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Open Access 2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

4. Systemleichtbau mit Integration aktiver Funktionen

verfasst von : Martin Wiedemann

Erschienen in: Systemleichtbau für die Luftfahrt

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

FV-gerechte Bauweisen, strukturelle Klebung sowie die Nutzung von Funktionswerkstoffen der Adaptronik kennzeichnen die aktive Funktionsintegration. Im Zusammenspiel mit der Aerodynamik kann Systemleichtbau durch Ermöglichung der hybriden Laminarhaltung besondere Wirkung entfalten. Des Weiteren ist eine aktive Reduktion der Schallübertragung in die Kabine und eine integrierte Strukturüberwachung realisierbar.
FV-gerechte Bauweisen, strukturelle Klebung sowie die Nutzung von Funktionswerkstoffen der Adaptronik kennzeichnen die aktive Funktionsintegration. Im Zusammenspiel mit der Aerodynamik kann Systemleichtbau durch Ermöglichung der hybriden Laminarhaltung besondere Wirkung entfalten. Des Weiteren ist eine aktive Reduktion der Schallübertragung in die Kabine und eine integrierte Strukturüberwachung realisierbar.

4.1 Strukturen für hybride Laminarhaltung

Welche Bedeutung die Laminarhaltung der Strömung für den Energieverbrauch eines Flugzeugs hat, wurde bereits in Abschn. 3.​1 beschrieben. Die besondere Herausforderung besteht in der Synthese der unterschiedlichen Anforderungen an eine Tragstruktur mit den erweiterten Anforderungen zum Beispiel einer aktiven, hybriden Laminarhaltung (Hybrid Laminar-Flow-Control: HLFC). HLFC mit aktiver Absaugung der Grenzschichtströmung ermöglicht theoretisch eine Widerstandsreduktion von 30 % [17].
Schon an den Flügelvorderkanten beginnt unter bestimmten Anströmbedingungen die Bildung von Turbulenzen. Um diese aktiv zu unterbinden, wird ein aktives Absaugsystem in der Struktur und eine mikroperforierte Profiloberfläche benötigt. Die Tragstruktur hinter einer aerodynamischen Oberfläche muss geeignet aufgebaut sein mit Kammern, durch die – den Strömungsverhältnissen um die Vorderkante angepasst – mit unterschiedlichen Druckgradienten abgesaugt wird, Abb. 4.1. Die systematische und multidisziplinäre Entwicklung eines HLFC-Systems wurde im „Clean Sky II“-Projekt ECHO für das A350 Höhenleitwerk (HTP) prototypisch durchgeführt [103]. Basierend auf einer neuen HLFC-Vorderkanten-Bauweise konnte ein Potential von 5 % Treibstoffersparnis ermittelt werden [39].

