Im Folgenden werden die drei Operationalisierungen des Mini-ICF-APP (Fremdrating, Selbstrating und Arbeitsanforderungsrating) mit ihren Items (Anhänge A, B und C) und hinsichtlich der jeweils bedeutsamen Anwendungsaspekte vorgestellt.
3.1 Fremdbeurteilung von Fähigkeiten(beeinträchtigungen) mit dem Mini-ICF-APP
Vor Beginn der Fähigkeitenexploration nach dem Mini-ICF-APP-Fähigkeitenbogen ist der sogenannte Referenzkontext festzulegen (d. h. die Fähigkeits-Anforderungen), auf den sich die Beurteilung beziehen soll. Wenn bspw. eine Betriebsärztin oder -psychologin eines Klinikums erfährt, dass ein wiedereinzugliedernder Beschäftigter als „Gesundheits- und Krankenpfleger“ tätig ist, weiß man noch nichts darüber, welche Aktivitäten am Arbeitsplatz konkret von dem Beschäftigten verlangt wird. Je nachdem, ob er im Blutspendedienst, in der Notaufnahme, oder auf der psychiatrischen Station arbeiten, kann er sehr verschiedene Fähigkeitsanforderungen haben: hohe Regelroutine, oder hohe Flexibilität, oder ausgeprägte interaktionelle Fähigkeiten (Kontaktfähigkeit, Selbstbehauptung, Gruppenfähigkeit).
Die Fähigkeitsanforderungen müssen konkret erfragt werden, z. B. „Können Sie bitte erzählen, wie ein üblicher Tag bei Ihrer Arbeit aussieht? Was müssen Sie konkret tun, wenn Sie morgens um 7 Uhr zur Arbeit kommen?“. Ziel ist es, eine möglichst genaue Auflistung des geforderten Aktivitätenspektrums zu bekommen. Diese können den entsprechenden Fähigkeitsdimensionen des Mini-ICF-APP zugeordnet werden.
Im nächsten Schritt ist zu explorieren, ob es mit der Bewältigung der einzelnen Aufgaben Probleme gibt, und falls ja, wie ausgeprägt diese sind: Sind sie nur für den Beschäftigten merkbar im Sinne von es fällt ihm schwer (leichte Beeinträchtigung), oder sind sie auch für andere Kolleg*innen oder Vorgesetzten beobachtbar und ggf. ärgerlich (mäßige Beeinträchtigung), oder führen sie dazu, dass regelmäßig jemand einspringen und unterstützen oder die Aufgabe komplett abnehmen muss (schwere Beeinträchtigung)? Dabei gilt, dass der Anforderungsgrad auch den Grad der Beeinträchtigung mitbestimmt: Für Stewardessen, die Kolleg*innen ablösen sollen, ist zehnminütiges zu-Spät-Kommen (Fähigkeitsproblem: Anpassung an Regeln und Routinen) eine schwere Beeinträchtigung und führt ggf. zur Entlassung. Bei Büromitarbeiter*innen fällt es ggf. kaum auf, ob sie ein paar Minuten später am Schreibtisch sitzen, allenfalls haben sie möglicherweise selbst ein schlechtes Gewissen, weil sie sich vorgenommen haben früher ins Büro zu kommen (leichte Beeinträchtigung).
Je nach Anforderungsgrad (Pünktlichkeit bei Stewardess versus Büromitarbeiter*in) fällt das gleiche Fähigkeitsproblem an einem Arbeitsplatz unterschiedlich stark ins Gewicht. Wichtig für die valide Anwendung des Mini-ICF-APP Fremdratings ist also, die Fähigkeitsanforderungen sehr konkret zu kennen bzw. zu definieren.
In der betrieblichen Praxis relevant sind Beeinträchtigungen, die ständigen Ärger im Betriebsablauf verursachen und ein regelmäßiges Unterstützen Dritter erfordern (schwere Beeinträchtigung), um die vorgesehenen Aufgaben zu erledigen. Da es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in der Regel wenig Freiheitsgrade gibt, für die Tätigkeiten einzelner Mitarbeitender ständig eine zweite Person zum Einspringen zur Verfügung zu stellen, ist in vielen Fällen eine Arbeitsunfähigkeit gegeben, wenn Fähigkeiten ständig in einer unterstützungsbedürftigen Weise, d. h. schwer beeinträchtigt sind.
