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2021 | Buch

Musik und Fuzzy Logic

Die Dialektik von Idee und Realisierungen im Werkprozess

verfasst von: Prof. Dr. Hanns-Werner Heister

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Über dieses Buch

Das Buch entfaltet die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Fuzzy Logic und Musik in einem ersten umfassenden Überblick. Es behandelt systematisch sowohl die in diesem Zusammenhang relevanten Aspekte der Fuzzy Logic als auch die der Musik. Im Werkprozess mit drei Hauptphasen und dreizehn Existenzformen des Kunstwerks, in den Musikarten Klassik, Jazz, Pop, Folklore, zeigen sich die vier Hauptprinzipien (mit fünf Phänotypen) der Fuzzy Logic in Bezug auf die Musik: Ähnlichkeit, Schärfung I als Filterung und Schärfung II als Kristallisation, Verwischung, Variation. Ein neues Konzept ist die Dialektik zwischen Schärfung und – bewusster – "Unschärfe" durch die Verwischung. Abschließend werden Aspekte der mehrdimensionalen Dialektik in historischer Dimension entwickelt, samt einem ‚Musical Turn‘ in den Wissenschaften und Überlegungen zu einer 'Philosophie der FL'. Das produktionsorientierte Denken der Fuzzy Logic und die Musik-Analyse befruchten sich wechselseitig.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung. Vier Prinzipien und fünf Erscheinungsformen der FL im Musikprozess
Zusammenfassung
In der Einleitung wird das Forschungsprogramm für das Buch sowohl von Seiten der FL her entworfen als auch von Seiten der Musik. Es zielt auf eine spezifisch musikbezogene Aneignung der FL. Mit Bezug auf L. Zadeh, auf Kategorien und Denkformen der FL und ihren ‚intra-interdisziplinären‘ Ansatz, auch im Zeichen des Paradox der „Precise fuzziness“, werden die vielen und vielfältigen Beziehungen zwischen Musikprozess, Kunstwerk und FL reflektiert. Das gilt für das Verhältnis von modaler, polyvalenter und musikalischer Logik. Aus dem Unschärfen- und Präzisierungs-Konzept der FL werden vier kunstspezifische Prinzipien entwickelt: Ähnlichkeit, Schärfung – als Filterung und Kristallisation –, Verwischung und Variation. Diese Prinzipien sind leitende Kategorieen und Analyse-Grundlagen für das Buch und werden im Laufe der Untersuchung systematisch und detailliert angewendet und ihrerseits fortlaufend konkretisiert.
Hanns-Werner Heister
2. Die Struktur des Musikprozesses und die dreizehn Existenzformen. Identität im und als Prozess, gegen und durch Differenzen
Zusammenfassung
Der Musikprozess ist eine übergreifende Ganzheit von der Motivation bis zur Wirkung. Hier analysiert werden die Metamorphosen, die das Werk durchläuft, von der ersten Idee über die Aufführungen bis zum Zitat des Werks. Dieser Prozess wird in seine dreizehn ‚Existenzformen‘ aufgegliedert: Konzeptions-, Skizzen-, Gedanken-, Antizipations-, Partitur-, Klang-, Wahrnehmungs-, Phonographie-, Erinnerungs-, Wort-, Bild-, Vorstellungs-, Zitatform. Musik- und Werk-Prozess sind ein simultan und sukzessiv aufgefächertes ‚gegliedertes Kontinuum‘: vertikal in fünf anthropologische Schichten zwischen Physik und Philosophie, und horizontal in verschiedene Sinnesbereichen mit der ‚Mimetischen Zeremonie‘ als Bündelung zu einem „Gesamtkunstwerk“. Das Werk entfaltet seine Identität in und durch Differenzen: Es wird eine Aufhebung als ‚prozessierende Identität‘. Damit sind grundlegende Kategorien bereitgestellt für die folgenden detaillierten Analysen derjenigen Facetten des Werks, die für FL relevant sind.
Hanns-Werner Heister
3. Prinzipielle Unschärfe. Die unvollkommene Vollkommenheit
Zusammenfassung
Das 3. Kapitel entfaltet den – für das gesamte Buch – zentralen Begriff der Unschärfe sowohl von der Seite der FL her als auch von Seiten der Kunst, insbesondere der Musik, und bildet damit eine Grundlage, auch für die Analysen in den folgenden Kapiteln vor. Im Gegensatz zu vermeidbarer „Vagheit“ sind graduelle Unschärfen nicht nur grundsätzlich unvermeidlich. Sie wirken in vielen Prozessen, sowohl bei der kompositorischen als auch bei der klanglichen Realisation der Werk-Idee produktiv und gestaltbildend, teils indirekt, teils auch gezielt eingesetzt. Mit Bezug auf die im Kap. 2 eingeführten ‚Existenzformen‘ wird sehr genau gezeigt, wie die Unschärfen sich in den Phasen des Musikprozesses und in verschiedenen Musikgattungen entfalten und welche Mechanismen wirken und eingesetzt werden, um sie für die musikalische Gestaltung zu beherrschen und produktiv zu machen, etwa ‚Leitmotiv‘, Transkription. Dabei wird auch auf Grenzerfahrungen von Unschärfe in diesen Prozessen aufmerksam gemacht, etwa Vergessen‚ falsche Erinnerungen‘, Vorurteile, Halluzinationen.
