4.1 Große technologische Eingriffstiefe – geringe sektorale Adaptionsfähigkeit: krisenhafter und unkontrollierter sektoraler Wandel
Der hier skizzierte soziotechnische Umbruch der Musikindustrie, der noch nicht abgeschlossen ist, wird maßgeblich von einem neuen Set extern entstandener Technologien geprägt. Die Digitalisierung des zentralen Produkts allein hatte bis etwa Mitte der 1990er Jahre noch stabilisierend auf die etablierten Produktions-, Distributions- und Verwertungsbedingungen des Sektors gewirkt und die Markt- und Kontrollmacht der Majors eher gestärkt als geschwächt. Erst die Verknüpfung der technisch nicht geschützten Digitalisierung mit offenen Standards der Datenkomprimierung und dem Aufschwung des Internet konnte ab Ende der 1990er Jahre jene einschneidenden Wirkungen entfalten, die die sozioökonomischen Koordinaten des Sektors seither sukzessive verschieben.
Diese Kombination komplementärer Technologien hat nicht nur die technologische Basis des Sektors verändert. Musik ist nun nicht mehr an physische Tonträger gebunden (und darüber kontrolliert herstell- und distribuierbar), sondern als digitaler Datensatz verfügbar, der sich beliebig und ohne Qualitätsverlust vervielfältigen, über das Internet verbreiten und am Computer verwalten lässt. Sie hat darüber hinaus signifikante institutionelle Veränderungen und sozioökonomische Struktureffekte angestoßen.
Dies betrifft erstens die rechtlichen Grundlagen des Musikgeschäfts. Digitalisierung, Datenkomprimierung und das Internet lassen sich über den auf das physische Tonträgergeschäft zugeschnittenen Rechts- und Verwertungsrahmen nicht mehr funktional abbilden, sondern erfordern eine grundsätzliche Neugestaltung der institutionalisierten Beziehungen zwischen Musikfirmen und Künstlern, zwischen Lizenzgebern und -nehmern sowie zwischen Rechteinhabern und Konsumenten und haben eine substanzielle Novellierung der Urheber-, Schutz- und Verwertungsrechte ausgelöst.
Zweitens haben die neuen Technologien gravierende Verschiebungen in den Produktions-, Distributions- und Marktstrukturen mit sich gebracht. Die Produktion von Musik ist nicht mehr an klassische Tonstudios gebunden, sondern lässt sich autonom und dezentral durch die Künstler selbst herstellen. Ihr Verkauf erfolgt nicht mehr ausschließlich über die von den Majors kontrollierten globalen Vertriebssysteme und den eng mit ihnen verbundenen stationären Handel, sondern in zunehmendem Maße über neue digitale Online-Stores. Der Musikmarkt selbst verschiebt sich mit wachsender Geschwindigkeit von physischen Tonträgern zu digitalen Musikdateien – und damit vom Verkauf umsatzträchtiger Alben zu Einzeltiteln bzw. vom Kauf zum Musikabonnement – und erfordert die Entwicklung neuer Geschäfts- und Erlösmodelle, die deutlich über das reine Geschäft mit Musiktiteln hinausgehen.
