3.1 Zur Selbstreflexivität marxistisch orientierter Theoriearbeit in der Krise
Die selbstkritische Reflexion der Probleme marxistischer Theoriearbeit ist gerade in gesellschaftlichen Krisen- und Transformationsprozessen und den daraus folgenden Schwierigkeiten, diese adäquat zu erfassen, notwendig, da in den marxistischen Debatten auf solche Tendenzen immer wieder mit Strategien der Dogmatisierung reagiert wurde. Die dogmatische Selbstimmunisierung ihrer wissenschaftlichen und theoretischen Annahmen verunmöglicht nicht nur die kritische Analyse gesellschaftlicher Transformationsprozesse, sondern lässt marxistische Vorstellungen der Gesellschaftsveränderung zu formelhaften Beschwörungen verkommen, sodass sie politisches Handeln immer weniger begründen können. Vor diesem Hintergrund lassen sich drei Vorbedingungen für die Erneuerung marxistischer Theoriearbeit identifizieren.
Erstens hatte schon Althusser festgestellt, dass die Krise marxistisch orientierter Theoriebildung nicht damit beantwortet werden kann, eine als ursprünglich angenommene „Reinheit“ und „Vollständigkeit“ der Theorie (Althusser
1978, S. 62) wieder freizulegen, die durch bestimmte Theorie- und Praxisformen deformiert und verzerrt worden sei.
Zweitens ist davon auszugehen, dass sich die marxistisch orientierte theoretische und wissenschaftliche Praxis im Konflikt und Widerstreit – also im „Handgemenge“ (Marx
1961b) – entwickelt, und zwar eben weil sie unabgeschlossen und unvollständig ist. Der theoretische Streit ist eine Bewegungsform der Gesellschaftskritik.
Drittens muss die Erneuerung kritischer Gesellschaftstheorie(n) von den „Schwierigkeiten, Widersprüchen und Lücken“ (Althusser
1978, S. 62) ihrer theoretischen und wissenschaftlichen Grundlagen ausgehen. Dabei geht es nicht darum, marxistisch orientierte Wissenschaft asymptotisch an eine vollständigere Analyse und Kritik kapitalistischer Gesellschaftsformationen heranzuführen. Vielmehr sind die „Schwierigkeiten, Widersprüche und Lücken“ stets aufs Neue und in Auseinandersetzung mit den Veränderungen der jeweiligen Gesellschaftsformationen zu identifizieren und zu analysieren.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist daher zu betonen, dass jede neue Lektüre des marxistischen Theoriekorpus sich in ihrer historischen (und geographischen) Situiertheit reflektieren muss. Spezifische Lese- und Reformulierungsstrategien werden nämlich immer auch in Auseinandersetzung mit konkreten gesellschaftlichen Problemstellungen und vor dem Hintergrund zeitgenössischer Debatten erarbeitet und können nicht als Wiederentdeckung der Theorie in reiner Form verstanden werden. Die Krise marxistischer Theoriearbeit mit der Rekonstruktion eines angenommenen eigentlichen und ursprünglichen Gehalts des marxschen Denkens zu beantworten, läuft daher Gefahr, ein autoritäres Theorieverhältnis zu konstituieren, in dem im wahrsten Sinn des Wortes (neue) Gralshüter der reinen Lehre über die Art und Weise der Aneignung und Anwendung der Theorie sich zu urteilen berufen fühlen und so kritische Auseinandersetzungen verunmöglichen.
Eine zentrale Antwort auf diese Problemstellungen besteht in den an Marx orientierten Debatten daher darin, die historisch (und regional) spezifische Formierung marxistischer Ansätze und darauf Bezug nehmender transformativer Praxen in ihrer Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit konstitutiv in die Theoriearbeit einzubeziehen (Laclau und Mouffe
1991; Jessop
1990). Gerade weil marxistische Theoriearbeit auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse bezogen ist, können ihre konkreten Formulierungsversuche und Analysen nicht beanspruchen, die Totalität der Gesellschaft vollständig zu erfassen. Vielmehr stellt die Pluralität möglicher Perspektiven ein konstitutives Merkmal marxistisch orientierter Theoriearbeit dar. Es ist daher notwendig, diese nicht durch ihre theoretische Abschließung zu verengen (siehe dazu auch: Laclau und Mouffe
1991), sondern sie offen und mit anderen Ansätzen und Erkenntnissen artikulierbar zu halten.
