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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

7. Handlungsleitfaden zur Integration automatisierten Fahrens

verfasst von : Constantin Pitzen, Heiner Monheim, Mario Zweig, Robert Yen, Christoph Marquardt

Erschienen in: Automatisierter ÖPNV

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Das Kap. 7 soll dem Leser möglichst praktische Ideen und Vorgehensweisen für die Integration eines automatisierten ÖPNV zur Verfügung stellen. Dabei bildet die Reihenfolge der Kapitel bereits einen Handlungsleitfaden: Beginnend mit der Frage ‚Wie ist bei der Integration automatisierten Fahrens vorzugehen?‘, ‚Was ist verkehrs- und raumplanerisch bei der Implementierung eines automatisierten ÖPNV zu beachten?‘ über die Frage ‚Wie kann ein automatisiertes Fahrzeug oder eine automatisiert fahrende Transportdienstleistung beschafft und implementiert werden?‘ und die Zulassung der automatisierten Fahrzeuge endet das Kapitel mit einem Einblick in die betriebliche Umsetzung eines automatisierten ÖPNV aus der Sicht eines Verkehrsunternehmens. Zur Illustration wird ein hypothetisches Projekt am Beispiel der bayrischen Kleinstadt Lindau am Bodensee beigesteuert, das die Implementierung zweier automatisierter ÖPNV-Linien als ein Instrument innerhalb vieler Maßnahmen für das Gelingen der Mobilitätswende beschreibt.

7.1 Wie ist bei der Integration automatisierten Fahrens vorzugehen?

Constantin Pitzen und Heiner Monheim
Die Marktdurchdringung mit automatisierten und künftig auch fahrerlosen Fahrzeugen wird schrittweise erfolgen. Die neuen Fahrzeughersteller und die Digitalwirtschaft, die sich auf diesen Pfad konzentrieren, werden sowohl mit ihrer Angebotspolitik (Modelle, Preise, Marketing) wie auch ihrer politischen „Begleitmusik“ dafür sorgen, dass weltweit und vor allem in reichen Ländern des sog. „Nordens“ die Regierungen die Märkte für die neuen Produkte öffnen. In Deutschland waren die Novellierung des StVG und die Veröffentlichung der Verordnung zur Regelung des Betriebs von Kraftfahrzeugen mit automatisierter und autonomer Fahrfunktion und zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften für die Zulassung ‚autonomer Fahrzeuge‘ die nötigen Meilensteine. Auf dieser Basis bereiten große und kleinere Hersteller dieser fahrerlosen Fahrzeuge die Produktion vor. Mögliche kommerzielle Nutzer entwickeln ihre Geschäftsmodelle. Diverse Unternehmen bereiten sich auf die Bereitstellung von ergänzenden Produkten und Serviceleistungen vor.
Aber noch ist das alles Zukunftsmusik mit unklaren zeitlichen Perspektiven, zumal die konventionelle Automobilwirtschaft auch noch mit ihren alten Fahrzeugkonzepten der Massenmotorisierung auskömmliche Ergebnisse erzielt. Trotzdem ist es wichtig, sich vorausschauend Gedanken über die mögliche kommunale Betroffenheit von solchen Entwicklungen zu machen, um proaktiv zu klären, welchen Beitrag die neuen Entwicklungen zur Lösung der aktuellen Mobilitäts- und Verkehrs-, Umwelt- und Klimaprobleme der Städte und Regionen leisten können.
Die grundlegenden rahmensetzenden Fragen müssen auf den oberen Ebenen der EU, des Bundes und der Länder geklärt werden. Die Fragen der kommunalen Betroffenheit im Sinne von Chancen und Risiken dagegen sind vor allem durch die kommunale Ebene zu klären.
Die Themen zur Integration automatisierten Fahrens lassen sich grob einteilen in die Gruppen a) „die Rahmenbedingungen“ für die automatisierten Fahrzeuge und b) „der Einsatz automatisierter Fahrzeuge“ in den Kommunen und durch die Kommunen.
Dabei sind Kommunen auf zwei sehr verschiedene Weisen davon betroffen: Einmal stellt sich die Frage, wie sie für ihre eigene Fuhrpark- und Flottenpolitik die neuen Möglichkeiten nutzen und ob sich aus dem Einsatz automatisierter Fahrzeuge neue Konzepte und Spielräume für die eigenen kommunalen Fuhrparke oder die Fuhrparke der von den Kommunen beauftragten Verkehrsunternehmen ergeben.
Zum anderen stellt sich die Frage, wie sich bei verstärkter Marktdurchdringung des privaten und betrieblichen Fahrzeugmarktes die verkehrs- und ortsplanerischen Fragen neu und besser lösen lassen im Vergleich zur derzeitigen, extrem problematischen, stark klimaschädlichen, umweltbelastenden, verkehrsunsicheren und die Verkehrsarten des Umweltverbundes massiv einengenden alltäglichen Verkehrsrealität im Ortsverkehr.
In Kap. 3 wurden die Auswirkungen automatisierter Fahrzeuge auf die Verkehrssicherheit, auf Datenhaltung und -sicherheit, auf das Verkehrsgeschehen, auf den Betrieb von Verkehrsunternehmen, auf die Gesellschaft usw. dargestellt und erläutert. Massive Änderungen ergeben sich für die Disposition der öffentlichen und betrieblichen Fuhrparke mit ihren Flotten und bisher erforderlichen Personalständen für das Fahrzeugführen. Und massive Änderungen ergeben sich auch für den Verlauf der privaten Motorisierung mit Pkw und die Art der Nutzung privater Pkw, die beide in starkem Maße von den straßenverkehrsrechtlichen und straßenräumlichen Bedingungen für das Fahren und Abstellen von Autos geprägt sind.
Im Bereich der öffentlich und betrieblich disponierten Fahrzeugflotten führt der Entfall des Fahrpersonals zu einer veränderten Wirtschaftlichkeit derjenigen Dienstleistungen, die bisher mit starken Personalkosten belastet sind und daher hohem Rationalisierungsdruck unterliegen.
Welche Änderungen sich im privaten und betrieblichen Motorisierungsverhalten (Fahrzeugbeschaffung) und Verkehrsverhalten (Fahrzeugnutzung) ergeben, hängt sicher auch davon ab, wie sich die Kostenstrukturen der Fahrzeughaltung und Fahrzeugnutzung im Vergleich zu den bisherigen Praktiken einstellen werden. Möglicherweise wegfallende bisheriger Subventionen und neue Kostenstrukturen durch eine verstärkte Fahrraum- und Parkraumbewirtschaftung mittels neuer Road-Pricing-Regularien werden als Push-Maßnahmen zur Förderung der Veränderung Berücksichtigung finden müssen.
Die tatsächlichen Entwicklungen werden einerseits davon abhängen, welche weiteren rahmensetzenden Regularien die EU, der Bund und die Länder für die neuen technologischen und verkehrsplanerischen Optionen festlegen und welche Spielräume darin für eine differenzierte kommunale Detailgestaltung eröffnet werden. Weiterhin gilt dies auch für kommunalen Konzepte, die auf dieser Basis dann für die örtliche und regionale Regulierungspraxis (Gebote, Verbote, Standards, Preise, Satzungen) entwickelt werden.
Wichtig ist, dass sich die Kommunen, also die Landkreise, Städte und Gemeinden, auf mögliche Entwicklungen proaktiv vorbereiten. Das ist nicht leicht, weil die meisten Kommunen heute schon mit der alltäglichen Regulierung und Neuordnung ihrer Verkehrsnetze und Strukturen stark belastet sind und nur begrenzte Personalkapazitäten haben, auf der Basis völlig neuer Technologien weitreichende Zukunftskonzepte zu entwickeln.
Umso wichtiger ist es, den Kommunen schon frühzeitig Vorstellungen von den möglichen Entwicklungen mit ihren Chancen und Risiken und Problemlösungspotenzialen zu vermitteln.
Das Kap. 7 bietet einen Handlungsleitfaden für die Kommunen (Politik und Verwaltungen, kommunale Betriebe) für den proaktiven Umgang mit den neuartigen Herausforderungen.
Handelnde Akteure in den Kommunen sind:
  • Stadtparlamente, Kreistage, Gemeinderäte, ihre Ausschüsse u. v. m.
  • Verwaltungen
  • Kommunalen Unternehmen und Einrichtungen
  • Betriebe der privaten Wirtschaft
  • Private Haushalte mit ihrer Verkehrsmittelausstattung und Verkehrsmittelnutzung
  • Interessierte Bürgergruppen und örtliche politische Organisationen, Umwelt- und Verkehrsverbände
Mit den folgenden Handlungsfeldern im Bereich der automatisierten Fahrzeuge werden sich die Kommunen und die Regionen befassen müssen:
1.
Automatisierte Fahrzeuge, die durch die Kommune angeschafft werden, wie z. B. Fahrzeuge für den ÖPNV, Straßenreinigung, Botendienste, Sicherheits- und Ordnungsdienste, Straßenzustandsüberwachung, Pflege von Straßen und Grünanlagen. Die Zahl solcher neuen Fahrzeuge ist mengenmäßig begrenzt und ihre Nutzung unterliegt in der Regel internen Wirtschaftlichkeitsreglungen, bei denen einerseits die Anschaffungskosten nach Effizienzkriterien bewertet werden, andrerseits die Personalkosten bei der Nutzung eine große Rolle spielen. In beiden Bereichen sind Effizienzgewinne und Kosteneinsparungen angesichts meist angespannter Haushaltslage hochwillkommen. Bislang wurden diese Adressaten oft auch durch spezielle Förderprogramme angesprochen, um staatlich gewünschte Fahrzeuginnovationen in einer frühen Marktphase zu fördern
 
2.
Automatisierte Fahrzeuge, die durch die Anbieter der Sharing Economy, insbesondere Car-Sharing und Ride-Sharing, angeschafft werden. Die Zahl solcher Fahrzeuge ist in der Regel begrenzt, weil entsprechende Anbieter bislang regional selektiv mit Konzentration auf Großstädte und Hochschulstädte operieren. Allerdings kann durch die neuen Möglichkeiten des automatisierten Fahrens und Erwartungen an eine verstärkte Nachfrage durch Privathaushalte mit marginaler Autonutzung die Angebotsphilosophie um flächendeckende Angebotsstrukturen erweitert werden, insbesondere wenn der öffentliche Verkehr weit größere Marktanteile als bisher erringen kann.
 
3.
Automatisierte Fahrzeuge, die durch private Betriebe für deren Transportbedürfnisse in der Mitarbeitendenmobilität und im Güter- und Warentransport angeschafft werden. Auch hier ist die Zahl solcher neuen Fahrzeuge mengenmäßig meist begrenzt und ihre Nutzung unterliegt in der Regel internen Wirtschaftlichkeitsreglungen, bei denen einerseits die Anschaffungskosten nach Effizienzkriterien bewertet werden, andrerseits die Personalkosten bei der Nutzung der Fahrzeuge eine große Rolle spielen. In beiden Bereichen sind Effizienzgewinne und Kosteneinsparungen ein wesentliches Innovationsmotiv.
 
4.
Automatisierte Fahrzeuge, die durch private Haushalte beschafft und genutzt werden. Hier kann sich je nach Preispolitik der Hersteller und nach ordnungspolitischer Priorisierung und fiskalischer Förderung dieser Fahrzeugtypen ein massenhafter Einsatz ergeben. Wie groß die Menge der dann zugelassenen Pkw sein wird, hängt neben der Frage des Anschaffungspreises von den Anschaffungsregularien (z. B. Anschaffung nur bei Nachweis eines Stellplatzes außerhalb des öffentlichen Raumes) und den Abstellregularien (z. B. hohe marktwirtschaftlich eingestellte Abstellgebühren im öffentlichen Raum) ab. Es gibt insoweit gute Gründe für die Hoffnung auf mögliche Effizienzgewinne der neuen Fahrzeuge und ihrer Nutzung wegen erhöhter Anschaffungs- und Nutzungswiderstände. Jedenfalls ist es unwahrscheinlich, dass die bisherigen, meist noch fossilen und erst in geringem Maße elektrischen privaten Fahrzeugflotten 1:1 durch Fahrzeuge der automatisierten Fahrzeuggeneration ersetzt werden. Wahrscheinlich ist beim schrittweisen Ersatz konventioneller privater Fahrzeugflotten durch automatisierte Fahrzeuge eine deutliche Verringerung der Gesamtzahl von Pkw und der Nutzung dieser automatisierten Fahrzeuge. Der private Einsatz automatisierter SAE Level 5 Fahrzeuge als Familienauto wird jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach noch deutlich mehr als zehn Jahre dauern (siehe Abschn. 1.​1).
 
5.
Letztlich hängt die weitere Entwicklung maßgeblich vom staatlichen (EU, Bund, Länder bzw. Bund und Kantone) Regulierungsrahmen des Verkehrssektors ab: Welche Zulassungsvoraussetzungen für Kfz werden definiert? Welche Push-Maßnahmen (z. B. Road Pricing, Reduzierung des Straßenraums für den stehenden Verkehr usw.) sollen eingeführt werden? Welche Tempolimits werden eingeführt? Welche Art der Parkraumbewirtschaftung wird ermöglicht? Welche klimapolitischen Minderungsziele werden vorgegeben? Welche Mengenbeschränkungen werden aus solchen Minderungszielen abgeleitet? Welche Maßnahmen zur Kapazitätsbeschränkung und zum Netzrückbau oder aber zum Netzausbau werden im klassifizierten Straßennetz festgelegt? Welche Ausbau- und Neubaumaßnahmen werden umgekehrt im Schienennetz festgelegt (BVWP)?
 
Vor diesem rahmensetzenden Hintergrund stellt sich dann die Frage, wie die Kommunen selbst im Rahmen ihrer legalen Kompetenzen und ihrer fiskalischen Möglichkeiten eigene Gestaltungsspielräume nutzen, die Optionen des automatisierten Fahrens für eine ortsverträgliche Verkehrsentwicklung zu nutzen – durch Erlass entsprechender kommunaler Satzungen, Entwicklung und Umsetzung eigener Konzepte und Berücksichtigung der neuen Optionen in der alltäglichen Planungs-, Bau- und Regulierungspraxis.
Besonders früh sind die Kommunen als Aufgabenträger und vielfach auch Inhaber kommunaler Verkehrsbetriebe gefordert, die Potenziale des automatisierten Fahrens für die Weiterentwicklung der ÖPNV-Angebote zu nutzen und die Wirtschaftlichkeit und Akzeptanz des kommunalen ÖPNV durch flankierende straßenplanerische und straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zu fördern (z. B. mengenmäßige Beschränkung der Einfahrt in Wohnquartiere für bestimmte Straßenraumnutzungen, Beschränkung der Personenverkehrsdienste durch Festlegungen im Nahverkehrsplan). Empfehlungen für diesen Regulierungsrahmen durch Planung und kommunale Festlegungen werden in Abschn. 7.3 erläutert.
Gefordert sind die Kommunen auch für die Bereitstellung der Infrastruktur für automatisierte Fahrzeuge, wie z. B. stets aktualisierte Kartografie, die Grundlage für die hochauflösenden dreidimensionalen digitalen Karten der Fahrzeuge für die Ortung ist, Infrastruktur für den Austausch der Verkehrsinformationen zwischen den Fahrzeugen, Verkehrsüberwachung und u. U. auch Reservierung spezieller Fahrspuren für automatisierte Fahrzeuge (platz- und kapazitätsoptimierte Straßenraumnutzung).
Abhängig von der Ermächtigung durch die Rahmensetzungen von EU, Bund und Ländern sind die Kommunen auch gefordert bzgl. der Transformation der bisher auf analogen Betrieb ausgelegten Regularien der StVO in die digitale Praxis. Das bedeutet zusätzlich zu den Kfz-verkehrsbezogenen Verkehrszeichen die schrittweise Implementation digitaler Lenkungselemente in der Straßeninfrastruktur bzw. in den digitalen Karten.
Unklar ist angesichts der noch sehr spekulativen Debatten, wie die vermehrte Zulassung automatisierter und künftig auch fahrerloser Fahrzeuge den Verkehrsmarkt verändert (mehr oder weniger Autoverkehr nach der Zahl der zugelassenen Kfz und der Häufigkeit und Fahrleistung ihrer Nutzung) und welche Auswirkungen solche Änderungen auf die Standort- und Baupolitik der Kommunen und Investoren und somit auf die Flächennutzung sowie Stadt- und Regionalentwicklung haben werden.
Die Art der Betroffenheit der Kommunen hängt nicht nur von der technologischen Entwicklung der Fahrzeuge (Angebotsverhalten der Fahrzeugindustrie und Digitalwirtschaft) ab, sondern von den weitergehenden staatlichen Rahmensetzungen für die kommunale Verkehrsentwicklung, beispielsweise im Bereich des Road Pricing oder der Tempolimits oder auch der Umwelt- und Klimagesetzgebung mit darin festgelegten Begrenzungsmechanismen beim Überschreiten von Grenz- und Alarmwerten. Die Kommunen sollten vor dem Hintergrund der bei allen regionalen Unterschieden bislang nirgendwo befriedigend gelösten kommunalen Verkehrsprobleme jedenfalls rechtzeitig ihre Bedürfnisse und Erwartungen an den Gesetzgeber und an den Initiator und Bereitsteller von Förderprogrammen artikulieren, damit sie die neuen Chancen des automatisierten Fahrens auch gut nutzen können. Dies gilt insbesondere für die folgenden Herausforderungen kommunaler Verkehrsentwicklungsplanung:
  • Es wird zu verhindern sein, dass die Menge Pkw-ähnlicher Fahrzeuge kritische Grenzen der Umwelt-, Klima- und Ortsverträglichkeit übersteigt, weil sonst die Ziele der Verkehrswende konterkariert werden. Wenn noch mehr Menschen statt in Straßenbahnen, U-Bahnen, Bussen und Zügen vermehrt in Pkw-ähnlichen Fahrzeugen fahren, steigen hierdurch die verkehrsbedingten CO2-Emmissionen und die Flächenkonkurrenzen mit dem Umweltverbund und den Grünansprüchen im öffentlichen Raum. Um das zu verhindern, werden die Kommunen den ÖPNV unter Nutzung der neuen Möglichkeiten weiter ausbauen müssen und gleichzeitig im Kontext der Push-and-Pull-Strategie dem Autoverkehr beim Fahren und Parken klare Grenzen setzen müssen und ihn mit verursachergerechten Preisen belegen müssen. Die Kommunen werden dafür sorgen müssen, dass der monofunktionale Verkehrsraum für Fahren und Abstellen von Autos auf ein für Fuß- und Radverkehr, für Aufenthalt und Straßengrün verträgliches Maß begrenzt wird. In Abschn. 7.2 werden mögliche Strategien aufgezeigt.
  • Automatisierte Fahrzeuge (ohne Fahrer) senken die Kosten von mobilen Dienstleistungen, wie z. B. Paketdiensten, Botendiensten, Sicherheitsdiensten. Und sie senken die Betriebskosten des ÖPNV. Eine exzessive Zunahme von Dienstleistungsfahrten mit Kfz zu Lasten der Lebensqualität in Wohnquartieren muss verhindert werden durch logistische Bündelung entsprechender Fahrten. Soweit dabei Kleinroboter zum Einsatz kommen, muss verhindert werden, dass sie die Bewegungs- und Aufenthaltsflächen des Fußverkehrs einschränken. In Abschn. 7.3 werden mögliche Strategien gegen solche Fehlentwicklungen erläutert.
  • Automatisierte Fahrzeuge (ohne Fahrer) im ÖPNV erlauben eine Differenzierung der ÖPNV-Angebote nach den Fahrzeugformaten und Betriebsformen. Sie ermöglichen eine Angebotserweiterung und räumliche und zeitliche Verdichtung der Angebote in Räumen und Zeiten mit bislang unzureichendem ÖPNV-Angebot und erfüllen damit die Voraussetzungen für eine stärkere Beschränkung der Zahl und Nutzung automatisierter Pkw.
  • Automatisierte Fahrzeuge (ohne Fahrer) der Share Economy (Car-Sharing, Ride-Sharing) erlauben einen Abbau der bisherigen Ineffizienzen massenhafter Autonutzung durch Verlagerung des MIV auf diese Dienste. Sie fördern eine effizientere Nutzung der Fahrzeuge mit höherem Besetzungsgrad (Ride-Sharing) und damit besserer Ausnutzung der fahrenden Fahrzeuge und Reduzierung der ungenutzten Standzeiten. Diese Angebote erlauben damit eine Reduzierung des privaten und betrieblichen Pkw-Besitzes. Eine Entlastung stark überparkter Quartiere wird dadurch möglich.
  • Verkehrsentwicklung ist künftig immer mehr interkommunal zu regulieren, weil die Verkehrsverflechtungen immer komplexer geworden sind und Gemeinde- und Kreisgrenzen zwar administrativ noch relevant sind, im privaten und betrieblichen Verkehrsverhalten aber kaum noch eine Rolle spielen. Bei allen verkehrslenkenden und regulierenden Maßnahmen jenseits des Quartiersmaßstabs ist daher eine gute interkommunale Abstimmung erforderlich, die auf konsistenten Konzepten aufbaut und verhindert, dass die lokalen Preise und Tarife und die überörtlichen Netzplanungen kontraproduktiv im Sinne einer interkommunalen Konkurrenz festgesetzt werden. CO2-Emissionen und Luftschadstoffe machen ebenso wenig an administrativen Grenzen Halt. Daher besteht ein großer Bedarf an interkommunaler Abstimmung, der bislang noch nicht ausreichend beachtet wird, z. B. bei der Planung von kreisweisen Busnetzen oder durchgängigen SPNV-Angeboten.

