3.3.1 Gesundheitsvision als Treiber einer digitalen Gesundheit
Im Gesundheitssystem
6 wird eine umfangreiche Datenerhebung und -verarbeitung diskursiv oft als Lösung für bestehende Probleme wie steigende Kosten, falsche Behandlungsmethoden, Koordinationsprobleme, erfolgreiche Präventionsmaßnahmen oder zur Steigerung der PatientInnensicherheit gesehen (Grön
2021, S. 2–3). Die anwachsende Datenerhebung ist einerseits mit der Hoffnung verbunden, politische Steuerungsprozesse im Gesundheitssystem zu verbessern (Lenz
2021) und andererseits auch technologische Entwicklungen wie die präventive, individualisierte Medizin und das Patienten-Empowerment voranzutreiben (Ruckenstein und Schüll
2017). Diese Annahmen und Hoffnungen fördern schließlich die Datafizierung von Gesundheitsprozessen und den damit verbundenen Aufbau digitaler Infrastrukturen. Generell verbindet sich mit der digitalen Gesundheit die Hoffnung, medizinisches Wissen und gesundheitsbezogene Daten durch Datafikationsprozesse so zu integrieren, dass Krankheiten besser geheilt werden können oder ihr Auftreten von vornherein verhindert werden kann. Obwohl einige dieser neuen Technologien bereits im Einsatz sind, fällt dennoch auf, dass die Aktivitäten rund um die Einführung der digitalen Gesundheit weitgehend Zukunftsvisionen sind (Ruckenstein und Schüll
2017, S. 262; Wieser
2019, Grön
2021, S. 2–3). Interessanterweise handelt es sich bei der Betonung all der Vorteile digitaler Gesundheit um solche, die sich auf eine Zukunft beziehen, deren Eintreten vollkommen ungewiss ist. Allein die Vision dieser Vorteile scheint allerdings diskursiv mächtig genug zu sein, um gegenwärtige Datafizierungsprozesse zu initiieren und zu legitimieren. Entscheidend ist bei dieser Vision, dass sie über die kurative und präventive Medizin hinausgeht. Sie überschreitet damit eine Grenze hin zu einer wunscherfüllenden Medizin und ragt stärker als bisher in das alltägliche Handeln hinein (Wieser
2019, S. 427, Lenz
2021). Vor dem Hintergrund der politischen Ökonomie der Datafizierung im Gesundheitswesen wird diese Form der wunscherfüllenden Medizin in diesem Beitrag als neue Forminvestition eingeführt, die in der Lage ist, unspezifische Alltagspraktiken unabhängig von jeglichen Krankheitspraktiken als neue Gesundheitspraktiken zu mobilisieren. Diese neue Form, die ich mit dem Begriff der digitalen Alltagsgesundheit
7 bezeichne, zeichnet sich dadurch aus, dass alltägliche Aktivitäten gemessen und in einen gesundheitlichen Kontext eingebettet werden. Dabei ist es entscheidend, dass Praktiken in Zahlen und Grafiken übersetzt werden und diese als weitere Informations- und Bewertungsgrundlagen im Umgang mit Gesundheit genutzt werden können. Die digitale Alltagsgesundheit unterscheidet sich also durch zwei Aspekte von bisherigen Konzepten der digitalen Gesundheit, wie beispielsweise electronic health (eHealth), mobile health (mHealth) oder smart health:
(1) Die digitale Alltagsgesundheit verfolgt keinen spezifischen Gesundheitszweck, sondern zielt nur vage auf die Erhaltung der Gesundheit im Allgemeinen ab. Das bedeutet, dass digitale Technologien nicht als zielgerichtete Werkzeuge eingesetzt werden, beispielsweise zur Kontrolle bestimmter Krankheiten. Vielmehr fungiert die Technologie als Intermediär und damit möglicherweise auch als Dispositiv der Evaluation von Gesundheit im Alltag (Eymard-Duvernay
2012). Digitale Alltagsgesundheit bedeutet daher, dass immer mehr Dingen des täglichen Lebens willkürlich ein Gesundheitsbezug zugeschrieben werden kann.
