc.) tragen nach wie vor dazu bei, dass diese Bevölkerungsgruppe ein überproportionales Armuts- und soziales Ausgrenzungsrisiko trägt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es für gelungene Integration keinen Endpunkt geben kann. Sie ist die prozesshafte, an unserem Rechtsrahmen orientierte Ausgestaltung sozialer Bedingungen, die dem sozialen Wandel unterliegt und wechselseitig von den einheimischen wie zuwandernden Menschen (demokratisch) gestaltet werden muss.

Jürgen Boeckh
Armut im Familienkontext

Armut lässt sich allein individuell nicht angemessen betrachten, da Haushalts‐ und Familienkontexte für von Armut betroffene oder bedrohte Menschen meist eine wesentliche Rolle bezogen auf Armutsrisiken und ‐ursachen sowie für Schutzfaktoren, Ressourcen und Selbsthilfepotentiale spielen. Armut im Familienkontext steht dabei in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ursachen, Risiken, Schutz‐ und Hilfsmaßnahmen, die etwa den Zugang von jungen Eltern zu und ihren Verweis auf Erwerbsarbeit prägen, über das Kindergeld Unterhaltskosten von Kindern zumindest teilweise vom Familienbudget auf öffentliche Kassen verlagern oder über Bildungs‐ und Beratungsangebote Familien in Armutslagen stärken. Die Verbreitung von Armut hat in der Bundesrepublik seit vielen Jahren nicht nur allgemein zugenommen. Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Familien allein Erziehender, kinderreiche Familien und Familien mit Migrationsgeschichte sind von Armut und ihrer Zunahme überdurchschnittlich betroffen. Dies wirft Fragen sowohl zur Veränderung von Familienstrukturen auf, als auch solche zur Angemessenheit gesellschaftlicher Schutz‐ und Unterstützungssysteme gegen Armut im Familienkontext.

Benjamin Benz, Katharina Heinrich
Altern und Soziale Ungleichheiten: Teilhabechancen und Ausgrenzungsrisiken

Die Teilhabechancen und Ausgrenzungsrisiken unterschiedlicher sozialer Gruppen älterer Menschen sind in der Gesellschaft ungleich verteilt. Dabei markiert Armut im Alter, gemessen am sozio-ökonomischen Status, eine Lebenslage mit gravierenden Einschränkungen für ein selbstbestimmtes Leben. Armut im Alter ist insofern besonders, als sie meist unumkehrbar ist. Darüber hinaus bestimmt der enge Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und dem Gesundheitszustand und dem Zugang zu gesundheitlicher, medizinischer und pflegerischer Versorgung mit zunehmendem Alter wesentlich die individuellen Verwirklichungschancen und ist somit als Ausgangsbedingung für soziale Teilhabe relevant. Es bestehen Wechselwirkungen der (vertikalen) Besser- bzw. Schlechterstellungen innerhalb einer Gesellschaft sordnung, die mit dem Begriff der sozialen Ungleichheit gefasst und mit Hilfe des Schichtindexes (Einkommen, Bildungsabschluss, berufliche Position) gemessen werden, mit anderen (horizontalen) sozialen Merkmalen (Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Behinderung, sexuelle Orientierung) einerseits und mit den Bedingungen des Sozialraums andererseits. Dieses Zusammenspiel ist für Teilhabechancen wie Ausgrenzungsrisiken im Alter von Bedeutung.

Susanne Kümpers, Monika Alisch
Zwischen selbstbestimmter sozialer Teilhabe, fürsorglicher Ausgrenzung und Bevormundung
Ausgewählte Lebenslagen von Menschen, die wir behindert nennen

Der vorliegende Beitrag wird nach einer kurzen Einführung in die grundsätzliche Bedeutung der UN-BRK und einem Überblick über die Entwicklung des Behindertenverständnisses in nationalen und internationalen Behindertenpolitiken die Lebenslagen und Lebensbedingungen Behinderter in Deutschland im Lichte der Vorgaben der UN-BRK untersuchen, wobei insbesondere die Wohn- und Lebenssituation der Betroffenen einschließlich der sozialpolitischen und betreuungsrechtlichen Rahmenbedingungen, die diese prägen, in den Blick genommen werden sollen.