7.2 Wie kann eine Mobilitätsstrategie entwickelt werden, die die gezielte Integration automatisierten Fahrens berücksichtigt, bzw. wie lässt sich automatisiertes Fahren in eine bestehende Mobilitätsstrategie integrieren?

Constantin Pitzen und Heiner Monheim
Das Ziel der Verkehrswende zur Reduzierung der verkehrsbedingten CO2-Emmissionen und zur Lösung der Mengenprobleme des fahrenden und stehenden Motorisierten Individualverkehrs (MIV) erfordert eine Mobilitätsstrategie, die die Prioritäten 1) Kfz-Verkehr vermeiden, 2) Kfz-Verkehr auf CO2-minimierte und flächensparsame Verkehrsmittel verlagern und 3) Kfz-verkehrsbedingte Emissionen durch Technologien verringern adressiert. Insbesondere die 1. genannten Priorität hat Einfluss auf die verschiedensten Politikbereiche und bietet somit viel gesellschaftlichen Sprengstoff.
Die Größe einer Gemeinde (nach Einwohnern, Arbeitsplätzen und Fläche) bestimmt den Anteil des innergemeindlichen Binnenverkehrs. Sie wachsen mit der Gemeindegröße. Im kommunalen Interesse liegt zunächst vor allem die Klimaneutralität des Binnenverkehrs wegen der unmittelbaren Betroffenheit und Zuständigkeit. Doch auch auf den Durchgangsverkehr und den Zielverkehr haben die Kommunen unmittelbaren Einfluss, indem entsprechende Maßnahmen der Gestaltung der Straßennetze (insbesondere Länge und Dimensionierung sowie Temporegulierung der innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen) und Nutzungsbeschränkungen, z. B. Durchfahrt- oder Einfahrbeschränkungen, durch- und umgesetzt werden. Das generelle Kfz-Verkehrsaufkommen reguliert man am besten durch eine sinnvolle Parkraumpolitik (Stellplatzschlüssel im Neu- und Umbau, systematische Parkraumbewirtschaftung) und für den Fall einer dringend erforderlichen Änderung der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) durch eine restriktive Fahrzeugzulassung, die an den Stellplatznachweis außerhalb des öffentlichen Raumes geknüpft ist („japanische Großstadtregelung“).
Der Spielraum für eine restriktive Mengenpolitik wächst in dem Maße, in dem die Alternativen des Umweltverbundes einschließlich des Paratransit im Bereich der Share Economy (Car-Sharing, Ride-Sharing und Bike-Sharing) kapazitätserweiternd und attraktivitätsfördernd ausgebaut werden. Dafür bieten automatisierte und fahrerlose Fahrzeuge im ÖPNV und im Paratransit große Potenziale.
Und der Spielraum wächst durch eine systematische und flächendeckende verursachergerechte Bepreisung des Kfz-Verkehrs mittels einer intelligenten Fahr- und Abstellmaut.
Alle diese Impulse werden auch Auswirkungen auf das Standortverhalten von Investoren und Haushalten haben, bei der Betriebs- und Wohnstandortwahl, aber auch bei der Wahl der Einkaufs- und Freizeitziele. Tendenziell werden sich immer mehr distanzminimierende und damit auch kostenminimierende Verhaltensweisen durchsetzen, entfernungsintensive Praktiken dagegen werden sehr viel selektiver wahrgenommen.
Insoweit werden automatisierte fahrerlose Fahrzeuge den Verkehrsmarkt grundlegend verändern. Darauf werden mittel- und langfristig auch Raum- und Siedlungsstrukturen reagieren. Alle Impulse laufen auf eine Verringerung des privaten und betrieblichen Fahrzeugbestandes und eine Verringerung der privaten und betrieblichen Fahrleistungen hinaus, es werden sich dann nach Effizienz- und Notwendigkeitskriterien selektierte Verhaltensroutinen einstellen. Der gesellschaftliche Konsens über diesen Entwicklungspfad wird in dem Maße wachsen, in dem einerseits die Dringlichkeit einer klimapolitisch motivierten Verkehrswende offenkundiger wird, andererseits die neuen Qualitätsgewinne im Bereich der Ortsbilder, Straßenräume, Wohnumfelder, Kaufumfelder erlebbar werden und die neuen Freiheitsspielräume für die Aktivmobilität und den verbleibenden notwendigen Kfz-Verkehr spürbar werden („raus aus dem Stau“, Just-in-Time-Mobilität) und angemessen kommuniziert werden. Die nachfolgenden Strategien werden daher die Ziele des Klimawandels unter Berücksichtigung der automatisierten fahrerlosen Fahrzeuge beantworten.

7.2.1 Priorität 1: Kfz-Verkehr vermeiden

Zur Vermeidung von Verkehr braucht es kurze Wege, die zu Fuß, per Fahrrad oder auch mit dem feinerschließenden ÖPNV erledigt werden können. Nach dem Vorbild der 15-min-Stadt in Paris haben die Kommunen die Möglichkeit, durch ein Bündel von Maßnahmen Kfz-Verkehr und lange Fahrdistanzen zu vermeiden.
1.
Dezentrale wohnortnahe Strukturen zur Versorgung der Menschen mit Waren des täglichen Bedarfs, Förderung von Nachbarschaftsläden, Restriktion des großflächigen und suburbanen Einzelhandels durch Bodenversiegelungsabgaben, kostenpflichtige Parkraumbewirtschaftung und Pflanzgebote sowie eine ÖPNV-Erschließungspflicht solcher suburbanen Standorte
 
2.
Mehr kostengünstige Wohnangebote durch Nutzung entbehrlicher Kfz-Verkehrsflächen (z. B. Großparkplätze, überdimensionierte Fahrbahnen und Kreuzungen, Umnutzung von entbehrlichen Parkhäusern) als Wohnbauland, worauf dann wegen des ohnehin schon öffentlichen Besitzes der Flächen bevorzugt öffentlicher Wohnungsbau errichtet wird
 
3.
Höhere Bau- und Nutzungsdichten durch Nachverdichtung mit Gebäudeaufstockung suburbaner gewerblicher Flachbauten und mehr Mischung von Arbeiten, Freizeit und Wohnen in monofunktionalen Strukturen
 
4.
Höhere Aufenthaltsqualität auf Straßen und Plätzen durch Redimensionierung monofunktionaler Kfz-Verkehrsflächen, mehr Platz für Bäume und Wasser
 
5.
Bessere, zusammenhängende Netze für den Fuß- und Fahrradverkehr (Flaniermeilen, Fahrradstraßen und -zonen) und ausreichende Abstelloptionen für die immer wertvolleren Fahrräder
 
6.
Etablierung eines feinerschließenden ÖPNV mit Midi- und Mini-Fahrzeugformaten und deutlich mehr Haltestellen oder Halt auf digitalen oder analogen „Zuruf“
 
7.
Etablierung dezentraler Paratransitangebote durch ein System von Mobilstationen mit Car- und Bike-Sharing-Angeboten und Ride-Sharing-Treffpunkten
 
8.
Ausbau intermodaler Kombinationsangebote an Haltestellen des ÖPNV, SPNV und SPFV (Bike & Ride, Radstationen, Leihradstationen) und Weiterentwicklung des Fahrzeugdesigns für größere Plattformflächen, mehr und breitere Türen und barrierefreie Niederflurtechnik
 
9.
Vereinheitlichung der Tarifstrukturen durch attraktive bundesweite Generalabonnements nach dem Vorbild des Schweizer Generalabonnements, des Klimatickets in Österreich oder der 9-€-Tickets, aber mit Erweiterung um den SPFV oder durch Regionalabonnements (z. B. Bodenseeregion)
 
Die Einbettung automatisierter Fahrzeuge und eines intelligenten Verkehrssystemmanagements in eine Verkehrswendestrategie bietet die Chance für eine deutliche Minimierung der Kfz-Verkehrsvolumina nach der Zahl der zugelassenen Fahrzeuge, der Menge der damit erbrachten Verkehrsleistung und einer starken Steigerung der quantitativen und qualitativen Bedeutung des Umweltverbundes mit erheblichen Sekundäreffekten für die Raum- und Siedlungsentwicklung.
Es wird Aufgabe der Kommunen sein, durch geeignete Instrumente diese Prozesse mit geeigneten verkehrsorganisatorischen und planerischen Maßnahmen zu flankieren. Beschrieben werden die Maßnahmen in Abschn. 7.3.
Dabei wird entscheidend sein, welchen rechtlichen Spielraum die Kommunen für Road Pricing, für das Zulassen, Fahren und Abstellen von Kfz im öffentlichen Raum erhalten, als Regulativ gegen ein zusätzliches Verkehrsaufkommen mit automatisierten Kfz.

7.2.2 Priorität 2: Kfz-Verkehr verlagern

Kfz-Verkehr, der trotz der vorgenannten Maßnahmen nicht vermieden werden kann, wird in einer künftigen Mobilitätsstrategie möglichst auf klimaschonende Verkehrsarten zu verlagern sein. Die Kommunen können die Verkehrsverlagerung durch verschiedene Anreize unterstützen:
1.
Reduzierung des öffentlich zugänglichen Parkraums und der bauordnungsrechtlich geforderten Abstellkapazitäten durch Anpassung der Stellplatzsatzungen (Begrenzung der Stellplätze bei Neubau und Erweiterung), Umnutzung von Parkstreifen zu Fußgänger- und Radverkehrsflächen sowie zur Schaffung von Grünzonen und Wasserflächen (Alleen) und zur Verbesserung des Stadtklimas, Umnutzung von öffentlichen Parkplätzen und überdimensionierten monofunktionalen Kfz-Verkehrsflächen (mehrspurige Straßen und Kreuzungen) zu potenziellem Wohnbauland.
 
2.
Verknappung und Verteuerung des öffentlichen Parkraums durch systematische Parkraumbewirtschaftung und parallele Erweiterung des feinerschließenden ÖPNV-Angebots und der zunehmenden Verbreitung automatisierter und künftig fahrerloser Fahrzeuge für Taxi- und Carsharing-Dienste wird dazu führen, dass es zur verstärkten Nutzung des ÖPNV und des Langsamverkehrs kommt. Diese Entwicklung kann durch die Kommunen gestärkt werden.
 
3.
Verbesserung der Mobilität mit Bahn und Bus durch einerseits deutlich einfachere und attraktivere Tarife (bundesweites Generalabonnements, s. o.) und räumliche und zeitliche Erweiterung und Verdichtung der Linien- und Taktverkehrsdichten. Der Kostenfaktor Fahrpersonal entfällt zu einem großen Teil (es entstehen dafür neue, aber geringere Personalkosten für die Technische Aufsicht) und dadurch wird die bisherige Scheinrationalität großer ÖPNV-Fahrzeuge und reiner Korridorsysteme obsolet. Es werden vielmehr abseits der großen Achsen insbesondere in großen Städten mittlere und kleine Fahrzeugformate (Midi und Mini) eingesetzt (Dorfbus, Quartiersbus …).
 
4.
Schaffen attraktiver Radinfrastruktur, durchgängig, attraktiv, schnell … (separate Radverkehrsinfrastruktur ist dann viel weniger nötig, weil überall digital gesicherte friedliche Koexistenz etabliert wird) Schaffen attraktiver Fußweginfrastruktur, durchgängig, attraktiv, ohne Umwege und sicher. Für beide Verkehrsarten gilt eine digitale Priorisierung im öffentlichen Raum.
 
5.
Das bisherige Tarifchaos der vielen kleinteiligen Verkehrsverbünde wird durch ein bundeseinheitliches Generalabonnement (s. o.) ersetzt, das in zwei Stufen (nur Nahverkehr oder Nahverkehr plus Fernverkehr) angeboten wird und angesichts der gleichzeitigen Preissteigerung im fossilen und postfossilen Autoverkehr einen sehr hohen Marktanteil erobert.
 
Die Kommunen haben also schon jetzt einige Möglichkeiten, Anreize zur Verlagerung des Verkehrs zu setzen. Wenn die rechtlichen Spielräume für ein systematisches Road Pricing und eine intelligente digitale Verkehrssteuerung erweitert werden, wächst der Handlungsspielraum der Kommunen.

7.2.3 Priorität 3: Verbleibenden, notwendigen Kfz-Verkehr verbessern und umweltfreundlich betreiben

Jeder Kfz-Verkehr verursacht Umweltbelastungen und beansprucht Platz. Die Umstellung auf elektrische Antriebe kann zwar die CO2-Emmissionen und die Schadstoffbelastung in den Städten senken, es bleiben jedoch die „grauen Emissionen“ der Produktion und der Flächenverbrauch der Verkehrswege.
Grundsätzlich wird der Kfz-Verkehr teurer werden. Kostentreiber sind primär Investitionen zur Speicherung der elektrischen Energie, wie Batterie oder Brennstoffzellen und Wasserstofftanks. Und die Investitionen in die digitale Aufrüstung der Straßen müssen ebenfalls fahrleistungsabhängig umgelegt werden.
Dennoch wird es den MIV auch in Zukunft benötigen. Hier spielt selbst im Falle eines elektrischen Antriebs die Auslastung der Fahrzeuge eine wesentliche Rolle. Je mehr Personen-Kilometer ein Auto leistet, um so besser ist dessen CO2-Fußabdruck. Stationäre Sharing-Angebote mit Fahrzeugen unterschiedlicher Größe und Funktion (z. B. Autos für komfortable Fahrten auf langen Strecken, Autos für den Transport, kleinere Stadtfahrzeuge usw.) können eine attraktive und kosteneffiziente Alternative für den privaten Pkw-Besitz darstellen. Durch die digitale Buchung und entsprechende Tarifmodelle des Sharings kann die Verbindlichkeit hinsichtlich des Zeitpunkts des Nutzungsbeginns und der Rückgabe gesteuert werden. Außerdem können durch die über die Zeit gewonnenen Daten die Sharing-Angebote hinsichtlich der Zusammensetzung des Fuhrparks, der Tarifgestaltung und des Nutzermanagements stetig optimiert und verbessert werden.
Autofahren mit dem privaten Pkw muss jedoch – ausgenommen für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen – deutlich teurer und die tatsächlichen externen Kosten (z. B. CO2- und Schadstoffemissionen, Kosten des zur Verfügung gestellten Raum des stehenden und fahrenden Verkehrs usw.) mitberücksichtigt werden.

7.2.4 Prozess zur Mobilitätsstrategie

Die Strategien der Priorität 1 bis 3 erfordern Beschlüsse und Verwaltungshandeln in den verschiedensten Bereichen des kommunalen und regionalen Handelns. Die langfristige Durchsetzung solcher grundlegenden Änderungen erfordert zudem eine intensive Begründung und eine vorbereitende Bürgerbeteiligung.
Dazu gehört eine einerseits generelle und andererseits auch auf die lokalen und regionalen Bedingungen abgestellte Problemanalyse der bisherigen Fehlentwicklungen und ihrer aktuellen Zuspitzungen im Bereich der Klimakrise. Je bildhafter die Problemanalyse auch auf die alltäglichen Probleme vor Ort eingeht, desto besser mit Blick auf die Überzeugungskraft gegenüber einem von Grund auf skeptischen Publikum. Optimal sind mehrdimensionale Problemkarten und der empirische Nachweis der permanenten Überschreitung verbindlicher Grenz- und Alarmwerte.
In der Regel werden dann die stark belasteten innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen als Problemzonen herauskommen (City Ring, Radiale, Stadtautobahnen, Durchzugsstraßen usw.). Entscheidend wird es sein, aufzuzeigen, welche Problemlösungsbeiträge automatisiertes Fahren im Kontext der Push-and-Pull-Strategie eröffnet.
Die für Bürgerbeteiligungsprozesse bestgeeignete illustrierte Darstellung bietet immer noch die Publikation des damaligen BMBau von 1986 „Stadtverkehr im Wandel“, die mit plakativen Bildern und Texten die Problemlagen beschreibt. Bei den Lösungen bleibt sie dann allerdings auf dem Stand von 1986 stehen und sollte durch Darstellung der neuen Optionen ergänzt werden. Gut geeignet sind dafür auch die diversen Publikationen des UBA und der Agora Verkehrswende zu Stadtverkehrsthemen.

7.3 Was ist verkehrs- und raumplanerisch bei der Implementierung eines automatisierten ÖPNV zu beachten und welche der vorgestellten Methoden können wie zur Anwendung gebracht werden?

Heiner Monheim und Constantin Pitzen
Die automatisierten fahrerlosen Fahrzeuge haben das Potenzial, die Stadt und das Land zu verändern, und sie haben das Potenzial, die in Kap. 3 beschriebenen potenziellen Fehlentwicklungen zu vermeiden. Dafür werden nachfolgend Handlungsempfehlungen beschrieben, die von den Kommunen dann umgesetzt werden können, wenn die EU-, bundes- und landesrechtlichen Ermächtigungen gegeben sind.

7.3.1 Nahverkehrsplanung in den Kommunen

Das im Jahr 2021 novellierte Personenbeförderungsgesetz (PBefG) sieht erstmals Regelungen für bedarfsgesteuerte On-Demand-Verkehrsangebote vor. Die rechtliche Grauzone ist seither überwunden, nachdem über 40 Jahre lang Verkehrsangebote unter Namen wie „Rufbus“, „Anruf-Sammel-Taxi“, „Alita“, „AnrufBus“ oder „Flexibus“ auf Basis von zeitlich begrenzten Experimentierklauseln oder durch Dehnung von Rechtsgrundlagen agierten. Das novellierte PBefG sieht zwei Arten von On-Demand-Verkehrsangeboten vor:
  • Linienbedarfsverkehr (§ 44): Hierbei handelt es sich um räumlich und zeitlich flexible Verkehrsangebote in Regie des ÖPNV. Die Verkehrsangebote werden im Nahverkehrsplan festgelegt und sind in den ÖPNV integriert. Unternehmen wie Clevershuttle, ioki oder door2door bieten die Durchführung dieser Verkehrsart im Auftrag der meist kommunalen Aufgabenträger oder auch kommunalen Verkehrsunternehmen an.
  • Gebündelter Bedarfsverkehr (§ 50): Diese Verkehrsangebote sind marktinitiiert und werden ohne öffentlichen Auftrag von Unternehmen wie Uber, Lyft oder Moya angeboten. Sie sind nicht in den ÖPNV integriert und müssen ohne öffentliche Beauftragung oder Zuschüsse wirtschaften. Ihre Entwicklung hängt aber auch maßgeblich davon ab, wie das Betriebskonzept angeboten wird, also als Free-Floating-System ohne Stationen oder als stationsbasiertes System mit zahlreichen dezentralen Zugangsstellen.
Mit dem Nahverkehrsplan haben die Landkreise, kreisfreien Städte und andere Aufgabenträger ein Instrument, um für den ÖPNV Ziele, Standards sowie Rahmenbedingungen für die Vergabe der Leistungserbringung und zur Finanzierung von Betrieb sowie Investitionen festzulegen.
Die Kommunen können z. B. über Festlegungen im Nahverkehrsplan Einfluss auf den Wettbewerb zwischen den Anbietern der Verkehrsdienstleistungen ausüben. Folgende Regelungsbereiche sieht das PBefG vor:
  • Höchstbeförderungsentgelte (§ 51a Abs. 2 S. 2 Nr. 1 PBefG)
  • Bündelungsquote (§ 50 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 PBefG), welche zum Schutz öffentlicher Verkehrsinteressen auch außerhalb des Stadt- und Vorortverkehrs notwendig ist
  • Rückkehrpflicht (§ 50 Abs. 1 S. 3, Abs. 4 S. 1 u. 2 Nr. 1 und Nr. 2 PBefG)
  • Zeitliche, räumliche Beschränkungen des Einsatzes (§ 50 Abs. 2 S. 2 PBefG)
  • Barrierefreiheit
  • Emissionsstandards
  • Sozialstandards (§ 50 Abs. 4 S. 2 Nr. 4, Nr. 5, S. 3 PBefG)
Motive für Festlegungen im Nahverkehrsplan sind:
  • Beschlussfassung in den politischen Gremien über die Qualität und die Rahmenplanung für die Mobilität von Bewohnern, Reisenden und Touristen
  • Absicherung der Finanzierung der o. g. politisch gewünschten Standards für die Laufzeit des Nahverkehrsplans oder einen definierten Prognosezeitraum
  • Koordination mit benachbarten Aufgabenträgern für landes-, kreis- und stadtgrenzenüberschreitende Verkehrsverbindungen
  • Vorgaben für die Planung in anderen Behörden, z. B. Straßennetzplanung, Schulnetzplanung oder Flächennutzungsplanung
  • Abwehr oder Begrenzung von Verkehrsangeboten, die den Zielen des Nahverkehrsplanes zuwiderlaufen. Hierbei geht es einerseits um die Verhinderung von „Rosinenpickerei“, also Übernahme von profitablen Linien, während wenig profitable Linien von der öffentlichen Hand finanziert werden müssen, und andererseits um die Abwehr oder Begrenzung von gebündelten Bedarfsverkehren entsprechend § 48 PBefG von Anbietern, wie Moja, Uber oder Lyft, die den öffentlich finanzierten ÖPNV konkurrenzieren.
Mit Blick auf die Einführung automatisierter fahrerloser Fahrzeuge werden nachfolgend einzelne mögliche Regelungsbedarfe im Nahverkehrsplan erläutert:
  • Die Rahmenplanung des Nahverkehrsplans umfasst Bedienungsgebiete oder Linienwege, Bedienform (Linienverkehr oder Linienbedarfsverkehr = Rufbus oder on demand), Häufigkeit der Fahrten, Anforderung an Anschlüsse, maximale Fußwegentfernungen, maximale Fahrpreise und weitere Qualitäten des Verkehrsangebotes. Diese Festlegungen sind die Grundlage für die Planung des Verkehrsangebotes, dienen aber zugleich auch als Mindeststandards, die im Fall von Genehmigungswettbewerben die Anträge von Billiganbietern ausschließen helfen.
    Auch die Festlegung von Linienbündeln ist ein Instrument zur Verhinderung von ungewollten Genehmigungswettbewerben, indem profitable Linien und nicht kostendeckende Verkehrsangebote (Linienverkehre oder Linienbedarfsverkehre) zu Paketen gebündelt werden, die nur gemeinsam vergeben werden, sodass das ausschließliche Bedienen lukrativer Strecken vermieden wird.
    Automatisierte fahrerlose Fahrzeuge haben geringere Betriebskoten und damit werden neuerliche Genehmigungswettbewerbe wahrscheinlich. Eine genaue Beschreibung der Angebotsstandards im Nahverkehrsplan ist daher zunehmend wichtig.
    Die Kommunen haben die Möglichkeit, durch die Festlegung von Standards den ÖPNV vor Verschlechterungen zu schützen.
  • Restriktionen für gebündelte Bedarfsverkehre werden nötig sein, um ein Rosinenpicken durch die Mobilitätsportale Uber, Lyft, Moya u. a. m. zu vermeiden. Die Portale, bzw. Unternehmen, sind auf Gewinnerzielung ausgerichtet und agieren bislang eher in einer kleinen Marktnische zwischen ÖPNV und Taxi. Mit der Einführung automatisierter fahrerloser Fahrzeuge ändert sich das Geschäftsmodell dieser Unternehmen grundlegend, weil durch die dann geringeren Betriebskosten Fahrpreise unweit des Fahrpreisniveaus des ÖPNV möglich sein werden.
    Die Kommunen haben durch Festlegung von Restriktionen im Nahverkehrsplan die Möglichkeit, den ÖPNV vor den künftig fahrerlosen gebündelten Bedarfsverkehren zu schützen.

