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2004 | Buch | 3. Auflage

Bioanorganische Chemie

Zur Funktion chemischer Elemente in Lebensprozessen

verfasst von: Prof. Dr. phil. nat. Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski, Ph. D.

Verlag: Vieweg+Teubner Verlag

Buchreihe : Teubner Studienbücher Chemie

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Historischer Überblick und aktuelle Bedeutung
Zusammenfassung
Der Begriff bio-anorganische Chemie verdankt seine scheinbare Widersprüchlichkeit einer historisch bedingten Konfusion. Der ursprüngliche Sinn der Aufteilung in eine organische Chemie derjenigen Stoffe, welche nur aus Lebewesen gewonnen werden können, und in eine anorganische Chemie der “toten Materie” war mit der Wöhlerschen Harnstoffsynthese aus Ammoniumcyanat im Jahre 1828 verlorengegangen. Heute wird die Organische Chemie — unabhängig von der Materialherkunft — im wesentlichen als die Chemie der Kohlenwasserstoff-Verbindungen und deren Derivate definiert, unter Einschluß von “Hetero”-Elementen wie N, O oder S. Der große Rest ist dementsprechend die Domäne der Anorganischen Chemie.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
2. Einige Grundlagen
Zusammenfassung
“Leben” ist ein Vorgang, der sich für den erwachsenen Organismus als kontrolliertes stationäres Fließgleichgewicht mit Input und Output als notwendigen Voraussetzungen in nicht oder nur teilweise abgeschlossenen Systemen weitab vom “toten” thermodynamischen Gleichgewicht abspielt und nur durch energieverbrauchende chemische Prozesse aufrechterhalten wird (“dissipatives System”).
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
3. Cobalamine, einschließlich Vitamin und Coenzym B12
Zusammenfassung
Coenzym B12 und die davon abgeleiteten Derivate (3.1), einschließlich des Vitamins B12, eignen sich aus mehreren Gründen als Einführungsbeispiel für die bioanorganische Chemie. Zum einen sind im historischen Rückblick einige Meilensteine in der Entwicklung des gesamten Gebietes mit dem Vitamin B12 und später dem Coenzym verknüpft gewesen; dies betrifft unter anderem die therapeutische Nutzung, die Spurenelementbestimmung, die Anwendung chromatographischer Reinigungsmethoden, die kristallographische Strukturaufklärung und das Verhältnis zwischen enzymatischer und coenzymatischer Reaktivität. Weiter haben die moderne Naturstoffsynthese und die metallorganische Chemie von der Beschäftigung mit dem B12-System profitiert.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
4. Metalle im Zentrum der Photosynthese: Magnesium und Mangan
Zusammenfassung
Sowohl das Hauptgruppenelement Magnesium als auch das Übergangsmetall Mangan (Wieghardt 1989) besitzen neben ihren Funktionen im Bereich der Photosynthese große Bedeutung als Zentren hydrolysierender und Phosphat-übertragender Enzyme (s. Kap. 14.1). Darüber hinaus spielt Mangan in seinen höheren Oxidationsstufen (+III, +IV) eine Rolle als Redoxzentrum (Pecoraro) in einigen Ribonukleotid-Reduktasen (vgl. Kap. 7.6.1), Katalasen und Peroxidasen (s. Kap. 6.3) sowie Superoxid-Dismutasen, letztere insbesondere in Mitochondrien (Borgstahl et al.; vgl. Kap. 10.5). Obwohl im photosynthetischen Gesamtprozeß auch Eisen- und Kupfer-Zentren wesentlich am Elektronentransfer innerhalb der Membranproteine beteiligt sind, beschränkt sich dieses, der für Lebewesen wohl wichtigsten chemischen Reaktion gewidmete Kapitel, auf zwei grundlegende Teilbereiche der Photosynthese: die Aufnahme von Licht und die damit bewerkstelligte Ladungstrennung durch magnesiumhaltige Chlorophylle sowie die Mangan-katalysierte Oxidation von Wasser zu Sauerstoff bei Cyanobakterien, Algen und den höheren Pflanzen.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