Eckhard Rohrmann

Strategien zur Überwindung von Armut und sozialer Ausgrenzung: Individuell, sozial und politisch

Frontmatter
Prekäre Lebenslagen und Krisen
Strategien zur individuellen Bewältigung

In der Erforschung prekärer Lebenslagen und Krisen sind Fragen der Entwicklungs-, Sozial- und der Klinischen Psychologie berührt. Der psychischen Verarbeitung von belastenden Lebensereignissen widmet sich insbesondere die Stress- und Copingforschung. Bei der Erklärung der Unterschiede im Erleben und Verhalten der betroffenen Personen finden sich zwei Richtungen: Ansätze, die den Focus auf Aspekte der individuellen Situationseinschätzung (appraisal) richten, stehen Ansätzen gegenüber, die den Einfluss der vorhandenen Ressourcen für das Verständnis der psychischen Entwicklung betonen.Mit dem transaktionalen Stressmodell von Richard S. Lazarus liegt ein theoretisches Konzept vor, das die Einschätzung des Ereignisses und die Beurteilung der Erfolgsaussichten von Bewältigungshandlungen als Grundlage der Unterschiede im Erleben und Verhalten in Belastungssituationen ansieht. Als ein Gegenentwurf versteht sich die Theorie des Ressourcenerhalts („Conversation of Ressources Theory“) von Stevan E. Hobfoll, die gestützt auf die besondere Bedeutung der Ressourcen im Hilfeprozess, von einem universellen Bedürfnis nach Ressourcenmehrung ausgeht.Ein innovativer Beitrag geht von der Resilienzforschung aus. Hier wird gefragt, welche personalen und sozialen Aspekte in der Biographie gegenüber ökonomischen Entbehrungen und psycho-sozialen Belastungen schützen. Unter diesem Label werden Studien konzipiert und vorliegende Untersuchungen reinterpretiert, die Menschen (insbesondere Kinder und Jugendliche) untersuchen, welche trotz prekärer Lebensumstände eine normale/ gesunde Entwicklung nehmen. Aus den bei diesen Menschen (erfolgreiche Bewältiger) gefundenen persönlichen Merkmalen und sozialen Umfeldfaktoren lassen sich Hinweise für die Gestaltung von Präventions- und Interventionsprogrammen ableiten.Die Existenz einer tragfähigen Beziehung zu einem Erwachsenen erwies sich in Studien als wichtiger Schutzfaktor. Insofern kommt der pädagogischen Situation (z. B. in Jugendhilfeeinrichtungen, Kindertagesstätten und Schulen) und der Stärkung des sozialen Netzwerkes der Kinder und Jugendlichen in prekären Lebenslagen eine besondere Bedeutung zu.Da gleiche Bedingungen zu unterschiedlichen Entwicklungsergebnissen (Multifinalität) und unterschiedliche Bedingungen zu gleichen Verhaltensproblemen führen können (Equifinalität), braucht es jedoch eine differenzierte Wirkanalyse protektiver Prozesse.