7.3.2 Straßeninfrastruktur

Die Straßen beeinflussen die technische Machbarkeit und die Regeln für den Einsatz automatisierter fahrerloser Fahrzeuge. Die Kommunen haben in ihrer Funktion als Straßenbaulastträger und durch ihre Entscheidungsspielräume die Möglichkeit, die Einsatzmöglichkeiten der neuartigen Fahrzeuge für Aufgaben im ÖPNV sowie für kommerzielle und private Aufgaben durch die Eigenschaft der Straßen und durch Festlegen von Regeln zu beeinflussen.
Grundsätzlich sollte die Straßeninfrastruktur so geplant werden, dass 1) automatisierte fahrerlose Fahrzeuge gut fahren können, 2) möglichst wenig Emissionen verursacht, 3) negative Auswirkungen vermieden werden und 4) der öffentliche Raum effizient und fair genutzt werden kann, mit angemessener Berücksichtigung des Fuß- und Radverkehrs und Aufenthalts.
Herstellung der Befahrbarkeit für automatisierte fahrerlose Fahrzeuge
Fahrzeuge, die auf Basis der Regularien des novellierten StVG entsprechend SAE Level 4 zugelassen sind, sollen im regulären Straßenverkehr ohne Eingriffe eines menschlichen Fahrers selbständig, jedoch unter technischer Aufsicht fahren können.
Für die Herstellung der Befahrbarkeit sind damit grundsätzlich keine Maßnahmen erforderlich. Die absehbar verfügbaren Fahrzeuge SAE Level 4 werden aber per Definition die Technische Aufsicht (auch Tele-Operator genannt) zur Beurteilung der Verkehrsverhältnisse anfragen müssen, wenn die Verkehrssituation die Fähigkeiten des automatisierten Fahrzeuges überfordern.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht bekannt, wie einfach die Verkehrsverhältnisse sein müssen, damit die automatisierten Fahrzeuge die Strecke fehlerfrei und flüssig befahren können.
Die Straßenbaulastträger können die Befahrbarkeit des Straßennetzes für Fahrzeuge entsprechend SAE Level 4 beispielsweise durch folgende Maßnahmen beeinflussen:
  • Herstellung der Kommunikation zwischen den Fahrzeugen mit Lichtsignalanlagen (LSA), Wechselverkehrszeichen, Bahnübergängen etc. durch V2X (Vehicle-to-X-Komminikation) zur rechtssicheren Übertragung von Signalen an das Fahrzeug. Ambitionierter ist die Herstellung einer digitalen, internetbasierten Kommunikation ohne die bisher üblichen Infrastrukturanlagen (Signale, Schranken u. a. m.)
  • Eindeutige Spurführung zur Vereinfachung der Verkehrsverhältnisse, dabei aber Spurführung ohne bauliche Elemente oder Markierungselemente, sondern über digitale Leittechnik, was eine sehr viel schmalere Dimensionierung erlaubt und daher den Flächenbedarf der Hauptverkehrsstraßen auf der Strecke und an Knoten minimiert
  • Freihalten der Sichtdreiecke zur verbesserten Beurteilung der Vorfahrtssituationen in Kreuzungsbereichen. Auch hier erlaubt die digitale Spurführung sehr viel sicherere und platzsparendere Abläufe und effektivere Raumnutzung
  • Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf allen Strecken und in allen Kreuzungsbereichen im Rahmen des generellen Geschwindigkeitsregimes, das 30 km/h als Maximalgeschwindigkeit und 20 km/h als Regelgeschwindigkeit auf gemischt genutzten Verkehrsflächen einstellt.
Verkehrssteuerung
Weniger medial präsent sind bislang die Hersteller von allen Einrichtungen für die Verkehrssteuerung, also das Verkehrssystemmanagement mit ihren Verkehrsrechnern, Signalsystemen und intelligenten Parkleitsystemen. Erst recht unentdeckt bleiben einstweilen die Potenziale für den Austausch des Schilderwaldes aus analogen Verkehrszeichen gegen digitale „Signale“, die das Verkehrsverhalten der Fahrzeuge steuern. Die „intelligente Straße“ als Zwilling zum „intelligenten Auto“ wird wenig diskutiert. Zu berücksichtigen sind dabei jedoch jene Verkehrsräume, in denen Fußgänger und Fahrradfahrer im Mischverkehr mit automatisierten Fahrzeugen unterwegs sind.
Dabei liefern beide Optionen in Kombination wichtige Werkzeuge einer Verkehrswende, vor allem im innerörtlichen Verkehr. Die Effizienz-, Verträglichkeits- und Sicherheitsprobleme des Ortsverkehrs könnten gelöst werden, wenn weniger der Komfort der Autoinsassen mit neuem Infotainment das Ziel der digitalen Aufrüstung der Fahrzeuge und Straßen wäre, sondern die Steigerung der Effizienz und insbesondere der Flächen- und Energieeffizienz und der Ortsverträglichkeit des Autoverkehrs.
Digitale und intelligente Straße
Viel weniger diskutiert werden Fragen der „digitalen und intelligenten Straße“. Wenn es keine Radfahrer, Fußgänger und konventionellen Kfz gäbe, könnte sie sogar ohne Verkehrszeichen auskommen. Stattdessen gäben Sender die jeweiligen Informationen als digitale Signale aus, regulierten so z. B. das Geschwindigkeitsverhalten, Abstandsverhalten, Parkierungsverhalten etc. und optimierten die Verkehrsabläufe. Die im öffentlichen Raum integrierten Sender gäben die relevanten Signale und kommunizierten mit den Fahrzeugen der Umgebung. Darüber würden die Prozesse optimiert. Der bisher übliche „verzweifelte Versuch“, das Fahr- und Parkierungsverhalten baulich oder per Verkehrszeichen zu regulieren, könnte damit entfallen. Die baulichen Maßnahmen könnten sich endlich auf die Verschönerung, Begrünung, Stadtgestaltung etc. konzentrieren. Die Aufgabe der Verkehrsbeeinflussung übernähme die digitale Steuerung.
Eigentlich müssten die Kommunen hocherfreut sein, künftig auf Schilder und Signale verzichten zu können, weil die intelligente Straße die Verkehrsregelung übernimmt. Und sie müssten hoch erfreut sein über die neuen Freiheiten für die Gestaltung des öffentlichen Raumes, wenn der Autoverkehr digital „domestiziert“ wird, also nach Menge und Verhalten verträglich gemacht wird. Dazu findet man einstweilen noch kaum Positionierungen aus dem kommunalen Raum und aus dem Kreis der Straßenverkehrsbehörden und der Straßenverkehrsforschung.
Aber bei der Straße ist – abgesehen von wenigen Beispielen für moderne Ampeltechnik und Verkehrssystemsteuerung in Verkehrsrechnern noch wenig von Digitalisierung zu bemerken.
Neue Chancen für Paratransit
Das gilt auch für die stark technologiefixierten Länder wie USA und China oder die stark ÖV-orientierten Länder wie Japan und die Schweiz. Beide Ländergruppen haben ÖPNV-ähnliche Mobilitätsangebote des Paratransit als Bestandteil der modernen Share Economy immer populärer gemacht (USA – Uber und Nachfolgeangebote, China – Didi, Schweiz – Mobility und Publicar und öffentliche Leihräder) und beachtliche Mengenvolumina im Paratransit erreicht. In Deutschland dagegen wurden On-Demand-Angebote und Sharing-Angebote lange mit ordnungspolitischen Hemmnissen ausgebremst. Das Car-Sharing hatte trotz widriger Rahmenbedingungen über die letzten 40 Jahre allerdings zuletzt eine gewisse Dynamik erfahren, seit einige Free-Floating-Anbieter aus dem Kreis der konventionellen Autoindustrie aufgetreten sind. Die zunächst sehr kleinteiligen Car-Sharing-Anbieter wurden zu regionalen und überregionalen Verbundsystemen wie z. B. Cabio, DB Rent (Marke Flinkster) konsolidiert. Mehr Dynamik entwickelte sich im Bereich des Bike-Sharings, das etwa seit dem Jahr 2000 in vielen Ländern beachtliche Mengenvolumina erreicht. In Deutschland dagegen blieb Bike-Sharing selektiv auf Angebote in diversen Großstädten und in einigen touristischen Regionen beschränkt. Als Grundbestandteil öffentlich erstellter Mobilitätsangebote wurde das Bike-Sharing nicht entwickelt. Dabei können mit den neuen digitalen Medien und entsprechenden Apps die früheren logistischen Hemmnisse überwunden werden und sich ganz neue Horizonte für modernen Paratransit auf Massenbasis ergeben. Das gilt in besonderem Maße für die Angebote des Ride-Sharing, dessen Potenzial in Deutschland verkehrspolitisch und verkehrsplanerisch lange Zeit ignoriert und ordnungspolitisch gebremst wurde.
Frühere, noch telefonische und analog betriebene Mitfahrzentralen haben angesichts einerseits fortschreitender Motorisierung und andererseits stark expandierender Billigangebote wie z. B. Flixbus und Flixtrain ihre frühere geschäftliche Basis verloren und werden heute durch internetbasierte Online-Vermittlung von Mitreisen (z. B. bla ba Car) konkurrenziert. Bislang beschränkt sich deren Nutzung aber auf Fernreisen. Im Nahverkehr konnten sich bislang keine großen Vermittlungsplattformen etablieren. Auch die Low-Tech-Angebote wie Mitfahrbänke für ländliche Regionen haben sich trotz ihrer besonderen Sozialfunktion für Autolose bislang nie über marginale Angebotsmengen und Nutzungsmengen gesteigert. Das gilt auch für die gelegentlich kommunalen Car-Sharing-Angebote in Form von Bürgerautos, die das geringe Interesse der kommerziellen Car-Sharing-Anbieter am ländlichen Raum kompensieren sollten. Digitales „Trampen“ blieb in Deutschland also bislang ein Nischenprodukt. Dabei bietet das Internet angesichts der möglichen Effizienzsteigerung des privaten ländlichen Pkw-Verkehrs erhebliche Potenziale, die dann gehoben werden können, wenn dafür seriöse Plattformen mit sicherem Ordnungsrahmen für das schnelle „Matchen“ (Abgleichen) von fahrenden, mitnahmewilligen Autos und mitnahmeinteressierten potenziellen Fahrgästen und eine leistungsfähige Dispositions- und Kommunikationslogistik aufgelegt werden, unter kommunaler Regie. Ein gut regulierter Rahmen für spontane Fahrgemeinschaften und eine Integration in das ÖPNV-System könnten erhebliche Verkehrseinsparungen und Effizienzgewinne mobilisieren.
Öffentlicher Raum
Der innerörtliche Autoverkehr verursacht große Probleme in der Flächenkonkurrenz. Er lässt wegen seiner maßlosen Anforderungen an breite Fahrbahnen mit oft mehreren Fahrspuren und große Kreuzungen mit mehreren Aufstell- und Abbiegespuren wenig Platz für den Fuß- und Radverkehr, die mit minimalen Flächen abgespeist werden.
Dramatisch verschlimmert wird die Flächenkonkurrenz durch den Flächenbedarf des Parkens und Haltens. Da das jederzeitige Abstellen von Autos politisch und administrativ als eine Art „Grundrecht“ im Rahmen des Gemeingebrauchs behandelt wird und die Bereitstellung von Parkraum auf Parkstreifen, am Straßenrand und auf öffentlichen und privaten Stellplätzen (sei es ebenerdig oder in Tiefgaragen und Parkhäusern) als prioritäre Planungsaufgabe und baurechtliche Investorenpflicht der Bauherren (private wie gewerbliche) gehandhabt wird, bleibt für die Nutzung des öffentlichen Raumes für fließenden Fußverkehr und ruhenden Fußverkehr (= Aufenthalt) und fließenden und ruhenden Radverkehr wenig Platz. Zumal bislang systematische Parkraumbewirtschaftung als Mittel, die Straßen vom Parken zu entlasten und das gebührenpflichtige Angebot intensiv zu nutzen, in den meisten Kommunen nicht oder räumlich sehr selektiv genutzt wird.
Auch der Verkehrsraum für den öffentlichen Verkehr bleibt oft unzureichend (keine Busspuren, keine Gleisstraßen). Und in Zeiten des Klimawandels, Hitzestresses und der Flutereignisse ist der fehlende Platz für das Straßengrün (Alleen, Grünflächen, Bauminseln) als entsiegelte, kühlende Infrastruktur ganz dramatisch.
Hier bietet die digitale Revolution der Fahrzeuge und der Verkehrslenkungs- und Ordnungsinfrastruktur ganz neue Möglichkeiten. Die Innenortshöchstgeschwindigkeiten können digital auf verträgliche Limits begrenzt werden, die in öffentlichen Räumen mit gemischten Verkehrsarten und mit autonomen Autos durchweg auf z. B. 20 oder 30 km/h begrenzt werden müssen. Raserei ist dann nicht mehr möglich. Und damit eröffnen sich ganz andere Spielräume für die Gestaltung des Verkehrsraumes. Das planerische Grundprinzip der Separation des öffentlichen Raumes in Fahrbahnen, Parkstreifen, Rad- und Gehwege kann in größeren Räumen zu Gunsten einer flächeneffizienten Shared-Space-Reglung verlassen werden. Es gibt im Innerortsbereich keine exklusiven Fahrbahnen mehr. Der gesamte öffentliche Raum kann freizügig für den Fußverkehr (Bewegung und Aufenthalt) genutzt werden. Die Straßenraumgestaltung wird aus dem starren Korsett autofixierter Straßenbaurichtlinien befreit. Im Extremfall kann der ganze Schilderwald abgebaut werden. Stattdessen werden die Straßen wieder angemessen „bewaldet“ mit Alleebäumen, Bäumen auf Mittelinseln, Beeten etc.
Damit wird endlich die seit den 1980er-Jahren geforderte und mit kleinen Projekten mühsam vorangebrachte „flächenhafte Verkehrsberuhigung“ landesweit implementiert. Bislang hat der Straßenbau bei seinen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen überwiegend mit baulichen Mitteln der Verkehrsberuhigung gearbeitet. Jetzt wird die Verkehrsberuhigung digital eingestellt. Die Prioritäten werden umgedreht: Der gesamte öffentliche Raum gehört prioritär dem Fußverkehr als Basismobilität. Der Kfz-Verkehr bleibt unter den digital eingestellten Regeln der Verkehrsberuhigung (langsam, rücksichtsvoll, jederzeit anhaltebereit und dem Fußverkehr immer Vortritt gewährend) möglich, aber in seiner Menge immer nach voreingestellten Grenzen der Verträglichkeit limitiert. Solche Limits gelten vor allem für das Parken, das auf solche Flächen beschränkt bleibt, wo die anderen Belange (Straßengrün, Sicherheit, Straßenraumgestalt) nicht beeinträchtigt werden.
Hauptstraßen – Domestizierung von Hauptverkehrsstraßen
Die intensivsten Kämpfe werden in den Orten um die Zukunft der Hauptverkehrsstraßen und großen Kreuzungen ausgefochten. Bislang galt hier das Primat der relativ hohen Geschwindigkeit von 50 km/h, am Ortsrand gelegentlich auch 60 km/h und nur in wenigen begründeten Ausnahmen 30 km/h in besonders schützenswerten Teilabschnitten (mit Randnutzungen für Kliniken, Schulen, Kindergärten, Altenheime oder besonders hohen Lärm- und Luftschadstoffgrenzwertüberschreitungen). Die digitale Steuerung erlaubt auch auf diesen Straßen eine zuverlässige, durchgängige Drosselung der Geschwindigkeiten. Dafür bieten sich zwei Optionen. Entweder man behandelt auch innerörtliche Hauptverkehrsstraßen nach dem digitalen Shared-Space-Prinzip mit max. 20 km/h. Oder man akzeptiert ihre besondere Bündelungsfunktion mit Beibehaltung des Separationsprinzips und Drosselung auf 30 km/h. Auch das ermöglicht schon eine andere Gestaltung der Hauptverkehrsstraßen mit deutlich verminderten Fahrspurmaßen und verringerten Fahrspurzahlen. Der gewonnene Platz kann für Alleepflanzung und breitere Geh- und Radwege genutzt werden, wenn partout das Separationsprinzip beibehalten werden soll. So können aus den oft historisch gewachsenen Hauptachsen wieder städtebaulich integrierte Stadträume werden, als Boulevard mit mehreren Baumreihen und deutlich zurückgenommener Dominanz des Fahrverkehrs. Im Falle einer durchgängigen digitalen Shared-Space-Regelung ergeben sich dann natürlich viel größere Freiheitsgrade der Gestaltung und kapazitäts- und attraktivitätsmindernde Effekte auf den verbleibenden Kfz-Verkehr.
Maut – Marktwirtschaftliche Mengenregulierung über ein intelligentes Pricing (Maut)
Gewaltige Mengeneffekte entstehen auch, wenn endlich der kommunale Autoverkehr mit angemessenen, kostendeckenden Nutzungsgebühren für Fahren und Abstellen belastet wird, die nicht als Schikane, sondern als „wahre Preise“ gehandelt werden. Wahre Preise und das Verursacherprinzip gelten als Grundaxiome moderner Umweltpolitik und sind grundsätzlich von der Europäischen Kommission als Ziel vorgegeben. Im Autoverkehr müssten z. B. die (angemessen abgezinsten) Kosten für die Straßeninfrastruktur (Neu-, Aus- und Umbau, Unterhaltung der Anlagen für Fahren und Parken mit Autos sowie für Verkehrslenkung und -überwachung) eingerechnet werden. Hinzu kämen die Kosten für Straßenplanung und -verwaltung sowie die externen Kosten im Umwelt-, Unfall- und Gesundheitsbereich. Aus der Gesamtsumme dieser Kosten würden sich dann, umgelegt auf das Straßennetz und die Fahrleistung bzw. die Aufenthaltsdauer im städtischen Raum in diesem Straßennetz, zunächst einmal die km-Grundkosten ergeben.
Die digitale Intelligenz autonomer Autos und intelligenter Straßen eröffnet darüber hinaus weitere Steuerungsoptionen für Zu- und Abschläge. Variiert werden können beispielsweise Zuschläge für besonders kritische Verkehrszeiten, z. B. Nachtfahrten, die wegen des Ruhebedürfnisses der Anlieger besonders schädlich sind und daher höher bepreist werden. Auch Staustrecken würden dann wegen der wachsenden Ineffizienz bei hoher Nachfrage marktwirtschaftlich verteuert (sodass Staufahrten vermieden werden und Staus verschwinden).
Tarifiert werden können auch fahrzeugseitige Merkmale (z. B. Lärm- und Schadstoffklassen sowie Gewichtsklassen, vor allem bei Lkw) und betriebliche Merkmale (z. B. Pkw-Besetzungsgrad, mit absolutem oder relativem Rabatt für besser besetzte Autos und Zuschlägen für Single-Fahrten).
Tarife und Preise können auf diese Weise sehr differenzierte zeitliche, räumliche und verkehrliche Steuerungsoptionen eröffnen. Diese benötigen eine sinnvolle gesetzliche Grundlage für modernes, intelligentes kommunales Verkehrssystemmanagement.
Die Regeln, wie solche Tarife definiert werden, müssen politisch durch entsprechende Rahmengesetzgebung des Bundes und der Länder definiert werden. Dabei sollen die Kommunen sehr viel Differenzierungsspielräume im Rahmen ihrer Satzungshoheit erhalten, wie das ja auch bei den Tarifen für Anwohnerparkausweise oder generell für die Parkraumbewirtschaftung genutzt wird.
Bislang wehren sich die deutschen Kommunen und ihre Spitzenverbände heftig gegen das Thema „City-Maut“, mit Verweis auf London („Congestion Charge“) oder skandinavische City-Maut-Städte (z. B. Bergen, Trondheim, Oslo in Norwegen oder Stockholm in Schweden). Sie verweisen auf die große interkommunale Konkurrenz der Orte im dicht besiedelten, sehr polyzentrischen Deutschland. Die singuläre Einführung eines kommunalen City-Maut-Systems würde zu massiven Abwerbeaktivitäten mautloser Nachbarstädte und folglich erheblichen Marktverzerrungen führen. Bei den skandinavischen City-Maut-Systemen ist dies wegen der großen Entfernungen zwischen den jeweiligen Maut-Städten und bei der Londoner Congestion Charge wegen der einzigartig dominanten Rolle und konkurrenzlosen Attraktivität der englischen Hauptstadt kein Thema. Dass sich die deutschen Kommunen mit reflexartiger Ablehnung von City-Maut-Modellen generell aus der Maut-Debatte abgemeldet haben, ist jedoch bedauerlich.
Über die intelligente Straße und das intelligente Auto hat man alle Möglichkeiten, mit minimalem Infrastrukturaufwand differenzierte Maut-Systeme einzuführen.
Verhinderung von Schleichverkehren
Navigationsgeräte, Google und andere Routenoptimierer führen Autofahrer auf dem kürzesten Weg zu ihrem Ziel. In Abhängigkeit von der Verkehrssituation ist nicht auszuschließen, dass der kürzeste Weg auch durch sensible Wohngebiete führt. Eine solche nicht umfeldverträgliche Routenwahl durch automatisierte fahrerlose Fahrzeuge kann verhindert werden, wenn in den Navigationssystemen der umfeldabhängige „Widerstand“ einprogrammiert wird und wenn das Umfahren von stauumgehenden „Schleichwegen“ in der digitalen Verkehrssteuerung ausgeschlossen wird.
Solche Bemühungen sind im analogen Verkehrsmanagement schon lange gebräuchlich, erfordern dort aber mühsame bauliche Maßnahmen (Diagonal- und Durchfahrsperren, Einbahn- und Sackgassensysteme), die hohen Planungsaufwand erfordern. In der digitalen Verkehrslenkung sind solche Optionen leicht mobilisierbar und im Falle von Baustellen etc. auch leicht variierbar.

