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2006 | Buch

Die Vielfalt und Einheit der Moderne

Kultur- und strukturvergleichende Analysen

herausgegeben von: Thomas Schwinn

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung und Überblick

Die Vielfalt und die Einheit der Moderne — Perspektiven und Probleme eines Forschungsprogramms
Auszug
Die Soziologie ist mit der Moderne entstanden, als eine Disziplin zu ihrer Beschreibung und Erklärung. Die klassischen Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts haben sich an der Frage abgearbeitet, was das Spezifische der Moderne gegenüber der Vormoderne ausmacht. Bis in die Begriffe und Konzepte hinein hat dieser historische Übergang unsere Theorien geprägt: traditional-rational, mechanisch-organisch, segmentär-funktional differenziert und viele mehr. Talcott Parsons’ pattern variables sind wohl der deutlichste Ausdruck dieser dichotomen Sichtweise. Er war auch der wichtigste Bezugsautor für die Modernisierungstheorie der Nachkriegsjahrzehnte. Wolfgang Zapf erinnert daran, dass diese Theorie explizit für die nicht-westliche Welt konzipiert wurde, um westliches Gedankengut und Institutionen in diese zu exportieren. Wie Jürgen Kocka deutlich macht, ist der Ausdruck „modern“ älter als die Sozialwissenschaften, er wurde nicht von ihnen erfunden, aber er verbreitet sich in der Soziologie erst mit der Modernisierungstheorie. Explizit wird er von den Klassikern des Faches wenig verwendet, implizit ist er aber sicherlich präsent. Die Moderne und ihr Selbstverständnis verdanken sich also einer zweifachen Abgrenzung: einmal gegenüber der eigenen vormodernen Vergangenheit und zum anderen gegenüber den (noch) nicht modernen außer-westlichen Gesellschaften.
Thomas Schwinn