Diese Bestimmungen haben auch Konsequenzen für das marxistisch orientierte Verständnis gesellschaftsverändernder Praxisformen und der sie erkämpfenden Subjekte. Diese können nämlich nicht mehr exklusiv auf bestimmte AkteurInnen (
das Proletariat), Organisationsformen (
die Partei) oder Strategien (
die Revolution) reduziert werden. Vielmehr eröffnet sich die Perspektive auf eine Vielzahl von gesellschaftsverändernden Praxisformen, sozialen Bewegungen und Subjekten (Hirsch
1990; Laclau und Mouffe
1991; Hardt und Negri
2000,
2004; Demirović
2011) (s. unten).
3.2 Marxistische Theoriearbeit als Analyse „vieler Bestimmungen“
Die traditionell vorherrschende Kritikstrategie vieler marxistisch orientierter Ansätze beruhte darauf, die Totalität kapitalistischer Gesellschaftsformationen und deren Dynamik auf einen zentralen Widerspruch, wie etwa auf den Kampf zwischen den sozialen Klassen (ArbeiterInnenklasse vs. Bourgeoisie) oder auf die angenommenen Auswirkungen der Warenform oder des Wertgesetzes auf alle sozialen Bereiche zurückzuführen, um von da aus mögliche Transformationsperspektiven zu eröffnen. Auch wenn diese Verhältnisse und Dynamiken in kapitalistischen Gesellschaftsformationen von zentraler Bedeutung sind, liefen marxistische Ansätze dadurch immer wieder Gefahr, deren Relevanz zu vereinseitigen und gesellschaftliche Strukturen und Dynamiken auf
eine Dynamik,
eine Achse von Macht und Herrschaft, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt, zu reduzieren. Diese wurden dann zum Schlüssel einer grundlegenden und handlungsrelevanten Kritik gesellschaftlicher Totalität erklärt (Jessop
1990), während alle anderen gesellschaftlichen Prozesse als entweder kontingent und zufällig analysiert oder nur mit Blick auf ihre (Dys‑)Funktionalität für die grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse diskutiert wurden. Eine derartige Lesart marxistischer Theorie verdoppelte im wissenschaftlichen Feld die lukacsianische Problematik, wonach sich aus einer spezifischen Position in den Produktionsverhältnissen (bei Georg Lukacs eben derjenigen des Proletariats) die gesellschaftliche Totalität erschließe und dadurch der Schlüssel zur Transformation der Gesellschaft sichtbar würde. Die analytische Priorisierung einer spezifischen Widerspruchsdimension korrespondierte daher mit spezifischen Vorstellungen zu den sozialen AkteurInnen und Aktionsformen gesellschaftlicher Veränderung.
Diese Vorstellungen sind in den letzten Jahrzehnten durch eine Reihe von Entwicklungen massiv problematisiert worden, die m. E. wesentlich zur Krise marxistischer Theoriearbeit beigetragen haben. So kam es nach 1968 zu einer Vervielfältigung sozialer Bewegungen (Feminismus, antirassistische Bewegungen, Ökologiebewegung usw.) und der damit artikulierten sozialen Auseinandersetzungen und Problemlagen. Die Multiplikation der sozialen AkteurInnen korrespondierte auch mit einer Vervielfältigung der gesellschaftlichen Bereiche, die zum Medium und Feld sozialer Kämpfe wurden und nicht mehr nur die Fabrik bzw. Arbeitsverhältnisse oder die politische Organisierung in Parteien umfassten. Dabei wurden insbesondere die verschiedenen Bereiche der sozialen Reproduktion, wie etwa die geschlechtlichen Arbeitsteilungen im Familienhaushalt und in der Sorgearbeit (Aulenbacher und Dammayr
2014), aber auch die in den wohlfahrtsstaatlichen Apparaten organisierten Formen des „kollektiven Konsums“ zu einem Feld sozialer Kämpfe. Daher erfasste die „große“ (Boyer und Saillard
2002) oder „organische“ (Gramsci
1991) Krise der kapitalistischen Gesellschaftsformationen seit den 1970er-Jahren nicht nur die Akkumulationsprozesse und Produktionsverhältnisse bzw. deren (wohlfahrts-)staatliche Einbettung. Sie manifestierte sich vielmehr auch in unterschiedlichen, ungleichzeitigen und relativ autonomen Krisentendenzen in anderen sozialen Bereichen und Verhältnissen. Die Dominanz des Neoliberalismus kann daher nicht auf eine Ökonomisierung und Vermarktlichung aller Lebensbereiche reduziert werden.