7.3.3 Flächennutzungsplanung und Regionalplanung

Die traditionelle Bauleitplanung ist auf ihren verschiedenen Konkretisierungsstufen (FLNP, B-Plan) immer noch geprägt von den alten Leitbildern autogerechter Ortsentwicklung. Mit den typischen Höchstdichten, Abstandsregelungen und der Präferierung monofunktionaler Nutzungszuweisungen war die Bauleitplanung ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung der heutigen Misere des lokalen und regionalen Autoverkehrs. Mit ihren Dichte- und Stellplatzlogiken ist sie der impliziten Prämisse der Disurbanisierung und Suburbanisierung gefolgt und hat damit das allgegenwärtige Verkehrschaos befördert.
Eine Maßstabsebene höher hat die Regionalplanung mit ihrer Fixierung auf zentrale Orte und ihrer betriebswirtschaftlichen Optimierung aller öffentlich regulierten Bildungs-, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen maßgeblich zur stufenweisen Konzentration öffentlicher Versorgungsinfrastrukturen und zur Explosion der daraus resultierenden, überwiegend straßenfixierten Verkehrsvolumina beigetragen, denen dann durch den Ausbau der Straßennetze und Parkraumangebote Rechnung getragen wurde.
Dieser Prozess hat sich im Zeichen von Klimakrise und Verkehrswendepostulaten als zunehmend negativ erwiesen. Er verursacht hohe Kosten, großen Mobilitätsaufwand und hohe Umwelt- und Klimabelastungen. Daher ist ein neues Leitbild und ein neuer Steuerungsmechanismus erforderlich, der die Potenziale des automatisierten Fahrens und der intelligenten Verkehrssteuerung sowie der darauf basierenden fairen Kostenanlastung durch Road Pricing für Fahren und Abstellen der Kfz konsequent nutzt und daraus neue Impulse für eine bessere Regional- und Ortsentwicklung generiert.

7.3.4 Anpassung an Gesetze auf Landesebene

Die Landkreise, die kreisfreien Städte und teilweise auch die großen kreisangehörige Städte sind Aufgabenträger für den ÖPNV auf der Straße. Im Interesse einer besseren Nahmobilität ist es wichtig, den feinerschließenden ÖPNV massiv auszubauen, um auch hier hohe Marktanteile des ÖPNV zu sichern. Dafür müssen die kleineren Städte und Gemeinden auch als Aufgabenträger der lokalen, feinerschließenden ÖPNV-Systeme und der lokalen Paratransitsysteme bestimmt werden. Es ist nicht einzusehen, dass sie für den lokalen Kfz-Verkehr mit Vorhalten von Gemeindestraßen und kommunalem Parkraum zuständig sind, nicht aber für den lokalen feinerschließenden ÖPNV.
Dementsprechend müssen die Landesnahverkehrsgesetze verändert werden und die Kommunen generell zur Aufstellung von lokalen Nahverkehrsplänen verpflichtet werden, natürlich eingebettet in das System der regionalen Nahverkehrspläne der Landkreise.
Um die dafür nötigen Finanz- und Personalmittel aufbringen zu können, sind Anpassungen in den Gemeindefinanzgesetzen und in den GVFG-Regelungen zu treffen und der Gesamtrahmen entsprechend zu erhöhen.

7.4 Beispiel Lindau – Die romantische Stadt am Bodensee bindet nicht erschlossene Siedlungsflächen an die großen Buslinien an und reduziert den Pendelverkehr

Robert Yen

7.4.1 Die Vision von klimaneutraler Mobilität in Lindau

In diesem Beispiel soll eine Vision entwickelt werden, wie mit Hilfe automatisierter Shuttles der motorisierte Individualverkehr (MIV) sowohl im Bereich des Binnenverkehrs als auch im Bereich des Pendelverkehrs reduziert werden könnte. Ausgangspunkt ist die in verschiedenen Studien untersuchte aktuelle Situation des Mobilitätssystems in Lindau. Diese gilt als Grundlage für die Entwicklung einer rein hypothetischen Vision, die keine Rücksicht auf die politische Lage und Entscheidungen der letzten Zeit nimmt, sondern frei auf Grundlage der zu erreichenden Ziele das Visionsbild zeichnet.
In einem Wettbewerbsbeitrag zum Mobilitätswandel #2035 des Bundesministeriums für Umwelt schreiben die Lindauer Autoren: „Für uns als Stadt Lindau bedeutet Mobilitätswandel #2035 die Veränderung der Rahmenbedingungen und Lebensumstände in der Weise, dass die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger steigt, Lindau attraktiver auch für jüngere Menschen und Familien wird und das große Ziel der CO2-Neutralität bis 2038 erreicht wird.“ Dieses Ziel bestimmt die in diesem Beispiel ausgeführte Vision.

7.4.2 Ausgangslage

Die romantisch anmutende Stadt Lindau ist mit ihrer direkten Lage am Bodensee ein attraktiver Wohnstandort vor allem für Rentner aus dem ganzen Bundesgebiet Deutschlands. Die Große Kreisstadt Lindau ist Oberzentrum mit mehreren weiterführenden Schulen, vielen Freizeitmöglichkeiten und bereits heute einer hohen Lebensqualität. Lindau erstreckt sich insgesamt über rund 6,5 km in Ost-West- und rund 7 km in Nord-Süd-Richtung und umfasst ca. 33 km2. Die Stadtstruktur ist durch den ländlichen, weitläufigen Norden und den städtischen, kompakten Süden sehr heterogen. Der Sitz von einigen größeren Arbeitgebern im Stadtgebiet, die direkte Grenzlage zu Österreich sowie die Nähe zur Schweiz führen zu starkem Pendelverkehr zwischen Lindau und dem Umland (Arbeitsverkehre, Einkaufsverkehre, Verteilverkehre). Das Lindauer Straßennetz ist dadurch sehr stark belastet. Das Stadtzentrum liegt auf einer Insel am nördlichen Ufer des Bodensees. Die Insel hat einen hohen und schönen Altbaubestand, was die Stadt vor allem im Sommer zu einer attraktiven Destination für Tourist:innen macht.
2017 wurde der KLiMo-Prozess (klimafreundliches Lindauer Mobilitätskonzept) mit einem Endbericht abgeschlossen. In diesem findet sich nicht nur die Analyse und Bewertung unterschiedlicher Szenarien, sondern auch eine ausführliche Beschreibung und Bewertung von Maßnahmen, die zu mehr Klimaschutz und einem besseren Angebot an Alternativen zum motorisierten Individualverkehr (MIV) führen sollen. KLiMo wurde in einem breiten Bürger:innen-Beteiligungsprozess erarbeitet. Es wurden eine Verkehrserhebung und -befragung mit mehr als 1100 Bürger:innen durchgeführt und zur Analyse der Wirkung ein Verkehrsmodell erstellt. Schritt für Schritt arbeitet die Stadt die einzelnen Maßnahmen ab. Trotz einer hohen Bereitschaft in der Bevölkerung ihr Mobilitätsverhalten anzupassen (50,2 % der Wege werden im KLiMo-Szenario 2030 ohne MIV zurückgelegt), können im Bereich des Verkehrs nur rund 7,7 t CO2-Äquivalent pro Jahr im Vergleich zu den Emissionen von 2015 (40.400 t CO2-Äquivalent pro Jahr) eingespart werden. Dies genügt bei Weitem nicht.
Hoher Anteil MIV im Binnenverkehr und als Quell-/Ziel-Verkehr mit dem Umland
Das KLiMo weist 34 % MIV im Binnenverkehr und 68 % MIV im Quell-/Ziel-Verkehr aus. Der MIV macht bei Wegen von 0–2 km 29 % (ÖPNV 1 %) aus, bei Wegen zwischen 2 und 5 km wird von 50 % der Bürgerinnen und Bürger auf das Auto (ÖPNV 6 %) zurückgegriffen und bei Wegen von 5–10 km von 68 % (ÖPNV 11 %). Für Wege von über 10 km wird von 81 % der Bevölkerung dem Auto vor dem ÖPNV mit 14 % der Vorzug gegeben. Es zeigt sich, dass im Binnenverkehr noch viel zu oft die Bürgerinnen und Bürger auf das Auto zurückgreifen. Außerdem kann daraus geschlossen werden, dass der ÖPNV nicht attraktiv genug für den Umstieg vom Pkw zum ÖPNV ist.
Als häufigsten (35 % trifft zu und 15 % trifft teilweise zu) Grund dafür, warum der Pkw genutzt wird, nennen die Befragten „Einkaufen“. Als zweithäufigster (30 % trifft zu und 12 % trifft teilweise zu) Grund wird „bequem“ angegeben. Analysiert man die Verkehrszwecke des Quell-/Ziel-Verkehrs, so zeigt sich, dass nur 30 % einen beruflichen Zweck haben, hingegen 62 % der Fahrten einen privaten oder Bildungshintergrund (18 % Einkaufen, 27 % Freizeit, 17 % Erledigungen/Begleitung) haben. Es handelt sich bei 8 % der Personen im Quell-/Ziel-Verkehr um Tages- bzw. Übernachtungstouristen (KLiMo S. 40).
Starker Pendlerverkehr
Der Sitz von einigen größeren Arbeitgebern (z. B. Dornier, Continental, Liebherr) im Stadtgebiet, die direkte Grenzlage zu Österreich sowie die Nähe zur Schweiz führen zu starkem Pendelverkehr zwischen Lindau und dem Umland (7500 Einpendler und 3900 Auspendler täglich). „Die Große Kreisstadt Lindau (Bodensee) besitzt ausgeprägte Pendlerverflechtungen [innerhalb des Landkreises] mit Gemeinden des Landkreises insbesondere mit den Märkten Weiler-Simmerberg (755 Pendler) und Scheidegg (649 Pendler) sowie der Gemeinde Weißensberg (634 Pendler). […] Der größte Pendlerstrom zu einer Gemeinde außerhalb des Landkreises besteht zwischen der Großen Kreisstadt Lindau (Bodensee) und der Stadt Wangen i. Allgäu (1188 Pendler). Weitere bedeutende Verbindungen bestehen jeweils zwischen der Großen Kreisstadt Lindau (Bodensee) und Friedrichshafen (829 Pendler), Kressbronn am Bodensee (505 Pendler), Tettnang (445 Pendler) sowie Ravensburg (401 Pendler). Es besteht zudem ein nennenswerter Pendlerstrom zwischen der Großen Kreisstadt Lindau (Bodensee) und Österreich (308 Pendler).“ (Meder, E. et al. 2021). Das Lindauer Straßennetz ist dadurch besonders auf den Ost-West- und Nord-Süd-Achsen belastet. Dies führt zu hohen Emissionen und einer störenden Wirkung für die Anwohner. Besonders die Ost-West-Achse Bregenzer Straße (B12)/Friedrichshafener Straße weist mit etwa 25.000 Kfz/Tag eine sehr hoher Belastung auf. Diese Achse spielt nicht nur für Quell-/Ziel-Verkehre bzw. Durchgangsverkehre eine wichtige Rolle, sondern stellt auch für den Binnenverkehr eine bedeutende Strecke für die Anbindung vieler Ziele innerhalb Lindaus dar. An einzelnen Knotenpunkten entstehen zeitweise Rückstaus, die den Verkehrsfluss im Stadtgebiet deutlich beeinträchtigen. Die kleineren Wohnstraßen und Stadtteilverbindungen weisen hingegen weitestgehend geringe Verkehrsbelastungen auf (vgl. KliMo 2017).
Hohe Verkehrsbelastungen insbesondere in Tourismushochsaison – Rückstaus, hohe Emissionen
In den Sommermonaten spielen besonders auch touristische Verkehre eine Rolle. Dadurch kommt es gehäuft zu tageszeitlichen Überlastungen an Knotenpunkten und Staubildungen sowie zur Beeinflussung anderer Verkehrsmittel (z. B. Verspätungen im ÖPNV). Dieser tourismusbedingte Anstieg der Verkehrsmengen führt zu einer Verschärfung der Probleme. Besonders stark von den zusätzlichen Verkehrsbelastungen ist die Zufahrt zur Insel betroffen (KliMo 2017: 51). Langzeittouristen machen Ausflüge innerhalb der Bodenseeregion und Tagestouristen kommen, um sich das malerische Lindau (Insel) anzuschauen.
Demografischer Wandel – Alterung der Bevölkerung
Der demografische Wandel und die damit verbundene Alterung der Bevölkerung stellen eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre für die Stadt Lindau dar. Vom Jahr 1990 bis zum Jahr 2015 ist der Anteil der über 65-Jährigen um 23 % gestiegen, während der Anteil, der unter 18-Jährigen seit 2004 um zwei Prozent gesunken ist (KliMo 2017: 11). Um den gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden, gilt es, den öffentlichen Raum auf die Belange der älteren Menschen auszulegen (Barrierefreiheit) und die Stadt attraktiver für junge Familien und junge Menschen zu machen. Hier spielen leistbarer Wohnraum, attraktive Arbeitgeber vor Ort und Bildungsangebote auch im Bereich der Hochschulen eine wesentliche Rolle.
Ausbau des ÖPNV in Lindau gut und dennoch sind einige Siedlungsflächen in Lindau nicht erschlossen
Insgesamt kann der Ausbau des ÖPNV in Lindau im Vergleich zu anderen ähnlich großen Städten als gut bezeichnet werden. Lindau hat einen Zentralen Umsteigepunkt (ZUP), an dem sich basierend auf einem 30-min-Takt die Stadtbusse treffen. Es zeigt sich jedoch, dass die Attraktivität des ÖPNV nicht ausreicht, um auf die Nutzung des privaten Pkw zu verzichten. Es gibt immer noch einige Quartiere Lindaus, wie Bertersweiler, Hörbolz, Regnersweiler, Humbertsweiler, Rickatshofen, Oberrengersweiler, Aeschacher Ufer usw., die nicht mit dem ÖPNV erschlossen sind. Ein großer Teil des Binnenverkehrs mit dem privaten Auto kommt aus diesen Siedlungsflächen.

7.4.3 Schlussfolgerungen und allgemeine Lösungsansätze

Das von den Autoren eines Wettbewerbsbeitrags Lindaus zum Mobilitätswandel #2035 formulierte Ziel (siehe Abschn. 7.2.1) geht davon aus, dass wir Menschen dazu bereit sind, Gewohnheiten aufzugeben, wenn notwendige Bedürfnisse gestillt werden können und sich dadurch ein Mehr an Qualität erreichen lässt. Die Stadt Lindau ist davon überzeugt, dass Mobilität nicht einfach mit Verkehr oder der Bewegung von Menschen und Gütern von A nach B gleichgesetzt werden kann. Mobilität ist ein Ökosystem von räumlichen Strukturen, Angeboten, Beziehungen, Bedürfnissen und teilweise auch Zwängen der Menschen, die dazu führen können, dass Menschen sich von A nach B bewegen. Betrachten wir dieses Ökosystem heute, so sind auch in Lindau die räumlichen Strukturen für die Nutzung eines Autos optimiert und die Angebote zur Erfüllung der Bedürfnisse räumlich so ausgestaltet, dass die einzelnen Punkte zur Deckung der wesentlichen Bedürfnisse für viele Bürgerinnen und Bürger nicht in attraktiver Weise fußläufig, mit dem Fahrrad oder mit dem ÖPNV zu erreichen sind. Die Optimierung der Straßen für motorisierte Fahrzeuge für den Personen- und den Güterverkehr hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen auch ein Auto nutzen. Lärm- und Luftverschmutzung sowie ein stetig wachsender räumlicher Bedarf für den stehenden und fahrenden Verkehr sind die Folge. Es geht also darum, mit den Bürger:innen sowie mit den Gewerbetreibenden, Arbeitgeber:innen und der Tourismuswirtschaft darüber ins Gespräch zu kommen, unter welchen Bedingungen eine außergewöhnlich hohe Lebensqualität in Lindau erreicht wäre, sodass sie weitestgehend auf den motorisierten Individualverkehr verzichten könnten.
Der ÖPNV spielt derzeit in Lindau und in Verbindung mit dem Umland eine relativ geringe Rolle. Am Beispiel ÖPNV lassen sich gut die Zusammenhänge zwischen Lebensumständen, Mobilität und Stadtentwicklung zeigen.
Der Automobilzulieferer Continental betreibt die Entwicklung von automatisiertem und vernetztem Fahren (avF) von Lindau aus. Die Einführung von elektrischen automatisierten Kleinbussen (SAE Level 4), sogenannten Shuttles, zur Einbindung von bis heute nicht erschlossenen Siedlungsflächen mit einem 5- bis 10-min-Takt könnte ein attraktives Angebot für den Umstieg vom Auto auf den ÖPNV sein. Ein erster Pilotversuch hat automatisierte Kleinbusse von Continental während der Landesgartenschau auf der Insel in Einsatz gebracht. Weitere Pilotversuche auf ausgewählten Strecken im Linienverkehr könnten initiiert und später im Regelbetrieb ausgedehnt werden.
Lindau muss für junge Menschen deutlich attraktiver werden. Um zu verhindern, dass die Menschen zum Wohnen ins Umland ziehen und somit pendeln müssen, ist bei der Entwicklung der Stadtteile darauf zu achten, dass es zur Mischnutzung einschließlich leistbarem Wohnen und Gewerbe in diesen Gebieten kommt. So wäre es vorstellbar, dass beispielsweise im bestehenden Gewerbegebiet in der Nähe zur Grenze nach Österreich neue Wohnanlagen sowie Geschäfte und Gastronomie entstehen. Um nicht zusätzliche Flächen zu verbrauchen, könnten bestehende Parkplätze genutzt werden oder Fabrikhallen mit einem Wohnquartier überbaut werden. Mitarbeiter der Unternehmen und Menschen mit geringem Einkommen sollten in diesen Wohnanlagen im Sinne einer sozialgerechten Bodennutzung bevorzugt werden. Alle Stadtteile müssen mit einem guten Fahrradwegenetz (von den Straßen baulich getrennte und wenn möglich durch Bäume beschattete Fahrradwege) erreichbar sein. Der Verkehrsraum in den Stadtteilen könnte zum großen Teil zur Begegnungszone oder autofrei (vgl. Superblocks in Barcelona) werden. Fußwege sollten nach Möglichkeit beschattet sein. Auf die Gestaltung des öffentlichen Raums sollte größter Wert gelegt werden und den Bürgern sollte die Möglichkeit gegeben werden auch durch Eigeninitiativen den öffentlichen Raum zu gestalten. Für die Unternehmen könnten von der Stadt Beratungsgutscheine für die Entwicklung betrieblicher Mobilitätskonzepte ausgegeben werden.
„Einkaufen“ wird am häufigsten als Grund für die Fahrt mit dem Auto genannt. Die Einführung von Lieferdiensten beispielsweise mit speziellen Lastenfahrrädern, die die Stadt Lindau für die private sowie für die gewerbliche Nutzung fördert, und mithilfe einer Logistikmanagementsoftware, oder die Etablierung von kleinen selbstfahrenden Trolleys, sogenannter „TransportBuddies“, könnte das Einkaufen auch ohne Auto komfortabel machen. Flanieren in der Stadt oder im Stadtteilzentrum wäre ohne das Schleppen von Tüten möglich. Dies würde besonders gut gehen, wenn Teile der Stadt autofrei sind und breite Fuß- und Fahrradwege zur Verfügung stünden.
Es ist zu erwarten, dass durch das Zusammenbringen von Wohnen und Arbeiten bereits ein Teil des einpendelden Verkehrs reduziert werden könnte. Dennoch müssen der ÖPNV und ÖV ins Umland deutlich verdichtet und gestärkt werden. Durch die Analyse der Wege des heute verlaufenden MIV können beispielsweise über Floating Car Data (FCD) Knotenpunkte identifiziert werden, über die der Verkehr führt. Zu diesen Knotenpunkten müsste der ÖPNV/ÖV ausgebaut und an diesen Orten Parkmöglichkeiten errichtet werden. Hier ist die Initiierung von regionalen Projekten notwendig und Überlegungen hinsichtlich einer Pendlerabgabe zu prüfen. Der innerstädtische ÖPNV müsste dann eine rasche Verteilung an die Ziele ermöglichen.
Touristen schätzen an Lindau die wunderschöne Lage der Stadt am Bodensee und den wunderschönen alten Baubestand. Ruhe im urbanen Raum der Insel ohne Autoverkehr wird als besonders attraktiv empfunden. Zudem ist der Bodenseeraum (D, A, CH) eine landschaftlich wunderschöne und für viele Freizeitmöglichkeiten bekannte Region und verfügt auch über ein unheimlich reiches kulturelles Angebot. Touristen besuchen nicht nur die Stadt Lindau, sondern den ganzen Bodenseeraum. Langzeittouristen in Lindau machen Ausflüge in die anderen Städte und Orte rings um den See. Die Vernetzung mit den anderen Ländern, die Vermarktung der ganzen Region mit einem einheitlichen ÖV-Konzept einschließlich Schiffen, Fahrradverleih, Seilbahnen usw. könnte den Gästen ein attraktives Angebot ohne Auto ermöglichen. Durch den Ausbau und die Elektrifizierung der Strecke Zürich-München und Zürich-Stuttgart ist Lindau auch gut mit der Bahn zu erreichen.