Multiple Modernities: Soziologische und historische Ansätze

Frontmatter
Multiple Modernen im Zeitalter der Globalisierung
Auszug
In der zeitgenössischen Ära neuer, intensivierter Globalisierung werden oft die Erschöpfung des kulturellen Programms der Moderne und mit ihm das Ende der Geschichte oder der „Kampf der Kulturen“ proklamiert. Ist die Problematik der multiplen Modernen vor diesem Hintergrund noch gültig? Das Konzept der multiplen Modernen1 ist vor allem im Kontext der National- und Revolutionsstaaten entwickelt worden. Veranschaulicht wurde es durch den Verweis auf die verschiedenen, multiplen Modernitätsmuster, die sich, entgegen der „klassischen“ Modernisierungstheorien der späten vierziger und fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in den USA, Lateinamerika, in verschiedenen Teilen Europas und später in den asiatischen Staaten — etwa Japan, Indien, Thailand — herausgebildet haben.
Shmuel N. Eisenstadt
Die Vielfalt der Moderne und die Aushandlung von Universalien
Auszug
Konzepte — wie das der Moderne — pflegen zu wandern, und indem sie wandern, verändern sie sich. Gesellschaftsentwürfe — wie der einer Zivilgesellschaft — entstehen in spezifischen historischen Kulturen und erheben dort Anspruch auf Anerkennung. Weiten sie diesen Anspruch auf andere historische Kulturen aus, so verändern sie sich ebenfalls — oder sollten dies zumindest tun, wenn sie nicht entweder wirkungslos bleiben oder sich gewaltsam aufdrängen wollen. Diesen Thesen dürfte in der gegenwärtigen Zeit mit ihrem enormen Globalisierungsschub besondere Bedeutung zukommen. Verschiebungen und Wandlungen in den Grundbegriffen unserer politisch-sozialen Sprache gehen im allgemeinen mit Veränderungen der nicht-semantischen Dimensionen historischer Realität einher, was sie zu einem besonders lohnenden Untersuchungsgegenstand macht. Wandernde, im Ausdehnungs- und Universalisierungsprozeß befindliche Konzepte bieten aufschlußreiche Hinweise für die Betrachtung sozialer, politischer und kultureller Wechselwirkungen oder, anders gesagt, für die Betrachtung der Begegnungen verschiedener Räume, verschiedener Teile der Welt: z.B. zwischen dem Westen und nicht-westlichen Regionen.1
Jürgen Kocka
Verwerfungen in der klassischen Moderne — der US-amerikanische Süden als Problemfall in der Debatte um die „Multiple Modernities“
Auszug
Ursprünge der Debatte um die „Multiple Modernities“ lassen sich viele benennen, zumal der in dieser Debatte steckende zentrale Gedanke von kulturell und geographisch höchst verschiedenartigen Wandlungsprozessen auch den Klassikern der Soziologie so fremd nicht war: Max Webers vergleichende religionssoziologische Untersuchungen kann man ebenso als einen frühen Beitrag zu dieser Diskussion verstehen wie bestimmte Arbeiten im Umkreis der Durkheimschule, die — siehe etwa die Untersuchungen von Marcel Mauss — den Zivilisationsbegriff in vergleichender Absicht verwendet und mehr oder minder systematisch diskutiert haben.1 Dennoch wird man aber behaupten können, dass ein zentraler Abstoßungspunkt aller Theoretiker innerhalb dieser Debatte die klassische Modernisierungstheorie der späten 1950er und 1960er Jahre war und ist, insofern diese Theorie trotz ihrer zwischenzeitlichen Agonie noch immer vielfach herangezogen bzw. ihre Plausibilität noch immer implizit unterstellt, wenn nicht gar explizit behauptet wird. Theoretiker der „Multiplen Moderne“, zu denen sich so unterschiedliche Autoren wie Shmuel N. Eisenstadt, Johann P. Arnason oder Göran Therborn zählen lassen, eint jedoch gerade die scharfe Kritik an dieser Modernisierungstheorie und die Überzeugung, dass deren Defekte sich nicht einfach ausmerzen lassen, ohne die Grundmauern dieser Theorie zum Einsturz zu bringen. Die klassische Modernisierungstheorie ist ihrer Auffassung nach gescheitert, die Modifikationen von Neo-Modernisierungstheoretikern sind in jeder Hinsicht unzureichend.2 Vor allem zwei zentrale Prämissen der Modernisierungstheorie wurden und werden von Multiple-Modernities-Theoretikern entschieden verworfen: 1. Sie haben konsequent versucht, ein unilineares Bild des Geschichtsprozesses und die Idee der Geschichte als Fortschritt hinter sich zu lassen.
Wolfgang Knöbl
Globale, multiple und verwobene Modernen: Perspektiven der historisch-vergleichenden Soziologie
Auszug
Von ihren ersten europäischen Anfängen bis zu ihrer gegenwärtigen internationalen Entwicklung war und ist die Soziologie eine historisch und vergleichend orientierte Disziplin. Im Kern treibt sie die Leitidee, die Prozesse des sozialen Wandels in der sich modernisierenden und sich nun zunehmend globalisierenden Welt zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Die Bezugspunkte der Soziologie waren für lange Zeit die sich modernisierenden Gesellschaften zunächst in (West-)Europa und dann in Nordamerika, aber mit der Dekolonialisierung und Entiwcklung der nicht-westlichen Weltregionen kommen auch zunehmend die nicht-westlichen, häufig postkolonialen Gesellschaften sowie die damit einhergehenden, wechselseitig sich intensivierenden Beziehungsverhältnisse zwischen den westlichen und nicht-westlichen Gesellschaften in einer sich globalisierenden Welt ins Blickfeld. Mit diesen sich wandelnden Bezugspunkten hat sich zugleich aus einer Vielzahl dominant national angelegter Soziologien eine zunehmend international orientierte und verstärkt global ausgerichtete Soziologie entwickelt (Abu-Lughod 1999, Gulbenkian Commission 1996).
Willfried Spohn

Ostasien: Eine andere Moderne?

