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2020 | OriginalPaper | Buchkapitel

Kapitel 9: Inkorporationsfunktion

verfasst von : Andrej Lang

Erschienen in: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Dass Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung eine Inkorporationsfunktion erfüllen, also dass sie rechtsordnungsfremdes Recht in die eigene Rechtsordnung inkorporieren und ihm damit zu seiner Wirksamkeit verhelfen, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn in dem pluralistisch-heterarchischen Arrangement der vernetzten Weltordnung, in dem jede Rechtsordnung ihr Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen grundsätzlich nach eigenen Kriterien, nach dem rechtsordnungseigenen „internal point of view“ gestaltet, bestimmen die Institutionen jeder Rechtsordnung grundsätzlich selbst, ob und inwieweit sie rechtsordnungsfremdes Recht in die eigene Rechtsordnung einbeziehen und die Entscheidungen rechtsordnungsfremder Institutionen berücksichtigen. Oder klassischer formuliert: Staaten entscheiden selbst darüber, ob sie völker- und europarechtliche Verträge abschließen, ob sie diese Verträge ratifizieren und welche Stellung sie diesen Verträgen und dem auf der Grundlage dieser Verträge erzeugten Recht in der eigenen Rechtsordnung einräumen. Und genauso bestimmen inter- und supranationale Institutionen, inwieweit sie Prinzipien und Normen aus anderen inter- oder supranationalen Rechtsordnungen oder aus mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen inkorporieren.

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Fußnoten
1
Der hier verwendete Begriff der Inkorporation ist bekannt aus der deutschen Völker- und Verfassungsrechtswissenschaft, wo er für eine – mit anderen konkurrierende – Lehre zur Beschreibung der Umsetzung des Völkerrechts in die nationale Rechtsordnung steht. Er ist alternativen Begriffs- und Erklärungsansätzen wie Transformation oder Vollzug vorzuziehen, weil die Inkorporationslehre einerseits verdeutlicht, dass die nationale Rechtsordnung nach eigenen rechtsordnungsspezifischen Kriterien entscheidet, ob und inwiefern inter- und supranationales Recht zu ihrem Bestandteil werden, andererseits aber der distinktive inter- bzw. supranationale Charakter des inkorporierten Rechts erhalten bleibt. Das entspricht der zu beobachtenden Rechtsprechungspraxis in der vernetzten Weltordnung, nach der nationale Verfassungsgerichte einerseits den Anspruch erheben, das Verhältnis des nationalen Rechts zum inter- und supranationalen Recht einseitig nach eigenen Kriterien, auf den konstitutionalistischen Grundlagen ihrer eigenen Rechtsordnung zu gestalten, andererseits aber den besonderen Charakter des inter- und supranationalen Rechts beachten. Nach der dem klassischen Dualismus zugeneigten Transformationslehre dagegen wird das inter- und supranationale Recht in eine Norm des nationalen Rechts transformiert und verliert ihren inter- bzw. supranationalen Charakter. Bei konsequenter Umsetzung dieser Prämisse müsste daraus folgen, dass Gerichte bei der Auslegung weder berücksichtigen müssten, dass es sich um den Rechtsakt einer inter- und supranationalen Rechtsordnung handelt noch, im Fall der Aufhebung der völkerrechtlichen Bestimmung, dass dieser nicht mehr existiert. Das ist bei der Vollzugslehre zwar anders, Begriffe wie Vollzug oder Implementierung suggerieren jedoch, dass inter- und supranationales Recht durch die nationale Rechtsordnung – wie im hierarchisierten Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Verwaltung – nur nachvollzogen wird und bringen damit die autonome Entscheidung der rechtsordnungseigenen Institutionen über das „Ob“ der Inkorporation des rechtsordnungsfremden Rechts nicht hinreichend zum Ausdruck. Siehe für einen Überblick: Philip Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in: Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl., 2013, 61 (80 f.).
 
2
Oben Erster Teil, Kap. 4, A., I., 1.
 
3
Siehe zum Meta-Prinzip der holistischen Reflexion oben Erster Teil, Kap. 8, C., I.
 
4
Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 174.
 
5
Mit diesen Beispielen: Jan Klabbers, ebd.
 
6
Diese Angewiesenheit spiegelt sich in den – im Gründungsvertrag niedergelegten – mitgliedstaatlichen Kooperationsverpflichtungen wieder: Nach Art. 2 Abs. 2 UN-Charta erfüllen alle Mitglieder nach Treu und Glauben die Verpflichtungen, die sie mit dieser Charta übernehmen. Nach Art. 4 Abs. 3 Satz 2 und 3 EUV ergreifen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben und unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe. Darauf verweist Jan Klabbers, ebd.
 
7
Zum Zusammenhang zwischen Normbefolgung und Verrechtlichung: Kenneth Abbott/Duncan Snidal, Hard and Soft Law in International Governance, IO 54 (2000), 421 ff. Zu diesem Aspekt im Kontext des internationalen Finanzrechts: Beth Simmons, The Legalization of International Monetary Affairs, IO 54 (2000), 573 ff.
 
8
Siehe exemplarisch den Grundsatz des pacta sunt servanda in Art. 26 WVRK.
 
9
Zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen: Oben Erster Teil, Kap. 2, D., I. Zu einigen Vorzügen der Verrechtlichung: Judith Goldstein/Miles Kahler/Robert Keohane/Anne-Marie Slaughter, Introduction: Legalization and World Politics, IO 54 (2000), 385 (396 ff.); Miles Kahler, Conclusion: The Causes and Consequences of Legalization, IO 54 (2000), 661 (672 ff.).
 