7.4.4 Automatisierter ÖPNV zur Überwindung der letzten Meile

Selbst sehr kurze Strecken (0–2 km: 29 % MIV, 2–5 km: 50 % MIV) werden im Binnenverkehr in Lindau trotz eines 30-min-Takts des ÖPNV mit dem Auto gefahren. Als häufigster Grund dafür wird von 50 % der Befragten „Einkaufen“ und als zweithäufigster Grund von 42 % der Befragten „Bequemlichkeit“ angegeben.
Der zweite wesentliche Bereich für die hohe Belastung mit MIV entsteht durch die vielen Ein- und Auspendler aus dem Umland. Die meisten Berufspendler greifen auf das Auto zurück, um zu ihrem Arbeitsplatz in Lindau oder außerhalb von Lindau zu kommen. Bei einer Befragung im Landkreis Lindau (ausgenommen der Großen Kreisstadt Lindau) zur Zufriedenheit mit dem ÖPNV sagten 63 % der Befragten, dass sie werktags, und 78 %, dass sie am Wochenende sehr unzufrieden bzw. unzufrieden mit der Häufigkeit des ÖPNV sind. 58 % der Befragten bringen ihre Unzufriedenheit mit der räumlichen Erschließung des ÖPNV zum Ausdruck (Meder, E. et al. 2021).

7.4.5 Vision der Erschließung Oberreitnau und Unterreitnau mit einem automatisierten ÖPNV

Im Lindauer Stadtteil Oberreitnau leben 1933 Einwohner und im Stadtteil Unterreitnau 510. Beide Stadtteile bestehen aus Streusiedlungen, die derzeit zum großen Teil nicht durch den ÖPNV erschlossen sind. Das macht fast 10 % der Bevölkerung von Lindau aus. Die Buslinien R19 und 2 führen nach bzw. durch Oberreitnau und die Buslinie 3 nach Unterreitnau. Dazu kommt ein Regionalzug, der durch Oberreitnau führt. Folgende Siedlungsflächen befinden sich jedoch weiter entfernt (in den meisten Fällen deutlich mehr als 400 m) von den Buslinien:
  • Oberreitnau: Höhenreute, Greit, Sauters und Waltersberg
  • Unterreitnau: Eggatsweiler, Rickatshofen, Bechtersweiler, Hörbolz & Hörbolzmühle, Dürren, Rengersweiler, Humbertsweiler und Lattenweiler
Das in der Abb. 7.1 dargestellte Konzept zum Nahverkehrsplan hat zum Ziel, die Streusiedlungen der beiden Stadtteile Oberreitnau und Unterreitnau an das ÖPNV-Netz in Lindau anzuschließen. Dafür sollen zwei neue Buslinien entstehen, die einerseits an bestehende Haltestellen gebunden sind und andererseits mittels App im Bereich der bis heute noch nicht erschlossenen Siedlungsflächen angehalten werden können. Diese Vision soll an der konkreten Situation und den konkreten Bedingungen aufzeigen, wie durch einen automatisierten ÖPNV die letzte Meile für die Nutzer:innen komfortabel überwindbar wird und somit eine echte Alternative zum eigenen Auto besteht.
Die Bushaltestelle Oberreitnau Nord wird zu einem neuen Knoten (dargestellt als grüner Punkt). Dort treffen sich die Buslinien R19, 2 sowie die neuen Buslinien Grün (Oberreitnau) und Gelb (Unterreitnau). Außerdem soll der Regionalzug an dieser Haltestelle halten. Die Buslinie 3 führt direkt zum ZUP und über den Bahnhof Lindau Reutin bzw. über das dem Bahnhof gegenüberliegende Einkaufszentrum Lindaupark bis zum Gewerbegebiet Zech, das von der Auenstraße im Westen fast bis zur österreichischen Grenze im Südosten des Gewerbegebiets führt. Mit dem Regionalzug oder mit einmal Umsteigen auf die Buslinie 2 können die Bürger:innen von Oberreitnau und Unterreitnau die Lindauer Insel erreichen. Durch die Erschließung der Streusiedlungen mit der Linie Grün und der Linie Gelb werden die für die Menschen im Allgemeinen wichtigsten Punkte der Stadt auch ohne eigenes Auto leicht erreichbar.
Die beiden neuen Buslinien sollen über automatisierte Elektro-Shuttlebusse SAE Level 4 realisiert werden. In einem ersten Pilotprojekt werden die Buslinie Grün und Gelb in einem 5- bis 10-min-Takt fahren und der Takt der Buslinie 3 und 2 auf einen 15-min-Takt erhöht werden. Dadurch soll für die über 2400 Menschen in den Stadtteilen Oberreitnau und Unterreitnau die Attraktivität des ÖPNV von Anfang an hoch sein. Ziel ist es, insbesondere den Anteil an ÖPNV-Nutzer:innen im Binnenverkehr als auch im Quell-Ziel-Verkehr zu erhöhen.
In Kooperation mit dem Lindauer Handel soll ein Lieferservice etabliert werden, der es den Lindauer:innen ermöglicht, ihre Einkäufe nicht selbst nach Hause tragen zu müssen, wenn sie sich entschieden haben, den ÖPNV oder das Fahrrad zu nutzen oder zu Fuß zu gehen. Auch hierbei sollen emissionsfreie Lastenfahrräder oder Lieferwagen zum Einsatz kommen.
Basierend auf den Ergebnissen der begleitenden Evaluation des Pilotprojekts werden weitere Stadtteile Lindaus mit einem automatisierten ÖPNV im Linienverkehr erschlossen und ggf. können dadurch andere Buslinien verkürzt bzw. ganz gestrichen werden. Gleichzeitig wird die Frequenz des traditionellen Bus-ÖPNV auf einen 15-min-Takt angehoben. Um den Anteil des MIV weiter zu reduzieren, sind parallel bzw. nach der Schaffung des alternativen Mobilitätsangebots sogenannte Push-Maßnahmen einzuführen. Parallel zum Pilotprojekt wird die Geschwindigkeit innerhalb des Stadtgebiets auf 30 km/h reduziert. Mit Fertigstellung des ÖPNV in seiner finalen Form wird das Parken im öffentlichen Verkehrsraum insbesondere auf der Insel im Allgemeinen verboten und wenn notwendig in manchen Stadtteilen nur noch für Anrainer möglich sein. Es wird an bestimmten Orten, wie am Bahnhof Reutin, am Karl-Beyer-Platz, bei den Neubaugebieten auf der Hinteren Insel usw. Parkhäuser oder Parkplätze geben. Die Einnahmen aus der Parkraumbewirtschaftung kommen dann dem ÖPNV in Lindau zugute.

7.4.6 Die Rolle des automatisierten ÖPNV für den Pendlerverkehr

Entsprechend einer Umfrage, die für den Nahverkehrsplan des Landkreises Lindau (ausgenommen die Kreisstadt Lindau) gemacht wurde, gibt es eine große Unzufriedenheit mit der Häufigkeit des ÖPNV, und immer noch 58 % der Bevölkerung empfinden die lokale Verfügbarkeit des ÖPNV für unzureichend. Betrachtet man, dass Lindau an Werktagen 7500 Einpendler und 3900 Auspendler hat (vgl. Meder, E. et al. 2021), die mehrheitlich mit dem Auto ihren Arbeitsplatz aufsuchen, wird deutlich, dass der MIV und somit der Ausstoß von Treibhausgasen im Bereich der Mobilität nur dann in einem ausreichenden Maße reduziert werden können, wenn es gelingt, den ÖPNV auch für die vielen Pendler attraktiv zu gestalten.
Im Abschn. 7.2.4 wurde eine Strategie beschrieben, mit der es gelingen sollte, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie ohne wesentliche Komforteinbußen in Lindau auf die Nutzung ihres Autos verzichten und stattdessen das ÖPNV-Angebot in Anspruch nehmen. Dabei spielt die Erschließung der Streusiedlungen in Oberreitnau und Unterreitnau eine wesentliche Rolle. Das Konzept setzt auf drei Aspekte der Attraktivität des ÖPNV: die Häufigkeit und die lokale Verfügbarkeit des ÖPNV-Angebots sowie die Ermöglichung, dass die wesentlichen Ziele bzw. Wege in der Kreisstadt Lindau mit maximal zweimal Umsteigen erreicht werden können. Insbesondere jene Punkte, von denen aus Bus- oder Zugverbindungen in das Umfeld führen, sollten mit maximal einmal Umsteigen erreichbar sein. Einpendler:innen mit dem Zug oder den regionalen Buslinien haben somit die Möglichkeit, in den meisten Fällen bequem innerhalb von Lindau ihren Arbeitsplatz oder andere Ziele zu erreichen. Auspendelnde Lindauer:innen können ohne großen Aufwand den Bahnhof der Bahnverbindung oder die Haltestelle des Regionalbusses erreichen, der sie zum Ort ihres Arbeitsplatzes bringt.
Da es jedoch beim Pendeln um Ende-zu-Ende-Verbindungen von zuhause zum Arbeitsplatz oder einem anderen Ziel, wie ein Einkaufszentrum und wieder zurück geht, sind die Anstrengungen der Stadt Lindau den ÖPNV auszubauen und attraktiver zu gestalten nicht ausreichend. Ähnliche Anstrengungen müssten in anderen Gemeinden des Landkreises mit hoher Pendlerverflechtung mit der Kreisstadt Lindau, wie „… Weiler-Simmerberg (755 Pendler) und Scheidegg (649 Pendler) sowie der Gemeinde Weißensberg (634 Pendler)“ (Meder, E. et al. 2021) gemacht werden. Außerhalb des Landkreises Lindau müsste der ÖPNV in den Städten „…Wangen i. Allgäu (1188 Pendler), […] Friedrichshafen (829 Pendler), Kressbronn am Bodensee (505 Pendler), Tettnang (445 Pendler) sowie Ravensburg (401 Pendler)“ (Meder, E. et al. 2021) ausgebaut und attraktiver werden.
Nicht zu vergessen sind die Bahn- und Busverbindungen in das Umland von Lindau, die zumindest ein Angebot im 30-min-Takt bereitstellen sollten. Dass dies möglich ist, zeigt ein Blick über die Grenze nach Vorarlberg, wo die Kommunen im Rheintal im 15-min-Takt miteinander verbunden sind. Sicherlich gibt es auch dort noch einen Nachholbedarf betreffend das ÖPNV-Angebot auf der letzten Meile.
Fazit zu Abschn. 7.4
Die hier dargestellte Vision für die Mobilität der Großen Kreisstadt Lindau mit ihren knapp 25.000 Einwohnern illustriert anschaulich, wie die Mobilitätswende durch einen attraktiveren ÖPNV mit automatisierten Fahrzeugen SAE Level 4 gelingen könnte. Lindau steht dabei für viele Städte im ländlichen Raum in Deutschland und Österreich, die alle mit ähnlichen Fragestellungen befasst sind. Das Beispiel zeigt jedoch auch, dass es nicht genügt, die Kommunen unabhängig von ihrem Umland zu beleuchten, sondern es wesentlich ist, die Interdependenzen zwischen den Kommunen in einer Region in Augenschein zu nehmen und gemeinsame Lösungen zu entwickeln. Es müssen somit regionale Konzepte, die weder Grenzen zwischen Bundesländern noch zwischen Staaten kennen, entwickelt werden. Europäische Fonds würden die Finanzierung solcher Projekte ermöglichen, wenn der politische Wille bestünde, der einen freien Umgang mit bestehenden Richtlinien einschließt.

7.5 Wie kann ein automatisiertes Fahrzeug oder eine automatisiert fahrende Transportdienstleistung beschafft und implementiert werden?

Robert Yen und Constantin Pitzen
Bevor automatisierte Fahrzeuge für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) oder Transportdienstleistungen oder etwas irgendwo dazwischen beschafft werden können, sind sowohl für die Mobilität der Region oder der Kommune strategische sowie für die direkte operative und technische Umsetzung relevante Fragen zu beantworten. Die Antworten zu diesen Fragen bilden die Grundlage für die öffentliche Ausschreibung, die ja aufgrund des europäischen Vergaberechts bei dem zu erwartenden Auftragsvolumen auf jeden Fall verpflichtend ist. Um welche Fragen es sich handelt, warum diese Fragen relevant sind und wie man zu einer Entscheidung zu diesen Fragen und letztlich zu einer Ausschreibung und einer Beauftragung eines Auftragnehmers kommt, soll in diesem Beitrag behandelt werden.
Ein besonderer Schwerpunkt liegt bei den Geschäftsmodellen. Diese können sehr unterschiedliche Fertigungstiefen umfassen und sind von den Möglichkeiten der jeweiligen Auftraggeber abhängig. Dennoch ist gerade in diesem Bereich essenziell, sich die Frage zu stellen, welche Aufgaben und Entscheidungen unbedingt in der Verantwortung der öffentlichen Hand über kommunale Verwaltungen, Aufgabenträgerorganisationen oder kommunale Verkehrsunternehmen verbleiben müssen, um auch künftig das Mobilitätssystem im Sinne der Kommune oder Region gestalten zu können.

