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2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. Banalität der Gewalt. Gewaltkommunikation und ihre Effekte auf Kolumbien

verfasst von : Bettina M.E. Benzing

Erschienen in: Gewalt in den Anden

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Kapitel 5 diskutiert Gewaltphänomene in Kolumbien aus systemtheoretischer Perspektive und geht hierbei vertieft auf legitimierende und delegitimierende Faktoren von Gewalt sowie eine auf Erlebnissen und Erfahrungen basierende Gewöhnung an und Normalisierung von Gewaltkommunikationen ein. Ferner erläutert das Kapitel die Effekte dieser Gewöhnung und Normalisierung von Gewalt auf die Semantik und Sozialstruktur der kolumbianischen Gesellschaft und geht mithilfe dieser Erläuterungen ferner auf Bedrohung und empfundene Unsicherheit als Folge einer normalisierten Gewalt ein.

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Fußnoten
1
Weber 1922; Beetham 1991; Flathman 1993; Checkel 1999; Hurd 1999; Luckmann 2001; Scharpf 1999, 2004
 
2
Zur Kritik an der Verknüpfung demokratisch orientierter normativer Werte mit Kriterien von Legitimität O’Connor 2007.
 
3
Diskussion: Warum wird dem Begriff der Legitimation Vorzug vor dem Begriff der Toleranz gegeben? Toleranz ist meiner Beobachtung nach zu schwach. Toleranz impliziert eine weit gefasste Akzeptanz einer Verhaltensweise ohne Selbstadaptation. Legitimation impliziert eine mögliche Selbstbeteiligung.
 
4
Zur Definition staatlicher Kontrolle gehört die Bereitstellung staatlicher Dienste wie Sicherheit – Schutz vor äußeren Feinde als auch inneren Bedrohungen (Schubert 2005) – sowie die Repräsentanz des Staates (Küpeli 2010) in Form der Durchsetzung des Gewaltmonopols auch gegen nichtstaatliche Gewaltakteure (Schneckener 2006). Milliken führt neben diesen Kriterien auch noch Wohlfahrt – marktwirtschaftliche Strukturen, Schutz des Privateigentums, Sozialleistungen – als staatlichen Kontrollkriterium aus (Milliken 2003). Kolumbien weist darüber hinaus eine komplexe Struktur staatlicher Kontrolle auf, da der Staat einerseits funktionsfähig und präsent ist, auf der anderen Seite aber seinen Aufgaben der Bereitstellung von Sicherheit teilweise nur ungenügend nachkommt (Di John 2008).
 
5
„Hier werden einige Kids geboren, die mit dem anfangen, von was wir gerade sprachen: dem einfachen Weg [den Handel mit Drogen]. Sie wollen in Kürze viel machen (erreichen). Und sie sehen überhaupt viel. Daher wird auch viel Schaden angerichtet. Es gibt hier ein Gesetz, dass sie solche Jungs hier töten. Es gibt hier kein Gefängnis. Und dann kehren sie [die Rekrutierer] zurück und machen die nächsten [Jungs] aus. So passiert es immer.“
 
6
„Die Regierung hat ein ernsthaftes Problem in den Regionen zu regieren, sie hat keine Kapazität dafür. Einige fragen wo das Problem liegt, wenn sich die Polizei mit bewaffneten und illegalen Gruppen verbündet. Natürlich ist die Polizei, sind alle lokalen Behörden involviert [in illegale, parastaatliche Strukturen]. Und wenn das stimmt, dann gibt es wirklich ein Problem der Regierungsführung in den Regionen. Der Fall Córdoba: Córdoba war das Territorium der AUC während ihrer gesamten Existenz. Die Autodefensas haben sich demobilisiert, aber das hat nicht das Problem mit der Sicherheit in Córdoba gelöst. Dort sind weiterhin paramilitärische und Guerrilla Gruppen. Das gleiche passiert in Catacumbo mit der EPL und kleinen Grüppchen der EPL. Die EPL hat sich auch demobilisiert, aber operiert weiter in kleinen Gruppen in verschiedenen Regionen. Daher, für mich, geht das Problem leider weiter und verschlimmert sich noch.“
 