5. Der anorganische Naturstoff O2: Aufnahme, Transport und Speicherung
Zusammenfassung
Die hohe Konzentration von potentiell reaktivem Disauerstoff O2 in der Erdatmosphäre (ca. 21 Vol.%) ist ein Resultat der kontinuierlichen Photosynthese “höherer” Organismen. O2 ist damit ein Naturstoff, d.h. ein Stoffwechsel-Sekundärprodukt, ebenso wie beispielsweise Alkaloide oder Terpene; ursprünglich handelte es sich sogar um ein ausschließlich toxisches Abfallprodukt. Untersuchungen der Atmosphären von Planeten und Monden haben generell Gehalte von weit unterhalb 1 Vol.% O2 ergeben; ähnliches wird für die Uratmosphäre der Erde bis vor ca. 2.5 Milliarden Jahren angenommen (Allegre, Schneider). Wegen des Wachstums der Organismen und des daraus folgenden Bedarfs an aus CO2 gewonnenen reduzierten Kohlenstoffverbindungen (4.4) stieg das Ausmaß der Photosynthese soweit an, daß die gleichzeitig resultierenden Oxidationsäquivalente nicht mehr durch Hilfssubstrate wie etwa Fe(II)- oder S(-II)-Verbindungen abgefangen werden konnten; letztendlich erfolgte die (z.B. Mn-katalysierte, Kap. 4.3) Oxidation des umgebenden Wassers zu Disauerstoff (4.5). Konnte der extrem umweltschädliche Schadstoff O2 noch eine Weile von reduzierten Verbindungen, insbesondere von bei pH 7 löslichem Fe2+ und Mn2+ unter Bildung mächtiger oxidischer Ablagerungen wie etwa der “Rotsedimente” des Eisen(III)oxids aufgenommen werden (5.1), so erhöhte sich vor ca. 2.5 Milliarden Jahren auch allmählich die O2-Konzentration in der Atmosphäre, bis vor etwa 1 Milliarde Jahren das auch heute noch vorhandene recht stabile Gleichgewicht zwischen O2-Produktion und -Verbrauch mit stationärer Konzentration bei 21 Vol.% und Recycling innerhalb von ca. 2000 Jahren erreicht wurde.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
6. Katalyse durch Hämoproteine: Elektronenübertragung, Sauerstoffaktivierung und Metabolismus anorganischer Zwischenprodukte
Zusammenfassung
Eisenporphyrin-Komplexe besitzen neben der Fähigkeit zum stöchiometrischen Disauerstoff-Transport vielfältige katalytische Funktionen im biochemischen Geschehen. Neben dem eigentlichen Häm-System (5.8) kommen auch Eisenkomplexe mit teilreduzierten Porphyrinliganden wie etwa Chlorin (→ Häm d) oder Sirohäm vor (vgl. 6.20). Häm-enthaltende Enzyme sind an Elektronentransport und -akkumulation, an der kontrollierten Umsetzung sauerstoffhaltiger Zwischenprodukte wie etwa O2 2−, NO2 oder SO3 2− sowie zusammen mit anderen prosthetischen Gruppen an komplexen Redoxprozessen beteiligt (vgl. die Cytochrom c-Oxidase, Kap. 10.4).
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
7. Eisen-Schwefel- und andere Nichthäm-Eisen-Proteine
Zusammenfassung
Drei große Gruppen eisenhaltiger Proteine lassen sich aufgrund der Ligation des Metallzentrums unterscheiden. Ausschließlich durch Aminosäurereste, Bestandteile des Wassers (H2O, HO, O2−) oder Oxoanionen gebunden sind Eisenionen im photosynthetischen Reaktionszentrum (Abbn. 4.5 – 4.7), im Hämerythrin (Kap. 5.3), in Nichthäm-Eisen-Enzymen (Kap. 7.6) sowie in Transport- und Speicher-Proteinen des Metalls (s. Kap. 8). Neben diesen oft mehrzentrigen Systemen und dem in Kap. 5.2 und 6 vorgestellten Porphyrinchelat-gebundenen Häm-Eisen mit seinen vielfältigen Funktionen im Sauerstoff-Metabolismus (5.8) stellen Eisen-Schwefel(Fe/S)-Proteine eine dritte große und bedeutende Klasse dar (Thomson; Salemme; Cammack; Hall, Cammack, Rao).