Hanns-Werner Heister
4. Das Prinzip Ähnlichkeit. Die Resultante aus Gleichheit und Andersheit
Zusammenfassung
Die Musik als Spiegelbild der Welt ist so wie und anders als diese: Sie ist ähnlich. Die Wirklichkeit wird in einem bestimmten Material dargestellt und so reproduziert, umgestaltet und in eine künstlerische Form gebracht. Wir müssen die Kluft zwischen Zeichen und Bezeichnetem beachten, wie zwischen dem Bereich der Materie und dem Bereich der Ideen – die Landkarte ist nicht das Territorium. Die Unschärfe ist die Lücke, der Unterschied zwischen dem Reflektierenden und dem Reflektierten. Kap. 4 verwendet die klassischen ästhetischen Begriffe Mimesis und Poiesis, um den künstlerischen Zugang zur Welt zu analysieren. Zu diesem Zweck wird das Arbeiten mit ikonischen und symbolischen Zeichen, mit Material – reale Klängen, Ready-mades, Zahlen, geometrische Elemente – und mit Intertextualität (Musik, Texte und Bilder) sowie die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Komponenten analysiert. Darauf aufbauend und unter erneuter Einbeziehung des B-A-C-H-Motivs diskutiere ich, wie sich Fuzzy Logic und Musikanalyse beim Erkennen der verschiedenen Phänomene und Ähnlichkeitsdimensionen im Kunstwerk ergänzen.
Hanns-Werner Heister
5. Das Prinzip Schärfung (I): Filterung. Kosmos aus Chaos
Zusammenfassung
‚Filterung‘ ist die Trennung von Wesentlichem und Sekundärem – je nach Kontext und Ziel. Es ist die basale Stufe der Schärfung im Bereich der Musik. Sie wird genutzt, um ‚natürliches‘ Material, insbesondere Töne, Klänge und Geräusche, auszuarbeiten und zu systematisieren. Diese dienen dann als musikalisches Material für die zweite Stufe, die „Kristallisation“ von Gestalten (siehe Kap. 6). Diese Filterungsprozesse wiederholen sich bereits im Bereich der Musik, wenn aus heterophonen Linien Akkorde herausgefiltert werden, oder wenn in der elektroakustischen Musik Töne aus Geräuschen oder Sinustönen gewonnen werden. Die automatisierte Filterung durch Soft Computing und FL-orientierte Verfahren ist eine Analyse von Ähnlichkeiten, bei Strukturen wie bei emotionalen Gehalten. Unser ‚Leitmotiv‘ BACH dient als Test bei einer Internetrecherche, die die Produktivität der Fuzzy Logic zeigt. Die Filterung als Hervorhebung wesentlicher Informationen mittels der phonographischen Form unterstützt die Neuschärfung des Gedächtnisses. Die kompositorische Verwendung des Teiltonspektrums wie in Wagners Rheingold-Präludium oder im „Spektralismus“ ist bereits ein Übergang zur Kristallisation.
Hanns-Werner Heister
6. Das Prinzip Schärfung (II): Kristallisation – Herausbildung und Weiterentwicklung von musikalischen Gestalten
Zusammenfassung
In den Kristallisationsprozessen wird das Material verwendet, das durch die
Filterung (Kap. 5) herausgearbeitet wurde. Die Idee des Werkes entwickelt sich zu einem immer reicheren, mehr und mehr
konkreten Gestalt in den verschiedenen Phasen des Werkprozesses (siehe ‚Die 13 Existenzformen‘)
Kap. 2, 4 und 5). Das musikalische Motiv, z. B. unser „Leitmotiv“ BACH, ist eine Keimzelle der Gestaltfindung, sowohl beim Komponieren als auch beim Improvisieren. Werkzeuge für die Produktion des Drehpunkts ‚Abstrakter Tonsatz‘ sind Partimento und Generalbass, dann ergänzt durch Verzierungen, Anweisungen für die Ausführung, Instrumentierung bis hin zur Partiturform. Unschärfen durch menschliche Interpretierende werden durch direkte Komposition der Klangform ohne Notation umgangen über Automatophone, „Musique concrète“ und „Elektronische Musik“. Auch die Wahrnehmung wird geschärft. Die Dialektik der Schärfung durch Verwirschung manifestiert sich in der Entwicklung der europäischen melodischen Mehrstimmigkeit bzw. Polyphonie einschließlich der Polytextualität, mit Fuzzy Logic als einer partiellen Logik der Kompositionsgeschichte (s.u. Kap. 9).