Der technologische Umbruch hat drittens schließlich substanzielle Veränderungen in den Akteurfigurationen und Machtbeziehungen des Sektors mit sich gebracht, die deutlich über die für die vergangenen Jahrzehnte typischen, von den Majors getragenen Fusions- und Akquisitionsdynamiken und die damit verbundenen Konzentrationsprozesse hinausgehen. Kopierschutzfreie digitale Musik und allgemein verfügbare Datenkomprimierungsstandards haben zahlreichen Internetbörsen, die an den nichtkommerziellen Rändern des Sektors entstehen konnten, und den individuellen Musikkonsumenten zumindest temporär das Fenster für den kostenlosen Tausch von Musik über das Internet geöffnet. Kommerzielle Anbieter digitaler Musik, die von bereits etablierten branchenexternen Akteuren aus der Computer- und kommunikationstechnischen Industrie dominiert werden, konnten sich auch aufgrund ihrer überlegenen technischen und organisatorischen Kompetenz sowohl gegenüber dem stationären Handel wie auch gegenüber den digitalen Vertriebsambitionen der Majors als mächtige neue Akteure im Sektor etablieren. Erfolgreiche Musiker und Gruppen nutzen in zunehmendem Maße die neuen technischen Möglichkeiten, um ihre Musikproduktion und Gesamtvermarktung selbst zu organisieren, und beziehen die Musikfirmen immer öfter nur noch punktuell und fallweise als Dienstleister ein. All dies hat die etablierten Akteure des Sektors, vor allem die Majors, unter einen beträchtlichen Anpassungs- und Restrukturierungsdruck gesetzt. Nach dem begrenzten Erfolg rechtlicher sowie dem Scheitern technikbasierter Containment-Strategien und ihren erfolglosen Versuchen, selbst in den digitalen Vertrieb einzusteigen und diesen zu kontrollieren, bleibt ihnen nur noch die schwierige Suche nach neuen Geschäfts- und Erlösmodellen, um sich auch im digitalen Geschäft als weiterhin relevante Akteure zu positionieren.
Insgesamt ist mit den beschriebenen technologischen Umbrüchen das lange Zeit funktionierende Zusammenspiel zwischen Technik, Strukturen, Institutionen und Geschäftsmodellen in der Musikindustrie aus den Fugen geraten und eine Phase der experimentierenden Suche nach und interessegeleiteten Auseinandersetzung um eine neue soziotechnische Strukturation des Sektors eingeleitet worden, die zu den veränderten technischen Konstellationen passt. Ich habe dies zu Beginn des Aufsatzes als große
sektorale Eingriffstiefe neuer Technologien bezeichnet, die einen signifikanten Anpassungs- und Veränderungsdruck auf die vorhandene Strukturation des Sektors ausgeübt, die saturierten Akteure zu weitreichenden Revisionen ihrer Handlungsorientierungen gedrängt und zugleich Spielräume für die Etablierung neuer Akteure geschaffen haben (Dolata
2008a).
Wie eine solche Phase maßgeblich durch neue Technologien angestoßenen sektoralen Wandels verläuft und welche konkreten strukturellen, institutionellen und organisationalen Veränderungen, Macht- und Einflussverschiebungen sie mit sich bringt, ist freilich nicht deterministisch aus den Eigenheiten der Technologien selbst herleitbar, sondern hängt davon ab, wie die beteiligten Akteure mit diesen Herausforderungen umgehen und in welchem Maße die Bedingungen, unter denen sie agieren, ihnen Spiel- und Suchräume für außergewöhnliches Handeln jenseits eingefahrener Leitorientierungen, Regeln, Routinen und Zwänge ermöglichen. Ich habe dies eingangs als
sektorale Adaptionsfähigkeit bezeichnet und meine damit sowohl die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der den Sektor prägenden Strukturen und Institutionen gegenüber neuen technologischen Möglichkeiten als auch die strategische Antizipations- und Restrukturierungsfähigkeit seiner dominanten Akteure (ebd.; ähnlich auch Smith/Stirling/Berkhout
2005).
Typisch für den Kern der Musikindustrie ist über den gesamten betrachteten Zeitraum eine bemerkenswert geringe Adaptionsfähigkeit. Die Majors und die industriellen Interessenverbände, die den Sektor lange Zeit nahezu lückenlos kontrollieren und gestalten konnten, haben die potenzielle Sprengkraft der neuen Technologien zunächst unterschätzt und dann vornehmlich als zu bekämpfende Gefahr wahrgenommen. Sie haben mit Blockadehaltungen und restriktiven Anpassungsstrategien reagiert, die darauf zielten, die erfolgreichen Strukturen, Spielregeln und Geschäftsmodelle der Vergangenheit zu verteidigen. Sie haben erst vor dem Hintergrund eines massiven und unabweisbaren Restrukturierungsdrucks damit begonnen, sich in größerem Umfang strategisch zu repositionieren und sich auf neue Spielregeln einzulassen – und dies in zum Teil sehr widersprüchlicher Weise und mit schnell wechselnden Ansatzpunkten. Das hat zu einem beträchtlichen Kontroll- und Gestaltungsverlust der etablierten Akteure geführt: Der sektorale Wandel der Musikindustrie vollzieht sich nicht als von ihnen getragener und durch sie kanalisierter Prozess einer kontrollierten Restrukturierung, sondern in Form krisenhafter Neujustierungen, die maßgeblich von neuen, von den Rändern beziehungsweise außerhalb des Sektors ausgehenden Dynamiken und Akteuren geprägt werden (Geels/Schot
2007).