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
8. Aufnahme, Transport und Speicherung eines essentiellen Elements: Das Beispiel Eisen
Zusammenfassung
Die Beschreibung der Struktur sowie der physiologischen Funktion von Metallzentren in Enzymen oder Proteinen hat in der bioanorganischen Chemie immer einen breiten Raum eingenommen. Zwischen der allgemein feststellbaren Häufigkeit eines Elements im Organismus (vgl. Kap. 2.1) und der spezifischen Funktion, z.B. in einem Enzym, stehen jedoch komplexe, weil notwendigerweise selektive und kontrollierte Mechanismen für Aufnahme, Transport, Speicherung und gezielte Übergabe des Elements, etwa an das dafür vorgesehene Apoprotein, unter zeitlich und räumlich genau definierten physiologischen Bedingungen. Auf diesen schwer zugänglichen Aspekt der Zeit- und Ortsabhängigkeit bioanorganischer Reaktionen im konkreten Organismus hat vor allem Williams in mehreren Artikeln hingewiesen.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
9. Nickelhaltige Enzyme: Die steile Karriere eines lange übersehenen Biometalls
Überblick
Nickel war lange Zeit das einzige Element aus der zweiten Hälfte der 3d-Übergangsmetallreihe, für das eine biologische Bedeutung nicht sicher nachgewiesen werden konnte. Die Gründe für dieses “Übersehen” lagen darin, daß Nickel(II)-Ionen mit physiologisch relevanten Liganden keine sehr charakteristische Lichtabsorption zeigen, Mösssauer-Effekte für Ni-Isotope experimentell nicht leicht zugänglich sind und selbst paramagnetisches NiI (d9) oder NilIII (d7) nicht immer eindeutig mittels ESR-Spektroskopie nachweisbar ist (die natürliche Häufigkeit von 61Ni mit I = 3/2 beträgt nur 1.25%). Nickel ist außerdem — wie heute erwiesen — meist nur ein Bestandteil von komplexen, mehrere Coenzyme wie auch weiteres anorganisches Material enthaltenden Enzymen, so daß seine Präsenz, etwa in Gegenwart von Fe/S-Clustern, lange unbemerkt bleiben konnte. Mit empfindlicheren Detektionsmethoden in der Atomabsorptions- oder -emissions-Spektroskopie (AAS, AES) und bei magnetischen Messungen (SQUID-Suszeptometer) sowie durch ESR an 61Niangereichertem Material konnten jedoch einige nickelhaltige Enzyme bei Pflanzen sowie vor allem im Bereich von Mikroorganismen (Archäbakterien; Trauer) nachgewiesen und teilweise charakterisiert werden (vgl. Abb. 1.2). Nickel ist sowohl in der Lithosphäre wie auch als gelöstes Ni2+ im Meerwasser ausreichend vorhanden, so daß in Anbetracht seines geringen Bedarfs als Ultraspurenelement (Nielsen) natürliche Nickelmangelerscheinungen kaum auftreten — selbst der Nickelgehalt von Edelstahl konnte durch Mikroorganismen mobilisiert werden (Abb. 1.2). Für die recht verbreiteten Nickel-Allergien sind Ni2+-spezifische Antikörper verantwortlich (Patel et al.), und als eine der exotischeren Hypothesen für das Aussterben der Saurier und vieler anderer Lebewesen zu Ende der Kreidezeit wurde eine globale Nickel-Vergiftung durch meteoritisches Material postuliert (Beard).