Wenn eine Fähigkeitsbeeinträchtigung vorliegt ist zu klären, ob die Beeinträchtigungen krankheitsbedingt sind oder andere Gründe haben (z. B. Qualifikations- oder Trainingsdefizit oder konstitutionell bedingte Fähigkeitsschwäche). Hierzu braucht es eine/n Betriebsärzt*in. Fehlt es beispielsweise an ausreichender beruflicher Qualifikation oder Willensanstrengung, würde man keine „krankheitsbedingte“ Fähigkeitsbeeinträchtigung attestieren. Die festgestellten Abweichungen vom Soll wären dann nicht sozialmedizinisch von Bedeutung, sondern arbeitsrechtlich.
Fähigkeitsanforderungen zu definieren und Fähigkeitsprobleme zu erkennen und verhaltensnah zu beschreiben, kann durch Führungskräfte und das Arbeitsteam geschehen. Hierzu sind qualitative Beobachtungen hilfreich sowie ggf. ein Abgleich der Fähigkeitsanforderungen, die die Beschäftigten an dem Arbeitsplatz wahrnehmen (Anhang C) und der Fähigkeitsprofil-Selbstratings von Mitarbeitenden (Anhang B).
Eine Fremdbeurteilung und Beschreibung von Arbeitsfähigkeit im sozialmedizinischen Kontext ist jedoch Aufgabe von Ärzt*innen, ggf. unterstützt von sozialmedizinisch geschulten (Betriebs‑)Psychotherapeuten*innen.
3.2 Fähigkeiten-Selbsteinschätzung mit dem Mini-ICF-APP-S (Selbstrating)
Im Bereich der Fähigkeitsdiagnostik kommen auch Selbstbeurteilungen zum Einsatz. Beispiele sind der ICF-AT-50-Psych („Aktivitäten und Teilhabe“; Nosper
2008), das Selbstrating zum WHO-DAS‑2.0 (WHO
2004) oder der ICFPsych A&P (Brütt et al.
2015).
Mit Selbsteinschätzungen können Informationen über subjektiv wahrgenommene und erlebte Stärken und Schwächen ergänzend zur Fremdbeurteilung differenziert erfasst werden. Sie lassen sich ökonomisch einsetzen, um einen Einblick in die Selbstsicht von Personen auf ihr Fähigkeitsniveau und -profil zu erhalten, ohne dabei nach Gesundheitsbeeinträchtigungen fragen zu müssen. Auch lassen sich Veränderungsprozesse zwischen verschiedenen Messzeitpunkten abbilden, oder Interventionsentscheidungen unterstützen (Laireiter
2005).
Um ergänzend zur Fremdbeurteilung auch die Selbstschätzung von Menschen zu ihren eigenen wahrgenommenen Fähigkeiten erheben zu können, wurde der Selbstbeurteilungsbogen Mini-ICF-APP‑S entwickelt und in einer Untersuchung von Patient*innen mit psychischen Erkrankungen sowie einer Allgemeinbevölkerungsstichprobe evaluiert (Linden et al.
2018). Er umfasst dieselben 13 Fähigkeiten („Soft-Skills“) des Mini-ICF-APP. Die Proband*innen können auf einer Skala ihre jeweiligen Fähigkeiten einschätzen von „0 = das ist eindeutig eine Stärke von mir“ über „3 = das geht schon irgendwie“ und „4 = das klappt nicht immer“ bis hin zu „7 = das kann ich gar nicht.“ (Anhang B).
3.3 Fähigkeitsorientierte Arbeitsplatzbeschreibung mit dem Mini-ICF-APP-W (Work)
Seit Jahrzehnten sind die Prävalenzen psychischer Erkrankungen stabil (Wittchen et al.