Hans-Jürgen Balz
Bewegung und Körperlichkeit als Risiko und Chance

Bewegungshandeln wird als Verwirklichungsmöglichkeit der kindlichen Persönlichkeit angesehen Handeln. schließt immer die körperliche Bewegung mit ein. Im Bewegungshandeln lernt das Kind seinen Körper kennen, mit ihm umzugehen, ihn einzusetzen und auf die Umwelt einzuwirken. Die Orientierung am eigenen Körper ist die Basis jeder Orientierung in Raum und Zeit (Sozialraum, Zahlenraum, Schrift raum), zugleich ist der Körper Spiegel psychischen Erlebens; über seinen Körper erlebt das Kind seine Befindlichkeit und bringt seine Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck. In diesem Prozess will das Kind wissen, wer und was es ist und wer und was es werden will. Das Selbstkonzept wird dabei zum Schlüsselbegriff, vor allem deshalb, weil das Körperkonzept ein wichtiges Teilkonzept des Selbstkonzepts darstellt.Bewegung und Körperlichkeit stellen somit ein geeignetes Medium dar, um die eigene Individualität herzustellen. Als personale Ressource begünstigen z. B. ein hoher Selbstwert, eine Kontrollüberzeugung und Optimismus einen konstruktiven und erfolgreichen Umgang mit Belastungen und Konflikten, so dass negative Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefi nden sowie auf die Entwicklung ausbleiben können (Lampert und Schenk 2004, S. 68.). Für die Identitätsbildung in der Jugendphase gilt dieses in besonderem Maße. Gerade für Jugendliche wird der Körper zu einer verlässlichen Kapitalressource: Körperinszenierungen werden dazu genutzt, soziale Anerkennung und Achtung bei Gleichaltrigen oder Erwachsenen zu erlangen (Fischer 2009, S. 99). Bildungshintergrund der Eltern, die reale Lebenslage und die konkreten Lebensbedingungen haben noch immer einen stark modifizierenden Einfluss darauf, welche Chancen der (Bewegungs-) Entwicklung und (Bewegungs-) Bildung Kindern in ihrer Umwelt zur Verfügung stehen.

Michael Wendler
Kinderarmut und familienbezogene soziale Dienstleistungen

In den 1990er Jahren wurde angesichts des deutlichen Anstiegs der Armutsbetroffenheit von Kindern der Begriff der „Infantilisierung der Armut“ (Hauser 1997, S. 76) geprägt Heute, nach fast drei Dekaden, kann nur noch die Verstetigung des Phänomens Kinderarmut konstatiert werden: Junge Menschen sind weiterhin die am häufigsten von Armut betroffene Altersgruppe Über dieselbe Zeitspanne lässt sich in der deutschen Armutsforschung ein Prozess von der weitestgehenden Ausblendung der kind- und jugendspezifischen Problemlagen über die Erarbeitung eines kindgerechteren Armutsverständnisses und der stetigen Zunahme von empirischen Analysen bis hin zur Entwicklung kindbezogener Präventionsansätze nachverfolgen. Heute ist unbestritten, dass Armut bei Kindern und Jugendlichen ein eigenes Gewicht zukommt, welches von gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen wesentlich geprägt wird, von den Verteilungsstrukturen innerhalb der Familien sowie den individuellen Potenzialen der Eltern.Mittlerweile kann auf verschiedene Studien und umfangreiches Datenmaterial zurückgegriffen werden, in dem sowohl umfassende Erklärungsansätze und Handlungstheorien als auch vertiefende empirische Analysen zu Teilaspekten dargelegt sind. Diese Erkenntnislage ermöglicht im Grunde vielfältige und vor allem zielgerichtete Ansätze zur politischen und pädagogischen Gegensteuerung in Form eines breit angelegten Verständnisses einer kindbezogenen Armutsprävention.Dazu existiert in Deutschland ein ausdifferenziertes System aus Geld-, Sach- und Dienstleistungen für (arme) Familien und Kinder Aus Sicht der kinderzentrierten Armutsforschung ist vor allem von Interesse, was in diesem System unter familiären Armutsbedingungen bei den Kindern tatsächlich an Hilfen und Unterstützung ankommt. Es zeigt sich, dass das System der materiellen Grundsicherung/-versorgung sowie die Instrumente einer kind- bzw. familienbezogenen Armutsprävention besser miteinander verknüpft und aufeinander abgestimmt werden müssen. Es zeigt sich weiter, dass es sowohl um den Ausbau der sozialen Infrastruktur für Kinder und Jugendliche als auch der Qualitätsentwicklung verbunden mit einer Neuausrichtung der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe geht.Zwei Zeitdimensionen bedürfen der Beachtung: Zum einen benötigen die betroffenen Familien Hilfen mit Blick auf die Vergangenheit. Diese müssen geeignet sein, eingetretene Benachteiligungen abzubauen. Zum anderen sind Hilfen mit Blick auf die Zukunft vonnöten, um präventiv das Entstehen erneuter oder verfestigter Ausgrenzung zu vermeiden. Hierbei bedarf es eines integrativen Ansatzes, in dem die Leistungen zusammen gedacht und nicht etwa aus haushaltpolitischen oder anderen Interessensgründen gegeneinander ausgespielt werden dürfen.