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
10. Kupferhaltige Proteine: Die Alternative zu biologischem Eisen
Zusammenfassung
Kupfer- und Eisen-enthaltende Proteine besitzen häufig vergleichbare Funktionalität (Tab. 10.1); hingewiesen wurde bereits auf die Entsprechung der reversibel O2-bindenden Proteine Hämerythrin (Fe, Kap. 5.3) und Hämocyanin (Cu, s. Kap. 10.2). Beide Metalle treten weiterhin in Elektronentransfer-Proteinen für die Photosynthese und Atmung sowie beim Metabolismus des Sauerstoffs, z.B. in Oxidasen/Oxygenasen, und bei der Beseitigung seiner zellschädigenden Reduktions-Zwischenprodukte auf.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
11. Biologische Funktion der “frühen” Übergangsmetalle: Molybdän, Wolfram, Vanadium, Chrom
Zusammenfassung
Im Gegensatz zu “späten” Übergangsmetallen wie Cobalt, Nickel oder Kupfer zeichnen sich die Metalle aus dem vorderen Bereich der Übergangsmetallreihen dadurch aus, daß sie unter aeroben Bedingungen in wäßriger Lösung hohe Oxidationsstufen, hohe Koordinationszahlen und “harte”, insbesondere negativ geladene Sauerstoff-Koordinationszentren bevorzugen. In vielen Fällen ergibt sich dadurch eine negative Gesamtladung der resultierenden Oxo- oder Hydroxo-Komplexe, was vor allem im Hinblick auf physiologische Aufnahme- und Mobilisierungs-Mechanismen von Bedeutung ist. Für Scandium und Titan am Beginn der ersten (3d-)Übergangsmetallreihe konnte zwar noch keine physiologische Bedeutung nachgewiesen werden; Vanadium und Chrom sowie dessen schwerere Homologe im Periodensystem, Molybdän und Wolfram, besitzen jedoch recht differenzierte physiologische Funktionen. Das biologisch bedeutendste Element in dieser Reihe ist zweifellos das Molybdän, dessen Chemie und enzymatische Funktionen (Stiefel, Coucouvanis, Newton; Bray; Burgmayer, Stirfrl) im Bereich von Sauerstoff-Übertragung und Stickstoff-Fixierung ausführlicher vorgestellt werden.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
12. Zink: Enzymatische Katalyse von Aufbau- und Abbau-Reaktionen sowie strukturelle und genregulatorische Funktionen
Überblick
Nach dem Element Eisen ist Zink mit ca. 2 g pro 70 kg Körpergewicht das zweithäufigste 3d-Metall im menschlichen Organismus, eine bedeutende Rolle spielt es auch für viele andere Lebewesen (Bertini et al.; Prince; Williams; Vahrenkamp; Vallee, Auld; Prasad). Das Element kommt unter physiologischen Bedingungen nur zweifach ionisiert vor; aufgrund der abgeschlossenen d-Schale (d10-Konfiguration) ist Zn2+ in Komplexverbindungen diamagnetisch und farblos. Entfällt dadurch einerseits die Möglichkeit von leichter elektronischer Anregung am Metall selbst, so findet sich andererseits Zink(II) biologisch nie von (farbigen) Tetrapyrrol-Liganden koordiniert, obwohl synthetische Komplexe dieses Typs sehr stabil sind. Zink-enthaltende Proteine konnten folglich erst mit verbesserten analytischen Methoden seit etwa 1930 eindeutig nachgewiesen werden; inzwischen sind schon über 300 Vertreter bekannt (vgl. Tab. 12.1). Unter diesen befinden sich zahlreiche essentielle Enzyme, die den Aufbau (Synthetasen, Polymerasen, Ligasen, Transferasen) oder den Abbau (Hydrolasen) von Proteinen, Nukleinsäuren, Lipid-Molekülen, Porphyrin-Vorstufen und anderen wichtigen bioorganischen Verbindungen katalysieren. Weitere Funktionen betreffen das Fixieren bestimmter, die Reaktionsgeschwindigkeit und/oder die Stereoselektivität beeinflussender Konformationen von Proteinen in Oxidoreduktasen sowie die strukturelle Stabilisierung von Insulin, von Hormon/Rezeptor-Komplexen oder auch von Transkriptions-regulierenden Faktoren für die Übertragung genetischer Information. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Zinkmangel zu gravierenden pathologischen Erscheinungen führt (Bryce-Smith) und daß die schwereren Homologen Cadmium und Quecksilber nicht zuletzt durch Verdrängen des Zn2+ aus seinen Enzymen toxisch wirken (s. Kap. 17.3 und 17.5).
