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1985 | Buch

Die geteilte Utopie Sozialisten in Frankreich und Deutschland

Biografische Vergleiche zur politischen Kultur

herausgegeben von: Marieluise Christadler

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung
Zusammenfassung
Die hier vorgelegten Doppelbiographien deutscher und französischer Sozialisten sind gedacht als „Bausteine“ zu einem umfassenden Vergleich der politischen Kulturen Deutschlands und Frankreichs. Politische Kultur ist gekennzeichnet durch die Verknüpfung von „individuellen Lebensgeschichten und Sozialisations-prozessen“ mit „der nationalen Ereignisgeschichte und ihren Strukturbedingungen“1. Sozial- und Bildungsbiographien dürften deshalb für die Analyse politischer Kulturen einen ähnlichen heuristischen Wert haben wie empirischanalytische Fallstudien für den Vergleich politischer Systeme.2 Die Beschränkung auf eine der „politischen Familien“ und den Teilbereich der sozialistischen Kultur ergibt sich aus der Notwendigkeit einer „operationalisierbaren“ Vergleichsbasis. Alle hier ausgewählten Sozialisten stimmen darin überein, daß sie eine Gesellschaftsordnung anstreben, in der die freie Entfaltung aller Individuen, unentfremdete Arbeit und solidarische Sozialbeziehungen sichergestellt sind. Von dieser Vergleichsbasis aus werden in den einzelnen Biographien zeitgeschichtliche Varianten und Grundsatzprobleme sozialistischer Politik und Kultur von der Jahrhundertwende bis heute beschrieben und verglichen.
Marieluise Christadler
Jean Jaurès und August Bebel Volkstribun und Arbeiterkaiser?
Zusammenfassung
Anfang Oktober 1983 wurde die politisch interessierte Leserschaft von einer kleinen Sensation der Gebrüder Medvedew überrascht. Das sind bekanntlich die Zwillinge, von denen der eine in Moskau lebt, während der andre als Feder des neomarxistischen Flügels der nach Großbritannien emigrierten russischen Dissidenten seinen Wohnsitz in London hat. Der Londoner Medvedew hat nun in der Hauptstadt des zweiten französischen Linksbündnisses unserer Epoche ein Buch Andropov au pouvoir publiziert. Was uns dabei besonders frappiert, ist der Rufname dieses Zwillings: Jaurès! Das einen deutschen Sozialistenführer ehrende Gegenstück hierzu bietet Marx Dormoy. Er war der glücklose Innenminister im Volksfront-Kabinett Léon Blums, der 1889, d.h. genau 30 Jahre nach Jean Jaurès’ Geburt, in Montluçon geboren, 1941 in Nizza ermordet wurde. August Bebels Familienname, entschieden weniger glanzvoll als derjenige von Marx oder Jaurès, scheint nicht als Vorname auf eine bekannte Persönlichkeit übergegangen zu sein. Zum Vergleich und Kontrast eignet sich dennoch (wie wir zu zeigen hoffen) kaum ein passenderes Paar als die beiden markantesten Gestalten in der Geschichte der deutschen und der französischen sozialistischen Parteien während der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts.
Helmut Hirsch
Hubertine Auclert und Clara Zetkin Frauenbefreiung oder Klassenkampf?
Zusammenfassung
Obwohl Arbeiter- und Frauenbewegung der gleichen revolutionär-demokratischen Wurzel entspringen, waren die Beziehungen zwischen der proletarischen und der feministischen Emanzipationsbewegung nicht immer die besten, weder in Deutschland noch in Frankreich.
Marieluise Christadler
Hubertine Auclert Das schwierige Bündnis zwischen Sozialismus und Feminismus
Zusammenfassung
Kein Vergleich Clara Zetkins mit einer französischen Feministin ist ganz überzeugend. Es gibt keine chronologische Entsprechung, keine politische. Die Geschichte der sozialistischen Frauenbewegung in Frankreich bleibt bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts ohne Konturen und einflußlos.