4.2 Formvariabilität

Konturänderungen von Profilen ermöglichen eine Anpassung an unterschiedliche Flugzustände. Eine aktive Formvariabilität muss jedoch auch die Eigensteifigkeit der Struktur einbeziehen, in die sie integriert wird. Damit sind den resultierenden Formveränderungen Grenzen gesetzt. Innerhalb dieser Grenzen kann eine Konturänderung effektive Wirkung entfalten und sonst erforderliche Zusatzaggregate oder Funktionselemente ersetzen.
Die Laminarhaltung der Luftströmung ist bei konventionellen beweglichen Vorflügeln durch unvermeidliche Stufen zum Flügelkasten nicht möglich. Um eine stufen- und spaltlose Anstellwinkeländerung der Vorderkante in Start- und Landekonfigurationen zu gewährleisten, ist eine in sich formvariable Flügelvorderkante wünschenswert. Im 7. EU Rahmenprogramm wurden im Projekt SARISTU (smart intelligent aircraft structures) von 2011 bis 2015 Anwendungsmöglichkeiten des Morphing (der Formvariabilität) an Flügelvorder- und Hinterkanten untersucht. Gemeinsam mit Airbus und Partnern wurde eine formvariable Flügelvorderkante entwickelt, gebaut und experimentell untersucht. Die besondere Herausforderung besteht in der simultanen Berücksichtigung der weiteren Anforderungen an dieses Bauteil wie Blitzschutz, Enteisung, Abrasions- und Vogelschlagschutz. In einer Flugzeugkonfiguration mit Hecktriebwerken würde die neue Vorderkante 1 % Treibstoff einsparen [57]. Neuere Bauweisen können dank eines speziellen Materialhybrids eine Absenkung der Vorderkante um bis zu 20° realisieren mit 4–9 % Steigerung im Auftriebsbeiwert [113], Abb. 4.2.
Um den Wellenwiderstand der transsonischen Strömung über den Flügel zu mindern, können sogenannte Shock-Control-Bumps (SCBs) eingesetzt werden, die ab einer definierten Flügeltiefe und mit einer definierten Höhe einen widerstandsarmen Strömungszustand bewirken.
So wurde prototypisch ein formvariabler, adaptiver Spoiler entwickelt, der die erforderliche Verformbarkeit in Flügeltiefenrichtung und -höhe einzustellen erlaubt [66], Abb. 4.3.
Eine Möglichkeit der Auftriebssteigerung einer Tragfläche besteht in der Nutzung des Coanda-Effekts: Die Strömung liegt dabei länger an einer Klappe an, wenn diese mit einer aktiven Ausblaslippe versehen wird. Hierfür sind schnell aktuierbare Strukturelemente für die gezielte Strömungsbeeinflussung notwendig, die in einem kleinen Bauraum in die Klappe integriert werden.
Die strukturkonforme, dynamische, piezoelektrische Aktuierung einer Ausblaslippe zeigt bei Windkanalmessungen eine Auftriebssteigerung um ΔCa = 0,57 [117] (Abb. 4.4).
Spaltfreie Flaps oder bewegliche Winglets vermeiden Strömungsverluste und können zur Lastminderung eingesetzt werden. Eine Möglichkeit der Aktuierung besteht bei einer Struktur mit eingebauten Gelenken in der Beaufschlagung mit Innendruck. Druckaktuierte Zellstrukturen (Pressurized Actuated Cell-Structures: PACS) und hydraulisch betriebene kompakte Einheitsstrukturen (Fluid Actuated Morphing-Unit-Structures: FAMoUS) erlauben die Realisierung großer Verformungen, Abb. 4.5. Allerdings stellen die Dauerfestigkeit der Festkörpergelenke und die Druckdichtigkeit der Zellen Herausforderungen dar. Hier eröffnet der endlosfaserverstärkte 3D-Druck neue Perspektiven (vergl. Abschn. 2.​5).
Für ein Flügelprofil wurde durch eine PACS-Auslegung eine Hinterkantenabsenkung um 15° und damit eine theoretische Erhöhung des Auftriebs um den Faktor 3 demonstriert [36]. Ein formvariables Winglet mit strukturkonformer Aktuierung wurde im Rahmen des EU-Projekts NOVEMORE entwickelt und im Windkanal erprobt [112].