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
13. Ungleich verteilte Mengenelemente: Funktion und Transport von Alkalimetall- und Erdalkalimetall-Kationen
Zusammenfassung
Alle bisher behandelten Metalle lassen sich unter die Rubrik “Spurenelemente” einordnen, wenn als Kriterium ein Tagesbedarf von weniger als 25 mg für den erwachsenen Menschen herangezogen wird (vgl. Tab. 2.3). Die Ionen des Magnesiums und Calciums (zweiwertig) sowie des Natriums und Kaliums (einwertig; Pasternak) fallen eindeutig nicht in diese Kategorie, wie auch aus ihrem hohen Mengenanteil im menschlichen Organismus hervorgeht (Tab. 2.1). Diese Kationen sind durch ihre Häufigkeit in der Erdkruste wie auch im Meerwasser für nicht-katalytische Funktionen prädestiniert (Abb. 2.2); zusammen mit Anionen wie Chlorid werden sie oft auch als “Elektrolyte”, “Mengenelemente” oder “Makro-Mineralstoffe” bezeichnet. Da für die vier Metallionen K+, Na+, Ca2+ und Mg2+ die katalytische Rolle hinter anderen, große Mengen erfordernden Funktionen zurücktritt, werden im folgenden die beiden wichtigsten solchen Funktionen vorgestellt:
a)
Der Aufbau von stützenden und abgrenzenden Strukturen erfordert eine größere Menge an Material, wobei neben den Silikaten insbesondere calciumhaltige Festkörper als Bestandteile von Innen- und Außenskeletten, Zähnen, (Eier-)Schalen, aber auch Erdalkalimetallion-stabilisierten Zellmembranen eine wichtige Rolle spielen (s. Kap. 15). Weniger offensichtlich sind Erdalkali- und Alkali-Metallkationen daran beteiligt, über elektrostatische Wechselwirkungen und osmotische Effekte Membran-, Enzym- und Polynukleotid(DNAn-, RNAn-)-Konformationen zu stabilisieren; darauf beruht beispielsweise die Denaturierung vieler Biomoleküle in reinem, entionisiertem Wasser.
 
b)
Die generell schwache, oft nur durch aufwendige molekulare Konstruktion erreichbare Bindung von Erdalkalimetall- und Alkalimetall-Kationen an Liganden kann dazu genutzt werden, die freie, entlang einem eigens erzeugten Konzentrationsgefälle sehr rasch verlaufende Diffusion von elektrisch geladenen Teilchen zum Informationstransfer zu verwenden. Während eine direkte Ladungstrennung zu hohen, chemisch-synthetisch nutzbaren Spannungen führt (vgl. Kap. 4.2), entsteht ein niedriges, nur der Signalerzeugung dienendes Membranpotential durch unterschiedliche Konzentrationen verschiedener Ionen. Die dazu erforderliche Spezifität ist vor allem aufgrund der für atomare (kugelförmige) Ionen kennzeichnenden Verhältnisse Radius/Ladung und Oberfläche/Ladung möglich; wie Tab. 13.1 zeigt, unterscheiden sich gerade hierin die vier genannten Kationen sehr deutlich voneinander. Sie unterscheiden sich damit auch von den auf Grund der Eigendissoziation des Wassers ubiquitären Protonen, deren Gradient eine sehr wichtige Rolle im Energietransfer spielt (chemiosmotischer Effekt; vgl. ATP-Synthese, Kap. 14.1). Offensichtlich ist die nur durch Diffusion begrenzte maximale Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion (“Diffusionskontrolle”) für viele Informationstransfer-erfordernde Vorgänge erstrebenswert (vgl. Abb. 13.1).
 
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
14. Katalyse und Regulation bioenergetischer Prozesse durch die Erdalkalimetallionen Mg2+ und Ca2+
Zusammenfassung
Unter den vier nicht zu den Spurenelementen gerechneten Bio-Metallkationen nimmt Mg2+ aufgrund seines geringen lonenradius eine Sonderstellung ein (vgl. Tab. 13.1; Martin; Black, Huang, Cowan). Dieses Ion bevorzugt wegen des relativ kleinen Verhältnisses Radius/Ladung und der daraus folgenden Lewis-Acidität mehrfach negativ geladene Liganden, insbesondere Polyphosphate; im Gegensatz zum verwandten und in der katalytischen Funktion teilweise ähnlichen Zn2+ ist Mg2+ jedoch eindeutig ein “hartes” Elektrophil (vgl. Abb. 2.6), welches mit einfachen N- und S-Liganden wie His oder Cys keine inerten Komplexe mehr bildet. Darüber hinaus bevorzugt Mg2+ sehr stark die Koordinationszahl sechs mit weitgehend oktaedrischer Konfiguration, während die sonst in der biologischen Funktion vergleichbaren Ionen entweder zu niedrigeren (Zn2+) oder höheren Koordinationszahlen neigen (Ca2+). Daß jedoch von dieser Regel unter dem “entatischen Streß” durch ein Enzymprotein auch abgewichen werden kann, zeigt das Beispiel der Enolase (14.9).