(2) Das Konzept der digitalen Alltagsgesundheit ist daher auch mit einer sehr spezifischen analytischen und methodologischen Perspektive verbunden. Mit dem konzeptionellen Vorschlag, die digitale Alltagsgesundheit als eine neue Forminvestition zu verstehen, rücken die Prozesse der Konstruktion, Mobilisierung und Evaluation von Gesundheit und Gesundheitspraktiken in den Fokus. Damit werden Fragen nach der Rolle von Alltagsgegenständen, Regimen, Konventionen und Akteuren relevant. Die Auswirkungen der Technologie auf die Akteure oder die Evaluation einer erfolgreichen Implementierung solcher Technologien treten dann in den Hintergrund. Analytisch zielt das Konzept also genau auf die Wechselwirkungen zwischen der gesundheitsbezogenen Rahmung von Alltagshandlungen und dem Umgang der Akteure mit dieser Rahmung. Die Besonderheit dieses technologischen gesundheitlichen Kontextes liegt vor allem in der Flexibilität und Offenheit von Digitalisierungstechnologien. Dieser Aspekt wird in den kommenden Teilen weiter ausgearbeitet.
3.3.2 Legitimation und Charakteristika digitaler Alltagsgesundheit
Interessanterweise deuten einige Erkenntnisse aus dem Forschungsgebiet der Selbstmessung und der Quantified-Self-Bewegung darauf hin, dass die Messergebnisse von Gesundheitspraktiken und Alltagspraktiken vertrauenswürdiger erscheinen als die eigene Einschätzung des individuellen Körperzustands (Wiedemann
2019, S. 11). Die Gründe dafür, warum Menschen Gesundheits-Apps verwenden, können allerdings sehr unterschiedlich sein (Nafus
2016; Selke
2016; Lupton
2016). Es gibt Akteure, die Boni erhalten wollen, indem sie ihre gemessenen Daten ihrer Krankenkasse zur Verfügung stellen. Solche Akteure nehmen eine marktorientierte Haltung ein. Andere Akteure hingegen, vor allem aus der Quantified-Self-Szene, messen ihre eigene Gesundheit aus Neugierde und dem Willen, den eigenen Körper und die eigene Gesundheit beeinflussen zu können (Selke
2016; Meißner
2016; Lupton
2016). Ein Teil dieser Gruppe entwickelt auch eigene Messinstrumente, um direkt Einfluss auf die Messkategorien zu nehmen. Die Personen der Quantified-Self-Bewegung sind oft der Meinung, dass die Zahlen und Messungen ein genaueres Bild der eigenen Gesundheit liefern und die eigene Einschätzung schneller zu Selbsttäuschung führen kann. Neben diesen Gruppen gibt es auch viele NutzerInnen, die Gesundheits-Apps aus präventiven Gründen verwenden oder zur Optimierung ihres physischen und psychischen Zustandes (Lupton
2017, S. 1). Darüber hinaus gibt es auch noch eine Gruppe von unwissenden NutzerInnen von Gesundheits-Apps. Dies liegt daran, dass Gesundheits-Apps auf vielen Smartphones bereits vorinstalliert sind und automatisch Gesundheitsdaten messen und an die Betreiber der Apps weiterleiten, wenn sie nicht explizit ausgeschaltet oder deinstalliert werden.
Abgesehen von der kleinen Gruppe innerhalb der Quantified-Self-Bewegung kann also davon ausgegangen werden, dass die Mehrzahl der Akteure, die präventive Gesundheits-Apps im Alltag nutzen, bereits mit fertigen Gesundheitskategorien als Messinstrumente konfrontiert werden und diese nicht hinterfragen. Die vordefinierten Messkategorien legen dann bereits selektiv fest, welche Daten des Alltags als gesundheitsrelevant eingestuft werden. Dadurch können auch nur diese Daten in weiteren Gesundheitskontexten verarbeitet werden, im Vergleich zu vermeintlich weiteren relevanten Gesundheitspraktiken des Alltags.
Letztlich hängt die Bedeutung von Gesundheitsdaten und Gesundheitswissen für präventives Gesundheitshandeln in einer Ökonomie der Gesundheitsdaten dann weniger von der individuellen Beurteilung und einem medizinischen Expertenwissen ab, sondern vielmehr von neuen Akteuren, die Indikatoren zur Messung von Gesundheit und die Bewertungskriterien für die Daten festlegen. Technologieunternehmen, wie Amazon, Google, Facebook, Apple oder IBM, sind zunehmend im Gesundheitsfeld aktiv, entwickeln neue Gesundheitsanwendungen und führen damit auch neue Standards und Kategorien ein, die bestimmen, was gemessen wird und warum (Sharon
2018). Das Gemeinwohl, auf das sie sich dabei stützen, kann sich zwischen den Akteuren allerdings stark unterscheiden (Sharon
2016,
2018; Cappel und Kappler
2019, Grön
2021). Für einige Unternehmen ist die individuelle Messung und Verarbeitung von persönlichen Gesundheitsdaten nur ein monetäres Geschäftsmodell. Andere sehen Messung und Verarbeitung von persönlichen Gesundheitsdaten als Teil eines Gemeinwohls an und wollen damit Menschen unterstützen, ein gutes und gesundes Leben zu führen. Sharon (
2018, S. 5) führt in diesem Kontext eine Gemeinwohlorientierung ein, in der Vitalität ein universell zu erreichendes Gut darstellt. Diese Idee findet sich vor allem bei visionären Unternehmen aus dem Silicon Valley oder in der Quantified-Self-Bewegung (Selke
2016). Andere Akteure sehen in der Messung der individuellen Gesundheit eine Chance zur Gleichberechtigung der BürgerInnen durch eine ausgewogenere Arzt-PatientInnen-Beziehung und ein damit verbundenes Empowerment der PatientInnen (Sharon
2018). Im Hinblick auf die jüngsten neoliberalen Entwicklungen im Gesundheitssystem kann ein gesteigertes PatientInnen-Empowerment aber auch als ein Versuch verstanden werden, BürgerInnen als MarktteilnehmerInnen in einem Gesundheitsmarkt zu mobilisieren. Diese sollen sich im Idealfall dann nach konkurrierenden Gesundheitsangeboten erkundigen und diese nachfragen (Batifoulier et al.