7.5.1 Am Anfang war die Frage

Mit der zunehmenden Anzahl und besser werdenden Qualität der automatisierten Fahrzeuge (SAE Level 4), die im öffentlichen Verkehr zum Einsatz kommen werden, werden auch die Hoffnungen auf der politischen Ebene größer, dass mit dieser neuen Technologie einige der Verkehrsprobleme der eigenen Kommune oder der Region gelöst werden könnten, ohne Maßnahmen ergreifen zu müssen, die den Bürger:innen nicht gefallen könnten. Sollte keine gezielte Einbindung der automatisierten Fahrzeuge in das Mobilitätssystem mit einer klaren Aufgabenzuordnung erfolgen, werden die Erwartungen vermutlich enttäuscht werden, da zumindest in den nächsten Jahren der Freiheitsgrad hinsichtlich des Einsatzortes ohne Anpassung des Umfeldes deutlich begrenzt sein wird. Für die Beschaffung eines automatisierten ÖPNV sind in Deutschland mehrere Verfahren möglich:
  • Öffentliches Vergabeverfahren (in Deutschland nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen)
  • Genehmigungswettbewerb (Erteilung der Linienverkehrsgenehmigung auf Basis eines wettbewerblichen Vergleichs von Genehmigungsanträgen für das ausschließliche Recht zum Betrieb von Linienverkehren nach PBefG unter Berücksichtigung der Festlegungen im Nahverkehrsplan des Landkreises bzw. der kreisfreien Stadt
  • Direktvergabe (Inhausvergabe ohne Wettbewerb) an einen internen Betreiber, also ein Verkehrsunternehmen im Eigentum des Landkreises oder der kreisfreien Stadt in ihrer Funktion als Aufgabenträger für den ÖPNV, das wie eine Behörde der Kommune geführt wird
Ungeachtet dessen, welches Verfahren zur Anwendung kommt, müssen durch die beauftragende Stelle die folgenden Fragen beantwortet und als Anforderungen einer Leistungsbeschreibung der öffentlichen Ausschreibung oder im Nahverkehrsplan definiert werden.
Was wollen wir mit dem Einsatz von automatisierten Fahrzeugen erreichen?
In Abschn. 7.2 „Wie kann eine Mobilitätsstrategie entwickelt werden, die die gezielte Integration automatisierten Fahrens berücksichtigt bzw. wie lässt sich automatisiertes Fahren in eine bestehende Mobilitätsstrategie integrieren?“ wurde bereits die Entwicklung einer Mobilitätsstrategie bzw. die Integration des automatisierten ÖPNV in die Mobilitätsstrategie beschrieben und darauf eingegangen, wie man zu den Zielen für den Einsatz eines automatisierten SAE Level 4 ÖPNV kommt. Der automatisierte ÖPNV ist nur ein Instrument unter mehreren Instrumenten, das richtig eingesetzt werden will, um den möglichst größten Beitrag zur Erreichung der Mobilitätswende zu leisten.
Es ist für den Erfolg des Einsatzes automatisierter Fahrzeuge daher wichtig, dass man klar die Zielsetzung formuliert und eine konkrete Vorstellung darüber hat, wo die automatisierten Fahrzeuge durch das bessere Angebot auch eine große Wirkung beispielsweise für die Verringerung von Aus- und Einpendlern mit dem Auto entfalten.
Welche Form des ÖPNV-Angebots wollen wir bereitstellen?
Die ÖPNV-Angebote, die beispielsweise in der Novelle des deutschen Personenbeförderungsgesetz (PBefG, vgl. dazu Abschn. 1.​1) festgehalten werden, reichen von sehr starr (Streckenbindung und fahrplangebunden) bis sehr flexibel und individualisiert (örtlich und zeitlich flexibel). Außerdem wird in Abschn. 2.​2 „Anforderungen an ein automatisiertes ÖPNV-Netz – Großstadtrand, Stadt, Umland und Dorf“ detailliert auf das Verhältnis von Raumstrukturen und spezifischen ÖPNV-Angeboten eingegangen. In den nächsten Jahren, abhängig vom technischen Fortschritt bei den Fahrzeugen, werden die Angebote mit Einsatz automatisierter Fahrzeuge eher starr sein. Ungeachtet dessen, sollte die Entscheidung in erster Linie vom Ziel, das mit der Einführung des neuen Angebots erreicht werden soll, und den Gegebenheiten vor Ort getroffen werden. Dabei ist zu beachten, dass je höher der Grad der Individualisierung ist, desto höher auch der Fahrtaufwand pro beförderter Person sein wird, um dieses Angebot in einer verlässlichen Weise gewährleisten zu können. Die daraus resultierenden Folgen für den Klimaschutz sind abzuwägen.
Auf welcher Strecke oder zwischen welchen Ziel- und Endpunkten sollen die automatisierten Fahrzeuge ohne Streckenbindung fahren bzw. welches Gebiet sollen die automatisierten Fahrzeuge mit dem Bahnhof oder einer qualifizierten Bushaltestelle verbinden?
Die Strecke sollte so gewählt werden, dass sie möglichst vielen Nutzer:innen beispielsweise aus einem Wohngebiet zu einem Knotenpunkt eine Weiterfahrt zu wesentlichen Destinationen wie dem Bahnhof, dem Stadtzentrum usw. eine gute Alternative bietet (siehe dazu auch Abschn. 2.​2 „Anforderungen an ein automatisiertes ÖPNV-Netz – Großstadtrand, Stadt, Umland und Dorf“).
In einem zweiten Schritt ist zu analysieren, ob die gewählte Strecke ohne Anpassungen im Bereich der Infrastruktur und der Verkehrsverhältnisse für den aktuellen Stand der Technik der automatisierten Fahrzeuge möglich ist. Ggf. sind die Straßen auf der ganzen Strecke oder in Teilen als Einbahnen zu führen oder es muss an besonders engen Stellen der Raum für den stehenden Verkehr reduziert werden (vgl. dazu Abschn. 7.4). Um den Stand der Technik zu erheben, ist es möglich, noch bevor das Vergabeverfahren begonnen wurde, eine Markterkundung durchzuführen. In den nächsten Jahren, in denen die Technologie noch so neu ist und die Geschäftsmodelle noch nicht erprobt sind, sieht zumindest das deutsche Vergaberecht das Instrument der Innovationspartnerschaft vor.
Ein anderes Szenario könnte sein, dass beispielsweise in touristisch interessanten Städten das historische Stadtzentrum autofrei bleiben soll und auch Reisebusse im Stadtzentrum nicht erwünscht sind. Hier ist vorstellbar, dass automatisierte Busse zwischen einem Parkhaus für Busse und Pkw oder zwischen dem Bahnhof mit oder ohne Streckenbindung und dem Stadtzentrum pendeln. Es ist unter Umständen sinnvoll, bereits den Standort des Parkhauses so zu wählen, dass die Strecke in das Stadtzentrum für den automatisierten Shuttle leicht zu bewerkstelligen ist.
Sollen die Fahrzeuge auch für andere Aufgaben eingesetzt werden?
Beobachtet man das Verkehrsaufkommen verteilt auf die 24 h eines Tages so entsteht ein Muster von Zeiten morgens und abends und in manchen Kommunen auch mittags, in denen das Verkehrsaufkommen deutlich höher ist als in den Zwischen räumen. Nachts fahren nur noch vereinzelt Fahrzeuge. Während Shuttle beispielsweise von morgens bis abends in einem Linienverkehr mit Streckenbindung fahren, könnten diese in der Nacht anliegende Kommunen mit dem Stadtzentrum in Form des Ridepoolings verbinden. Somit könnten diese Angebote die Akzeptanz anderer Maßnahmen für die Neugestaltung des Mobilitätssystems, wie die Reduktion von Verkehrsraum für den stehenden und fließenden Motorisierten Individualverkehr erhöhen. Die Freiheit beim Einsatz automatisierter Fahrzeuge im ÖPNV nur noch eingeschränkt an die Personalkosten gebunden zu sein, ermöglicht es unterschiedliche Fahrzeuge auf unterschiedlichen Linien zu unterschiedlichen Zeiten zu kombinieren und dadurch kosteneffizient neue Angebote zu machen, die eine attraktive Alternative zur Nutzung des privaten Pkw sind.
Was soll gekauft respektive beauftragt werden? Welches Geschäftsmodell scheint für unsere Situation geeignet?
Neue technische Produkte bringen häufig auch eine Variation neuer Geschäftsmodelle mit sich. Darin liegen Risiken, aber auch große Chancen. Es rentiert sich demnach, die einzelnen Teile der Wertschöpfungskette zu betrachten und mit den heutigen Geschäftsmodellen zu vergleichen, um besser zu verstehen, welche Aufgaben man als Auftraggeber selbst übernehmen sollte und welche Aufgaben man an externe Dienstleister übertragen möchte.
Die in Abb. 7.2 dargestellte Wertschöpfungskette von der Beschaffung und vom Betrieb eines Busses durch ein Verkehrsunternehmen mit mehreren Verkehrslinien macht deutlich, dass primär ein Fahrzeug beschafft (Kauf oder Leasing) wird und die gesamte Planung und der Betrieb der Buslinie in der Verantwortung des Verkehrsunternehmens auf Basis von Vorgaben des Aufgabenträgers für den ÖPNV, also i. d. R. Landkreise und kreisfreie Städte, verbleibt. Dies schließt die Möglichkeit ein, dass Verkehrsunternehmen häufig Subunternehmen in die Produktion des Fahrbetriebs einbeziehen. In ländlichen westdeutschen Regionen findet sich zudem noch häufig die Vergabe von Liniengenehmigungen auf Basis von Genehmigungswettbewerben und anschließender Finanzierung über allgemeine Vorschriften.
Die Wertschöpfungskette automatisierter Busse SAE Level 4 unterscheidet sich deutlich von der Beschaffung traditioneller Busse, da es sich um vernetzte Systeme handelt. Diese Systeme beinhalten zum großen Teil proprietäre Software, die auch nur durch den Hersteller gewartet werden können. Außerdem kommen besondere Aufgaben wie die Technische Aufsicht und der Betrieb einer Leitstelle dazu. In der folgenden Abb. 7.3 wird die Wertschöpfungskette von der Beschaffung und dem Betrieb automatisierter Busse SAE Level 4 ohne Zuordnung der Aufgaben an beteiligte Akteure dargestellt.
Die Fähigkeiten der Fahrzeuge werden sich in den nächsten Jahren deutlich verbessern und damit kann auch der Aufgabenumfang entsprechend erweitert werden. Es ist somit bereits bei der Beschaffung darauf zu achten, dass die Fahrzeuge mit dem wachsenden Fortschritt auch stets aktualisiert werden. Dies ist möglich, da der größte Fortschritt im Bereich der Software erfolgt. Die Fahrzeuge agieren vernetzt, d. h. es ist möglich, Informationen zwischen Fahrzeug und Zentrale oder zwischen Fahrzeug und Infrastruktur auszutauschen. Je nachdem, welche Informationen das Fahrzeug erhält, reagiert es. Dies kann der Status einer Lichtsignalanlage sein oder der Befehl, an einer bestimmten Position anzuhalten und einen Fahrgast aufzunehmen, der eine entsprechende Meldung über eine App an die Zentrale gesendet hat. Außerdem befindet sich das Fahrzeug in ständigem Kontakt mit der Technischen Aufsicht, die bei schwierigen Verkehrssituationen durch manuellen Eingriff das Fahrzeug unterstützt. Bei der Beschaffung ist somit nicht nur die Funktionalität des Busses, sondern des Gesamtsystems einschließlich App zu berücksichtigen. Andererseits kann das Fahrzeug für die Planung der Verkehrslinien wesentliche Daten automatisch sammeln und der Zentrale zur Verfügung stellen.
Die automatisierten Fahrzeuge setzen zur Orientierung im geografischen Raum dreidimensionale hochauflösende Karten voraus. Diese werden für das gesamte Straßennetz oder das Gebiet erhoben, auf bzw. in dem das Fahrzeug unterwegs sein soll. Da diese Karten im Allgemeinen proprietär sind, wird die Erstellung der Karten, die auch Geo-Modelle genannt werden, durch den Hersteller der Fahrzeuge erstellt. Wesentliche Informationen wie Standort und Inhalt von Verkehrszeichen, Standort von Lichtsignalanlagen usw., die für das Geo-Modell notwendig sind, werden häufig durch die Kommunen bereitgestellt.
Da zum aktuellen Zeitpunkt die Fähigkeiten bezogen auf die Rahmenbedingungen, unter denen das automatisierte Fahrzeug reibungslos seinen Dienst verrichten kann, noch sehr eingeschränkt sind, wird es in vielen Fällen für einen sinnvollen Einsatz der Fahrzeuge Anpassungen im Bereich der Infrastruktur geben müssen. Diese können von der Herstellung einer Einbahnregelung für die Strecke, auf der das Fahrzeug verkehrt, bis hin zur Anpassung des Straßenverlaufs mit Einrichtung einer eigenen Fahrspur reichen. Diese Anpassungen können gemeinsam mit Maßnahmen aufgrund des Klimawandels (z. B. Beschattung der Hausfassaden durch Bäume) erfolgen (vgl. in diesem Handbuch, Abschn. 2.​3 und 7.4).
Es kann von Nöten sein, dass zusätzliche technische Infrastruktur installiert wird, die dem automatisierten Fahrzeug zusätzliche Informationen liefert. Beispielsweise stellt das Abbiegen nach links mit der Überquerung der Gegenfahrbahn im Bereich einer nicht geregelten Kreuzung eine besondere Herausforderung für automatisierte Fahrzeuge dar. Um die Effizienz und den reibungslosen Betrieb der Fahrzeuge zu steigern, können Kameras installiert werden, die Auskunft über entgegenkommende Fahrzeuge geben.
ÖPNV sollte immer vernetzt verstanden und geplant werden. Durch den Einsatz von automatisierten Bussen kommt diesem Grundsatz nicht weniger Bedeutung zu. Wie oben bereits beschrieben, steckt die Stärke eines automatisierten ÖPNV gerade als Zubringer im Bereich der letzten Meile zu größeren Zug- oder Buslinien. Durch die Erstellung eines Fahrplans soll sichergestellt werden, dass die Nutzer:innen sicher den Anschlusszug oder -bus erreichen. Hier scheint in der Planung eine besondere Verantwortung bei der öffentlichen Hand zu liegen.
Durch die hohe Komplexität des Systems automatisierter ÖPNV erscheinen zwei Szenarien zur Aufteilung der Aufgaben zwischen Hersteller und Verkehrsunternehmen (öffentliche Hand). Der wesentlichste Unterschied zur Beschaffung eines traditionellen Busses, der noch einen Fahrer benötigt, liegt darin, dass im Falle eines automatisierten ÖPNV voraussichtlich eine Dienstleistung und in den meisten Fällen nicht das System (automatisierter Bus, Software für die Technische Aufsicht usw.) gekauft wird.
Die Wertschöpfungskette in Abb. 7.4 zeigt ein Beispiel für die Aufgabenverteilung eines Verkehrsunternehmens, das über einen ausreichend großen eigenen Personalstand und damit auch über die Managementressourcen verfügt, um das ÖPNV-Angebot für die Region oder die Kommune sicherzustellen. Das Verkehrsunternehmen nimmt nicht nur im Bereich der Planung die Führungsrolle ein, sondern positioniert sich auch während der Betriebsphase bestimmend in der Bereitstellung des automatisierten ÖPNV-Angebots. Selbst die Technische Aufsicht in Verbindung mit der Disposition der Fahrzeuge, der Überwachung der Fahrzeuginnenräume, der Koordination von Hilfskräften bei Notfällen usw. in der Leitstelle könnte von Mitarbeitern des Verkehrsunternehmens übernommen werden.
Abb. 7.5 stellt beispielhaft die Aufteilung von Aufgaben im Falle eines kleineren Verkehrsunternehmens einer kleineren Kommune dar, die unter Umständen bisher noch keinen eigenen innerstädtischen ÖPNV ihren Bürger:innen anbieten konnte. In diesem Fall ist das Leistungsangebot des Herstellers sehr breit und umfasst den gesamten Betrieb des ÖPNV-Angebots. Letztlich ist die Kommune ausschließlich im Bereich der Planung und Finanzierung und in der Leitstelle mit eigenem Personal aktiv tätig. Da die Planung direkte Auswirkungen auf das Mobilitäts-Ökosystem hat, muss die Kommune auch selbst die Verantwortung für diesen Arbeitsbereich ggf. unter Zuhilfenahme eines externen Dienstleisters übernehmen. Hier gilt es, die automatisierten Fahrzeuge klar als Werkzeuge zur Erreichung der Ziele der Mobilitätsstrategie zu erfassen.
Aufgrund der Möglichkeit, rasch und vor Ort auf Ereignisse in den Bussen oder im Umfeld der Busse reagieren zu können, sollte die Leitstelle auch in der Verantwortung des Verkehrsunternehmens verbleiben. Währenddessen stellt es kein Problem dar und erscheint auch deutlich effizienter, wenn die Technische Aufsicht durch den Hersteller oder einen Dienstleister, der den gesamten Betrieb des ÖPNV-Angebots erbringt (z. B. Deutsche Bahn), erfolgt.
Zwischen diesen zwei Szenarien sind mehrere Variationen der Aufgaben- und Verantwortungsaufteilung möglich. Abhängig von den bestehenden Ressourcen können mehr oder eben auch weniger Aufgaben durch die Kommune oder das Verkehrsunternehmen selbst übernommen werden. Die Nutzung der Synergien des Herstellers der Systeme oder andere Dienstleister, die in den meisten Fällen mehrere Systeme betreuen, stellt hierfür eine geeignete Lösung dar.
Welcher Takt scheint aus unserer Sicht mindestens und zu den Stoßzeiten maximal notwendig?
Zur Frage nach dem Takt für den ÖPNV bekommt man am ehesten eine Antwort, indem man sich die Frage stellt, was dazu führt, dass man lieber in sein Auto steigt, und was den Komfort ausmacht, den das Auto bietet. Zur Beantwortung dieser Frage finden sich auch Hinweise im Abschn. 4.​1 „Akzeptanz und Attraktivität eines automatisierten ÖPNV“ sowie im Abschn. 2.​2 „Anforderungen an ein automatisiertes ÖPNV-Netz – Großstadtrand, Stadt, Umland und Dorf“.
Bringen wir durch die Einrichtung eines ÖPNV-Angebots im Bereich der letzten Meile zwischen den Bahnlinien oder den großen Buslinien und den Orten, wo Menschen sich aufhalten, näher zu den Menschen, dann scheint der Takt das bestimmende Element zu sein. Der Takt erscheint ausreichend hoch, wenn es keinen gravierenden Einfluss auf meinen gesamten Weg hat, ob ich einen Bus früher oder später nehme. Ein Takt, der unter zehn Minuten liegt, wird häufig nicht als schlimm wahrgenommen, wenn man den vorherigen Bus versäumt hat, da man ohnehin etwas zusätzliche Zeit eingeplant hat. Wesentlich ist jedoch die Verlässlichkeit des ÖPNV-Angebots auf der gesamten Wegstrecke.
Im Falle einer Streckenbindung: Wie viele Haltestellen soll es geben oder soll das automatisierte Fahrzeug individuell durch den Nutzer oder die Nutzerin angehalten werden können?
Gerade wenn es darum geht, für die Nutzer:innen mit dem ÖPNV ein attraktives Angebot bereitzustellen, das eine Alternative zum eigenen Auto darstellt, ist eine lokale Verfügbarkeit, d. h. der Weg zur nächsten Haltestelle ist nicht allzu weit, relevant (siehe dazu Abschn. 2.​2 „Anforderungen an ein automatisiertes ÖPNV-Netz – Großstadtrand, Stadt, Umland und Dorf“).
Soll das Angebot gratis für die Nutzer:innen sein und, wenn nein, wie kann das Nutzungsentgelt für den automatisierten ÖPNV erhoben werden?
Ziel des Ausbaus des ÖPNV ist es, den Menschen eine attraktive Alternative zur Nutzung des privaten Autos zu bieten. Um die Attraktivität zu unterstützen, wird nicht nur in Deutschland die Einführung eines kostenlosen ÖPNV diskutiert und in manchen Städten sogar bereits eingeführt (mehr dazu in Abschn. 7.1 „Wie ist bei der Integration automatisierten Fahrens vorzugehen?“ und Abschn. 7.2 „Wie kann eine Mobilitätsstrategie entwickelt werden, die die gezielte Integration automatisierten Fahrens berücksichtigt bzw. wie lässt sich automatisiertes Fahren in eine bestehende Mobilitätsstrategie integrieren?“).
Neue Studien zum kostenlosen ÖPNV kommen jedoch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. So zeigt eine Studie, für die knapp 7000 Haushaltsvorstände des forsa-Haushalts-Panels befragt wurden, dass 72 % der Antwortenden die Einführung eines kostenlosen ÖPNV befürworten würden.
Eine Studie der TU Dortmund auf Grundlage einer Untersuchung mit Hilfe eines agentenbasierten Modells, in der die Auswirkungen u. a. eines kostenlosen bzw. sehr günstigen ÖPNV simuliert und ausgewertet wurden, kam zum Schluss, dass das Angebot eines kostenlosen ÖPNV keinen signifikanten Einfluss auf die CO2-Emissionen hat und keinen signifikanten Mehrwert für die Gesellschaft mit sich bringt.
Wie wird sichergestellt, dass auch spezifische Nutzergruppen (z. B. Kinder, mobilitätseingeschränkte Personen, Eltern mit Kinderwagen usw.) das Angebot in Anspruch nehmen können?
Damit die Menschen auch tatsächlich das automatisierte ÖPNV-Angebot nutzen wollen, muss die Dienstleistung aus der Perspektive der Fahrgäste und mit ihren unterschiedlichen Anforderungen an das Dienstleistungsangebot und das Fahrzeug entwickelt werden. Eine besondere Rolle hierbei spielen die spezifischen Nutzergruppen. Dabei handelt es sich nicht nur um Menschen mit Mobilitätseinschränkung oder blinde und gehörlose Personen, sondern auch Eltern mit Kleinkindern, Kinder oder Menschen, die nicht die deutsche Sprache beherrschen.
Um deren spezifische Anforderungen zu verstehen, hilft es, sich den typischen Ablauf einer Fahrt zu vergegenwärtigen und sich in die Schuhe der jeweiligen Personen mit den spezifischen Anforderungen zu stellen. Mehr Informationen zu den Anforderungen spezifischer Nutzergruppen findet sich in Abschn. 4.​2 „Anforderungen an die Nutzbarkeit eines automatisierten ÖPNV unter Berücksichtigung spezifischer Nutzergruppen“.
Sollen Bewegungsdaten anderen Applikationen beispielsweise zur statistischen Auswertung zur Verfügung gestellt werden?
Ein Grundsatz des Datenschutzes ist es, sparsam mit dem Sammeln und Aufbewahren von Daten umzugehen. Dieser Grundsatz steht diametral zum Bedürfnis der Nutzung von Daten, insbesondere von Bewegungsdaten zur Verbesserung des Mobilitätssystems und des ÖPNV-Angebots. Die Erfahrung mit Daten zeigt uns, dass zu einem späteren Zeitpunkt der Bedarf an Daten zur Auswertung und Analyse besteht, die man hätte erheben können, aber eben mit Rücksichtnahme auf den Datenschutz nicht erhoben hat.
Um aus diesem Dilemma herauszukommen, ist es notwendig zu verstehen, was es zu schützen gilt und was Daten grundsätzlich schützenswert macht. Die Bewegungsdaten einer bestimmten Person sind schützenswert, da sie in der weiteren Verarbeitung mit anderen Daten (z. B. geografische Daten, Daten über die besuchten Orte usw.) viele persönliche Informationen über die Person preisgeben, die niemanden etwas angehen und ggf. gegen die Person genutzt werden könnten. Anonymisierte Bewegungsdaten, die nicht mehr auf eine bestimmte Person bezogen werden können und als Rohdaten sicher gespeichert werden, können der individuellen Person nicht mehr schaden, sondern geben in ihrer Gesamtheit (die Bewegungsdaten eines großen Teils der Nutzer) Auskunft über die Qualität des Angebots bezogen auf alle Wege sowie über die Orte, die im Zuge der Wege passiert werden.
Demnach ist es notwendig, die Identität der Fahrgäste von deren Bewegungsdaten zu trennen. Um dies auch tatsächlich umzusetzen, muss die Entität, die den Kontakt zum Fahrgast hat, unabhängig von der Entität sein, die die Bewegungsdaten erhebt. Dies ist möglich, wenn die Erhebung der Daten an eine externe Organisation vergeben wird, während der Kundenkontakt und die Verrechnung beispielsweise beim Verkehrsbetrieb verbleiben. Der erhebende Akteur leitet auf Grundlage der Bewegungsdaten und der tarifbestimmenden Parameter ausschließlich den ermittelten Preis für die Fahrt gemeinsam mit einer Identifikationsnummer weiter, die es dem Verkehrsbetrieb erlaubt, den konkreten Preis der Fahrt der richtigen Person zuzuordnen. Vertraglich muss sichergestellt werden, dass der Akteur, der die Bewegungsdaten erhebt, nicht durch seinen Auftraggeber dazu gezwungen werden kann, Bewegungsdaten zu einer bestimmten Identifikationsnummer herauszugeben.
Grundsätzlich sind auch beispielsweise Modelle vorstellbar, bei denen die Bewegungsdaten überhaupt nie das Mobiltelefon des Fahrgasts verlassen und im Nachhinein nur die Summensätze oder den jeweiligen Preis der Fahrt an den Verkehrsbetrieb weiterleiten. In diesem Fall stehen jedoch die Daten keiner weiteren Auswertung zur Verfügung.
Wird auf diese Weise vorgegangen, können die anonymen Bewegungsdaten nicht nur gesichert gespeichert, sondern auch für Analysen und Auswertungen weitergegeben werden.