Gerda Holz
Kommunale Armutsverwaltung – zwischen gesetzlichem Auftrag und kommunalem Gestaltungswillen

Die Kommunen tragen im deutschen Sicherungssystem traditionell große Verantwortung bei der Bewältigung von Armut. Bis vor einigen Jahren war das Kernelement kommunaler Fürsorgepolitik die Sozialhilfe, die Kommunen als örtliche Träger zu leisten hatten und nach wie vor haben. Seit 2005 sind die Kreise und kreisfreien Städte in die Leistungsgewährung für die nach SGB II anspruchsberechtigten Personen eingebunden. Mit der Einwanderungswelle im Jahr 2015 insbesondere durch Flüchtlinge aus Krisengebieten sind neue Herausforderungen für Kommunen entstanden, und die Zuwanderung hat – wenngleich regional unterschiedlich stark – auch Defizite in der Wohnungsversorgung, ein wesentlicher Baustein kommunaler Verantwortung zur Vermeidung von Armutslagen, deutlich werden lassenDie örtliche Ebene hat Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf den Umgang mit armen Menschen und das Angebot an sozialer und anderer Infrastruktur. Dies begünstigt regionale Heterogenität in den Bedingungen, denen sich von Armut Betroffene gegenüber sehen. Die Gestaltungsmöglichkeiten von Kommunen haben allerdings Grenzen. Eine Grenze ist durch die bundesgesetzlichen Vorgaben, die auf Gleichheit bzw. Gleichbehandlung zielen, gezogen. Eine weitere Grenze für kommunale Handlungsoptionen stellen die Finanzmittel dar. Die finanziellen Restriktionen sind in einzelnen Gemeinden so erheblich, dass sich sozialpolitisches Handeln auf die Gewährung von Pflichtleistungen beschränkt.Das Wohlfahrtsarrangement hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Die Erbringung sozialer Dienstleistungen wird verstärkt unter ökonomischen Aspekten betrachtet. Dies tangiert einerseits den Umgang mit der armen Bevölkerung, betrifftaber auch die Beziehung zu freien Trägern, die in vielen Bereichen als Dienstleister auftreten. Die Ökonomisierung der Verwaltung und der Leistungserbringung wirkt sich zudem auf das Selbstverständnis der öffentlichen Verwaltung aus und auf die Erfolgskriterien, die an das eigene Handeln angelegt werden. Eng damit verbunden sind die Abkehr vom Dienstleistungs- und die Orientierung am Konzept des aktivierenden Staates. Aktivierung soll durch dezentrale, ambulante und i d R sozialräumliche Versorgungsstruk turen realisiert werden, wobei die Einbeziehung nicht-professioneller Unterstützung an Bedeutung gewinnt. Dies ist mit einem Umbau kommunaler Versorgungsstrukturen verbunden, was es zugleich notwendig macht, die Steuerungslogik zu verändern.

Monika Burmester
Entkommunalisierung der Arbeitsmarktpolitik?
Gestaltungsspielräume von Ländern und Kommunen bei der Integration in Arbeit