Über die Ursachen für die geringe Adaptionsfähigkeit der Musikindustrie und ihrer etablierten Akteure ist bislang wenig bekannt. Zwar wird allenthalben konstatiert, „dass die Musikindustrie von den rasanten technischen Veränderungen vollkommen überrascht wurde und die dadurch veränderten Marktgegebenheiten unterschätzt hat“ (Friedrichsen et al.
2004: 7; Bishop
2005; Barfe
2004; Renner
2004). Warum sie sich hat überraschen lassen und weshalb sie sich nach dem initialen Schock nicht konsequent neu positioniert hat, wird allerdings kaum thematisiert. Der Großteil der vorhandenen Literatur beschränkt sich darauf, den Musikkonzernen eklatantes Managementversagen und strategisches Fehlverhalten vorzuwerfen – und suggeriert zugleich, dass die Majors sich problemlos auch anders hätten verhalten können und die Dinge dann auch anders gelaufen wären.
Warum also hat sich die Musikindustrie mit der Internetherausforderung so schwer getan, die Dimensionen des Umbruchs unterschätzt und deren Wirkungen einzudämmen versucht, anstatt die Herausforderung frühzeitig anzunehmen und sich schnell und umfassend neu zu positionieren? Und wie verlaufen unter derartigen Bedingungen des Kontrollverlusts der zentralen Akteure Prozesse sektoralen Wandels? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, neben den organisationalen Eigenheiten der Majors, die eine konsequente Neuorientierung behindert haben, auch die strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen, die ihre Wahrnehmungen geprägt und an denen sie ihre Handlungen orientiert haben, in den Blick zu nehmen. Dementsprechend wird zur Erklärung der geringen Adaptionsfähigkeit der Musikindustrie und des davon stark geprägten sektoralen Transformationsverlaufs im Folgenden auf verschiedene theoretisch-konzeptionelle Ansätze zurückgegriffen:
-
auf die Arbeiten zum Organisationswandel und vor allem zum organisationalen Scheitern, die sich eingehend mit der Frage des kognitiven und strukturellen Beharrungsvermögens saturierter Akteure befasst haben (Mellahi/Wilkinson
2004; Sorge/Witteloostuijn
2004; Amburgey/Kelly/Barnett
1993; Hannan/Freeman
1984);
-
auf die Diskussionen um sozioökonomische beziehungsweise institutionelle Pfadabhängigkeiten und um Ansatzpunkte für Pfadwechsel, die das Zusammenspiel von Stabilitätsneigung, Strukturpersistenz und krisenhafter Transformation thematisieren (Beyer
2006; Werle
2007; Garud/Karnoe
2001) sowie
-
auf neuere Überlegungen zum strukturellen und institutionellen Wandel, die diesen Prozess als Kumulation gradueller Transformationen mit substanziellen Wirkungen konzeptualisieren (Thelen
2003; Streeck/Thelen
2005; Campbell
2004).
4.2 Adaptions(un)fähigkeit: strukturelle, institutionelle und organisationale Zugänge
Die Musikindustrie ist kein Sektor, in dem neue Technologien entwickelt und produziert werden. Alle maßgeblichen Technologien der Aufnahme, Produktion, Speicherung und – in jüngster Zeit – der Distribution von Musik basieren auf sektorexternen Entwicklungen, die in sektorspezifischer Weise implementiert und genutzt werden. Hohe sektorale Adaptionsfähigkeit heißt in solchen Fällen: antizipative Wahrnehmung und Aufnahmebereitschaft auch für grundlegend neue technologische Entwicklungen, die sich außerhalb des Sektors anbahnen und (potenziell) relevant für den Sektor werden könnten. Die möglichen sozioökonomischen und institutionellen Effekte neuer Technologien früh verlässlich einzuschätzen und um sie herum schnell ein tragfähiges, institutionell abgesichertes neues Geschäftsfeld aufzubauen, ist allerdings schon per se ausgesprochen schwierig.