Jean Rabaut
Clara Zetkin und die proletarische Frauenbewegung Sozialismus als Familienschicksal
Zusammenfassung
Für die sozialistische Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich dürfte niemand beispielhafter sein als Clara Zetkin. Ihre kämpferische Grundeinstellung, ihre Hochschätzung der proletarischen Organisationen als Vehikel der Emanzipation, die Zurücksetzung der Frauenemanzipation hinter die Klassenemanzipation, die polemische Ablehnung der Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Frauenbewegung und nicht zuletzt ihr ausgeprägter Internationalismus sind Grundkonstanten der Vorkriegssozialdemokratie, die Clara Zetkin in besonders einprägsamer Weise verkörperte. Die von ihr apostrophierte „berühmte deutsche Disziplin“1 fand jedoch gerade in ihrer Person auch ihre Begrenzung: Revolutionäre Zielsetzung und reformistisches Handeln fallen bei ihr nicht — wie bei vielen anderen Sozialdemokraten — auseinander. Sie bleibt dem linken internationalistischrevolutionär gesinnten Flügel der sozialistischen Arbeiterbewegung treu, geht zur KPD über und glaubt im Aufbau der Sowjetunion ein großes Stück proletarischer Revolution und Frauenbefreiung verwirklicht zu sehen. Ihre Übersiedlung nach Moskau, wo sie leitende Funktionen im Exekutivkomitee der Komintern wahrnahm, und ihr Auftreten als — wie abschätzig gesagt wird — weibliche Gallionsfigur des internationalen Kommunismus scheinen eine weitgehende Identifikation mit dem Sowjetkommunismus anzudeuten, die es in ihren letzten Lebensjahren nicht mehr gegeben hat. So lehnte sie die von Moskau diktierten „opportunistischen“ Wendungen der deutschen Kommunisten in der Weimarer Republik ebenso ab wie die überzogene Sozialfaschismusthese, die der SPD letztlich die Schuld am Aufstieg des Nationalsozialismus zuschob. Diese Kritik sowie ihre haßerfüllte Ablehnung Stalins drangen jedoch nicht mehr nach außen.2 Sie lassen auch Zweifel aufkommen, ob das ihr nach ihrem Tod 1933 zudiktierte Staatsbegräbnis und das damit verbundene Grab an der Kremlmauer ihrer innersten Überzeugung entsprachen.
Friedheim Boll
Marcel Sembat und Rudolf Hilferding Sozialisten und Regierungsverantwortung
Zusammenfassung
Das Verhältnis des Sozialismus zur Regierungsbeteiligung ist nur eine Zuspitzung des Grundproblems seines Verhältnisses zum Staat. Versteht sich die sozialistische Partei als reine Klassenpartei, betrachtet sie den Kampf um politische und soziale Reformen als überflüssig, schädlich oder sieht sie darin im Gegenteil die Voraussetzung und Grundlage der Emanzipation des Proletariats? Die Antworten, die die sozialistischen Parteien auf diese Frage gegeben haben, geben in ihrer jeweiligen Komplexität recht genau den tatsächlichen Standort der Partei bzw. der Arbeiterschaft im jeweiligen Staat wieder. Mehr noch: sie werfen ein bezeichnendes Licht auf Struktur und Integrationsfähigkeit des jeweiligen politischen Systems und der es formenden politischen Kultur.
Gerd Krumeich, Wolfgang Mock
Gustave Hervé und Ernst Niekisch. Die Versuchung des nationalen Sozialismus
Zusammenfassung
Auf den ersten Blick haben Gustave Hervé und Ernst Niekisch nichts gemeinsam. Dieser Eindruck wird durch die biographischen Essays von Jean-Jacques Becker und Louis Dupeux eher verstärkt als abgeschwächt. Hervés Geburtsjahr ist das Gründungsjahr der III. Republik; als der Erste Weltkrieg ausbrach, stand er auf dem Höhepunkt seiner journalistischen Reputation. Zu der Zeit war Niekisch ein unbekannter Lehrer, der kaum voraussehen konnte, daß er als 30jähriger die oberste Staatsgewalt in Bayern innehaben würde. Der Antimili-tarist Hervé endete als Verehrer Pétains. Niekisch hingegen, vom Sozialdemokraten zum Nationalbolschewisten geworden und ein Verfolgter des NS-Regimes, trat in die SED ein.
Marieluise Christadler
Gustave Hervé Vom revolutionären Syndikalismus zum Neobonapartismus
Zusammenfassung
Als der 73jährige Gustave Hervé 1944 wenige Wochen nach der Befreiung in Paris starb, erinnerte sich niemand daran, daß dieser Mann vor 1914 einer der glänzendsten revolutionären Journalisten gewesen war, der die Öffentlichkeit mit seinen politischen Pamphleten in Atem gehalten hatte. Allerdings muß man sagen, daß er in der Zwischenzeit einen weiten Weg zurückgelegt hatte. Das letzte, 1949 posthum veröffentlichte Werk dieses einstmals wilden Antiklerikalen trug den Titel Sendschreiben von Gustave Hervé an Gläubige und Ungläubige und schloß mit dem Satz: „Ist nicht das allererste Gebot des Christen und seiner Kirche, Gott und den Nächsten zu lieben?“ Die Kapitel trugen Überschriften wie „Die Religion, das Fundament aller Gesellschaften“, „Der Laizismus oder das tödliche Mißverständnis“ und „Wie man den Glauben wiederfindet“.