4.3 Schwingungsbeeinflussung

Schwingungen, die von Propellern und Turbinen ausgehen, verursachen Materialermüdung, Verschleiß und Komforteinschränkungen. Die aktive Schwingungsreduktion ist ein großes Anwendungsgebiet des Systemleichtbaus, indem strukturintegrierte Aktoren den resultierenden Verformungen in gleicher Frequenz entgegenwirken. Zwei CFK-Stäbe mit integriertem Piezo-Stapelaktuator in einer Fachwerkstruktur, angesteuert mit einem adaptiven Regler, reduzieren die Amplituden um 40 dB [99]. In einem einer Triebwerkaufhängung ähnlichen Fachwerk, Abb. 4.6, wird die Schwingungsübertragung eines Propellers auf die Tragstruktur um 80 % bis 90 % reduziert [100].
Eisbildung an den Vorderkanten von Auftriebsflächen erhöht den Strömungswiderstand. Ab einer bestimmten Eisanhaftung wird diese sicherheitskritisch und muss erkannt und aufgelöst werden. Durch Integration geeigneter aktiver Elemente in die Tragstruktur der Flügelvorderkante kann sowohl eine sichere und schnelle Eis-Detektion wie auch eine mechanische Enteisung – anstelle der thermischen, vergl. Abschn. 3.​2 – realisiert werden.
Integrierte Piezo-Aktoren erlauben mittels Ultraschall-Signalen eine Detektion von lokaler Eisanhaftung an Flügelvorderkanten ab 2 mm Dicke [77]. Untersuchungen mit integrierten elektro-mechanischen Systemen zeigen ein Potential zur aktiven Enteisung mittels lokaler, hochfrequenter Hautdeformation [33], Abb. 4.7.
Strukturschwingungen aus Triebwerken und Strömungsturbulenzen am Rumpf übertragen sich auf die Kabine und werden dort als Lärm wahrgenommen. Neben schwerem Dämmmaterial minimieren heute Gegenschalltechniken (Active Noise-Control: ANC) die Schallabstrahlung.
Ein leichteres und effizienteres System nutzt den Umstand, dass Schallwellen von einer Struktur nicht mehr abgestrahlt werden können, wenn die Struktur unterhalb der sogenannten Koinzidenzfrequenz in Wellenlängen schwingt, die kleiner sind als die Wellenlängen der abgestrahlten Schallwellen (Active-Structure-Acoustic-Control: ASAC), den sogenannten akustischen Kurzschluss. Mehr Informationen zur ASAC-Methode in [80].
Mit Hilfe eines in die Kabinenverkleidung integrierten ASAC-Systems können multitonale, tieffrequente Störanregungen um bis zu 20 dB reduziert werden [79]. Eine einbaufertige aktive Kabinenverkleidung, in die ein ASAC-System mit Regelung integriert ist, reduziert den Schalldruckpegel für eine Turboprop-Kabine um 6,8 dB [78], Abb. 4.8.
Die kabellose Nutzung von Sensoren für die Flugzustandsüberwachung spart Fertigungskosten und Gewicht, wenn Energie lokal zur Verfügung steht. Für ein Wireless Sensornetzwerk (WSN) kann die notwendige Betriebsenergie auch durch Energy Harvesting generiert werden, z. B. aus betriebsbedingten Schwingungen der Struktur. Der Energiebedarf autonomer Sensorelemente kann durch strukturintegrierte Piezokeramiken gedeckt werden [37].