Frontmatter
China — eine andere Moderne?
Auszug
Kein Thema ist unter den chinesischen Intellektuellen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr diskutiert worden als das Verhältnis der chinesischen Tradition zur Moderne.1 Seit den traumatischen Ereignissen des 19. Jahrhunderts mit dem schließlichen Zusammenbruch des Kaiserreiches steht China vor dem Problem, wie, wenn überhaupt, die über lange Zeit bewährten Maßstäbe einer der ältesten Kulturen der Menschheit und die neuen Standards einer fremden, als überlegen erfahrenen Zivilisation miteinander vereinbart werden können.2 Die Diskussion ist vor allem in den Begriffen ti und yong geführt worden, wobei ti die normative „Substanz“ bzw. chinesisch-kulturelle „Identität“ der Gesellschaft und yong das hiervon, so die ursprüngliche Vorstellung, abtrennbare pragmatisch-praktische Anwendungswissen bezeichnen soll.3 Die Zhang Zhidong (1837–1909) zugeschriebene Formel „Chinas Lehren als Substanz, die Lehren des Westens für die Nutzanwendung“ (zhong xue wei ti, xi xue wei yong), die den ersten griffigen Versuch markiert, einen Weg zur Lösung des Dilemma zu weisen, ist seither in immer neuen Runden diskutiert und schließlich auf den Kopf gestellt worden:4 Nach der Gründung der Republik China am 1.1.1912, der traditionsfeindlichen Bewegung des 4. Mai 1919 mit der Folge einer Hyperkritik an der alten Kultur,5 der Rezeption des Marxismus durch weite Teile der chinesischen Intelligenz, der Ausrufung der Volksrepublik 1949 und schließlich der Bewegung der ‘Vier Modernisierungen“ seit den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts6 hat sich der Akzent allmählich auf die „Moderne als Substanz“ bzw. die „Modernisierung der Substanz“ verlagert.
Heiner Roetz
Konzeptionen chinesischer Modernisierung: Auf der Suche nach „Wohlstand und Stärke“
Auszug
Westliche Modernisierungstheorien haben in der Regel die chinesischen Verhältnisse ausgeblendet oder sie — wie in Max Webers berühmter Rationalisierungsthese — zur Negativfolie für die Entstehung moderner Gesellschaften im Western erklärt. Die an China gerichtete Fragestellung lautete dann: „Warum ist es in der chinesischen Geschichte nicht zu einer dem Westen vergleichbaren Modernisierung gekommen?“ Die begriffliche Trennung von Tradition und Moderne, die antithetische Gegenüberstellung von traditionalem und rationalem Handeln führte (wie der Soziologe Edward Shils dies einmal nannte) zu einer „Tradition der Anti-Traditions-Ideologie“. Sie entstand in Europa mit der Aufklärungsbewegung des 18. Jhts und erlangte eine dominierende Stellung in den Sozialwissenschaften (Ku 1987:62). Hieraus folgte auch die Gegenüberstellung von modernen westlichen Gesellschaften mit dem traditionellen China, eine Gegenüberstellung, die insbesondere die amerikanische Chinaforschung prägte und die den analytischen Zugang zum Phänomen chinesischer Modernisierung lange verhinderte.
Bettina Gransow
Globalisierung und Modernisierung — Zentrale Annahmen der Globalisierungstheorien auf dem Prüfstand
Auszug
Mit dem Stichwort der „Globalisierung“ ist in der Regel zumindest die Annahme angesprochen, daß sich gesellschaftliche Prozesse in zunehmenden Maße aus lokalen Zusammenhängen lösen (auch wenn Prozesse der lokalen Rückbindung parallel laufen) und dies kulturbedeutsame gesellschaftliche Auswirkungen zeitigt. Eine veränderte Form der Wahrnehmung von Territorialität (z.B. von der „Fläche“ zur „Erdkugel“, von der Nation zur Welt) wird in Verbindung gesetzt mit veränderten Formen der Wahrnehmung von Kausalität („Entkoppelung von Raum und Zeit“, „Kausalschleifen“) und gesellschaftlicher Strukturierung (vgl. dazu nur Schmidt 1999: 13). Die Ausweitung des Raumbezugs auf die Welt, so das Credo der Globalisierungstheorien, schafft früher oder später neue oder veränderte Formen von Sozialität und damit auch neue oder veränderte gesellschaftliche Problemlagen. Die meisten Globalisierungstheorien teilen diese Annahme. Mehr noch: An ihr kann man im Regelfall erkennen, ob man es mit einer Globalisierungstheorie zu tun hat oder nicht. Auf der einen Seite ist es ihre starke Bezugnahme auf den Raum als Ausgangspunkt reflexiver Gesellschaftsstrukturierung, in der sie sich von Modernisierungstheorien unterscheiden. Auf der anderen Seite trennt sie die Prozeßperspektive der „Entgrenzung“, und damit die Annahme einer „Nicht-Abgeschlossenheit“ der Globalisierung, von den (Welt)Systemtheorien. An solchen Unterschieden lassen sich die grundlegenden Annahmen der Globalisierungstheorien gut erkennen.
Markus Pohlmann
Individualisierung und Konformität — Kontrastierende Modelle in Japan und Deutschland?
Auszug
Die japanische zählt zu den Gesellschaften, in denen die verbreitete Gleichsetzung von Modernisierung und Individualisierung nicht zu gelten scheint — zumindest nicht uneingeschränkt. Westliche Beobachter konstatieren seit mehr als einem Jahrhundert regelmäßig einen Mangel an „Individualismus“ und erwarten fast ebenso regelmäßig — wie 1905 der deutsche Staatswissenschaftler Karl Rathgen —, dass dieser „behagliche Zustand“ mit der „Umgestaltung des Wirtschaftslebens“ (zit. n. Hornstein 1996: 178) alsbald ein Ende finden werde. Auch wenn diese Erwartung — allen Umgestaltungen nicht allein des Wirtschaftslebens zum Trotz — keineswegs verschwunden ist, haben sich daneben mittlerweile Entgegensetzungen von angeblich westlichem Individualismus und alternativen kontextualistischen Orientierungen in Japan sowohl in einschlägigen sozialwissenschaftlichen und kulturanthropologischen Untersuchungen als auch in den oft sehr populären japanischen Selbstverständigungsdiskursen fest etablieren können.
Volker Schubert