Aufgrund der früheren Zuständigkeit der Kommunen für arbeitslose Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger und der ab den 1980er Jahren steigenden Arbeitslosigkeit setzte eine Entwicklung ein, die unter dem Schlagwort der Kommunalisierung der Arbeitsmarktpolitik zusammengefasst wird. Insbesondere über den umfassenden Einsatz von sogenannten Hilfen zur Arbeit (i d R gemäß dem damaligen Bundessozialhilfegesetzes, BSHG) wurden auflokaler Ebene zahlreiche, teils innovative Ansätze entwickelt und die Kommunen so neben dem Hauptakteur – der damaligen Bundesanstalt für Arbeit – zu einem wichtigen arbeitsmarktpolitischen Mitspieler. Infolge der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) haben diese gewachsenen Strukturen eine grundsätzliche Neuausrichtung erfahren und sich die Handlungsspielräume der Kommunen deutlich reduziert: In den gemeinsamen Einrichtungen dominiert die Bundesagentur für Arbeit (BA), die auch aufgrund ihres Zielindikatorensystems die möglichst rasche Integration von tendenziell ohnehin dem Arbeitsmarkt näher stehenden Zielgruppen in den Vordergrund stellt. Die Bedeutung von öffentlich geförderter Beschäftigung ist massiv zurückgegangen. Aufgrund der immer stärker zentralistisch ausgerichteten Geschäftspolitik der BA kam es darüber hinaus vielfach zu einem Verlust an lokalem Steuerungs- und Erfahrungswissen. Eine Ausnahme bilden die Optionskommunen, die sogar in größerem Umfang als zuvor Umsetzungsverantwortung bei der Integration von Langzeitarbeitslosen tragen. Handlungsspielräume haben die Kommunen außerdem im Zusammenhang mit – oftmals ESF-geförderten – Landesprogrammen. Dabei beeinflusst der Europäische Sozialfonds (ESF) die Arbeitsmarktpolitik der Länder, erschließen sich diesen mit dem ESF doch in erheblichem Umfang zusätzliche finanzielle Ressourcen. Die Einflussnahme der EU-Kommission ist dabei allerdings weniger inhaltlicher Art, sondern besteht vor allem mit Blick auf bestimmte formale Vorgaben wie dem Kohärenzprinzip, durch das Parallelstrukturen insbesondere zu den Aktivitäten des Bundes vermieden werden sollen. Weitere Bedeutung kommt den Kommunen schließlich auch im Rahmen der Jugendberufshilfe sowie bei der Integration von Flüchtlingen in Arbeit zu Der Beitrag kommt zu. dem Ergebnis, dass die deutsche Arbeitsmarktpolitik heute auch im Zusammenspiel der drei Ebenen Bund, Länder und Kommunen über keine ausreichenden (integrierten) Konzepte verfügt, um dem Phänomen einer sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit zu begegnen.

Kay Bourcarde
Armutspolitik der Europäischen Union

Die Kompetenzen für Beschlüsse über Art und Umfang armuts‐ und verteilungswirksamer Sozialpolitik (etwa über Sozialhilfe‐ und Sozialversicherungssysteme; Kinderund Wohngeldleistungen; soziale Sach‐ und Dienstleistungen, wie Notunterkünfte, Betreuungs‐ und Beratungsangebote) liegen in der Europäischen Union (EU) faktisch ausschließlich bei den Mitgliedstaaten bzw. deren Regionen und Kommunen Doch auch auf europäischer Ebene gibt es Ansätze einer Politik gegen Armut und soziale Ausgrenzung, die bis in die 1970er Jahre zurück reichen, sowie wissenschaftliche und politische Kontroversen über deren Potentiale und Grenzen. Die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes für Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräfte und Kapital, die Vergemeinschaftung der Währungspolitik und die damit zusammenhängende Koordinierung der Wirtschafts‐ und Haushaltspolitiken der beteiligten Mitgliedstaaten bei gleichzeitiger Beibehaltung der nationalen fiskal‐ und sozialpolitischen Kompetenzen haben in einem solchermaßen integrierten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Raum wachsenden Einfluss auf die Verteilungsstrukturen und Armutspolitiken in den Mitgliedstaaten. Die Ausgestaltung eines gemeinsamen Raumes und einer politischen Ebene zwischen Nationalstaat und globaler internationaler Ebene führt seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958) zu Debatten darüber, diese Ebene verstärkt auch für armuts‐ und verteilungspolitische Probleme einerseits verantwortlich zu machen, hier andererseits aber auch Problemlösungskompetenzen zu verorten. Dabei hat die EU‐Armutspolitik mit Widerständen zu kämpfen, sich an entgegenstehenden Interessen und Strukturen zu reiben, auf Bedenken und Befürchtungen einzugehen, Rückschläge hinzunehmen und auf Durchbrüche noch hinzuarbeiten. Um dies zu verdeutlichen, werden zunächst einige armutsrelevante Parameter zwischen den EUMitgliedstaaten verglichen. Sie bilden zusammen mit dominierenden sozialpolitischen Wertorientierungen den Hintergrund, vor dem sich ‚die‘ Brüsseler Politik in diesem Feld bewegt und ohne den sie in ihren Eigenheiten der Wahl der Mittel und Wege ihrer Politik nicht verständlich wird In einem weiteren Schrittwird. auf die Geschichte und Gestalt der EU‐Armutspolitik im Kontext des vor allem wirtschaftlich forcierten europäischen Integrationsprozesses eingegangen. Danach lassen sich schließlich Herausforderungen und Perspektiven der Armutspolitik der EU skizzieren.