4.4 Structural Health Monitoring – SHM

Die kontinuierliche Überwachung der strukturellen Integrität von Leichtbaustrukturen hat beim Einsatz von FV-Bauteilen großen Einfluss auf Kennwerte und resultierendes Auslegungsgewicht, Abschn. 2.​2. In den letzten Jahren hat sich für flugzeugbautypische, dünnwandige Schalenstrukturen die Methode der Lamb-Wellen etabliert. Durch strukturintegrierte (oder applizierte) piezoelektrische Elemente wird ein Aktor-Sensor-Netzwerk aufgebaut, mit dem hochfrequent longitudinale und transversale Wellen durch die Schalen gesendet werden. Diese werden an Steifigkeitssprüngen zu bestimmten Anteilen reflektiert und transmittiert. So entsteht ein Signalmuster für den aktuellen Zustand einer Schale, welches im Vergleich zu einem gespeicherten Muster für den intakten Zustand auf Orte der Schädigung und Schädigungsgrößen schließen lässt [83].
An einer CFK-Türrahmenschale (Abb. 4.9) konnten mit einem Netzwerk aus 584 Piezo-Elementen optisch kaum erkennbare Delaminationen (Barely Visible Impact-Damages: BVID) von 310 mm2 bis 2311 mm2 auf 5 mm bis 85 mm genau lokalisiert werden [81]. Lamb-Wellen-SHM lässt sich für die Schadensdetektion auch über einen Temperaturbereich von −42 °C bis 85 °C anwenden [82].
Für die Bewertung einer erkannten Strukturschädigung hinsichtlich der Lasttragfähigkeit und eines möglichen Reparaturbedarfs ist ein automatisierter Vergleich mit einer Simulation erforderlich, die das Resttragverhalten unter Berücksichtigung des erkannten Schadens analysiert. Eine Verknüpfung von Lamb-Wellen-basierter Schadenserkennung und Schadensbewertung wird durch Nutzung schneller Ersatzmodelle möglich [35]. Lamb-Wellen-SHM lässt sich ebenfalls in der Flugzeug-Wartung in Kombination mit Simulation und Augmented Reality nutzen [118].
Eine Möglichkeit der Schadenserkennung in Fügestellen bieten Foliensensoren aus Polyvinylidenfluorid (PVDF), die ebenfalls über piezoelektrische Eigenschaften verfügen und Dehnungen bei geeigneter Vorbehandlung sehr genau zu messen erlauben. Da PVDF gleichzeitig in einer Klebung wegen seiner Zähigkeit als Rissstopper verwendet werden kann, Abb. 4.10, bieten sich solche Sensoren auch für die Überwachung von Klebenähten an. Eine 100 μm dicke PVDF-Folie als Rissstopper mit aufgebrachtem Metall-Meßgitter von 200 nm erlaubt die Sensierung von Dehnungen in einer Klebenaht [41].

4.5 Strukturtragende Batterien

Im Rahmen der zunehmenden Elektrifizierung von Bordfunktionen und Antrieben wächst der Bedarf an Batterien zur Zwischenspeicherung. Batteriespeicher können auch als tragende Strukturen ausgelegt und zur Lastabtragung herangezogen werden. Je mehr mechanische Belastung sie als Teil der Struktur trägt, umso stärker sinkt ihr Gewichtsanteil als separate Batterie. Entscheidend für die strukturelle Tragfähigkeit ist die Nutzung von Festkörperelektrolyten als Speichermedium und eine geeignete elektrische Kontaktierung mit maximaler Oberfläche für eine bestmögliche kapazitive Energiespeicherung. Während für die Tragfähigkeit Festkörperelektrolyte (z. B. Li1 + xTi2 − xAlx(PO4)3: LATP) erforderlich sind, eignen sich Carbon-Nano-Tubes (CNT) für die elektrische Kontaktierung. So ließen sich Teile der Sekundärstruktur eines Flugzeugs für die Speicherung einiger kWh elektrischer Energie nutzen, Abb. 4.11.
Durch die Kombination eines LATP mit CNTs und einem geeigneten Strukturaufbau kann eine Speicherfähigkeit von 11,59 mF/cm3 nachgewiesen werden [67].
Ein strukturintegrierter kapazitiver Speicher in einer Raumfahrtanwendung für die Energiespeicherung aus dem Abbremsen rotierender Massen konnte um 73 % leichter und um 78 % kleiner gebaut werden als die klassische Vergleichsstruktur mit reinen Batterien. Die mechanische Belastbarkeit blieb dabei zu 80 % erhalten [85].
Fazit
Die Integration aktiver Funktionen in die tragende Struktur bietet weitere und vielfältige Potenziale der Gewichts- und Widerstandsreduktion. Die Entwicklungen auf diesem Gebiet bedürfen aber eines Paradigmenwechsels in der Flugzeug-Zertifizierung, da bisher getrennt zugelassene Systeme integral betrachtet werden müssen. Auf diesem Gebiet des Systemleichtbaus ist für den Erfolg eine neue Qualität der interdisziplinären Zusammenarbeit erforderlich.
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Metadaten
Titel
Systemleichtbau mit Integration aktiver Funktionen
verfasst von
Martin Wiedemann
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38480-7_4

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