7.5.2 Definition der Anforderungen

Wenn Anforderungen definiert werden sollen, stellen sich viele ausschreibende Stellen eine konkrete Lösung vor. Insbesondere wenn es sich um technische Systeme handelt, wie beispielsweise bei automatisierten Bussen, kann die Beschreibung der konkreten technischen Lösung dazu führen, dass es nur einen Bewerber gibt oder dass mit der Einführung solcher Lösungen Patentrechte anderer Hersteller missachtet werden, was zu langwierigen Konflikten vor Gericht führen kann und ggf. sogar zum Stilllegen des erst neu aufgebauten Systems. Daher ist es notwendig, abstrakte Anforderungen zu formulieren, die ausschließlich die Funktionalität, die erwartete Dienstleistung oder die Qualität beschreiben. Folgend einige Beispiele für die Definition von Funktionen, Dienstleistungen und Qualitätsparametern für die Ausschreibung eines automatisierten Busses SAE Level 4:
Beispiele Anforderungen an die Funktionalität
  • Der zum Fahrgast in Fahrtrichtung nächste Bus muss durch die Signalisierung (Anhaltesignal) des Fahrgastes per App über die Information verfügen, wo sich der Fahrgast an der vorgegebenen Strecke befindet, und muss an dieser Stelle anhalten.
  • Der Bus muss das Anhaltesignal eines Fahrgastes an einer Position, die der Bus bereits passiert hat, ignorieren.
  • Der Bus muss über die Information zur spezifischen Nutzergruppe (z. B. Rollstuhlfahrer) spätestens mit dem Erhalt des Anhaltesignals dieses Fahrgastes verfügen.
  • Der Bus muss beim Erreichen der Position, wo der Fahrgast sich aufhält, der einer spezifischen Nutzergruppe angehört, jene Schritte ausführen, die es dem Fahrgast ermöglichen, die Fahrt mit dem Bus anzutreten. Folgende bestimmten Anforderungen je spezifischer Nutzergruppe sind hierfür zu beachten:
Beispiele Anforderungen an die Dienstleistung
  • Die Technische Aufsicht muss 24 h/365 Tage im Jahr verfügbar sein und die automatisierten Fahrzeuge bei der Ausführung ihrer Fahraufgaben unterstützen.
  • Die Technische Aufsicht muss entsprechend den nationalen gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien (z. B. das deutsche StVG) eingerichtet und qualifiziert werden. Der Auftraggeber hat das Recht, zur Sicherstellung der im Gesetz geforderten Anforderungen an die Technische Aufsicht die Umsetzung dieser Anforderungen zu überprüfen. Dafür muss der Auftragnehmer dem Auftraggeber alle Instrumente einschließlich des Zutrittsrechts zu den Räumlichkeiten der Technischen Aufsicht bereit- und zur Verfügung stellen.
  • Die Technische Aufsicht muss folgende Aufgaben erfüllen:
    • Unterstützung der automatisierten Busse SAE Level 4 bei der Ausführung ihrer Fahraufgaben.
    • Entsprechende Maßnahmen ergreifen im Falle eines Notfalls, um die Sicherheit der Fahrgäste und der anderen Verkehrsteilnehmer sicherzustellen.
    • Entsprechende Maßnahmen ergreifen im Falle von Fehlfunktionen, Störungen bzw. Ausfällen.
    • Entsprechende Maßnahmen in Absprache mit der Leitstelle oder der Polizei ausführen, wenn ein Eingreifen in das Fahrgeschehen von der Leitstelle oder der Polizei verlangt wird (z. B. Anhalten des Fahrzeugs).
  • Das für die Technische Aufsicht eingesetzte Personal muss für die Aufgaben eines Agenten der Technischen Aufsicht qualifiziert worden sein. Hierfür muss der Auftragnehmer ein Qualifizierungskonzept, den Zeitplan der Qualifizierungsmaßnahmen einschließlich der Ziele und Inhalte sowie die Schulungsunterlagen für die Qualifizierungsmaßnahmen dem Auftraggeber vorlegen.
Beispiele Anforderungen an die Qualität
  • Die Ausfälle jedes Busses \(\left(\beta \right)\) pro Beobachtungszeitraum (\(BZ\beta\)) von 365 Tagen (8760 h) dürfen in der Summe nicht mehr als 122,5 h einschließlich der Zeiten für die Wartung betragen. Dies entspricht einer Verfügbarkeit von 98,6 % bzw. einer Ausfallrate von 1,4 %.
    • Die Ausfallzeit (AZ \(\beta\)) wird auf Grundlage der Tickets zur Meldung eines Ausfalls bzw. der Meldung der Behebung des Ausfalls im ITSM-System dokumentiert und gemessen. Jeder Ausfall eines Busses muss gemeldet werden.
    • Zur Berechnung der Ausfallrate (AR \(\beta\)) kommt folgend Formel zu Anwendung:
$$AR\beta =\frac{AZ\beta }{BZ\beta }$$
Es ist hinsichtlich des Vergabeverfahrens darauf zu achten, dass für jede Anforderung auch ein Nachweis erbracht wird. Dieser Nachweis wird in den meisten Fällen in einer einfachen Bestätigung zu jeder Anforderung beispielsweise durch das Ankreuzen eines Bestätigungsfeldes liegen. Für jene Anforderungen, die hinsichtlich der funktionalen und technischen oder operativen Ausführung der Anforderung interessant sind, kann ein Konzept als Nachweis oder ein Feldtest gefordert werden. Hierfür sind genaue Angaben zu Ziel und Inhalt des Konzepts oder Angaben zur Durchführung des Feldtests notwendig. Außerdem müssen nachvollziehbare und nach Möglichkeit messbare Kriterien für die Bewertung dieser Nachweise formuliert werden. Dazu siehe Abschn. 7.5.3 „Definition der Eignungs- und Zuschlagskriterien“.

7.5.3 Definition der Eignungs- und Zuschlagskriterien

Bei einem öffentlichen Vergabeverfahren werden zur Auswahl eines geeigneten Auftragnehmers sowohl Eignungskriterien als auch Zuschlagskriterien durch die vergebende Stelle definiert.
Eignungskriterien haben das Ziel, den Bieterkreis auf jene potenziellen Bieter zu reduzieren, die fachlich, technisch und wirtschaftlich fähig sind, die ausgeschriebene Dienstleistung oder das Produkt auch tatsächlich innerhalb der vertraglich vorgeschriebenen Rahmenbedingungen und entsprechend der geforderten Qualität auszuführen. Als Nachweis dieser Fähigkeit werden häufig die Beschreibung von für das Projekt passenden Referenzen sowie formale Nachweise wie der Handelsregisterauszug, die Selbstdeklaration der Umsätze der vergangenen drei Jahre, eine Bestätigung der Vermögenshaftpflichtversicherung usw. gefordert.
Die Zuschlagskriterien dienen der Auswahl des besten Auftragnehmers aus der Gruppe der grundsätzlich geeigneten Bieter. Während es bei der Prüfung der Eignung im Allgemeinen um ein KO-Verfahren geht, d. h. jeder, der die Eignungskriterien nicht erfüllt, scheidet aus, werden die Bieter im Auswahlverfahren auf Grundlage der Zuschlags- bzw. Auswahlkriterien bewertet. Die Zuschlagskriterien umfassen das Preiskriterium und die Qualitätskriterien. Dabei spielt das Verhältnis zwischen Preis und Qualität eine wesentliche Rolle.
Das Zuschlagskriterium Preis kann beispielsweise wie folgt definiert werden:
  • Die maximal mögliche Anzahl Punkte für den Preis und die maximal erreichbare Punktanzahl für die Qualität machen zusammen 100.
  • Der vergebenden Stelle ist die Qualität des Systems und der Dienstleistung besonders wichtig und sie entscheidet sich für ein Verhältnis zwischen Preis und Qualität von 30 zu 70 % (maximal erreichbare Anzahl Punkte für den Preis ist 30 von insgesamt 100 erreichbaren Punkten).
  • Die Anzahl der Punkte für den Preis errechnet sich wie folgt:
$$Punkte\,Preis=30*\frac{Niedrigster\,Angebotspreis\,[EUR]}{Angebotspreis\,des\,bewerteten\,Angebots}$$
  • Geht man davon aus, dass der günstigste Angebotspreis EUR 7 Mio. ist, so ist der Wert jedes Punktes EUR 233.333. D. h., dass der theoretische Wert der Qualität beim Preis-Qualitäts-Verhältnis von 30 zu 70 sehr hoch ist. Dessen sollte man sich bei der Definition der Qualitätskriterien bewusst sein oder das Verhältnis zwischen Preis und Qualität entsprechend anpassen.
Die Zuschlagskriterien Qualität verlangen nach einem Nachweis, der tatsächliche Rückschlüsse auf die Leistungsfähigkeit und Qualität der erwarteten Dienstleistung des Bieters ermöglicht. Hier sind vor allem zwei Formen der Nachweise zu empfehlen:
  • Eine Teststellung: Eine Teststellung weist ein bestimmtes Testfeld, beispielsweise eine durch den Auftraggeber definierte Strecke aus, die ein automatisierter SAE Level 4 Shuttle (ein Shuttle je Bieter) befahren muss. Dies Strecke kann unterschiedliche Verkehrsverhältnisse beinhalten und muss von jedem automatisierten Shuttle mehrfach befahren werden, um für alle Shuttle in der Summe die gleichen Bedingungen herzustellen. Die Qualität der Fähigkeiten der Shuttle könnte beispielsweise über die durchschnittliche Geschwindigkeit für die Befahrung der gesamten Strecke bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h gemessen werden. Zusätzlich könnte die Anzahl der Eingriffe in das Fahrgeschehen durch die Technische Aufsicht gezählt werden. Der wesentliche Vorteil dieses Vorgehens liegt in der tatsächlichen Überprüfung der Qualität der Fahrzeuge und/oder des technischen Systems und damit in der Objektivität des Kriteriums. Der wesentlichste Nachteil liegt im hohen Aufwand zur Vorbereitung der Teststellung durch den Auftraggeber und die sehr hohen Kosten für die Bieter. Um die Kosten des Vergabeverfahrens mit Teststellung für die Bieter nicht zu hoch ausfallen zu lassen, wird durch die ausschreibende Stelle ein Teil der Kosten der unterlegenen Bieter pauschal abgegolten.
  • Ein Konzept: Durch ein Konzept können insbesondere Funktionen des Systems oder Fragestellungen bezogen auf den Betrieb beispielsweise des automatisierten ÖPNV-Angebots nachgewiesen werden. Ein Systemkonzept könnte z. B. die Beschreibung des Zusammenspiels zwischen Technischer Aufsicht und der im Feld fahrenden automatisierten Shuttles beleuchten und es könnte dabei der Frage nachgegangen werden, wie technisch und funktional mit Störungen umgegangen wird. Damit könnte die Resilienz des Systems überprüft werden. Ein anderes Beispiel für ein Konzept als Nachweis wäre die konkrete funktionale und technische Beschreibung, wie man gewährleisten möchte, dass ein Rollstuhlfahrer den automatisierten Bus nutzen könnte. Die größte Schwierigkeit bei Konzepten als Nachweis für ein Zuschlagskriterium liegt in der Definition der Kriterien zur Bewertung des Konzepts, da so weit als möglich objektiv bewertet werden sollte. Der Vorteil von Konzepten ist die Möglichkeit, einen Eindruck vom betrieblichen Vorgehen der Bieter zu bekommen und die Lösungskompetenz der Bieter wahrnehmen zu können.
Neben den oben genannten beiden Formen zum Nachweis von Qualitätskriterien durch die Bieter gibt es selbstverständlich noch andere, und dem Ideenreichtum sind keine Grenzen gesetzt. Es ist jedoch darauf zu achten, dass die zur Bewertung der Nachweise angelegten Kriterien möglichst objektivierbar sind.
Nicht zu empfehlen sind Qualitätskriterien, bei denen mehr Punkte zu erreichen sind, wenn der Bieter bei den Leistungsparametern (Key Performance Indicators – KPI) einen höheren Zielerreichungsgrad verspricht. Diese werden dann meist im täglichen Betrieb nicht erreicht und die als Konsequenz folgenden Pönalen haben einen negativen Einfluss auf den Betrieb und die Zusammenarbeit zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. In den meisten Fällen führt dies nicht zur Kündigung des Vertrags.
Fazit zu Abschn. 7.5
Das Um-und-Auf eines jeden gelungenen öffentlichen Beschaffungsvorgangs ist es, ein klares Bild über den zu beschaffenden Gegenstand (Dienstleistung oder technisches System) und dessen Ausprägung zu haben. Bevor auch nur eine Zeile hinsichtlich der Anforderungen an das automatisierte ÖPNV-Angebot verfasst wird, sollte die ausschreibende Stelle sich im Klaren sein, was mit der Umsetzung der Beschaffung erreicht werden soll und welche Konsequenzen dies für das Mobilitätssystem haben wird.
Diese Klarheit wirkt sich auf die Qualität der Ausschreibung und in Folge auf den Erfolg des Betriebs des automatisierten ÖPNV-Angebots und seine Wirkung für die Mobilitätswende aus.

7.6 Gesetzlicher Rahmen für die Zulassung automatisierter Fahrzeuge

Mario Zweig
Im folgenden Kapitel werden die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Zulassung von automatisierten Fahrzeugen insbesondere des automatisiertem ÖPNV im Regelbetrieb dargestellt. Dies ist seit der Gesetzesnovelle des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) 2021 in Deutschland möglich. In der Schweiz sowie in Österreich sind derzeit ausschließlich Zulassungen für den Testbetrieb erlaubt.

7.6.1 Zulassung von automatisierten SAE Level 1 bis 3 Fahrzeugen

Für automatisierte Fahrzeuge SAE Level 1–3, hierbei handelt es sich um Fahrzeuge ohne Automatisierung (L1), mit Assistenzsystemen (L2) und teilautomatisierte (L3) Fahrzeuge, werden nach wie vor entsprechend dem Verfahren zur Erteilung der Betriebserlaubnis bzw. der Genehmigung ohne Beteiligung des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) angewendet. Dazu wird das Begutachtungsverfahren basierend auf den Bauvorschriften des einzelnen Fahrzeugs zur Erlangung einer Einzelbetriebserlaubnis, mit ggf. festzulegenden Ausnahmen von den jeweiligen Bauvorschriften, durchgeführt. Durch Ausnahmegenehmigungen gemäß § 70 StVZO für die „Erprobung und den Betrieb automatisiert und autonom fahrender Kraftfahrzeuge“ wird der Einsatz von SAE Level 2 und 3 Fahrzeugen legitimiert.
Die Zulassungsprüfung besteht aus zwei Teilen, 1. der Fahrzeugprüfung und 2. der Streckenbeurteilung.
Ad 1. Im Rahmen der Fahrzeuguntersuchung werden die automatisierten Fahrfunktionen hinsichtlich der Möglichkeit der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer im Straßenverkehr auf Basis des § 30 StVZO geprüft. Ausnahmen von § 30 StVZO sind nicht zulässig. Für die Überprüfung automatisierter Fahrfunktionen sind Prüfszenarien zu entwickeln, die als Grundlage zur Gefährdungsprüfung dienen. Die Ergebnisse dieser Überprüfung der automatisierten Fahrfunktionen werden dann in einem Prüfbericht zur funktionalen Sicherheit dargelegt.
Ad 2. In der Streckenbeurteilung wird überprüft, inwiefern die für den konkreten Betrieb der automatisierten Fahrzeuge und ihre entsprechenden technischen Fähigkeiten im jeweiligen Automatisierungsgrad vorgesehene Strecke auch geeignet ist.
Das Ergebnis wird in einem Bericht festgehalten, mit dem der Antragsteller bei der jeweiligen oberen Landesbehörde eine Genehmigung des Fahrzeuges mit den notwendigen Ausnahmen beantragen kann und im Anschluss ggf. die Zulassung erhält. Parallel dazu wird bei der jeweiligen oberen Landesbehörde die Erlaubnis nach § 29 StVO für die vorgesehene Strecke erteilt.

7.6.2 Zulassung von automatisierten SAE Level 4 Fahrzeugen

Die Zulassung und der Betrieb automatisierter Fahrzeuge SAE Level 4 erfolgt in Deutschland entsprechend der Novelle des StVG 2021 in zwei Schritten:
  • Genehmigung des automatisierten Fahrzeugs
  • Genehmigung des festgelegten Betriebsbereichs
Wenn die Zulassung erfolgt ist, sind jedoch für den Betrieb der automatisierten Fahrzeuge spezifische Anforderungen an den Hersteller und den Halter der Kraftfahrzeuge sowie an die Technische Aufsicht gestellt, die entweder durch den Hersteller oder den Halter sichergestellt wird. Die Technische Aufsicht ist eine natürliche Person, die den Betrieb der hochautomatisierten Fahrfunktion deaktivieren bzw. teilweise steuern kann. Dabei kann sich die Technische Aufsicht im Fahrzeug befinden oder die Fahrfunktion aus der Ferne beaufsichtigen.
Genehmigung des automatisierten Fahrzeugs SAE Level 4
Für die Genehmigung eines automatisierten Fahrzeugs SAE Level 4 benötigt der Hersteller zunächst eine Betriebserlaubnis für das Fahrzeug, welche beim Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) entsprechend § 1e Abs. 4 StVG zu beantragen ist. Die diesbezüglichen Voraussetzungen werden in § 3 Autonome-Fahrzeuge-Genehmigungs-und-Betriebs-Verordnung (AFGBV) konkretisiert. Dem Hersteller wird mit § 3 Abs. 2 AFGBV für das (nationale) Genehmigungsverfahren insbesondere ein Vorschriftenkatalog an die Hand gegeben, der definiert, welche Beschreibungen und Erläuterungen durch ihn zu erstellen sind und welche Unterlagen dem KBA vorzulegen sind.
Der Prüfungsumfang des KBA wird ebenfalls in § 3 AFGBV dargestellt. Entsprechend Absatz 4 sind unter anderem die technischen Anforderungen der Anlage I zur AFGBV einzuhalten. Mit dieser Anlage I hat das deutsche Verkehrsministerium (BMDV) einen umfassenden Anforderungskatalog an Kraftfahrzeuge mit „autonomer Fahrfunktion“ erstellt.
Darüber hinaus sind vom Fahrzeughersteller die Operational Design Domain (ODD), der bauartbedingte Einsatzbereich, festzulegen und zu definieren. Darin müssen die spezifischen Betriebsbedingungen im Hinblick auf z. B. geografisches Umfeld, Tageszeit, Verkehrslage, Beschaffenheit der Infrastruktur, Geschwindigkeitsbereich, Wetter, Notwendigkeit externer Sensoren usw. definiert werden. Die ODD bildet die Grundlage für die Erteilung einer Betriebserlaubnis gemäß § 4 AFGBV durch das KBA.
Die Abb. 7.6 zeigt automatisierte Kleinbusse, die auf eigenen, baulich abgetrennten Fahrbahnen verkehren. Diese Streckenführung ermöglicht es, SAE Level 4 Fahrzeuge schon zu einem Zeitpunkt in einem vernünftigen Regelbetrieb einzusetzen, zu dem die automatisierten Fahrfunktionen noch nicht voll ausgeprägt sind. Hinsichtlich eines automatisierten ÖPNV kann dies, wenn auf irgendeine Weise der notwendige Raum frei gemacht werden kann, die Attraktivität des ÖPNV deutlich steigern, weil die ÖPNV-Fahrzeuge schneller als der motorisierte Individualverkehr (MIV) im Mischverkehr und ggf. im Stau vorankommen.
Genehmigung des festgelegten Betriebsbereichs
Auf einer zweiten Stufe ist der Betriebsbereich, in dem das autonome Fahrzeug eingesetzt werden darf, zu genehmigen. Auch hierzu werden in der Verordnung Regelungen getroffen, die sowohl die Voraussetzungen als auch das Verfahren zur Genehmigung beschreiben. Nach § 7 Abs. 1 AFGBV erfolgt die Festlegung des Betriebsbereichs durch den Fahrzeughalter des automatisierten Kraftfahrzeuges, wobei die Voraussetzungen für den Antrag in § 8 AFGBV konkretisiert werden. Für die Genehmigung durch die zuständige Behörde ist entscheidend, ob der Betriebsbereich für den Betrieb des konkreten Fahrzeuges geeignet ist (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. Abs. 2 AFGBV). Hierfür hält das KBA Rücksprache mit der entsprechenden Landesbehörde.
Liegen sowohl die Betriebserlaubnis als auch die Genehmigung des festgelegten Betriebsbereichs vor und besteht eine entsprechende Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, kann das automatisierte Fahrzeug zugelassen werden. Die Zulassung des Fahrzeugs wird gemäß der Fahrzeug-Zulassungs-Verordnung (FZV) durch die entsprechende Behörde durchgeführt. Dies ist in § 11 AFGBV geregelt.
Konkretisierung der Anforderungen an Hersteller, Halter und Technische Aufsicht
Sowohl dem Hersteller (§ 12 AFGBV) als auch dem Halter (§ 13 AFGBV) werden weitergehende Pflichten auferlegt. Besonderes Augenmerk ist auf die konkreten Anforderungen an die Technische Aufsicht (§ 1d Abs. 3 StVG) zu legen. Diesbezüglich wurde bereits mehrfach die Frage aufgeworfen, ob und welche Voraussetzungen an die Qualifikation der Technischen Aufsicht geknüpft sind. Mit § 14 AFGBV wird klargestellt, dass die als Technische Aufsicht eingesetzte Person für die damit verbundenen Aufgaben geeignet sein muss. Die Eignung wird anhand von hohen Anforderungen an die Qualifikationen konkretisiert, was bereits im Vorgriff erhebliche Kritik erfahren hat. So muss die Person u. a. über ein abgeschlossenes technisches Studium verfügen oder staatlich geprüfter Techniker sein. Dadurch könnte ein wirtschaftlicher Betrieb automatisierter Fahrzeuge erheblich erschwert werden und die digitalen, neuen Mobilitätsangebote sicher nicht in dem Maße gefördert werden, wie dies eigentlich gewünscht ist.

7.6.3 Ausblick

Mit der Verordnung (AFGBV) wurden 2022 entscheidende Vorgaben ergänzt, die im Rahmen der StVG-Novelle 2021 bewusst ausgespart wurden. Vor diesem Hintergrund erscheint ein zeitnaher Einsatz von autonomen Fahrzeugen in festgelegten Betriebsbereichen durch Hersteller und Anbieter von Mobilitätslösungen grundsätzlich als möglich – wenngleich man wohl weiterhin, u. a. wegen der hohen Anforderungen in § 14 AFGBV, nicht über einen Erprobungsverkehr hinauskommen wird.
Spätestens im Rahmen der mit Ablauf des Jahres 2023 vorgesehenen Evaluierung (§ 1 l StVG) wird festzustellen sein, ob die bestehenden Regelungen im StVG mit den Konkretisierungen der Verordnung harmonieren und auf nationaler Ebene eine sichere Rechtsgrundlage für den (wirtschaftlichen) Regelbetrieb von autonomen Fahrzeugen in festgelegten Betriebsbereichen bieten.