2011; Jacobi und Linden
2018; Zielke
2017). Die Sichtweise, dass Arbeit krank mache, verhindert aber, dass das eigentliche Problem der modernen Arbeitswelt erkannt und angegangen wird: der zunehmend problematische Person-Job-Fit (Jacobi und Linden
2018) für Beschäftigte mit psychischen Erkrankungen. Psychische Erkrankungen sind chronische Erkrankungen und Volkskrankheiten, etwa 25–30 % der Menschen leiden an einer psychischen Erkrankung (Stansfeld et al.
2008; Wittchen et al.
2011). Ein Großteil von ihnen ist berufstätig: Bspw. hatten von 307 Hausarztpatient*innen mit chronischen psychischen Erkrankungen 66 % einen Arbeitsplatz (Linden und Muschalla
2018). Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz sind daher ein nicht zu vernachlässigendes Phänomen. Die moderne Arbeitswelt macht allerdings nicht krank, wie zuweilen debattiert wird, sondern stellt heute mehr als früher Anforderungen an kognitive und interpersonelle Leistungen (BMAS
2017). Die zu erfüllen kann Menschen mit psychischen Erkrankungen Schwierigkeiten bereiten (Meier-Credner und Muschalla
2019; Jacobi und Linden
2018). Menschen mit psychischen Erkrankungen fallen daher vermehrt mit Arbeitsunfähigkeit auf (GBA
2016) oder ganz aus der Arbeitswelt heraus. In der Konsequenz gilt, dass wieder mehr sogenannte Toleranzarbeitsplätze benötigt werden. Im Sinne der ICF (WHO
2001) und des Person-Job-Fit bedeutet dies, dass die Arbeitsanforderungen so eingerichtet werden sollten, dass sie zu den menschlichen Fähigkeiten passen und Freiheitsgrade ermöglichen. Auch das Arbeitsschutzgesetz (§ 5 ArbSchG 2013) fordert von Arbeitgeber*innen, psychisches Gefährdungspotential an Arbeitsplätzen zu minimieren. Dies lässt sich durch die Herstellung fähigkeitsgerechter Arbeitsplätze erreichen. Der Arbeitsplatz muss zu den Fähigkeiten der Mitarbeitenden passen. Um einen Person-Job-Fit prüfen zu können braucht es eine Beschreibung von Mitarbeiterfähigkeiten und Arbeitsanforderungen entsprechend eines einheitlichen Konzepts. Dies wird mittels der Mini-ICF-Instrumentenfamilie gewährleistet.
Analog zum Fähigkeiten-Selbst- und Fremdrating wurde dementsprechend das Mini-ICF-APP‑W für die Beschreibung von Arbeits-Fähigkeits-Anforderungen entwickelt (Muschalla
2018a,
2018b; Anhang C). Mit dem Mini-ICF-APP-W(ork)-Rating kann auf einen konkreten Arbeitskontext bezogen beurteilt werden, in welchem Maße eine Tätigkeit verschiedene psychische Fähigkeiten erfordert. Eine Validierung des Mini-ICF-APP‑W wurde bei 166 chronisch kranken Erwerbsaltrigen durchgeführt (Muschalla
2018a,
2018b). Die Inter-Rater-Reliabilität lag bei
r = 0,63–0,91 (Muschalla
2018a). Bei Patient*innen, die eine psychische Problematik hatten, wurde ein Abgleich von Fähigkeitsanforderungen (Mini-ICF-APP-W) und Fähigkeitsprofil der Person (Mini-ICF-APP) vorgenommen. Bei Patient*innen mit negativer erwerbsbezogener Prognose, d. h. voraussichtlich dauerhafter Unfähigkeit ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit wieder aufzunehmen, bestand in den Dimensionen Flexibilität, Durchhaltefähigkeit sowie den interaktionellen Fähigkeiten (Selbstbehauptung, Kontakt-, und Gruppenfähigkeit) ein Mismatch: Die Fähigkeitsausprägungen der Personen waren gering, bei gleichzeitig höher erlebten Arbeitsanforderungen.