2011). Dass eine solche Entwicklung bereits angestoßen ist, zeigen die jüngeren Entwicklungen im Gesundheitssystem. Aufgrund der neoliberalen Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte hat sich in einigen europäischen Gesundheitssystemen eine marktorientierte und industrielle Gemeinwohlorientierung gegenüber einer häuslichen Gemeinwohlorientierung durchsetzen können (Batifoulier et al.
2011; Streckeisen
2017, Da Silva
2018).
Im Zusammenhang mit der digitalen Alltagsgesundheit kann dann auch angenommen werden, dass nicht nur PatientInnen durch ihr Empowerment zu einer Marktressource werden können, sondern prinzipiell jede Facette und Handlung des alltäglichen Lebens. Sobald es gelingt, eine Alltagshandlung zu digitalisieren und ihr mit spezifischen Kategorien einen Gesundheitsbezug zuzuweisen, wird sie auch anschlussfähig und wertvoll für einen Markt. Akteure können dann mit ihren alltäglichen Routinehandlungen zu einer Quelle von Informationen für den Markt werden. Eine mögliche Konsequenz aus der Einführung dieser neuen Form der digitalen Alltagsgesundheit könnte dann sein, dass die individuelle und professionelle Einschätzung der eigenen Gesundheit an Relevanz verliert und der vorläufige Prozess der Kategorisierung zur Messung von Gesundheit an Bedeutung gewinnt.
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Ein weiteres Merkmal der neuen Form der digitalen Alltagsgesundheit hängt direkt mit dem Prozess der Erstellung der Gesundheitsmesskategorien zusammen. Es geht um die Standardisierung von Gesundheitspraktiken oder Alltagsaktivitäten. Bei der Entwicklung und Programmierung der Gesundheits-Apps werden bereits sehr spezifische Kategorien und Bewertungsstandards in die Technologie implementiert, die bei der späteren Nutzung kaum noch einen Raum für Kritik bieten. Eine Gesundheits-App, die Schritte zählt, die Herzfrequenz misst und das Schlafverhalten aufzeichnet, ist beispielsweise nicht in der Lage, auch Panikattacken, Geldsorgen oder eine schlechte Lebenssituation als gesundheitsbezogene Aspekte hinzuzufügen. Apps sind insbesondere aufgrund ihrer kognitiven Zahlenformate in der Lage, durch standardisierte und standardisierende Quantifizierungsprozesse Äquivalenzen zwischen Menschen herzustellen und sie so als identische Einheiten zu mobilisieren (Levay
2020, S. 7). Darüber hinaus implementieren Gesundheits-Apps dann auch ein Dispositiv zur Evaluation digitaler Gesundheitspraktiken (Eymard-Duvernay
2012). Dies führt einerseits zu einer Reduktion der Komplexität von Gesundheitspraktiken, da nur ein Teil des Alltags der Akteure gemessen wird und innerhalb der politischen Ökonomie der Gesundheit relevant werden kann (Nafus
2014; Levay
2020). Andererseits schließt es aber andere alltägliche Praktiken insbesondere Tabus aus, die für bestimmte Krankheiten und Gesundheitspraktiken entscheidend sein können. Dadurch eröffnen sich schließlich verschiedene Relevanzebenen für Gesundheitspraktiken. Das heißt, es kann zum einen zwischen Gesundheitspraktiken unterschieden werden, die im alltäglichen Leben relevant sind, und solchen, die zusätzlich durch ihre Vermessung in einer politischen Ökonomie der Gesundheit und damit auch in Public-Health-Kontexten relevant gemacht werden können. Es sind dann solche vermessenen Gesundheitspraktiken, die sich in institutionalisierten Gesundheitskontexten wesentlich leichter legitimieren lassen.