Hanns-Werner Heister
7. Das Prinzip Verwischung. Bewusste, künstlerisch hergestellte Unschärfen
Zusammenfassung
Verwischung ist das dritte (siehe Kap. 4, 5 und 6) der Prinzipien im Musikprozess, die im Kontext der Fuzzy-Logik relevant sind. Verwischung ist eine absichtliche Unschärfe und auf einer Metaebene ein Prozess der Schärfung des Kunstwerks zu einem „in sich vollendeten Ganzen“ (K. Ph. Moritz). Die Verwischung ist aber auch ein Ergebnis eigenen Rechts und als solche ästhetisch relevant. Beide Seiten zeigen sich in den verschiedenen Existenzformen zwischen
Konzeptionsform und Wahrnehmungsform. Verwischung bedeutet auch: Lärm als neu-altes musikalisches Material seit dem Futurismus; „Unbestimmtheit“ z. B. durch Notation in „Musikalischer Graphik“, mimetisch-optische „Luftgitarre“ oder „Konzeptkunst“. Bewusst „unscharf“ und Ergänzungen des Werkes sind Ornamente, z. B. – teilweise semantisch gemeinte -Koloraturen, oder Effekte wie Glissando, Vibrato, ‚opake‘ Polyphonie, und Heterophonie. Tempo rubato oder Offbeat im Jazz bringen belebende Unschärfen. Verwischungen sind schließlich die elektroakustisch simulierte Lebendigkeit mit verschiedenen „Humanizers“ sowie unabsichtliches oder absichtliches Missverstehen.
Hanns-Werner Heister
8. Das Prinzip Variation. Ähnlichkeiten, Unterschiede, Entwicklungen
Zusammenfassung
Variation ist ein universelles Prinzip nicht nur in der Musik. Im Lichte der FL ist es eine Verflechtung von Verwischung und Schärfung. Es geht hierbei um eine allmähliche Veränderung eines Gegebenen (siehe Abschn. 3.​1), in unserem Kontext als die beabsichtigte und gestaltete Variation. Sie bezieht sich auf kleinräumige Motive, Themen oder weiträumige Melodien oder auch mehrstimmige Strukturen, schließlich auf ein ganzes Werk. Dieses Gegebene steht zu seiner Veränderung sowohl im Verhältnis zu einem Anderen als auch zu seinem Anderen. Die Variation ergibt sich aus den Prinzipien Wiederholung, Kontrast, Veränderung, mit einer großen Spanne zwischen der Permutation von an sich selbst unveränderten Bestandteilen und der Entwicklung neuer Bestandteile. Identität und Differenz, wie in Kap. 1 skizziert, durchlaufen in den dreizehn ‚Existenzformen‘ (siehe Kap. 2) eines Werkes verschiedene Stadien und Variationen. Unschärfe ist hier eine notwendige Implikation, Ähnlichkeit ist sowohl Maß als auch Ergebnis der verschiedenen dialektischen Bewegungen und Gegenbewegungen von Fuzziness, Schärfungen und Verwischungen.
Hanns-Werner Heister
9. Ausblicke und Perspektiven
Zusammenfassung
Zusammenfassend zeige ich, wie produktiv das Zusammenspiel von FL und Musik ist. In dem historischen Fortschritt der Musik durch Verwischung und Schärfung ist FL zwar nicht die Logik der Geschichte, aber eine Logik in dieser Geschichte, nicht zuletzt durch Pendelbewegungen zwischen Verwischung und erneuter Schärfung. Analogien und Parallelen zwischen Musik und Leben oder wissenschaftlich-technischen Verfahren und die technische und psychosoziale Nutzung für z. B. im Biofeedback rechtfertigen es, von einem ‚Musical Turn‘ in einigen Wissenschaften zu sprechen. Dazu gehört, dass Musik ein aktiver Bestand des Weltbild ist, z. B. durch Darstellung des Zeitpfeils. Durch Mimesis von Chaos und Anomie, Kosmos und Harmonie ist Musik ein Modell für Dialektik. FL und Musikwissenschaft korrespondieren mit ihrer jeweiligen ‚inneren Interdisziplinarität‘. Im Interdisziplinären als Summe und Synthese begegnen FL und Musikwissenschaft einander, und wahrscheinlich sollte auch ein „Fuzzy Logical Turn“ proklamiert werden. Mit all dem tragen Musik und ihre Analyse zu einer konkreten, weit gefächerten ‚Philosophie der Fuzzy-Logik‘ bei.
Hanns-Werner Heister
Backmatter
Metadaten
Titel
Musik und Fuzzy Logic
verfasst von
Prof. Dr. Hanns-Werner Heister
Copyright-Jahr
2021
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Electronic ISBN
978-3-662-63006-8
Print ISBN
978-3-662-63005-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-63006-8