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
15. Biomineralisation: Kontrollierte Konstruktion biologischer Hochleistungsmaterialien
Überblick
Noch stärker als metallhaltige Proteine und ionische Elektrolyte widerlegen die chemisch und vor allem morphologisch sehr unterschiedlichen biomineralischen Konstruktionen den Eindruck eines organisch-chemisch dominierten Lebens. Selbst unsere Kenntnis über frühere Lebensformen beruht zum größten Teil auf biomineralischen Überbleibseln (Fossilien), die in der Gesamtmenge ein enormes, ja “geologisches” Ausmaß besitzen können: Korallenriffe, Inseln und ganze Gebirgszüge bestehen aus überwiegend biogenem Material, z.B. in Form von Kreide. Diese gewaltige bioanorganische Produktion hat die Bedingungen für das Leben selbst einschneidend verändert: CO2 wurde in Form von Carbonaten gebunden und dadurch der Treibhauseffekt der Erdfrühzeit zurückgedrängt. Zu den biomineralischen Substanzen gehören neben den bekannteren Calcium-enthaltenden tierischen Schalen, Zähnen und Skeletten sehr unterschiedliche Materialien wie etwa die von Muscheln produzierten Perlen aus Aragonit, die aus Kieselsäure bestehenden Hüllen und Stacheln von Diatomeen, Radiolarien und bestimmten Pflanzenarten, die Ca-, Ba- und Fe-haltigen Kristallite in Schwerkraft- und Magnetfeldsensoren sowie auch einige der eher pathologischen “Steine” in Niere oder Harnblase. Das in Kapitel 8.4.2 vorgestellte Eisenspeicherprotein Ferritin ist aufgrund von Struktur und anorganischem Gehalt ebenfalls schon als Biomineral aufzufassen.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
16. Biologische Bedeutung anorganischer Nichtmetall-Elemente
Überblick
Aus der Gruppe der nichtmetallischen Elemente im oberen rechten Bereich des periodischen Systems gehören Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Schwefel, Phosphor und Chlor (Kirk) traditionell zur “normalen” Biochemie. Von den übrigen nicht- oder halbmetallischen Elementen sind die Edelgase (wegen geringer Reaktivität) sowie die stabilen Elemente Germanium, Antimon, Bismut und Tellur ohne bislang bekannte biologische Bedeutung, vermutlich wegen ihrer Seltenheit. Über die Rolle der verbleibenden nichtmetallischen Elemente Bor, Silicium, Arsen, Selen, Fluor, Brom und Iod sind Details nur zum Teil bekannt; immerhin erfolgten jedoch die erstmaligen Darstellungen der Elemente Iod und Phosphor aus Rückständen von Lebewesen.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
17. Die bioanorganische Chemie vorwiegend toxischer Metalle
Überblick
Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, auf welche Weise anorganische Elemente in Form ihrer Verbindungen lebensnotwendig sein können. Bei nur genügend großer Dosis sind jedoch in jedem Falle Vergiftungserscheinungen zu erwarten (Paracelsussches Prinzip, vgl. Abb. 2.3). In bezug auf mögliche Toxizität (Hutzinger; Bodek et al.; Fellenberg; Fuhrmann; Braun et al.; Martin; Schäfer et al.) existieren jedoch noch zwei weitere Gruppen anorganischer Elemente: solche, die aufgrund ihrer Seltenheit oder mangelnden Bioverfügbarkeit, z. B. der Unlöslichkeit bei pH 7, (noch) nicht als relevant für Lebensprozesse erkanntwurden, und solche Elemente, von denen bislang ausschließlich negative Effekte bekannt geworden sind (Abb. 17.1). Zu letzteren gehören vor allem die “weichen” thiophilen Schwermetalle Quecksilber, Thallium, Cadmium und Blei.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
18. Biochemisches Verhalten anorganischer Radionuklide: Strahlenbelastung und medizinischer Nutzen
Überblick