Ein weiteres und zentrales Merkmal dieser Forminvestition bezieht sich auf ihre Materialität und die damit verknüpfte Technologie.
9 Einerseits legen Smartphones im Sinne ihrer Materialität somit ganz einfach Nutzungsgrenzen fest. Andererseits entscheiden die eingeführten Messkategorien, Indikatoren und Bewertungsmaßstäbe in den Programmen, welcher kleine Ausschnitt einer Lebenswirklichkeit abgebildet (Nafus
2014) und wie dieser durch darauffolgende Datafizierungsprozesse weiterverarbeitet werden soll. Damit wird ein relativ stabiles neues Handlungsmuster eingeführt, das sich auf die Gesundheitsvorsorge im Alltag bezieht. Digitale Gesundheit ist dann nicht mehr das, was der Körper in Abhängigkeit von biologischen und individuellen Lebensbedingungen anzeigt, sondern nur noch das, was sich aktuell messen und vorhersagen lässt.
3.3.3 Relevanz der digitalen Alltagsgesundheit
Im Folgenden möchte ich anhand von drei zentralen Gründen erläutern, warum ich davon ausgehe, dass diese neue Form der digitalen Alltagsgesundheit an Relevanz gewinnen kann.
Der erste Grund bezieht sich auf die spezifische Beschaffenheit der Form, die sich auch auf deren Lebensdauer auswirkt. Die Form ist mit neuen Technologien und Objekten wie Smartphones, Apps und Wearables ausgestattet. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass sie eine relativ lange Lebensdauer hat, da die materielle Präsenz es schwieriger macht, sie im Vergleich zu kognitiven Formen zu ignorieren. Darüber hinaus ist ein Smartphone ein „multi-situativer“ Gegenstand, der in unzähligen Situationen des alltäglichen Lebens eingebettet ist. Selbst wenn eine spezifische Anwendung des Smartphones aufgegeben wird, beispielsweise durch das Löschen einer App von einem persönlichen Smartphone, bleibt dieses Smartphone für andere Situationen weiterhin relevant. Dies unterstreicht die Bedeutung von Objekten als Stabilisierungsmechanismen in Koordinationsformen. Wenn Akteure ihre eigene Gesundheit einschätzen wollen, können sie dazu problemlos auch auf ihre Smartphones zurückgreifen. Da das Smartphone ein technisches Objekt ist, bei dem Standardisierung und Funktionalität im Vordergrund stehen, unterstützt es insbesondere auch die industrielle Konvention. Sensoren messen dann im Rahmen eines Gesundheitskonzepts standardisiert alltägliche Routinetätigkeiten. Durch die Übersetzung der täglichen Handlungen in Zahlen mittels Datafizierungsprozessen verbinden sich die Akteure mit dem Objekt und werden im Sinne einer Dyade zu einer stabilisierenden Einheit in einer Situation. Neben diesen Stabilisierungsmechanismen über die Objekte erzeugt zusätzlich die weitläufige digitale Vernetzung der gemessenen Gesundheitsdaten einen weiteren Stabilisierungseffekt.
Der zweite Grund für die zunehmende Relevanz der Form der digitalen Alltagsgesundheit liegt in ihrem spezifischen Mechanismus, ihre Gültigkeit zu etablieren. Dies geschieht durch eine relativ subtile Art und Weise, die möglicherweise auch ganz allgemein für andere Datafizierungsprozesse charakteristisch sein könnte. Das Konzept der „statistischen Kette“ von Desrosières und Thévenot (
1979) eignet sich, um diesen Mechanismus genauer zu betrachten. Mit dem Konzept der statistischen Kette werden die Arbeitsschritte der Erzeugung, Verarbeitung und Verwendung von Daten als ein Prozess von miteinander verbundenen Situationen verstanden. Diese verbundenen Situationen können als vorgelagert und nachgelagert gesehen werden. Betrachtet man aus dieser Perspektive den Quantifizierungsprozess der neuen Form der digitalen Alltagsgesundheit, so lassen sich drei miteinander verbundene Elemente der Kette identifizieren: (1) die Entwicklung von Messkategorien, (2) die Datenerhebung und (3) die Datenverarbeitung. Die Entwicklung der Messkategorien sowie die Verarbeitung der Daten durch Algorithmen findet in der Regel in einem privatwirtschaftlichen Umfeld und damit in einer Black Box statt. Dadurch ist unklar, welche Konventionen für die Entwicklung von Messkategorien und damit für die Generierung des Gesundheitswissen herangezogen wurden (Diaz-Bone
2019). Insbesondere im zweiten Teil der Kette geht somit die Grundlage für eine Rechtfertigung oder Kritik an den eingeführten Gesundheitskategorien verloren (Al-Amoudi und Latsis
2019, S. 119; Diaz-Bone et al.