7
„Ja, wir haben uns unsere sozialen Bilder konstruiert und legitimieren Geschlechtergewalt, Gewalt in der Schule, Gewalt gegen Afro-Kolumbianer*innen, Gewalt gegen Indigene, die Gewalt im bewaffneten Konflikt; wir sagen, dass es ein legitimer Mechanismus ist, dass es ein institutioneller Mechanismus ist.“
 
8
In Kolumbien werden lediglich ein Bruchteil aller Kapitalverbrechen aufgeklärt, die Aufklärungsstatistik von Straftaten jenseits von Kapitalverbrechen liegt noch niedriger (Rosenberg 2014; UNODC 2019).
 
9
Weitgehend bekannt als die Politik der harten Hand (Mano Dura).
 
10
„Eine andere Gewalt ist die, die von Sicherheitsorganen ausgeübt wird, dem Militär und der Polizei. Sie sind sehr unhöflich in den Kommunen und viele von ihnen sind in die Gewaltspirale involviert. Sie konfiszieren Waffen und Drogen einer Gang und verkaufen sie an eine andere. Also ist die Polizei korrupt, richtig? Wenn Sie daher mich fragen würden, wir sprachen eigentlich von Gewalt, aber wir können eine vergleichbare Statistik aufmachen: Was ist das das größte Problem in Kolumbien? Das sind nicht die FARC oder die BACRIM oder die ELN, es ist die Korruption des Landes! Richtig? Genau! Korruption produziert Tote, auch wenn das Wort nicht mit dem Tod assoziiert wird.“
 
11
„Wir hatten auch sehr viel Gewalt durch den Staat, durch die Politik der harten Hand gegen die Zivilbevölkerung.“
 
12
In Kolumbien haben sich in jüngerer Vergangenheit Friedensgemeinden herausgebildet, die sich einem gewaltfreiem Miteinander verschrieben haben. Es handelt sich hierbei um geschlossene Dorfgemeinschaften, die einen lokalen zivilen Widerstand gegen Gewaltgruppen leisten und eigene Sicherheitsmaßnahmen etabliert haben. Es handelt sich im Grunde um autarke Gemeinschaften, die meist jenseits staatlicher Strukturen bestehen und sich aus der Notwendigkeit des Eigenschutzes aufgrund extremer Gewalt durch bewaffnete Gruppen gebildet haben. Partiell bauen diese Gemeinschaften auf der Garantie gegenseitigen Schutzes auf. In anderen Gemeinden, wie in San José de Apartadó, ist der Alltag stark ritualisiert und der Verhaltenskodex innerhalb der Mitglieder strikt.
 
13
„Hier in Kolumbien wurden die Institutionen von den Paramilitärs kooptiert, ja. Aber es gibt auch viel Klientelismus, und vor allem in den Regionen wurden zum Beispiel die Direktoren von Ämtern mit viel Macht in Fragen des Grundeigentums, Katasterämtern und dergleichen, aber auch die Notare zum Beispiel, die Standesbeamten, von den Politikern eingesetzt, vom Bürgermeister oder vom Gouverneur. Das muss sich ändern. Es muss einen meritokratischen Prozess geben, bei dem Staatsbeamte zu ausgezeichneten Beamten ausgebildet werden müssen, nach exzellenten Leistungen wie in anderen Ländern, wie in Japan, oder Korea oder Taiwan, wo es ein Vorteil ist, Teil des Staates zu sein, es ist eine Auszeichnung für Exzellenz. Ich denke, das wäre auch sehr wichtig, das würde die institutionelle Kultur von Korruption, Illegalität und Gewalt verändern.“
 
14
McGee 2017; Naucke 217; Courtheyn 2016; Mouly et al. 2016; Nussio 2013
 
15
Die Delegitimierung von Gewaltanwendung einer befeindeten Gruppe bei gleichzeitiger Legitimierung der Gewalt der eigenen Gruppe ist ein bekanntes Phänomen in der Konfliktforschung.
 