Benjamin Benz
Politische Repräsentation schwacher sozialer Interessen durch Initiativen, Wohlfahrtsverbände und Parteien

Armut und soziale Ausgrenzung manifestieren sich vordergründig im Ausschluss vom Arbeitsmarkt, im Bildungs- und Gesundheitssystem oder im sozio-kulturellen Bereich Sie bedeuten aber immer auch Ausschluss aus dem politischen System, denn die Interessen der Klienteninnen und Klienten Sozialer Arbeit werden dort nur selten angemessen wahrgenommen oder berücksichtigt Als sog schwache soziale Interessen muss ihnen immer wieder neu Gehör verschafft werden Das kann durch Initiativen von Betroff enen, sozialanwaltschaft liche Interessenvertretung oder durch die Repräsentation in Parteien geschehen, bedarf aber immer der Unterstützung und Mobilisierung Ausgehend von der Privatwohltätigkeit Einzelner und erst rudimentär bestehender staatlicher Intervention im sozialen Bereich lieferten die Vorläufer heutiger Interessenund Wohlfahrtsverbände im 19 Jahrhundert Beiträge zur Lösung der sozialen Frage bzw der Arbeiterfrage Durch rechtliche Absicherung und Anerkennung seitens des Staates entfaltete sich in der Weimarer Republik ein pluralistisches Verbändesystem, das im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg in (West-)Deutschland wieder aufgebaut wurde und bis heute prägend für das deutsche Verbändewesen ist Parallel dazu entwickelte sich die supranationale Ebene der Europäischen Union, die fortan Einfl uss auf die nationalstaatlichen politischen Prozesse nimmt

Germo Zimmermann, Jürgen Boeckh
Bürgerschaftliches Engagement und Teilhabe

Armenfürsorge ist wesentlich aus dem kommunalen Ehrenamt entstanden. Soziale Arbeit und ihre Handlungsfelder sind immer wieder durch ehrenamtliche (bürgerschaftliche) Initiativen weiterentwickelt und oft erst nachträglich professionalisiert worden. Ehrenamt, bürgerschaftliches Engagement und Soziale Arbeit haben also eine gemeinsame Geschichte. Gleichzeitig gibt es eine refl exartige Abwehr der Sozialen Arbeit gegenüber dem bürgerschaftlichen Engagement, begründet in der Befürchtung, das Engagement der ‚Laien‘ würde die fachlichen Standards unterspülen und die ohnehin schon geringe Entlohnung unterbieten. Das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Engagement ist spannungsreich, aber unauflösbar; in nahezu allen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit sind Freiwillige engagiert. Sie sind heute selbstverständlicher Teil des Welfare-Mix, den Soziale Arbeit managen muss. Insbesondere plötzliche Handlungszwänge wie die notwendige Versorgung von Geflüchteten seit dem Sommer 2015 führen den professionellen Strukturen ihre Grenzen vor Augen und sind ohne die spontane Unterstützung durch Freiwillige nicht zu meistern