Die Perspektive der Modernisierungstheorie

Frontmatter
Die Einheit der Moderne
Auszug
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist es in England und Frankreich zu einem ökonomischen und politischen Durchbruch gekommen, der die Welt in einem Ausmaß verändert hat wie kein anderer Vorgang zuvor. Nicht einmal die neolithische Revolution, in deren Verlauf die Menschen seßhaft wurden, kann den Anspruch erheben, von ähnlicher Tragweite gewesen zu sein. Alle älteren Durchbrüche und revolutionären Neuerungen, seien es die Gründung von Siedlungen, der übergang zum Ackerbau, die Erfindung der Schrift oder die Stiftung von Hochreligionen waren zwar ebenfalls Änderungen und Neuerungen mit weitreichenden und kaum abschätzbaren Konsequenzen, aber ihnen haftete zugleich ein konservatives Element an. Sie waren keine auf Dauer gestellten Änderungen, also Änderungen, die nur darauf warteten, selbst wieder von der nächsten Neuerung überholt zu werden, sondern beließen die Welt über weite Strekken so, wie sie vorgefunden wurde. Es ging nicht darum, einen Abstand zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit herzustellen. Anders in der Moderne. Ihr Prinzip ist die Neuerung und die Abstandnahme von der Tradition. Jeder einmal erreichte Zustand ist jetzt davon bedroht, seinerseits überholt zu werden. Das gilt nicht nur für technische Erfindungen, obwohl diese der Motor der ständigen Ersetzung von Vorhandenem durch Neues sind. Was heute modern ist, ist morgen schon veraltet. Die ständige Korrektur und Überprüfung des Erreichten ist das Lebensprinzip dieses neuen Gesellschaftstypus. Der Übergang zur modernen Welt bedeutete daher nicht einfach den Eintritt in ein anderes Stadium der Geschichte, sondern er ist die Basis für eine ganz neue Dynamik, eine Beschleunigung des Wandels und eine Steigerung des Tempos, die vor nichts halt macht.
Johannes Berger
Modernisierungstheorie — und die nicht-westliche Welt
Auszug
In diesem Beitrag möchte ich drei Themen behandeln: erstens die Entwicklung und die Konjunkturen und Krisen der Modernisierungstheorie und ihre Behandlung der nichtwestlichen Welt (1.); zweitens ausgewählte Strukturdaten und Entwicklungstrends einschließlich islamischer Länder (2.); drittens Modernisierung und Moderne insbesondere in der arabischen Welt (3.). Dieser dritte Teil beruht auf der Lektüre von ausgewählten Arbeiten von Islam- und Regionalspezialisten; deshalb präsentiert er kaum mehr als die durchschnittliche Information eines interessierten Beobachters.
Wolfgang Zapf