16
Der Begriff bezieht sich auf heftige Unruhen und gewaltsame Ausschreitungen in Bogotá ausgelöst durch die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Gaítan.
 
17
„Wir sind eines der gewaltsamsten Länder, mit den gewaltsamsten Städten der Welt, daher sind wir gewaltsam.“
 
18
„Wir haben gelernt, gewaltsam zu sein und wir machen das sehr gut, oder? Also wir sind doch perfekt gewalttätig. Wir waren gelehrig und gute Lehrer von Gewalt. Und wir haben viele Arten von Gewalt auch unseren Nachbarländern gelehrt. Es gibt einige Länder, die Formen der Entführungen, Erpressung, illegalen Handels, Kartellen, Mafias kopiert haben. Sagen wir, wir haben das Patent und haben das an andere Orte weitergegeben.“
 
19
„Es ist nicht nur die Gewalt, die durch den bewaffneten Konflikt generiert wurde. Es gibt eine Menge an Gewaltarten, die durch nichtstaatliche Gruppen erzeugt wurde. Aber wenn wir auch über das Gewaltdreieck Galtungs reden, dann ist da auch das Thema der strukturellen Gewalt, das zum Beispiel in Zusammenhang mit Grundrechten gesehen werden muss. Oder kulturelle Gewalt, all die Stigmatisierung.“
 
20
„Aber die Gewalt in Siloe ist wirklich eine Gewalt, die gehorcht. Ich werde Siloes Gewalt nicht verteidigen, weil wir etwas tun müssen, um es irgendwie zu stoppen; aber Siloes Gewalt wird durch das Establishment verursacht. Zur Zeit der Violencia hat Gaitán uns die Bauern geschickt, da haben sie unsere Eltern psychisch zerstört, und das wurde übertragen, und es gab absolut nichts. Jetzt, zumindest […] mit den neuen Vertriebenen, besteht die Möglichkeit, dass sie sie einbinden werden.“
 
21
„Ich bin praktisch in der Stadt aufgewachsen und habe das alles gesehen. Als Kind habe ich gesehen, dass Menschen hier in […] ermordet wurden, und man wird dadurch träge. Wenn man in so einer Welt aufwächst, dann wird das zu etwas Normalem. Ein Freund kam einmal näher und sagte mir, dass sie heute früh schlafen gehen werden, weil sie später arbeiten würden. Das war, weil sie jemanden töten würden. Natürlich habe ich nie gefragt wer, denn naja. Aber ich wusste, dass sie jemanden töten würden. [Selbst] wenn ich mich dazwischen gestellt hätte, um ihm zu sagen: Das tust du nicht.“
 
22
Da das Wort selbst immer negativ konnotiert ist, werden gewohnte Handlungen rhetorisch anders benannt: Erziehungsmaßnahme, jemandem eine Lehre erteilen, sich behaupten etc.
 
23
„Es ist wie Alltag. Es ist nicht notwendigerweise Gewalt, es ist eine normale Situation.“
 
24
„Hier in Kolumbien haben wir eine äußerste Gleichgültigkeit gegenüber der Gewalt. Viele Kolumbianer*innen kennen nicht mal das Ausmaß des Konfliktes.“
 
25
„Auch wenn nicht alle in Echtzeit sind, aber es wird so erzählt, als würden nun alle Nachrichten von Katastrophen, Terror und der Gewalt erzählt. Und man sagt, das habe die Einschätzung [der Leute] beeinflusst, weil sie, die in einer solchen Kultur aufgewacht sind, glauben Gewalt konsumieren zu müssen. Und da bleiben andere Nachrichten zurück, sodass diese angepasst werden und mehr Gewalt eingeführt werden muss. Das heißt, um zu überleben, muss man mehr Geschichte über Gewalt erzählen. Daher konsumieren so viele Menschen Gewalt […].“
 
