Skip to main content

2005 | Buch

Staat und Schönheit

Möglichkeiten und Perspektiven einer Staatskalokagathie

herausgegeben von: Otto Depenheuer

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

insite
SUCHEN

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Staatskalokagathie
Ästhetische Annäherungen an Staat und Politik
Zusammenfassung
Der moderne, neuzeitliche Staat hat ein ästhetisches Problem: die Verselbständigung des politischen Systems gegenüber den religiösen und künstlerischen Dimensionen menschlichen Lebens hat die enge Verbindung politischer Herrschaft mit dem Numinosen der Religion und dem Ästhetischen der Kunst aufgehoben. Staatlichkeit wurde säkular und abstrakt: die Rationalisierung, Versachlichung und Funktionalisierung politischer Legitimations- und Entscheidungsprozesse im Zuge der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft1 führte zur Unterscheidung von Staat und Monarch, von Amt und Person. Die Abstraktion des Staates und die Amtlichkeit allen staatlichen Handelns bildet bis heute die fundamentale Voraussetzung für Idee und Gestalt des staatlich zu gewährleistenden Gemeinwohls.2 Die juristische Unterscheidung des Staates von den Menschen, die in seinem Namen Handeln, bedeutet indes mehr als eine zivilisationsprägende Abstraktions- und Differenzierungsleistung: sie macht Staat und Staatsgewalt darüber hinaus zu einem sinnlich unmittelbar nicht mehr wahrnehmbaren Gedankenkonstrukt. Nur mittels rechtlicher Fiktionen kann der Staat handeln und wahrgenommen werden: nur über die Rechtsordnung gewinnt er Wirklichkeit,3 nur als „juristische“ Person kann der Staat Zurechnungsendpunkt von Rechtsnormen sein,4 nur mittels Repräsentanten kann er handeln.
Otto Depenheuer
Kalokagathie
Begriff, Ideen- und Wirkungsgeschichte
Zusammenfassung
Im allgemeinen Bildungsbewusstsein bezeichnet Kalokagathie ein Persönlichkeitsideal, das ästhetische und moralische Elemente von Vorzüglichkeit miteinander verknüpft, Übertragt man den Begriff auf politisch-institutionelle Zusämrnenhange, so ist es naheliegend, dabei an das Ideal einer ästhetisch-rnoralischen Politik zu denken. Typische Thesen dazu könnten etwa lauten, dass Spitzenärnter nicht einfach an eine graue Funktionselite, sondern an Individuen im Format ausstrahlungskräftiger, integrer Persönlichkeiten vergeben werden müssten, oder auch, dass sich der Staat im Erziehungs- und Bildungsbereich der gezielten Forderung von moralisch- politischen Eliten verschreiben sollte. Mit dem Kalokagathiebegriff bringt man, wie diese Beispiele illustrieren, das Ideal einer Verknüpfung ästhetischer und moralischer Persönlichkeitselemente der Politik ins Spiel. In dieser Wortbedeutungist der Terminus auch im Kontext dieses Sammelhandes gemeint. Doch in gewissem Umfang handelt es sich bei diesem Sprachgebrauch urn ein begriffsgeschichtliches Missverständnis. Um dies zu zeigen, möchte ich zunächst auf die historischen Wurzeln des Ausdrucks und dann auf seine späteren Verwendungsweisen zu sprechen chen kommen. Dabei geht es einerseits urn den Kalokagathiebegriff der Antike (II.) und andererseits urn einige Wirkungsstationen aus Mittelalter und Friiher Neuzeit (III.). Gestatten Sie mir zuvor aber einige systematische Voriiberlegungen, die ich am Ende, in Abschnitt (IV.), wiederaufgreifen werde.
Christoph Horn
Staatskultur in Deutschland
Möglichkeit und Perspektiven
Zusammenfassung