2020). So rücken schließlich andere Bewertungsmechanismen für Gesundheit und Gesundheitspraktiken in den Vordergrund. Nun sind es nicht mehr Gesundheitsexperten, die den Körperzustand beurteilen, sondern Algorithmen und Dinge, wie Smartphones und Wearables, die bereits im ersten Schritt der statistischen Kette programmiert wurden (Mayer-Schönberger und Cukier
2013, S. 16; Rich und Miah
2017, S. 5). Wissen über Gesundheit hängt in diesem Fall dann stärker mit der Reichweite und der Lebensdauer von Technologie zusammen, als mit dem situativen Handlungs- und Interpretationsspielraum der beteiligten Akteure. Wenn also Gesundheit datafiziert wird, lässt sich mit der Hilfe des Konzepts der statistischen Kette aufzeigen, dass sowohl Konventionen mit semantischem Gehalt als auch solche ohne semantischen Gehalt relevant werden. Daher soll hier explizit der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Konventionen hervorgehoben werden. Konventionen mit semantischem Gehalt können grundsätzlich als eine Ressource für eine übergreifende und konsistente Denkweise in Koordinationssituationen verstanden werden. Sie haben ein inneres Potenzial, mit dem sie eine relativ kohärentere Anpassung an ihre soziale Umwelt erzwingen können (Diaz-Bone
2016, S. 57). Dadurch besitzen sie eine stabile Grundlage für gemeinsame, situative Interpretationen, Bewertungen und Evaluationen. Konventionen ohne semantischen Gehalt hingegen fehlt diese Grundlage einer gemeinsamen und übergreifenden Denkweise, wodurch eine kohärente Anpassung an die Umwelt nicht so einfach möglich ist. Sie funktionieren eher auf der Ebene von festgelegten Regeln und können als gesellschaftlich etablierte Standards verstanden werden. Solche Konventionen ohne semantischen Gehalt sind tendenziell durch Willkür gekennzeichnet. Sie können deshalb auch nicht argumentativ in einem kohärenten Sinnzusammenhang gerechtfertigt werden, sondern werden wie Normen einfach entschieden. Ein Beispiel für eine solche willkürliche Entscheidung ist die Festlegung für das Überfahren einer Ampel bei Grün und das Anhalten bei Rot (Diaz-Bone
2016, S. 54 ff.).
Im Zusammenhang mit der Datafizierung von Gesundheit ist die Messung von Schritten als Gesundheitsindikator beispielsweise ein typisches Beispiel für eine Konvention ohne semantischen Gehalt. Denn die Anzahl der gegangenen Schritte, also die Zahl an sich, enthält zunächst keinen Informationsgehalt über den Gesundheitsprozess. Es ist nicht klar, in welchen Alltagssituationen die Schritte gemessen werden und auch nicht auf welches Gemeinwohl sich dieser Indikator bezieht. Zahlen entwickeln ihre Bedeutung immer erst in einem spezifischen Kontext und können nicht automatisch in alle anderen Situationen übertragen werden. Die Bewertungsskala von 10.000 Schritten pro Tag
10 (Lupton
2019, S. 133 f.) ist beispielsweise lediglich eine verallgemeinerte Bewertungsskala, die je nach Situation individuell neu interpretiert werden muss. Dennoch können aber durch die aggregierten Schrittdaten der NutzerInnen relativ einfach Korrelationen zwischen bestimmten Krankheiten und positiven Gesundheitszuständen hergestellt werden. Letztlich schafft die riesige Datensammlung dann aber auch ein Gesundheitswissen, das nicht auf Kausalität beruht (Mayer-Schönberger und Cukier
2013, S. 8). Dadurch können schließlich Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten wichtiger werden als das eigentliche Fachwissen auf diesem Gebiet.