Jean-Jacques Becker
Ernst Niekisch Vom Sozialdemokraten zum Nationalbolschewisten
Zusammenfassung
Ernst Niekisch wurde 1889 in Schlesien geboren. Seine Jugend verbrachte er jedoch in Bayern, wo er auch seinen ersten politischen Durchbruch hatte — ein Land, das er später mit Vehemenz verleugnen sollte, um Wahlpreuße zu werden. Da er aus bescheidenen Verhältnissen stammte, konnte er nur die Realschule besuchen und wurde Volksschullehrer. Alles deutet darauf hin, daß diese schwierigen Anfänge eine der tiefsten Ursachen für seine feindselige Haltung gegenüber der Bourgeoisie bildeten — eine Haltung, die Niekisch, der nie einen Hehl aus seinem Ehrgeiz gemacht hat, während seiner ganzen Laufbahn, die doch so reich an Wandlungen und spektakulären „Kehrtwendungen“ war, beibehielt.
Louis Dupeux
Léon Jouhaux und Hans Böckler Fünf Jahrzehnte Gewerkschaftsarbeit
Zusammenfassung
Die Biographien von Jouhaux und Böckler beschreiben mit Aufstieg und Lebenswerk der beiden Männer zugleich die Entwicklung der deutschen und französischen Gewerkschaftsbewegung von den bescheidenen Anfängen bis zu ihrer Anerkennung als einer sozialen und politischen Macht. Ähnlichkeiten und Unterschiede im Wirken der beiden Arbeiterführer kennzeichnen auch die nationalspezifischen Eigenarten ihrer Organisationen, die sich bis heute trotz der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme erhalten haben. Ideologische Traditionen und historische Erfahrungen spielen dabei ebenso eine Rolle wie die jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse.
Marieluise Christadler
Léon Jouhaux. Der Führer des französischen Syndiaklismus
Zusammenfassung
Jouhaux’ Biographie kann nicht losgelöst von der CGT betrachtet werden. An ihrer Spitze setzt er sich mit den verschiedenen Krisen, die den Weg der französischen Gewerkschaft zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1945 begleiten, auseinander. Trotz aller Bemühungen um die Aufrechterhaltung der gewerkschaftlichen Einheit gelingt es ihm nicht, das Hauptziel seines Lebens zu verwirklichen. Ohne Begeisterung präsidiert er bei der Gründung der neuen CGT-FO.
Denise Tintant
Hans Böckler. Ein typisch deutscher Gewerkschaftsführer?
Zusammenfassung
Ob Hans Böckler und Léon Jouhaux sich schon einmal vor dem 10. Februar 1946 getroffen haben, dem Tag, an dem jene Äußerungen fielen, wissen wir nicht. Jedenfalls kreuzten sich im Februar 1946 in Düsseldorf die Lebenswege dieser beiden Gewerkschaftsführer, die in der jeweiligen Geschichte ihrer Länder und Organisationen eine zentrale Rolle spielten oder — was Böckler angeht — noch spielen sollten, und später zu den mythischen Helden der Bewegung gemacht wurden, denen beide ihr ganzes Leben gewidmet haben.
Ulrich Borsdorf
Albert Mathiez und Gustav Mayer Geschichtsschreibung als Suche nach demokratischer Kontinuität
Zusammenfassung
Die Gegenüberstellung von Albert Mathiez und Gustav Mayer, des französischen Revolutionshistorikers und des deutschen Historikers der Arbeiterbewegung, die zunächst einmal nur verbindet, daß sie Zeitgenossen waren, läßt nicht nur die im Vergleich besonders plastische Individualität der beiden Historiker, sondern auch einiges von den französischen und deutschen historiographischen und politisch-kulturellen Kontexten, von ihren Spezifika und ihren Gemeinsamkeiten, erkennen.