Die erste allgemeine Schwierigkeit lässt sich als
Antizipationsproblem bezeichnen. Ende der 1990er Jahre war zumindest den technologisch aufgeschlossenen Mitarbeitern der Musikunternehmen und Verbandsvertretern durchaus klar, dass das Internet für den Sektor zu einer größeren Herausforderung werden würde. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings überhaupt noch nicht klar, welche Dynamiken diese Entwicklung nehmen, welche konkreten kommerziellen (und nichtkommerziellen) Möglichkeiten sich herausschälen und welche spezifischen Geschäftsmodelle sich als tragfähig erweisen würden (exemplarisch Zombik
1998). Stattdessen gab es sehr unterschiedliche und konfligierende Entwicklungsprognosen, Versprechungen und Warnungen, deren Gehalt damals noch nicht zuverlässig einzuschätzen war. Eine solche Situation hoher Unsicherheit und Ambiguität konstituiert für etablierte Akteure ein schwer zu handhabendes Dilemma: So lange nicht klar ist, wohin die Reise gehen wird, sind größere strategische Neuorientierungen und Restrukturierungen, die mit einer Relativierung des bis dahin erfolgreichen Geschäfts einhergehen, äußerst riskant. Und wenn klar ist, wohin die Reise geht, ist die Gefahr groß, dass sich neue Akteure, die das Gewicht des etablierten Geschäfts nicht mitschleppen müssen, bereits auf dem Weg befinden und damit begonnen haben, nicht mehr hintergehbare Fakten zu schaffen (Garud/Nayyar
1994; Anderson/Tushman
2001; Sorge/Witteloostuijn
2004; Henderson
2006).
Die zweite allgemeine Schwierigkeit lässt sich als
Implementationsproblem bezeichnen und betrifft die konkrete Umsetzung größerer organisationaler und institutioneller Restrukturierungen. Nicht nur das Geschäft der Musikkonzerne, sondern natürlich auch die ihm zugrunde liegenden Rechts- und Verwertungsbeziehungen waren bis in die jüngste Vergangenheit auf physische Tonträger zugeschnitten (Hull
2004). Ohne deren substanzielle Anpassung an die digitale Produktion, Verwertung und Distribution lässt sich kein tragfähiges Online-Geschäft aufbauen und kommerziell nutzen. Darauf abzielende organisationale und institutionelle Neujustierungsprozesse sind allerdings alles andere als triviale Vorgänge (Campbell
2004,
2006). Organisationale Restrukturierungen konnten sich unter unsicheren Bedingungen nicht anders als über Formen des experimentellen Austestens neuer digitaler Vertriebs-, Geschäfts- und Erlösmodelle vollziehen. Und größere institutionelle Anpassungen können sich nur über komplexe, von divergenten Interessen durchsetzte Such-, Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse zwischen einer größeren Zahl relevanter Akteure – den Musikfirmen, Künstlern, Musikverlagen, Verwertungsgesellschaften, Technologiefirmen und digitalen Musikanbietern im Internet – herausbilden. Beides, sowohl die Auslotung der kommerziellen Möglichkeiten und Ansatzpunkte des Einstiegs in das digitale Geschäft mit Musik als auch die Suche nach einem neuen, dazu passenden Rechts- und Verwertungsrahmen, nimmt zwangsläufig Zeit in Anspruch und konnte mit den Dynamiken, die insbesondere der an keinerlei institutionelle Fesseln gebundene nichtkommerzielle Musiktausch im Netz seit Ende der 1990er Jahre entfaltet hatte, nicht mithalten.