In diesem Kontext ist es nämlich, wie oben bereits angedeutet, bemerkenswert, dass es insbesondere neoliberalen und neokonservativen Parteien und Bewegungen gelang, ihre politischen Projekte zur Wiederherstellung der Dynamiken kapitalistischer Akkumulationsprozesse mit Entwicklungen und Krisen in anderen gesellschaftlichen Bereichen (Migration, Veränderungen geschlechtlicher Arbeitsteilungen, Liberalisierung der Sexualität usw.), die sich nicht auf die Klassenstrukturen kapitalistischer Gesellschaftsformationen zurückführen lassen, zu verbinden, und so grundlegende Transformationen der kapitalistischen Gesellschaftsformationen in ihrer Gesamtheit voranzutreiben. Die skizzierte Vervielfältigung der sozialen Konfliktfelder und Krisen bzw. die daraus resultierenden Anforderungen an ihre kritische Analyse haben daher die endgültige Überwindung der skizzierten monistischen Lesarten der Dynamiken kapitalistischer Gesellschaftsformationen erforderlich gemacht. Dies bedeutet aber keinen Bruch mit, sondern erfordert vielmehr einen Rückgriff auf Marx. Dieser hatte nämlich in seinen (wenigen explizit) methodischen Überlegungen betont (
1961a,
1961c), dass die kritische Analyse von der Mannigfaltigkeit und Komplexität konkreter Gesellschaftsformationen, die eine „Zusammenfassung vieler Bestimmungen sind“ (Marx
1961a, S. 632), ausgehen müsse.
Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist. (Marx
1961a, S. 632)
Folgt man diesen Überlegungen, so kann die Analyse kapitalistischer Gesellschaftsformationen nicht einfach aus der Perspektive eines als zentral angenommenen Verhältnisses (des kapitalistischen Produktionsverhältnisses) entwickelt werden. Vielmehr müssen konkrete kapitalistische Gesellschaftsformationen als Verhältnis von Verhältnissen, die sich wechselseitig überformen, sodass deren Beziehungen zueinander von zentraler Bedeutung sind und ein Feld sozialer Auseinandersetzungen darstellen, verstanden werden.
Die Überwindung des theoretischen Monismus ist daher eine wesentliche Voraussetzung, um überhaupt darüber nachdenken zu können, wie die Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit anderen gesellschaftlichen Formen und Achsen der Ungleichheit, Ausbeutung und Herrschaft, wie etwa den Geschlechterverhältnissen, Rassismus oder Heteronormativität vermittelt werden kann (Klinger
2007).
Auch die Dynamik und Krisenhaftigkeit kapitalistischer Gesellschaftsformationen und deren Bewältigung können aus dieser Perspektive nicht mehr als Entfaltung und Zuspitzung eines zentralen Widerspruchs, einer dominanten Dynamik aufgefasst werden, sondern erscheinen vielmehr als das konkrete und komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher Entwicklungen und Prozesse und der damit verknüpften sozialen Kämpfe. Die vielfältigen Krisen und die Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaftsformationen stellen daher keinen linearen und teleologischen (also beispielsweise auf eine finale Krise zusteuernden) Entwicklungsprozess dar. Sie sind vielmehr Gegenstand mannigfacher sozialer Auseinandersetzungen und Konflikte, deren Ergebnisse kontingent und offen sind.