Was ist das für ein Staat, in dem die Bürger beim Abspielen der Nationalhymne weder aktiv mitsingen noch Emotionen zeigen und schon gar nicht ergriffen sind? Wir als Deutsche sind so sehr in unserem Selbstbild gefangen, dass wir einen äthiopischen Prinzen benötigen, urn auf diesen Missstand aufmerksam gemacht zu werden. Glücklicherweise liefert Asfa Wossen Asserate auch die Erklärung für dieses ratselhafte Verhalten: „Die Deutschen vergessen leicht, daß sie das einzige Volk auf der Welt sind, das den Glauben an den Nationalstaat verloren hat“1.
Hermann Schäfer
Musik als ,Ethos Politikon’
Musikpädagogische Utopien in staatstheoretischer Absicht
Zusammenfassung
Belege für eine direkte oder indirekte Beeinflussung bis bin zur staatlich verfügten Reglementierung von Musik finden sich zu allen Zeiten. Sie reichen in ihrer Beurteilung innerhalb eines Spektrums von obrigkeitlicher Empfehlung, die Vorlieben entsprungen sein konnte/kann, bis bin zu Verboten, wie es meist diktatorische Regimes praktizierten. Aus dieser Tatsache lässt sich folgero, dass zu allen Zeiten der Musik Fähigkeiten und Energien zuerkannt wurden, die sowohl positive als auch abzulehnende, ja zu bekärnpfende Beeinflussung darstellten, die auch diktatorisch missbraucht werden konnten.
Dieter Gutknecht
Ästhetik des politischen Raumes
Selbstverständnis des Staates im Spiegel der öffentlichen Bauten
Zusammenfassung
Unter der Überschrift dieses Beitrags solI versucht werden, die Gestaltung öffentlicher Bauten in Beziehung zu ihrer Botschaft, ihrer Aussagekraft zu setzen, Gebäudeals Ausdruck einer staatlichen Verfasstheit zu definieren, vom Zustand, dem „Ist“ der Gebaude, auf ihre repräsentative Aufgabe — die sie über die reine Funktion hinaus haben sollten — zu schliefien und zu fragen, ob sie in ihrern Bild, ihrer Erscheinung, dieser Aufgabe gerecht werden. Wir sprechen also bei der Überschrift „Ästhetik des politischen Raumes“ nicht vom politischen Raum irn gebräuchlichen Sinne als Topos fur das Miteinander der politisch Handelnden, sondern ganz konkret vom Raum der Politeia, der Polis, dem realen Raum unserer Städte und Gemeinden und der sie konstituierenden Gebäude, in denen politisches Leben sich abspielt, und die diesem ernsten und notwendigen Handeln der Gemeinschaft des Staates erst die raumlichen Voraussetzungen schaffen.
Kaspar Kraemer
Utopie und Staatsästhetik
Das russische Beispiel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Zusammenfassung
Wenn es zu den Überlebensbedingungen eines totalitären Systems gehört, seine Trägerschichten aus ihren tradierten Lebensbezügen zu lösen, um sie sich zuverlässig verfügbar zu machen, muß es zu deren Stabilisierung alternative Integrationsund Orientierungsmuster anbieten. Dies kann, wie im „Dritten Reich“, durch die Kreation und Ausbeutung nationaler und rassischer Mythen geschehen. Doch wie das Beispiel der Sowjetunion zeigt, ist es auch moglich, daß man sich zu diesem Zweck des Mediums der utopischen Antizipation bedient. Umgekehrt darf auf der Seite der betroffenen Individuen die Versuchung nicht unterschätzt werden, die von einem solchen Angebot ausgeht. Konfrontiert mit der sozialen und kulturellen Krise der eigenen Herkunftsgesellschaft, kann das Versprechen des weltimmanenten Aufbruchs in eine neue perfekte Gesellschaft dann attraktiv sein, wenn sie — ästhetisch überhöht — die Wiedergeburt in Gestalt eines „neuen Menschen“ verheißt, der die Defizite und Depravationen der alten Welt angeblich überwunden hat.
Richard Saage
Ausbruch aus dem Elfenbeinturm
Plädoyer für eine neue Auftragskunst
Zusammenfassung