10
Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (910); vgl. auch H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1994 (1961), 213 ff.
 
11
Der Begriff der Inkorporation ist weiter als der Begriff der unmittelbaren Wirkung, denn nicht auf jeden Rechtssatz, der in eine nationale Rechtsordnung inkorporiert wird, kann sich der Einzelne in einem Gerichtsprozess berufen.
 
12
Philip Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in: Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl., 2013, 61 (126).
 
13
Darüber hinaus sind Gerichte nicht daran gehindert, nicht ratifiziertes Völkerrecht, einschließlich des Völkergewohnheitsrechts und der Entscheidungen inter- und supranationaler Gerichte und Spruchkörper, in ihren Urteilen zu berücksichtigen, wodurch dieses auch für die nationale Rechtsordnung relevant wird. Ebd., 128.
 
14
Vgl. Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (910 f.).
 
15
In bestimmten Fällen zieht es der Verfassungsgeber sogar vor, die wesentlichen Grundzüge der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte im Wesentlichen durch die Verabschiedung neuer Rangvorschriften zu kodifizieren, anstatt einen genuin eigenen Regelungsrahmen zu entwickeln. Ein Beispiel ist Art. 23 GG, der das auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 GG entwickelte Verständnis des Bundesverfassungsgerichts zu der Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen der Europäischen Integration weitgehend übernommen hat. Vgl. Rüdiger Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, 417 (423). Dadurch bringt sich der Verfassungsgeber natürlich wieder ins Spiel und gewinnt vermehrt Einfluss. Die Vorstellung, dass der Verfassungsgeber dem Verfassungsgericht das Verhältnis des nationalen zum inter- und supranationalen Recht weit überwiegend normativ oktroyiert, ist jedoch verfehlt.
 
16
Die „Integration Through Law“-Bewegung, die sich umfassend mit den vielfältigen Facetten der Rolle des Rechts und der Rechtsinstitutionen im europäischen Integrationsprozess beschäftigte, hat überzeugende Erklärungsansätze dafür entwickelt, warum gerade unterinstanzliche Gerichte die Inkorporation des europäischen Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung vorangetrieben haben. Nach Karen Alters These vom zwischengerichtlichen Wettbewerb etwa liegt das spezifische Interesse unterinstanzlicher Gerichte darin, im bürokratischen Kampf zwischen den verschiedenen judikativen Instanzen missliebige Auffassungen überinstanzlicher Gerichte infrage zu stellen. Siehe Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001; dies., Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence, in: Anne-Marie Slaughter/Alec Stone-Sweet/J.H.H. Weiler (Hrsg.), The European Courts and National Courts, 1998, 225 ff. Dagegen haben sich nationale Verfassungsgerichte wie das Bundesverfassungsgericht diesem Inkorporationsprozess nicht mit derselben Entschlossenheit verschrieben, um ihre eigene Entscheidungsprärogative vor dem EuGH zu bewahren. Allerdings haben nationale Verfassungsgerichte umgekehrt auch eine Vielzahl unterinstanzlicher Gerichtsentscheidungen aufgehoben, die die Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts verweigert haben. Mit einer rechtsvergleichenden Analyse zur verfassungsrechtlichen Absicherung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht: Alexander Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013.
 
17
Vgl. unten Dritter Teil, Kap. 12, A.
 
18
Vgl. unten Dritter Teil, Kap. 13.
 
19
Siehe hierzu grundlegend Alexander Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl., 1986.
 
20
Eingehender: Andrej Lang, Wider die Metapher vom letzten Wort: Verfassungsgerichte als Wegweiser, in: Dominik Elser u.a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, 15 (23 ff.).
 
21
Mattias Kumm, International Law in National Courts: The International Rule of Law and the Limits of the Internationalist Model, Va. J. Int’l L. 44 (2003), 19 (22 f.).
 
22
Näher zum Begriff: Andrej Lang, Wider die Metapher vom letzten Wort: Verfassungsgerichte als Wegweiser, in: Dominik Elser u.a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, 15 (23 ff.). Nach Kumm liegt die Rolle nationaler Verfassungsgerichte im internationalen Kontext primär „in placing a thumb on the scales in favor of the international rule of law“. Mattias Kumm, International Law in National Courts: The International Rule of Law and the Limits of the Internationalist Model, Va. J. Int’l L. 44 (2003), 19 (24).
 
23
Dazu im Einzelnen unten Dritter Teil, Kap. 14, A., II., 1., a.
 
24
Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 31.01.2012, Pl. ÚS 5/12 – Holubec. Siehe dazu unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., c.
 
25
Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 06.12.2016, Nr. 15/2014 – Ajos A/S v. Boet efter A. Hierzu unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., b., bb.
 
26
Vgl. Art. 216 Abs. 2, 351 Abs. 1 AEUV.
 
27
Die unmittelbare Wirkung des WTO-Rechts verneint der EuGH hinsichtlich des alten GATT, siehe EuGH, Urt. v. 05.10.1994, Rs. C-280/93 – Deutschland v. Rat („Bananenmarktordnung“), ECLI:EU:C:1994:367, Rn. 103 ff., und hinsichtlich des neuen WTO-Rechts: EuGH, Urt. v. 23.11.1999, Rs. C-149/96 – Portugal v. Rat, ECLI:EU:C:1999:574, Rn. 34 ff.
 
28
Dazu im Einzelnen unten Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 2., a., aa.
 
Metadaten
Titel
Kapitel 9: Inkorporationsfunktion
verfasst von
Andrej Lang
Copyright-Jahr
2020
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_9

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