Diese Überlegungen werfen natürlich auch Probleme für das Verständnis sozialer Kämpfe und der darüber konstituierten sozialen AkteurInnen auf. Diese wurden aber m. E. bis heute nicht auf befriedigende Weise gelöst. Vielmehr haben die Debatten um den Aufschwung rechtspopulistischer Mobilisierungen und deren Anspruch, sich als Bewegungen der unteren Schichten zu präsentieren und der sozialen Frage gegen die behaupteten Anmutungen des Feminismus, Antirassismus usw. wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, die Frage nach den Verhältnissen zwischen den verschiedenen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen (z. B. Klassen‑, Geschlechter- und rassistische Verhältnisse), die kapitalistische Gesellschaftsformationen konstituieren, auf spezifische Weise aktualisiert.
Die marxistischen und gesellschaftskritischen Debatten der letzten Jahrzehnte waren daher von der Frage geprägt, die Vervielfältigung der Subjektivierungsweisen und die Multiplikation der sozialen Kämpfe und Bewegungen theoretisch ernst zu nehmen, um daraus adäquate Vorstellungen zur Erneuerung gesellschaftspolitischer Transformationsperspektiven zu gewinnen. Die Analyse der Neuen sozialen Bewegungen, die Untersuchung der vielfältigen sozialen Kämpfe der Multitude, die Artikulation verschiedener Antagonismen in ein hegemoniales Projekt radikaler Demokratie etc. stellen daher Versuche dar, die Vielfalt der Emanzipationsperspektiven und sozialen Kämpfe mit dem Anspruch einer grundlegenden Veränderung kapitalistischer Gesellschaftsformationen zu verbinden (Hardt und Negri
2004; Aulenbacher
2013; Laclau und Mouffe
1991; Demirović
2011).
3.3 Reproduktion durch Veränderung
Die Fähigkeit des Kapitalismus, sich permanent zu verändern und Krisen durch die Transformation der Produktionsverhältnisse sowie der damit artikulierten gesellschaftlichen Institutionen zu bearbeiten, hat die Widersprüchlichkeit des marxistischen Verständnisses der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise sichtbar gemacht. Einerseits hatten Marx und Engels bereits im kommunistischen Manifest die Dynamik des Kapitalismus auf eindrückliche Art und Weise dargestellt.
Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten […]. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. (Marx und Engels
1959, S. 465)
Und auch im „Kapital“ arbeitete Marx (
1972, S. 511) heraus, dass die permanente Revolutionierung der Produktivkräfte eine wesentliche Grundlage der erweiterten Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse darstellt. Diese habe weitreichende Folgen für die jeweiligen Gesellschaftsformationen, da dadurch alle „Ruhe, Festigkeit, Sicherheit der Lebenslage“ (ebd.) der ArbeiterInnen und ihrer Familien aufgehoben werde.
Andererseits legt die marxsche Konzeptualisierung der Reproduktion der (kapitalistischen) Produktionsverhältnisse auch ein Verständnis nahe, wonach sie und die sie konstituierenden Stellungen in
unveränderter Weise perpetuiert und gewissermaßen „unbegrenzt konserviert“ (Balibar
2015, S. 535) werden. Reproduktion erscheint als automatisch ablaufender Prozess ohne Subjekt (ebd., S. 538).
Der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrachtet, oder als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der anderen den Lohnarbeiter. (Marx
1972, S. 604)
Ob und inwieweit der „beständige[…] Fluß [ihrer] Erneuerung“ (ebd., S. 591), auf den Marx im „Kapital“ verwiesen hatte, auch die Produktionsverhältnisse und die sie konstituierenden Agenten selbst verändert, wurde in marxistischen Analysestrategien, die etwa auf die behauptete Vertiefung der gesellschaftlichen Widersprüche abzielten, daher nicht ausreichend problematisiert.
Eine Dynamisierung des Reproduktionskonzeptes, das Veränderung als Bewegungsform der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaftsformationen sichtbar machen kann, ermöglicht es aber erstens, ihre Veränderungs- und Krisendynamiken zu analysieren, ohne diese in ein teleologisches Modell gesellschaftlicher Entwicklungen einzubetten. Vielmehr eröffnet sich dadurch die Frage, warum kapitalistische Gesellschaftsformationen trotz (oder wegen) ihrer grundlegenden Widersprüchlichkeit (Hirsch
2005; Aglietta
2000 [1979]) historisch unterscheidbare Modalitäten ihrer Reproduktion durch Veränderung stabilisieren können und welche Institutionen, gesellschaftlichen Verhältnisse oder AkteurInnen (Lipietz
1992,
1998) in die Regulation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und Akkumulationsprozesse einbezogen oder in sozialen Kämpfen neu gebildet werden.