26
Bei Kindern ist dies beispielsweise oft anders, wie das Beispiel Yulianas in Abschnitt 4.​3 zeigt.
 
27
„Das Leben dort… als ich dort oben lebte (gemeint ist in einem oberen Abschnitt eines Barrios), ich ging nachts aus. Wenn man es mag, etwas trinken zu gehen, zu tanzen, dann ist es nicht wichtig, man geht man aus. Und wenn man dann ausgegangen ist, fragt man sich, wie man jetzt da hoch kommt. Aber man geht hinauf. Mit der Gefahr der Nacht und alles. Wer nachts ausgeht, macht das, weil er tanzen will, und dann riskierst du auch schon mal dein Leben. Aber wenn man arbeiten muss, muss man hoch und wenn man tanzen gehen will, geht man aus. Man nimmt das Risiko eben an, dass dir auf dem Rückweg etwas passieren kann.“
 
28
Stichweh 2006; revidierte Fassung eines Artikels von 2000 in Soziale Systeme 6 (2).
 
29
Die Wechselwirkung von Semantik und Sozialstruktur, wenngleich in seiner Konstitution anders verstanden, lässt hier ein wenig an Bourdieus sich selbst strukturierende Struktur erinnern.
 
30
Zeitliche Frequenz in Abhängigkeit der Unfallschäden.
 
31
Man erinnere sich beispielsweise an die Warnungen verschiedener Sekten zum Ende des Maya-Kalenders, der auf die Bedrohung des Endes der Welt hinweisen sollte.
 
32
U. a. Björkdahl/Höglund 2013; Young 2015; Courtheyn 2016; McGee 2017
 
33
„Daher Ja, es gibt eine sehr ausgeprägte, sehr generalisierte Naturalisierung von Gewalt, aber auch eine Müdigkeit, eine Erschöpfung, die Leute wollen Frieden, die Leute wollen …Das Land ist gespalten, viele sind müde, weil es schon Friedensbemühungen gegeben hat, die gescheitert sind.“
 
34
„Also wenn einer die Möglichkeit hat in marginalisierten Kommunen auf sozialer Ebene zu arbeiten, das gibt ihnen eine riesige Stärke, die man Unehrlichkeit nennt. Sie fragen mich, was das Hauptproblem der Kolumbianer*innen ist, die Wurzel der Gewalt, und das ist die Unehrlichkeit, die die Kolumbianer*innen kulturell angreift. […] Immer suchen wir nach einer einfachen Möglichkeit, Dinge zu regeln. Keiner kümmert sich darum, Ehrlichkeit in den Familien zu säen. Jeder begeht bewusst oder unbewusst Untaten.“
 
35
Es soll an dieser Stelle ergänzend verdeutlicht werden, dass meine Ausführungen sich auf ein gesellschaftliches Phänomen beziehen. Es soll nicht vermittelt werden, dass jede*r Kolumbianer*in per se eine Gewaltaffinität besitze. Dies würde der Annahme einer Gewaltkultur entsprechen, der ich nicht folge. Individuen sind eingebettet in eine soziale Struktur und unterliegen sozialen Regeln – geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen –, die ihren Alltag und hierdurch auch ein Gesellschaftsbild prägen und reproduzieren. Gewalt ist hierbei ein Aspekt gesellschaftlicher Erwartungen, wodurch Kommunikation in sozialen System eigendynamisch geprägt wird und die Sozialstruktur parasitär infiltriert wird.
 
Metadaten
Titel
Banalität der Gewalt. Gewaltkommunikation und ihre Effekte auf Kolumbien
verfasst von
Bettina M.E. Benzing
Copyright-Jahr
2021
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-36285-0_5