Ralf Vandamme
Armut und Öff entlichkeit

Gesellschaftliche und ökonomische Veränderungsprozesse haben in den letzten zehn Jahren sowohl im globalen Kontext als auch bezogen auf die deutsche Situation das Thema der gesellschaftlichen Spaltung zunehmend auf die politische Agenda gebracht. Trotzdem ist das Verhältnis von Armut und Öffentlichkeit nach wie vor gekennzeichnet durch eine doppelte Marginalisierung.Auf der einen Seite spielt das Thema bei den meisten Medien nur eine untergeordnete Rolle – es sein denn, es gibt Meldungen mit Sensationscharakter –, auf der anderen Seite sind sozial Benachteiligte sowohl aus finanziellen Gründen als auch teilweise aus Kompetenzgründen kaum in der Lage, die Medien produktiv für ihre Interessen zu nutzen. Doch scheinen sich hier Veränderungen abzuzeichnen, so findet sich das Thema immer häufiger in Polit-Talkshows. Betrachtet man die Darstellung von Armut in der Öffentlichkeit unter einer historischen Perspektive wird deutlich, wie stark die Th ematisierung von der jeweiligen ökonomischen und gesellschaft lichen Situation abhängt.Zwischen Tabuisierung und Dramatisierung bewegt sich dabei die Bandbreite, wobei in der Tendenz festzustellen ist, dass das Thema sehr oft aus der Öffentlichkeit verdrängt wird. Insgesamt zeigt sich in den öffentlichen Diskursen eher ein Trend zur Stigmatisierung als zum Empowerment. Die Medien, die heute den öffentlichen Diskurs nachhaltig bestimmen, haben einen großen Anteil daran, welche Themen gesetzt werden.Das Thema Armut ist dabei eher selten unter einer reflektierten Perspektive auf der Agenda. Gleichzeitig ist die Mediennutzung meistens abhängig von der sozialen Situation der Nutzer/-innen. Gerade neueste Informations- und Kommunikationstechnologien sind für sozial Benachteiligte aus finanziellen Gründen kaum erschwinglich, so dass oft nur rein rezeptiv zu nutzende Medien wie das Fernsehen in deren Medienausstattung zu finden sind Medien wie z B. das Internet werden vor allem von jüngeren, berufstätigen gut gebildeten Menschen genutzt. Dadurch verbreitert sich die Wissenskluft immer weiter. Sozial Benachteiligte werden in immer stärkerem Maße auch unter der Informations- und Kommunikationsperspektive benachteiligt.Diesem Trend entgegenzuwirken, wäre eine wichtige Voraussetzung dafür, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Autonomie der sozial benachteiligten Gruppen zu fördern. Dieser Aspekt von Armut bleibt wie viele andere im öffentlichen Diskurs weitgehend unberücksichtigt. Vor dem Hintergrund der Entwicklung der Medienstruktur bedarf es deshalb in Zukunft noch intensiverer Öffentlichkeitsarbeit bezogen auf die Darstellung der Armutssituation und den Herausforderungen, die sich daraus für eine Gesellschaft ergeben.

Richard Stang
Veränderungswissen Sozialer Berufe im komplementären Dreieck von Bildung, Gesundheit und Armutsrisiken

Soziale Praxis als verändernde Praxis, die innerhalb sich verändernder sozialer Verhältnisse operiert, bedarf einer Systematisierung ihres Verständnisses von ‚Veränderung‘. Da Wissen um Veränderung und Wissensformen zur Veränderung in sozialen Berufen der Moderne leitend sind, stellen sich Fragen zu ihrer jeweiligen Justierung und normativen Ausrichtung. Der Beitrag untersucht Optionen und unterscheidbare Ebenen für eine interdisziplinär und menschenrechtlich orientierte Konzeptentwicklung.Änderungswissen und Änderungspraktiken werden als theoriegeleitetes Handlungswissen sozialer Berufe zur Überwindung von Armut in Korrelationen zu Gesundheitsrisiken und Bildungsproblemen in den Blick genommen.

Thomas Eppenstein
Backmatter
Metadaten
Titel
Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung
herausgegeben von
Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster
Prof. Dr. Jürgen Boeckh
Prof. Dr. Hildegard Mogge-Grotjahn
Copyright-Jahr
2018
Electronic ISBN
978-3-658-19077-4
Print ISBN
978-3-658-19076-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19077-4

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