Der Name Bitterfeld gehört zu den Begriffen aus der Schreckenskammer der Kunstgeschichte. Er erzeugt heute noch Abscheu oder Schadenfreude. Der Name fü.hrt zurück in die fünfziger Jahre, in die Eiszeit der DDR und der Ostkunst, die anfangs hoffnungsfroh an den linken Realismus der zwanziger Jahre anknüpfen wollte. Alle schöpferischen Impulse und Initiativen drohten damals in der parteilichen Verordnungsästhetik zu ersticken. Die Kunstpolitik Ulbrichts kulminierte irn Bitterfelder Weg. Er wurde auf der ersten Bitterfelder Konferenz von 1959 beschlossen. Hier wurden Losungen ausgegeben wie „Vom Ich zum Wit“, „Überholen, ohne einzuholen“, Proklamiert wurde der Gleichklang von materieller und kiinstlerischer Arbeit, das Zusammengehen von Gewerkschaftsbund und Künstlerverband, von Volkskunst, Laienkunst und Artistenkunst. Getraumt wurde von einer Unio mystica der Künstler und Wetktätigen. Die Maler und Bildhauer sollten, wie die Dichter, in die Betriebe gehen, die Werktätigen beglücken, die Arbeitsstätten verschönern. Die Laienkünstler und die Berufskünstler sollten sich vereinigen. Die Kunst sollte die Industrialisierung mit den Menschen versöhnen und damit nach klassischem Vorbild individuelles Wollen und gesellschaftlichen Auftrag zur Deckung bringen.
Eduard Beaucamp
Mikrokosmos und Makrokosmos
Der menschliche Körper als staatstheoretisches Modell
Zusammenfassung
Seit uralten Zeiten betrachteten Philosophen wie Piaton oder Hobbes, Geschichtsschreiber wie Livius oder Ärzte wie Harvey den Staat, die Gesellschaft, ja die Welt und den Kosmos als Analoga des menschlichen Organismus.1 Medizin und Politik, Anatomie und Gesellschaft schienen in geheimnisvoller Verbindung zu stehen. Niemand hätte es — die Hypothese sei gestattet — in der Antike oder Renaissance freilich für möglich gehalten, daß die Vorstellung des „Volkskörpers“ eines Tages dazu mißbraucht würde, einen Massenmord zu legitimieren. Tatsächlich benützte z.B. die politische Propaganda der Nationalsozialisten, um Euthanasie und Sterilisierung, ja Krieg und Holocaust zu rechtfertigen, häufig Metaphern, in welchen die Krankheitslehren der Ärzte wie selbstverständlich auf den „Organismus“ der Gesellschaft übertragen wurden. Vor dem Hintergrund der Gaskammern und Krematorien von Ausschwitz entwickelte sich so 1944 folgendes Gespräch zwischen der jüdischen Ärztin Ella Lingens-Reiner, die überlebt hat, und einem die Aktion überwachenden Arzt: „Ich frage mich, Dr. Klein, wie Sie diese Sache machen können. Müssen Sie nie an Ihren hippokratischen Eid denken? Und er sagte: „Mein hippokratischer Eid sagt mir, einen brandigen Blinddarm aus dem menschlichen Körper herauszuschneiden. Die Juden sind der brandige Blinddarm der Menschheit. Also schneide ich sie heraus…“
Klaus Bergdolt
Das Land ohne Gesicht
Gestaltungsarmut und Formenlosigkeit der deutschen Republik
Zusammenfassung
Staatskalokagathie bedeutet Ästhetik des Staates als Maßstab guter Politik. Selbst einer Gesellschaft wie der deutschen, die sich in diesen Fragen stets so gleichgültig gibt, wird immer deutlicher, daß es einen Zusammenhang geben muß zwischen dem offenkundigen Niedergang Deutschlands und dem zu beobachtenden öffentlichen Geschmack und dessen ausufernder Verwahrlosung.
Michael Kilian
Backmatter
Metadaten
Titel
Staat und Schönheit
herausgegeben von
Otto Depenheuer
Copyright-Jahr
2005
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-80792-2
Print ISBN
978-3-531-14768-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-80792-2