Alternative Ansätze: Weltgesellschaft und Weltsystem

Frontmatter
Strukturbildung in der Weltgesellschaft — Die Eigenstrukturen der Weltgesellschaft und die Regionalkulturen der Welt
Auszug
Die Weltgesellschaft ist das einzige Gesellschaftssystem, das gegenwärtig in der Welt existiert. Diese Behauptung formuliert eine hochgradig unwahrscheinliche Hypothese. In einer ersten Annäherung wird man nach dem Begriff der Gesellschaft fragen. Trifft es zu, dass der Begriff der Gesellschaft im Blick auf kleine gesellschaftliche Systeme entworfen worden ist, die nur wenige Hundert und im äußersten Fall wenige Tausend Mitglieder einschlossen? Wie soll es möglich sein, ein- und denselben Begriff sowohl auf tribale Sozialsysteme wie auf eine potentielle Weltgesellschaft anzuwenden?
Rudolf Stichweh
Spielräume der Weltgesellschaft: Formale Strukturen und Zonen der Informalität
Auszug
Die unter dem Titel „multiple Modernen“ geführte Debatte richtet sich gegen den Versuch der klassischen Modernisierungstheorie, aus der Erfahrung westlicher Länder weltweite Entwicklungstendenzen zu extrapolieren (Vgl. Eisenstadt 2000b). Auch wenn sich die grundsätzlichen Alternativen zum westlichen Entwicklungsmodell nach dem Ende des Kalten Kriegs stark vermindert haben, scheint die nachhaltige Bedeutung politischer, rechtlicher und kultureller Differenzen nicht auf eine simple Konvergenz der Entwicklungspfade hinzudeuten. Dies gilt sicherlich, wenn man den Globus als Mosaik nationalstaatlicher Politikregime, regionaler Religionssysteme und mannigfaltiger kultureller Lebenswelten betrachtet. Andernfalls lassen sich die unbestreitbaren Divergenzen jedoch kaum noch anhand räumlicher Distanzen oder nationalstaatlicher Grenzen ordnen. So prägen nicht isolierte Modernitäten, sondern „entangled modernities“ (Randeria 1999a; 1999b) das Bild der heutigen Weltgesellschaft. Der durch eine Gegenüberstellung „westlicher“, „östlicher“ und anderer Zivilisationsmuster erweckte Eindruck klar gezogener Grenzen und Pfadanhängigkeiten verliert sich relativ schnell, wenn man die Analyse nicht von vornherein auf politische Vergleichseinheiten beschränkt. Religion mag sich zwar als Aufhänger einer vergleichenden Zivilisationsanalyse eignen, ist aber bereits weit weniger klar regional zuzuordnen. Bezieht man Medizin, Wissenschaft und natürlich vor allem die Wirtschaft mit ein, werden territoriale Grenzen zunehmend unschärfer und irrelevanter.
Boris Holzer
Die zu Ende gedachte Moderne — Alternative Theoriekonzepte in den lateinamerikanischen und osteuropäischen Peripherien
Auszug
Die Moderne ist zählbar geworden. Lange Zeit als einzigartiges abendländisches Phänomen betrachtet, dessen Entstehung einem historisch kontingenten Bündel von soziokulturellen Faktoren zu verdanken war, wird in der neueren theoretischen Diskussion zunehmend im Plural auf sie verwiesen. Dabei ist es unerheblich, ob von ihrer Vielfalt oder aber von ihrer Einheit, ob von unterschiedlichen Pfaden, Konfigurationen oder Ausprägungen einer im Grunde unteilbaren Moderne, oder eindeutig von „anderen“ (Faubion 1993), „multiplen“ (Eisenstadt 2000), „alternativen“ (Beck u. a. 2001) oder „verwobenen“ (Randeria 1999) Modernen die Rede ist: die Notwendigkeit, die Homogenitätsthese zu verteidigen, impliziert bereits deren strittig gewordenen Charakter.
Manuela Boatcă
Backmatter
Metadaten
Titel
Die Vielfalt und Einheit der Moderne
herausgegeben von
Thomas Schwinn
Copyright-Jahr
2006
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90111-4
Print ISBN
978-3-531-14427-6
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90111-4