Für die bisherigen Schritte der Wissensproduktion sind situative Konventionen (sowie deren Erwägungen und Aushandlung) für die Bewertung und Einschätzung der Situation besonders relevant. Das bedeutet, dass es auch möglich ist, die Situation der Wissensproduktion nach bestimmten Prinzipien einer Gemeinwohlorientierung begründen und kritisieren zu können. Es ist fraglich, ob ein Algorithmus und insbesondere Gesundheits-Apps diesen Prozess situativ durchführen können. Mit anderen Worten: Konventionen ohne semantischen Gehalt, die in Gesundheit-Apps und Algorithmen eingebettet sind, können durch ihre vorgefertigten Messkategorien die Pluralität der Gemeinwohlorientierung einschränken und damit Konflikte erzeugen. Da eine Konvention ohne semantischen Gehalt in der Öffentlichkeit aber schwer zu rechtfertigen ist, wird im öffentlichen Gesundheitsdiskurs eine Konvention mit semantischem Gehalt für eine Pseudo-Argumentation herangezogen. Diese Konvention bildet dann die Diskussionsgrundlage für eine Rechtfertigung oder Kritik. Im Fall der Schritte als Gesundheitsindikator werden beispielsweise medizinische Studien im Sinne der industriellen Konvention angeführt, um tägliche Schritte als präventive Gesundheitsmaßnahme zu rechtfertigen. Die eigentliche(n) Konvention(en), die in die Entwicklung der Kategorie „Schritte zählen“ einbezogen wurden (beispielsweise eine Marktkonvention), sind dann allerdings nicht unbedingt Teil der öffentlichen Diskussion.
Daraus ergibt sich ein Mechanismus, der zunächst widersprüchlich erscheint, weil er zum einen Stabilität gewährleisten kann, gleichzeitig aber auch Veränderungen integrieren kann. Die statistische Kette zeigt, dass Konventionen bei Datafizierungsprozessen eine relevante Rolle dafür spielen, nach welchen Beurteilungs- und Bewertungsmaßstäben Gesundheitskategorien entwickelt werden (Diaz-Bone
2016, S. 57). Durch die zeitliche und situative Trennung der Kategorienentwicklung und der Messvorgänge sowie durch die technologischen Bedingtheiten werden diese Konventionen aber unsichtbar und damit in einer öffentlichen Diskussion zu Konventionen ohne semantischen Gehalt transformiert. Was ihre Lebensdauer und Validität angeht, müssten solche Koordinationen eigentlich sehr leicht an Relevanz verlieren und damit instabil werden. Das Gegenteil trifft allerdings zu, weil die Konventionen ohne semantischen Gehalt, die für die Messvorgänge und Weiterverarbeitung der Daten herangezogen wurden, an einer anderen Stelle der statistischen Kette eine Allianz mit einer Konvention mit semantischem Gehalt eingehen können (Diaz-Bone
2019). An vorderster Stelle bietet sich dabei eine Allianz mit der industriellen Konvention an, weil in dieser Konvention Zahlen ein elementares Informationsformat bilden (Diaz-Bone
2019, S. 78). Dies ermöglicht es dann, alltägliche Praktiken aller Art für Gesundheitskategorien sehr einfach mobilisieren und messen zu können.
Ruft man sich nun neoliberale Entwicklungen in den europäischen Gesundheitssystemen ins Gedächtnis, wie sie Philippe Batifoulier et al. (
2011) und Nicolas Da Silva (
2018) beschreiben, wird deutlich, warum sich diese Form der Messung relativ gut stabilisieren kann. Es geschieht durch die enge Verknüpfung mit der industriellen und marktlichen Konvention, die in vielen Gesellschaftsbereichen bereits einen Großteil von Koordinationen mitgestaltet.
Was die Stabilität und Validität dann überraschenderweise erhöht, anstatt sie zu verringern, ist gerade die Transformation der ursprünglichen Konvention bei der Einführung der Kategorien in eine Konvention ohne semantischen Gehalt. Denn diese erlaubt es auch, auf äußere Wandlungsprozesse gut reagieren und sich anpassen zu können. Sollen beispielsweise Atemzüge anstatt Schritte gemessen werden, ändert sich zwar die Messkategorie, das Informationsformat der Zahlen bleibt aber bestehen und kann sich weiterhin auf die industrielle Konvention stützen. Der eigentliche Grund, warum die Messkategorie verändert wird, verbleibt weiterhin im ersten Teil der statistischen Kette, also vor der Situation der Quantifizierung und damit unverhandelbar in einem öffentlichen Raum. Im öffentlichen Raum wird sie dann lediglich als Standard verhandelt, der sich nicht sinnvoll vor dem Hintergrund eines Gemeinwohls kritisieren oder rechtfertigen lässt.