Diese grundsätzlichen Probleme der Antizipation und Adaption neuer technologischer Möglichkeiten wurden durch
organisationale Charakteristika der Majors verstärkt, die typisch für etablierte Akteure sind und die insbesondere in der Forschung zum organisationalen Scheitern (
organizational failure) thematisiert worden sind (Mellahi/Wilkinson
2004). Die saturierten Kernunternehmen eines Sektors oder Feldes orientieren sich in ihrem Handeln in aller Regel stark an den bestehenden strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen – den vorhandenen Märkten und Konkurrenzstrukturen, Rechts- und Verwertungsrahmen –, die sie maßgeblich mitbestimmt haben und die die Basis ihres bisherigen Erfolgs bilden (Leblebici et al.
1991; North
1990). Sie zeichnen sich durch darauf zugeschnittene Operations- und Veränderungsroutinen aus, die ihr Handeln legitimieren und strukturieren und die sie durchaus auch in die Lage versetzen, auf graduelle Veränderungen mit Anpassungsleistungen zu reagieren, die den bestehenden strukturellen und institutionellen Rahmen nicht grundsätzlich infrage stellen (Hannan/Freeman
1984; Amburgey/Kelly/Barnett
1993). Dies desensibilisiert sie zugleich gegenüber radikalen Veränderungen ihrer Umweltbedingungen, die nicht in ihre kognitiven Wahrnehmungen, Geschäftspraktiken, Routinen und Prozeduren passen (Henderson
2006; Henderson/Clark
1990). Sie reagieren darauf typischerweise zunächst mit Unverständnis, dann mit Strategien zur Verteidigung des Status Quo und schließlich mit Versuchen, das Neue möglichst weitgehend in die bestehenden Strukturen, Institutionen und organisationalen Prozeduren zu integrieren.
Die Musikindustrie ist hierfür ein instruktives Beispiel. Ihre Kernunternehmen waren zunächst auch aufgrund ihrer hierarchischen und zentralistischen Struktur als Organisationen blind gegenüber der potenziellen Sprengkraft der neuen technologischen Möglichkeiten, versuchten dann, den Status Quo über die beschriebenen rechtlichen und technischen Containment-Strategien zu verteidigen und orientierten sich in ihren Bemühungen, das digitale Geschäft über eigene Distributionsangebote selbst zu organisieren, eng an ihren Erfahrungen mit physischen Tonträgern – und unterlagen dabei der Illusion, digitale Musik ähnlich schützen, vermarkten und vertreiben zu können wie CDs.
Darüber hinaus wurde die zögerliche Aufnahme und widersprüchliche Verarbeitung der neuen technologischen Möglichkeiten durch einen ausgeprägten
technologischen Konservatismus verstärkt, der den Kern der Musikindustrie traditionell prägt. Wichtige neue Technologien wie das Tonband, die Musikkassette oder die CD sind nicht nur auf Aktivitäten von externen Akteuren, insbesondere von Elektronikkonzernen zurückzuführen, sondern darüber hinaus von der Musikindustrie kollektiv zögerlich bis abwehrend aufgenommen worden. Selbst das große Marktpotenzial, das sich aus der Umstellung von Vinyl auf CDs ergab, ist dort zunächst eklatant unterschätzt und von der Sorge überlagert worden, das neue Medium könnte das damalige Kerngeschäft mit Schallplatten kannibalisieren und dessen Niedergang nicht kompensieren. Auch nach dem kommerziellen Durchbruch und Erfolg der CD als neuer Tonträgertechnologie sind die weiter reichenden Potenziale der Digitalisierung, insbesondere die Möglichkeiten der Herstellung und elektronischen Verbreitung nichtphysischer Musikprodukte, lange Zeit nicht erkannt worden. Die CD wurde stattdessen lediglich als digitaler Ersatz der Schallplatte mit höherer Speicherkapazität begriffen (Tschmuck
2006: 149 ff.). Diese abwehrende, bestenfalls zögerliche und in der Regel uninformierte Grundhaltung gegenüber technologischen Innovationen hat sich, wie die Rekonstruktion gezeigt hat, bis in die jüngste Vergangenheit fortgesetzt und gilt auch für die späte Wahrnehmung der Datenkomprimierungstechnologien und des Internet.