Unabhängig von den Folgen menschlicher Tätigkeit müssen Organismen nicht nur mit als “toxisch” eingestuften Elementen und deren Verbindungen, sondern auch mit natürlich vorkommenden radioaktiven Isotopen und der von ihnen ausgehenden Strahlung koexistieren. Alle Formen energiereicher ionisierender Strahlung (α-, β-, γ-, Röntgen- und Neutronenstrahlung) können zum Bruch chemischer Bindungen führen, wobei entweder direkt oder auch mittelbar, etwa über das aus dem Hauptbestandteil H2O von Organismen mit Strahlung entstehende Hydroxylradikal OH, eine Schädigung von Enzymen und von genetischem Material möglich ist (Schulte-Frohlinde). Auch hier werden die schon beim Abbau von “oxidativem Streß” erwähnten organismuseigenen Abfang- und Reparaturmechanismen (Kap. 16.8) bis zu einem gewissen Grade wirksam. Kupfer-Komplexe, insbesondere die auch anderen therapeutischen Zwecken dienende Superoxid-Dismutase (vgl. Kap. 10.5; Sorenson) oder Schwefelverbindungen wie etwa Cystein oder Cysteamin (= 2-Mercaptoethylamin H2N—CH2—CH2—SH) können dazu beitragen, biologische Strahlenschäden bei vorheriger Verabreichung durch Radikal-Abfang und rasche Einelektronen-Reduktion ionisierter Spezies zu mindern. Weitere therapeutische Maßnahmen bei drohender Inkorporierung radioaktiver Elemente bestehen im Zurückdrängen der Aufnahme durch Sättigung körpereigener Speicher mit nicht-radioaktivem Material (→ “Iod-Tabletten”) sowie in der gezielten Komplexierung und Ausscheidung (Sr, Pu). Vom unwissend sorglosen Umgang mit radioaktivem Material in der Frühzeit der Kernchemie (Macklis) über die großtechnische Kernwaffenproduktion und -anwendung bis hin zu den höchst detailliert verfolgten globalen Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschemobyl im Frühjahr 1986 (Herrmann) hat die Sensibilität der Öffentlichkeit stark zugenommen, was inzwischen auch erhebliche Konsequenzen für den Umgang mit diagnostisch und therapeutisch nützlichen Radionukliden hat.
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
19. Chemotherapie mit Verbindungen nicht-essentieller Elemente: Platin, Gold, Lithium
Überblick
Daß Verbindungen der essentiellen Elemente therapeutisch nutzbar sein können, geht unmittelbar aus den Ausführungen in Kap. 2.1 hervor. Über eine bloße Zufuhr des Elements hinaus kann jedoch auch — wie bei Arzneimitteln mit rein “organischen” Wirkstoffen — eine spezielle Verbindungsform des Elements chemotherapeutisch aktiv sein, entweder die verabreichte Substanz selbst oder ein im Organismus metabolisiertes Produkt (vgl. Tab. 6.2). Neben den Partikel-strahlenden, d.h. primär physikalisch wirkenden Radiotherapeutika mit anorganischen Isotopen existieren daher auch chemotherapeutisch aktive Verbindungen von solchen anorganischen Elementen, die nach heutiger Kenntnis nicht essentiell sind. Hierzu gehören die am Anfang der Chemotherapie (P. Ehrlich, Nobelpreis für Medizin 1908) stehenden antibakteriellen, teilweise antisyphilitischen Quecksilber-, Silber- und Bor-Präparate, Arsenverbindungen (Ni Dhubhghaill, Sadler) wie etwa die Salvarsan-Derivate AsnArn (Ar: Aryl) oder spezifisch gegen infektiöse Gastritis wirksame Bismutkomplexe (Herrmann, Herdtweck, Pajdla). Komplexere Wirkmechanismen als diese bakteriziden anorganischen Arzneimittel weisen die im folgenden vorgestellten, in der Praxis erfolgreichen “anorganischen” Medikamente mit nicht-essentiellen Elementen auf (Orvig, Abrams; Sadler; Keppler); es sind dies die in der Krebstherapie eingesetzten Platin-Komplexe sowie Verbindungen des Goldes (Rheumatherapie) und des Lithiums (Psychopharmatherapie).
Wolfgang Kaim, Brigitte Schwederski
Backmatter
Metadaten
Titel
Bioanorganische Chemie
verfasst von
Prof. Dr. phil. nat. Wolfgang Kaim
Brigitte Schwederski, Ph. D.
Copyright-Jahr
2004
Verlag
Vieweg+Teubner Verlag
Electronic ISBN
978-3-322-92714-9
Print ISBN
978-3-519-23505-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-92714-9