Neben dieser fehlenden Möglichkeit, die herangezogene Konvention kritisieren oder rechtfertigen zu können, gibt es auch noch ein zweites Problem. Um dieses Problem zu verdeutlichen, möchte ich das Konzept der „Allianz-Konvention“ einführen und hervorheben. Es handelt sich um eine besondere Kombination von Konventionen, die eigentlich nur dazu dient, eine Konvention ohne semantischen Gehalt, beispielsweise einen Standard, zu stabilisieren und zu legitimieren. Die Allianz-Konvention ist eine Konvention mit semantischem Gehalt, die eng mit einer Konvention ohne semantischen Gehalt verknüpft ist. Wenn diese Verknüpfung plausibel erscheint, kann der semantische Gehalt der Allianz-Konvention auch als semantischer Gehalt für die Konvention ohne semantischen Gehalt fungieren. Er kann dann argumentativ zur Begründung beliebig definierter Standards herangezogen werden. Die Kritik bzw. Rechtfertigung erfolgt dadurch in der Logik der Allianz-Konvention und nicht der Konvention, die im ersten Schritt der statistischen Kette herangezogen wurde. Auf diese Weise können eine Kritik und Rechtfertigung nur noch über die Allianz-Konvention erfolgen.
Der dritte Grund für die steigende Relevanz der neuen Form der digitalen Alltagsgesundheit bezieht sich auf die Ausstattung der Form. Die Form zeichnet sich dadurch aus, dass sie (1) eine materielle und (2) eine nicht-materielle Ausstattung besitzt. Die materielle Ausstattung bezieht sich auf die vorhandenen Dinge und Technologien, auf denen die Form basieren kann. Die nicht-materielle Ausstattung bezieht sich auf kognitive Denkformate, darunter Konventionen sowie auch wissenschaftliche und juristische Formate.
(1) Die materielle Ausrüstung besteht aus mobilen Geräten, wie Smartphones und Tablets, mit ihrem jeweiligen Zubehör, wie Sensoren und Wearables. Akteure tragen diese Geräte in der Regel in allen Lebenssituationen bei sich und bringen sie aktiv in ihr tägliches Leben ein. Daneben gehören aber auch lokale Computer und Netzwerkinfrastrukturen, die die Nutzung und Verarbeitung der Daten ermöglichen zur materiellen Ausrüstung. Aufgrund der Software, also der Gesundheits-Apps, verfügt die Form auch über eine technologische Ausstattung. Die Software und Sensoren ermöglichen es, Gesundheitspraktiken und auch einfache Alltagspraktiken in Bits und Bytes und damit in etwas Digitales umzuwandeln. Empirisch relevant wird die Form dann also einerseits über Gesundheits-Apps oder Lifestyle-Apps und andererseits über Smartphones und Wearables, die mit ihren Sensoren als Messinstrumente dienen. Als weitere Technologie werden Algorithmen in die Apps integriert, die Häufigkeiten, Mittelwerte oder Indizes aus den einzelnen Alltagspraktiken bilden. In jedem Fall übersetzen sie die Praktiken in eine Sprache der Zahlen und machen sie damit einer Vielzahl von digitalen Technologien aus allen Lebensbereichen zugänglich (Nafus
2014). Durch diesen digitalen Anschluss können dann auch andere Technologien wie die künstliche Intelligenz und das „Internet der Dinge“ zunehmend Teil dieser Form werden. Die Datafizierung und Digitalisierung von Praktiken führt dann dazu, dass Menschen jederzeit und überall vermessen werden können und damit medizinische Daten generiert werden, die weiterverarbeitet, gespeichert, geteilt und vernetzt werden können (Wieser
2019, S. 431). Diese Technologien sind allerdings immer auch sehr eng mit bestimmten Konventionen verbunden wie etwa der industriellen Konvention. Neben den kognitiven Formaten stabilisieren aber auch schon alleine die Kabel, die Sensoren, der Strom, die Batterien oder die Leitplatinen der Technologie die Form. Indem sich die Objekte und Konventionen der neuen Form der digitalen Alltagsgesundheit aufeinander beziehen und damit gegenseitig stützen können, bilden sie auch einen verstärkten Stabilisierungsmechanismus.