Die krisenhafte Ablösung des fordistischen Entwicklungsmodells und der Übergang zum Finanzmarktkapitalismus können daher als Ablösung einer historisch spezifischen Transformationsweise kapitalistischer Gesellschaftsformationen und der konflikthaften Durchsetzung neuer Modi gesellschaftlicher Reproduktion durch Veränderung aufgefasst werden. Aus diesem Grund haben die Innovations- und Anpassungsfähigkeit der kapitalistischen Ökonomie und die damit verbundenen Auseinandersetzungen um die an den Verwertungsprozessen orientierte Reorganisation des gesellschaftlichen Institutionengefüges seit zwei bis drei Jahrzehnten massiv an Bedeutung gewonnen. Die forcierte Innovationsdynamik kapitalistischer Ökonomien stellt sich aus marxistischer Perspektive als spezifische Bewegungsform ihrer Widersprüche dar, die dazu führen, dass die sozialen Verhältnisse, die ihre TrägerInnen eingehen, und die sie bestimmenden Positionen und Qualitäten mit permanenten Veränderungserfordernissen konfrontiert sind.
In diesem Kontext wird daher zweitens eine zentrale Verschiebung sichtbar, die darauf hindeutet, dass die gegenwärtigen Formen der Revolutionierung der Produktivkräfte auf eine Transformation der sogenannten relativen Mehrwertproduktion
6, wie sie Marx im „Kapital“ (
1972) analysiert hatte, hinauslaufen. Die marxistischen Debatten des zwanzigsten Jahrhunderts (exemplarisch: Braverman
1977) hatten die aus der relativen Mehrwertproduktion folgenden Entwicklungstendenzen kapitalistischer Lohnarbeit als voranschreitende Entwertung und Dequalifikation der Ware Arbeitskraft, die die Einhegung und Kontrolle der (authentischen) Subjektivität sicherstellen sollten, analysiert. Der Übergang zum „wissensbasierten“ (Jessop
2003) Kapitalismus in den Ländern des globalen Nordens hat dies aber auf grundlegende Art und Weise geändert. Nicht dass der Kapitalismus die Menschen daran hindert, ihre Anlagen und Fähigkeiten zu entwickeln, steht unter veränderten und sich verändernden Akkumulationsbedingungen im Zentrum, sondern dass sie gezwungen werden, diese im Sinne der ökonomischen Dynamik durch Lernen und andere Formen der Arbeit an ihrem Selbst permanent zu verändern und anzupassen. Die krisenhafte Transformation der Reproduktionsweise kapitalistischer Gesellschaftsformationen durch die permanente Revolutionierung der Produktivkräfte setzt die Subjekte und deren Arbeitsvermögen einem permanenten Veränderungsdruck aus. In diesen wird nicht zuletzt der Zugriff auf ihre Subjektivität zu einem zentralen Element der Krisenbearbeitung (Atzmüller
2015). Die Anpassungs‑, Veränderungs- und Lernfähigkeit des zum Humankapital transformierten Arbeitsvermögens werden zum Medium der Durchsetzung veränderter Formen der Krisenbearbeitung. Die marxistische Theoriebildung steht daher vor der Herausforderung, die veränderten Praxen gesellschaftlicher Subjektivierung im Kontext weitreichender Krisenprozesse und ihrer Bearbeitung zu konzeptualisieren, um die Veränderung der sozialen Widersprüche und Konfliktfelder zu identifizieren und existierende Konflikte auf ihren emanzipatorischen Gehalt hin untersuchen zu können. Die überkommenen Vorstellungen entfremdeter und entwerteter Subjektivität, die im marxistisch orientierten Verständnis aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen und den durch sie konstituierten Arbeitsprozessen resultieren, und ihre Befreiung durch eine revolutionäre Avantgarde greifen nicht mehr, da die Planung der eigenen Biographie und die Ausbildung, Entwicklung und Anpassung der Fähigkeiten zu Gestaltung und Steuerung der eigenen Subjektivität zur Anforderung und Zumutung für eine wachsende Zahl von Arbeitskräften geworden sind.