Der wesentliche Grund für diesen technologischen Konservatismus liegt darin, dass technologische Innovationen und der Kampf um Technologieführerschaft traditionell nicht im Zentrum der Konkurrenzauseinandersetzung in der Musikindustrie stehen. Die Musikfirmen konkurrieren in erster Linie über den Aufbau, die vertragliche Bindung und die Vermarktung von Künstlern und deren Repertoire miteinander. Technik wurde zwar immer als wichtige Infrastruktur und Voraussetzung des Musikgeschäfts begriffen, aber nicht als markt- und nachfragestrukturierende Größe oder als Ansatzpunkt zur Erzielung von Konkurrenzvorteilen – und stand dementsprechend nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit und Strategiebildung der Musikkonzerne. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – zu erwähnen ist vor allem Bertelsmann unter der Führung von Thomas Middelhoff, der seit 1995 für Bertelsmann im Aufsichtsrat von AOL saß und entsprechend sensibilisiert war –, gab es frühe Wahrnehmungen der potenziellen Tragweite der neuen technologischen Möglichkeiten zunächst nur an den entscheidungsirrelevanten Rändern der Konzerne, nicht dagegen in den strategisch relevanten Bereichen der Geschäftsführung, des Produktmanagements und des Vertriebs. Alles, was über die inkrementelle Weiterentwicklung der bestehenden technischen Basis des Musikgeschäfts hinausging, geriet damit systematisch aus dem Blickfeld der etablierten Akteure.
Schließlich haben auch die
allgemeinen Strukturmerkmale des Sektors Haltungen des Abwartens und Vorstellungen der konsequenzlosen Integration und unproblematischen Kontrolle neuer technologischer Möglichkeiten gestützt. Bis Ende der 1990er Jahre wurde der Sektor von einer Handvoll hierarchisch geführter und vertikal integrierter Konzerne geprägt, die die gesamte Wertschöpfungskette nahezu lückenlos kontrollieren konnten und in der Lage waren, andernorts entstandene künstlerische und technologische Innovationen vergleichsweise problemlos und ihren Interessen gemäß in die bestehenden Produktions-, Markt- und Verwertungsstrukturen zu integrieren. Neue Musikstile – Rock’n’Roll, Disco, Punk, HipHop, Heavy Metal – sind regelmäßig zunächst an den Rändern des Sektors entstanden und von unabhängigen Labels popularisiert worden, konnten allerdings über lukrative Vertragsabschlüsse mit kommerziell interessanten Künstlern oder die Akquisition von Independents immer wieder domestiziert und in das Geschäft der Majors integriert werden (Hull
2004). Die Musikkonzerne agierten in aller Regel nicht als
first mover, sondern als
second exploiter – und konnten sich dies aufgrund ihrer Produktions- und Marktmacht auch leisten.
Diese selbstgewisse, in den Markt- und Machtstrukturen des Sektors wurzelnde Kombination aus abwartenden Haltungen und nachholender Integrations- und Kontrollfähigkeit prägte auch den Umgang mit den sich seit Mitte der 1990er Jahre anbahnenden neuen technologischen Möglichkeiten und deren sozioökonomischen Potenzialen. Nach anfänglicher Ignoranz etablierte sich im Sektor die kollektive Vorstellung, sie über rechtliche und technische Restriktionen kontrollieren und ähnlich wie bei der Umstellung von Vinyl auf CD mit reaktiven Strategien und
protectionist designs (Utterback
1996) jederzeit in die bestehenden Strukturen des Musikgeschäfts einpassen zu können. Zudem gab es kein führendes Unternehmen, das mit einer von dieser kollektiven Grundhaltung abweichenden proaktiven Strategie die Initialzündung zum Wandel aus dem Kern des Sektors heraus anstoßen konnte und in der Lage gewesen wäre, neue Fakten zu schaffen, gegenüber denen sich die anderen nicht mehr hätten verschließen können. Der einzige Versuch des Ausscherens aus dieser Phalanx des Abwartens – das Engagement von Bertelsmann bei Napster – konnte von den Mitkonkurrenten schnell abgeblockt und wieder eingefangen werden.