(2) Ein elementarer Teil der nicht-materiellen Ausstattung der Form ist die inspirierte Konvention, da die Form der digitalen Alltagsgesundheit in erster Linie auf einer Vision aufbaut (Lupton
2016). Als Rechtfertigung der Form werden Innovationschancen herangezogen und das enorme Potenzial für die Gesundheitssteuerung, die der Datafizierung von Gesundheit zugeschrieben wird. Es besteht die Hoffnung, neue Krankheiten und Behandlungsmethoden zu entdecken oder auch in neuer Form Einfluss auf die Gesundheitsvorsorge und Prävention zu nehmen (Lupton
2019). Wenn sich schließlich eine inspirierte Konvention manifestieren kann, werden Entwicklungen der Gesundheitsmessung weiter gefördert und es ist leichter, Ressourcen zu mobilisieren und dafür politische Unterstützung zu sichern. Diese Vision einer wunschfüllenden Medizin und der Datafizierung von Gesundheit gibt auch den Forschungs- und Innovationsbemühungen eine Richtung, in die sie sich entwickeln können. Darüber hinaus ist die Form auch mit juristischen und wissenschaftlichen Elementen ausgestattet. Auf der Ebene der politischen Ökonomie der Gesundheit und damit insbesondere im Gesundheitsbereich spielen gesetzliche Regelungen zur Messung von Gesundheit eine wichtige Rolle. Zum einen können präventive Gesundheits-Apps aus dem Lifestylebereich nicht im ersten Gesundheitsmarkt eingesetzt werden, solange sie nicht als Medizinprodukt zertifiziert sind. Dieser Prozess unterliegt strengen Anforderungen, da die Gesundheits-Apps den definierten Standards von Medizinprodukten entsprechen müssen. Hinzu kommen Datenschutzbestimmungen, die den Umgang mit Gesundheitsdaten und den Schutz der Privatsphäre regeln sowie das Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation.
11 Dieses Gesetz soll es ermöglichen, Apps auf Rezept zu verschreiben, Videosprechstunden einfach zu nutzen und überall bei Behandlungen auf das sichere Datennetz im Gesundheitswesen zugreifen zu können. Als juristische Ausstattung wirken solche Gesetze dann auch auf der Ebene der Einführung von digitalen Patientenakten in den europäischen Gesundheitssystemen und schließlich auch bei der Quantifizierung der eigenen Gesundheit. Zudem regeln diese Gesetze auch Details der technischen Ausstattung der Form, wenn sie bestimmte Standards definieren, die eine Interoperabilität zwischen den eingesetzten Technologien gewährleisten soll. Wissenschaftlich ist die Form ausgestattet, weil sie bei den Quantifizierungsprozessen von Gesundheit typische wissenschaftliche Methoden, wie Messungen, Grafiken oder mathematische Berechnungen, zugrunde legt. Außerdem bilden medizinische Studien teilweise auch eine Grundlage für die Bestimmung von Messindikatoren und Bewertungsmaßstäben.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit der Vision und den Hoffnungen einer digitalen, messbaren Gesundheit eine neue Koordinationsform im Gesundheitsfeld eingeführt wird. Anhand der statistischen Kette konnte aufgezeigt werden, dass sich durch die zeitliche und räumliche Trennung der Quantifizierungs-, Mess- und Verarbeitungsprozesse eine Verschiebung in mehreren Dimensionen ereignet. In einer Machtdimension verlieren Professionen, wie Gesundheitsfachpersonen, aber auch Individuen an Deutungs- und Beurteilungskompetenz. Durch die unsichtbare Einführung der Messkategorien und die Transformation der ursprünglichen Pluralität von Konventionen in Konventionen ohne semantischen Gehalt ist eine Kritik oder Rechtfertigung der gemessenen Gesundheitsparameter nicht mehr möglich. Durch die Stellvertreterdiskussionen über eine Allianz-Konvention mit semantischem Gehalt bleibt diese folgenreiche Leerstelle aber größtenteils unsichtbar. Dadurch erhalten insbesondere Akteure aus der Technologie-Branche mehr Macht. Damit verbunden sind dann auch neue Formen der Wissensgenerierung, die verstärkt auf Korrelationen, Vorhersagen und Wahrscheinlichkeiten basieren, anstatt auf kausalen Erklärungen und Erfahrungswissen. Weiter zeigt auch die Ausstattung der Form, dass sie sich in einer politischen Ökonomie der Gesundheit insbesondere in den Situationen etablieren kann, die durch eine industrielle und marktliche Konvention bereits vorstrukturiert sind. Die Forschungen von Batifoulier et al. (
2011,
2013) und Da Silva (
2018) zeigen diese vorhandenen Strukturierungen im Gesundheitssystem bereits eindrücklich auf. Die statistische Kette macht aber auch deutlich, dass sich die Einführung von neuen Gesundheitskategorien und die folgende Messung in ganz unterschiedlichen Situationen vollziehen, die sich in ihrer Art der Allgemeinheit und Privatheit stark unterscheiden können. Eng verknüpft mit diesem Punkt sind dann auch Problematisierungen und Erfolge, die mit der Quantifizierung von Gesundheit verbunden sind. Die Erhebung der Gesundheitsdaten findet größtenteils in Alltagssituationen statt, die sich sowohl in einem privaten als auch in einem öffentlichen Umfeld ereignen können. Im nächsten Schritt soll daher näher darauf eingegangen werden, wie die Akteure mit ihrer Alltagsrealität umgehen und wie sie dabei die neu eingeführte Form der digitalen Alltagsgesundheit handhaben.