7.7 Automatisierter ÖPNV in der betrieblichen Umsetzung aus Sicht der Verkehrsunternehmen

Christoph Marquardt und Constantin Pitzen
Die Einführung von Level-4-Bussen im ÖPNV wird zu einem kompletten Umbau der vorhandenen ÖPNV-Unternehmen führen. Hierbei geht es sowohl um technische Infrastrukturen und neue Prozesse wie auch um das Selbstverständnis der Unternehmen. In diesem Kapitel wird der wichtigste Änderungsbedarf auf der Betreiberseite beschrieben, auch wenn die künftig erforderlichen Strukturen zum jetzigen Zeitpunkt selbstverständlich längst nicht klar sind.
Vor dem Hintergrund der Ziele zur Reduzierung der verkehrsbedingten Klimabelastung hat die Bündelung von Verkehrsströmen in großen Fahrzeugen mit ihrem geringen Energieverbrauch pro Sitzplatz eine zentrale Bedeutung. Fahrerlose Fahrzeuge helfen, den ÖPNV in Zeiten von Personalmangel und begrenzter öffentlicher Finanzen auszubauen und somit auch außerhalb der Großstädte nutzbar zu machen. Die Verkehrsangebote des ÖPNV müssen hinsichtlich ihrer Fahrtenzahl und Betriebszeiten auf einem dichteren Netz als heute verfügbar sein.
Der Einsatz autonomer Fahrzeuge birgt aber nicht nur eine Vielzahl von technischen Herausforderungen für den Einsatz im öffentlichen Straßenverkehr, sondern erfordert auch den Umbau der Verkehrsunternehmen in allen ihren Bereichen.

7.7.1 Aufbau der Technischen Aufsicht

Das novellierte Straßenverkehrsgesetz StVG sieht vor, dass autonome Fahrzeuge kontinuierlich durch eine Technische Aufsicht (TA) zu überwachen sind. Level-4-Fahrzeuge fällen autonome Entscheidungen. Allerdings wird es Verkehrssituationen geben, bei denen ein Mensch auch weiterhin eingreifen muss.
Die TA muss jederzeit die Möglichkeit haben, die autonomen Fahrfunktionen zu deaktivieren sowie dem Fahrzeug Manöver vorzuschlagen. Sie sorgt für einen „risikominimalen Zustand“, sobald eine sichere Weiterfahrt nicht mehr möglich ist bzw. das Fahrzeug selbst keine Entscheidung fällen kann, wie z. B. beim kurzfristigen Ausweichen in den Gegenverkehr. Die TA wird jedoch keinen direkten Zugriff auf die Steuerung des Fahrzeuges haben, sondern lediglich auf das System. Aus dieser Anforderung ergeben sich verschiedene Anforderungen:
  • Die TA ist eine natürliche Person. Der Gesetzgeber sieht vor, dass ihre Aufgaben durch Ingenieure oder qualifizierte Mitarbeiter mit mehrjähriger Erfahrung und Zertifikat wahrgenommen werden.
  • Eine ständige Datenverbindung zwischen der TA und den Fahrzeugen in Echtzeit stellt sicher, dass die TA in Echtzeit Videos vom Fahrbetrieb erhält und mit den Fahrgästen kommunizieren kann. Voraussetzung hierfür wird eine 5G-Mobilfunkverbindung sein.
  • Der Arbeitsplatz der TA umfasst eine Bildschirmüberwachung der Fahrzeuge sowie eine Technik zur Übermittlung von Fahrmanövern. Die TA darf zwar das autonome Fahrzeug nicht steuern (direktes teleoperiertes Fahren), aber die TA kann dem Fahrzeug Fahrmanöver vorschlagen, die das Fahrzeug bewerten und durchführen kann (indirektes teleoperiertes Fahren).
  • Die TA sollte auf einen möglichen Ausbau und Erweiterung ausgerichtet sein und eine Skalierbarkeit ermöglichen. Mit zunehmender Erfahrung wird das Verhältnis zwischen Mitarbeitern der TA und der Anzahl der betreuten Fahrzeuge von anfänglich 1: 1 auf eine größere Anzahl überwachter Busse pro Mitarbeiter angehoben. Über das erreichbare Verhältnis gibt es bislang keine Erfahrungen. Dadurch lassen sich erst zu einem späteren Zeitpunkt und auf Basis neuer Erfahrungswerte Aussagen zur Kombinierbarkeit von Fahrzeugüberwachung und weiteren Aufgaben, wie z. B. der Kundenkommunikation, fällen.
Die TA wird Aufgaben übernehmen, die von den heutigen Leitstellen der Verkehrsunternehmen nicht wahrgenommen werden mussten. Ob die Aufgaben der heutigen Leitstellen mit der TA zusammengefasst werden können, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch offen.
Eine besondere Herausforderung stellt die Anschlusssicherung zwischen fahrerlosen Fahrzeugen sowie zwischen automatisierten und konventionellen Bussen dar. Über die VDV-Schnittstelle lässt sich zwar sicherstellen, dass ein Übergang zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln möglich ist, aber woran erkennt das fahrerlose Fahrzeug einen heraneilenden Fahrgast?
Die Kommunikation mit den Fahrgästen wird ein weiteres zu entwickelndes Thema sein, da der Fahrer für eventuelle Problemlösungen nicht zur Verfügung steht. Eine Kommunikation über Video in zwei Richtungen wird helfen, die Ängste von Fahrgästen zu verringern. Denkbare Probleme können sich beispielsweise in den folgenden Situationen ergeben: Auskunft bei betrieblichen Unregelmäßigkeiten, Fundsachen, verlorengegangene Kinder, Probleme beim Zugang von mobilitätseingeschränkten Menschen, Streit zwischen Fahrgästen, Einschränkung wegen Verschmutzung oder Vandalismus.

7.7.2 Fahrmeister 4.0

Mit dem Wegfall des Fahrers entfällt der persönliche Kontakt zwischen dem Verkehrsunternehmen, den Fahrgästen und den übrigen Teilnehmern des öffentlichen Straßenverkehrs. Im Fall von Unregelmäßigkeiten im Betreib bzw. im Straßenverkehr oder bei Problemen von Fahrgästen kann dies zu Beeinträchtigungen des Betriebes und damit zu Akzeptanzproblemen führen.
Die Verkehrsunternehmen werden verstärkt Mitarbeiter im Verkehrsgebiet mobil einsetzen müssen, um Probleme vor Ort zu regeln. Der frühere Verkehrsmeister (West) oder Dispatcher (Ost) erhält in einem Unternehmen mit fahrerlosen Fahrzeugen eine neue und zentrale Bedeutung für die Sicherstellung eines attraktiven und sicheren ÖPNV-Angebotes. Seine Tätigkeit wird eng mit der Technischen Aufsicht für den Level-4-Betrieb verbunden sein, um wirksam zu sein.
Bei einer Betriebsstörung, einer außerplanmäßigen Abweichung oder im schlimmsten Falle bei einem Unfall muss die Aufsicht in der Lage sein, aktuelle Situationen schnellmöglich zu erkennen, den Handlungsbedarf zu ermitteln und eine Eingriffsmöglichkeit zu haben. Mögliche Fälle, die zu lösen sind:
  • Fahrzeugpanne (Problemlösung vor Ort oder Austausch des Fahrzeuges)
  • Unfall mit oder ohne Personenschäden
  • Unregelmäßigkeiten auf der Strecke, z. B. Hindernisse, Sperrungen oder Fahrzeug kann dort nicht fahren; Freigabe (entsprechend StVG), damit das Fahrzeug weiterfahren kann
  • Kommunikation mit den Fahrgästen (siehe Kapitel 7.7.7)
Die Rolle des bisherigen Fahrmeisters oder Dispatchers wird neu definiert werden. Das Betätigungsfeld ist deutlich stärker im Außeneinsatz mit Verantwortung für kleinere Fahrzeugflotten von mehreren Bussen zu sehen. Dieses hat eine gravierende Veränderung des Berufsbildes zur Folge und setzt eine erhebliche Weiterqualifikation voraus.
Das Berufsbild des Fahrmeisters 4.0 wird zukünftig zu einem Verkehrsmanager mit vielfältigen Aufgaben und Kompetenzen aufgewertet. Gefordert ist eine interdisziplinär ausgebildete Allroundkraft, die der Komplexität und Vielschichtigkeit der Aufgabe gewachsen ist.

7.7.3 Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen für die Straßen

Der Betrieb von fahrerlosen Fahrzeugen ist nur möglich, wenn es durch die Straßeninfrastruktur ermöglicht wird. Im Level 4 kann das Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr mitschwimmen und gewöhnliche Verkehrssituationen bewältigen. Weil aber das Fahrzeug noch nicht alle Fähigkeiten eines menschlichen Fahrers hat, ist das Fahrzeug in seinen Einsatzmöglichkeiten eingeschränkt. Dadurch können nur Verkehrsverhältnisse beherrscht werden, die die fahrerlosen Busse auch bewältigen können. Um einen reibungslosen Betrieb zu ermöglichen, sollte die nachfolgende nicht abschließende Liste von Anforderungen erfüllt sein:
  • Straßenbreiten ermöglichen problemlose Begegnungen mit dem Gegenverkehr.
  • Freie Sichtdreiecke gewährleisten die Einsehbarkeit von Kreuzungen und ermöglichen die Funktion der Sensorik.
  • Straßenschäden sind gering zu halten, um die Ortung der Fahrzeuge nicht zu stören.
  • Fahrbahnmarkierungen sind eindeutig und helfen bei der Ortung.
  • Road-Side-Units (RSU) übertragen den Status von Lichtsignalanlagen („grün“ oder „rot“), Wechselverkehrszeichen, Bahnübergängen und anderen Verkehrszeichen an die Fahrzeuge per Funk (5G) im Sinne einer V2X-Kommunikation.
  • Digitale Karten mit allen relevanten straßenverkehrstechnischen Informationen (Abgrenzung der Fahrbahn, zulässige Höchstgeschwindigkeiten, statische Verkehrszeichen etc.) sind aktuell, rechtssicher und verfügbar, ggf. sogar mit Informationen vernetzter Fahrzeuge aktualisiert.
  • Änderung an Verkehrsregelungen und Fahrbahnen im Fall von Baustellen, Veranstaltungen, Unfällen und anderen Fällen werden umgehend in die digitale Karte aufgenommen.
Aus diesen Anforderungen ergibt sich der Bedarf zu Abstimmung und Informationsaustausch zwischen dem Verkehrsunternehmen, dem Straßenbaulastträger (Planung sowie kurz- und langfristige Störungen) und der Straßenverkehrsbehörde (Zulassung von Fahrzeugen), Polizei (Verkehrsüberwachung) und ggf. dem Verkehrsdatenmanagement.

7.7.4 Anpassung Akku-Ladung, Fahrzeugpflege und -instandhaltung

Bei den Aufgaben der Akku-Ladung, der Fahrzeugpflege und der Instandhaltung fahrerloser Busse wird die Tatsache zu berücksichtigen sein, dass der Mensch einerseits nicht überall und ständig eingreifen kann und andererseits Möglichkeiten zur Optimierung von Abläufen auf einem Betriebshof genutzt werden müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Finanzierbarkeit des zukünftigen ÖPNV mit einem starken digitalen und technischen Kostenanteil von der Nutzung von Synergien und Mengeneffekten beeinflusst wird.
Erste Sammlung von Fragestellungen zur Fahrzeugpflege und Instandhaltung von fahrerlosen Fahrzeugen im ÖPNV:
1.
Der fahrerlose Bus kann sich nicht selbst helfen, wenn im Betriebseinsatz technische Probleme auftreten, die ein menschlicher Fahrer üblicherweise selber gelöst hätte, wie z. B. ein Türdefekt. Das Verkehrsunternehmen wird folglich ein größeres Serviceteam für den Fall von technischen Problemen auf der Strecke bereithalten müssen. Sicherlich lassen sich ähnliche Aufgaben, wie bedarfsweise die Reinigung während des Einsatzes oder Betreuung von Fahrgästen im Fall von Problemen, bündeln.
 
2.
Der ÖPNV setzt heute i. d. R. Fahrzeuge mit großen Kapazitäten ein, weil die Kosten des Fahrpersonals rund 70 % der Produktionskosten verursachen. Möglicherweise wird die Einführung fahrerloser Fahrzeuge zu einer stärkeren Differenzierung der Fahrzeuggrößen führen. So hat beispielsweise VW mit der Vorstellung von Sedric bereits einen 4-Sitzer für die Schülerbeförderung präsentiert. Die Werkstätten werden sich folglich stärker auf unterschiedlich große Fahrzeuge einzustellen haben.
 
3.
Die Kostenstruktur des Busbetriebes wird nicht zuletzt von den Betriebsabläufen auf dem Betriebshof bestimmt. Die abends einlaufenden Fahrzeuge sind zu tanken bzw. zu laden, innen zu reinigen, außen zu waschen und in der richtigen Reihenfolge für den morgendlichen Auslauf bereitzustellen. Auf großen Betriebshöfen werden die Fahrzeuge bislang durch gesonderte Fahrer von Station zu Station gefahren. Autonome Fahrfunktionen können hier zu einer erheblichen Absenkung des Personalaufwandes beitragen. Dies erfordert eine Anpassung der Betriebshofdisposition mit Standorterfassung und Planung.
 
4.
Für das Anschließen eines batteriebetriebenen Fahrzeuges wird i. d. R. kein Personal bereitstehen, weil dies anderenfalls zu einem großen zusätzlichen Aufwand führen würde. Für die Automatisierung des Ladevorgangs ist eine geeignete Infrastruktur aufzubauen, sei es über Pantographen, Induktionsschleifen oder Kabelverbindungen in Verbindung mit einem Roboterarm.
 

7.7.5 Anpassung der IT der Verkehrsunternehmen für den Einsatz autonomer Fahrzeuge

Sämtliche Bereiche eines Verkehrsunternehmens werden durch digitale Prozesse gesteuert. Der fahrerlose Busverkehr wird zusätzliche Automatisierungen erforderlich machen, weil die Mitarbeiter nicht mehr überall zur Überwachung und für Problemlösungen stets zur Verfügung steht.
Eine Sammlung von neuen Regelungsbedarfen:
  • Aufbau der TA (s. o.) mit Verknüpfung zur Verkehrsüberwachung der Verkehrsbehörden (soweit verfügbar), zu Baustellenmanagement des Straßenbaulastträgers (Kenntnis über Baustellen) und Disposition
  • Programmierung des Fahrweges, Fahrweginformation mit Schnittstelle zur Fahr- und Dienstplanung
  • Disposition der Routen für On-Demand-Verkehrsangebote (flexibler Fahrweg, flexible Fahrzeiten)
  • Disposition zur Anschlusssicherung unter Nutzung der VDV-Schnittstelle für Datenaustausch mit anderen Verkehrsunternehmen (s. o.)
  • Kommunikation mit Fahrgästen im Bus mit Schnittstellen zu Polizei, Ordnungsamt und Rettungsdiensten (s. o.)
  • Betriebshofmanagementsystem (s. o.) mit Steuerung der Fahrzeuge für innerbetriebliche Fahrten zur Waschanlage, zur sonstigen Fahrzeugpflege, zur Akku-Ladung, zur Abstellung
  • Abschätzungen zu Reisendenströmen (Verkehrsmengen) sowie zum Reisendenverhalten an Knoten zur Planung von Kapazitäten

7.7.6 Planung des ÖPNV

Die automatisierten fahrerlosen Fahrzeuge ermöglichen die Umsetzung von Betriebskonzepten, die aus Gründen der Finanzierbarkeit oder aufgrund von Fahrermangel bislang nicht umsetzbar werden konnten. Die neuen Möglichkeiten werden – wenn es einen konventionellen ÖPNV auch künftig gibt – zu einem Wachstum von Fahrzeugen und neuen Betriebsleistungen beitragen. Auf nachfragestarken Achsen können die Kapazitäten erhöht und Fahrtenfolgen verdichtet werden. Auf nachfrageschwachen Achsen bzw. in nachfrageschwachen Räumen können angebotsorientierte und attraktive Betriebskonzepte realisiert werden, die bislang nicht umgesetzt werden konnten (vgl. Abschn. 2.​2).
Die Planung neuer ÖPNV-Angebote, die sich der Möglichkeiten fahrerloser Fahrzeuge bedienen, führt zu einem verbesserten Angebotsniveau und damit auch zu Leistungsmengen, die mit dem Status quo nicht vergleichbar, aber für die Erfüllung der CO2-Minderungsziele erforderlich sind. Das Maß der Veränderung der ÖPNV-Planung ist aber von einer Vielzahl externer Einflüsse abhängig:
  • Welche Restriktionen für den Einsatz der Level-4-Fahrzeuge werden in absehbarer Zeit zu berücksichtigen sein, wie z. B. Ausschluss der Befahrung von Straßen mit hohen Fahrgeschwindigkeiten oder unübersichtlichen Verkehrssituationen. Zudem beeinflusst der Umsetzungsprozess zur Aufrüstung der Lichtsignalanlagen mit RSU die Geschwindigkeit der Umsetzung aufgrund der zu erwartenden Investitionskosten erheblich.
  • Erlauben die künftigen Kostenstrukturen eine erhebliche Ausweitung des ÖPNV-Angebotes? Die Kostenstrukturen werden von den Investitionskosten in Fahrzeuge, in die Infrastruktur (s. o.) und das Zahlenverhältnis zwischen Mitarbeitern der TA und Fahrzeugen beeinflusst.
  • Wie sehen die politischen Rahmenbedingungen für den ÖPNV aus? In welchem Umfang stehen finanzielle Mittel zur Verfügung oder wie werden sich die Kosten für die Nutzung des motorisierten Individualverkehrs entwickeln? Entscheidend wird zudem auch die Marktaufteilung zwischen dem privaten Mietwagengewerbe bzw. privaten Buchungsplattformen und dem von Aufgabenträgern verantworteten ÖPNV sein.

7.7.7 Marketing-Kommunikation

Die Kommunikation gewinnt in Bezug auf den Einsatz von fahrerlosen Bussen in mehrfacher Hinsicht an Bedeutung. Zum einen muss der Kontakt zwischen Unternehmen und Fahrgast auch dann sichergestellt werden, wenn kein Fahrer mehr an Bord ist. Zum anderen macht der Einsatz der neuen Technologie und die für viele Kunden neue und ungewohnte Nutzung der Digitalisierung ein Umdenken erforderlich.
Nachdem nicht mehr in jedem Fahrzeug ein Ansprechpartner in Person eines Fahrers oder Schaffners vorhanden ist, muss die vertrauensvolle Beziehung von Fahrgast zu Technik aufgebaut werden. Das Vertrauen gilt es zunächst aufzubauen und danach dauerhaft zu fördern.
Für die neue Form des Kundendialogs müssen die Sorgen und eventuellen Vorbehalte der Kunden von Beginn an ernst genommen werden.
Für die Bereitschaft, sich in die Abhängigkeit der Technik zu begeben, muss geworben werden. Dafür müssen neue Wege der Kommunikation gefunden werden. Unter anderem können Trainings und Angstseminare dazu beitragen, dass die notwenige Akzeptanz zum neuen Angebot geschaffen wird und sich der Kunde auch weiterhin im ÖPNV wohlfühlt.

7.7.8 Kundenbetreuung

Durch den Wegfall des Fahrers an Bord der Fahrzeuge muss die Kundenbetreuung neu aufgebaut werden. Die regelmäßige Kontrolle und Bestreifung der Busse kann dabei stichprobenhaft vorgenommen werden. In Zeiten und Bereichen mit Konfliktpotenzial sind allerdings auch intensivere Personaleinsätze notwendig.
Die Unterstützung von Kunden an Verknüpfungsanlagen, auf Busbahnhöfen oder an aufkommensstarken Haltestellen gehört dabei ebenfalls zu den Aufgaben einer Kundenbetreuung. Damit kann sichergestellt werden, dass in Situationen, in denen es notwendig ist, eine Assistenz, Hilfestellung und Unterstützung angeboten werden kann oder ein Mitarbeiter rasch zu einem möglichen Einsatzort gelangt.
Fazit und Empfehlungen zu Abschn. 7.7
Die Einführung von Level-4-Bussen im ÖPNV bewirkt einen umfassenden Transformationsprozess im Verkehrsunternehmen. Das Ausmaß von Umsetzung und Wirkung ist aber von externen Rahmenbedingungen abhängig.
Um ein Lernen mit der neuen Technik möglich zu machen und die zunächst eingeschränkten Fähigkeiten autonomer Fahrzeuge sinnvoll nutzen zu können, bietet sich eine Umsetzung in Stufen an. Aufgaben mit einfachen Verkehrsverhältnissen können zuerst übernommen werden, z. B. kleine Ortsbusse mit geringen Geschwindigkeiten, Zubringer auf kurzen Strecken zur Bahn und zu konventionellen Linien. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wird der Einsatz von Fahrzeugen mit größeren Kapazitäten auf schnellen Linien bei komplexen Verkehrsverhältnissen möglich.
Aufgrund der steigenden Anforderungen an den ÖPNV zum Erreichen der CO2-Klimaschutzziele, der Daseinsvorsorge und aufgrund des absehbar steigenden Wettbewerbsdrucks zu Mietwagen- bzw. Ridepooling-Angeboten im Rahmen von gebündeltem Bedarfsverkehr wird die Nutzung der neuen Technologie eine entscheidende Bedeutung für die Aufgabenträger und die Unternehmen des ÖPNV erlangen.
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Zurück zum Zitat Huber-Erler R, Feuerbach S, Weisz S (2017) Klimafreundliches Lindauer Mobilitätskonzept (KliMo), Lindau Huber-Erler R, Feuerbach S, Weisz S (2017) Klimafreundliches Lindauer Mobilitätskonzept (KliMo), Lindau
Zurück zum Zitat Meder E et al (2021) Fortschreibung Nahverkehrsplan für den Landkreis Lindau Meder E et al (2021) Fortschreibung Nahverkehrsplan für den Landkreis Lindau
Metadaten
Titel
Handlungsleitfaden zur Integration automatisierten Fahrens
verfasst von
Constantin Pitzen
Heiner Monheim
Mario Zweig
Robert Yen
Christoph Marquardt
Copyright-Jahr
2024
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-66998-3_7

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