Marieluise Christadler
Albert Mathiez. Sozialistischer Historiker und Robespierrist
Zusammenfassung
Der Vergleich von Albert Mathiez (1874 – 1932) mit Gustav Mayer drängt sich auf, nicht nur, weil sie Zeitgenossen waren, sondern weil ihre Arbeitsweise als Sozialhistoriker, die den Ideen und Methoden ihrer Zeit (oder doch ihrer Zunft) voraus waren, Analogien aufweist. Auch vom soziologischen Standpunkt ist dieser Vergleich sinnvoll, weil das Werk von Mathiez ziemlich genau den historiographischen Zeitpunkt kennzeichnet, zu dem in Frankreich die marxistischen Thesen, die bis dahin wegen ihres deutschen Ursprungs als fremd empfunden worden waren, an die nationale Tradition der Revolution anknüpften.
Alice Gérard
Gustav Mayer. Zwischen Historiker-Zunft und Arbeiterbewegung
Zusammenfassung
Sozialdemokratisch orientierte Historiker hat es an den deutschen Universitäten bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht gegeben. Das deutsche Bildungsbürgertum, als dessen Kern die Hochschullehrerschaft gesehen werden kann, und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung bildeten zwei klar getrennte soziokulturelle Milieus. Gustav Mayer war ein „Grenzgänger“ zwischen akademischem Milieu und Arbeiterbewegung, der — obgleich mit beiden verbunden — einen letzten Rest an Distanz niemals überwand, sowohl zur Hochschullehrerschaft — er erhielt niemals ein ordentliches Ordinariat — als auch zur sozialdemokratischen Partei — er wurde dieser zwar zugerechnet, hat ihr aber in keiner Phase als Mitglied angehört. Doch gerade diese singuläre Stellung wirft ein bezeichnendes Licht auf die deutsche Historiker-Zunft und das akademische Bildungsbürgertum auf der einen Seite und auf die deutsche Arbeiterbewegung auf der anderen Seite.
Bernd Faulenbach
Célestin Freinet und Adolf Reichwein Gesellschaftsveränderung durch Volkserziehung?
Zusammenfassung
Die reformpädagogische Bewegung ist, wie die Arbeiter- und die Frauenbewegung, eine internationale Erscheinung. Sie hat das pädagogische Gespräch über die nationalen Grenzen hinweg durch Kongresse, Studienreisen, Zeitschriften und persönlichen Austausch gesucht und gefördert. Die wechselseitigen Einflüsse und Beziehungen zwischen ihren Vertretern erlauben es, von einem gemeinsamen Fundus pädagogischer Grundsätze zu sprechen. Dazu gehört die Orientierung an den kindlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten, die Betonung von Charakterbildung und Selbsttätigkeit gegenüber bloßer Wissensvermittlung und die Öffnung der Schule zum Leben. Auf dem Hintergrund dieser Übereinstimmungen treten länderspezifische Ausformulierungen und Entwicklungen umso deutlicher hervor.
Marieluise Christadler
Paul Nizan und Ernst Toller Literatur und Revolution
Zusammenfassung
Paul Nizan (1905 – 1940) und Ernst Toller (1893 – 1939) — die beiden Namen stehen für das Verhältnis von Schriftsteller und Gesellschaft, Literatur und Revolution, Intellektuelle und Politik im Deutschland und Frankreich der Zwischenkriegszeit.
Marieluise Christadler
Paul Nizan — im Lichte Ernst Tollers
Zusammenfassung
Toller ist 1893 geboren. Er hat die ihrer selbst sichere, herrschaftsgewohnte Welt des 19. Jahrhunderts unmittelbar, ohne die Vermittlung der Eltern, gekannt. Er hat den Zusammenbruch dieser Welt, den Ersten Weltkrieg, selbst miterlebt.
Pascal Ory
Ernst Toller. Ein unabhängiger Sozialist
Zusammenfassung
Ernst Toller: Kommunist — Renegat, utopischer Sozialist — Träumer, politischer Dilettant — intellektueller Hochstapler, notorischer Frauenheld — handlungsunfähiger Humanitätsapostel, Psychopath — bestenfalls ein Schauspieler seiner selbst. Ernst Toller: „eine tragische Figur, die nur in einem höheren Sinne recht behält, nämlich als Vertreter des Unbedingten, ethisch Absoluten“.1
Rosemarie Altenhofer
Léon Blum und Kurt Schumacher
Zusammenfassung
Schumacher: „nüchtern, herb, kantig“, mit einer lauten und scharfen Stimme („une voix de boche, serait-on tenté, en France, de l’appeler“, meint Joseph Rovan), vielseitig gebildet, aber ohne besondere ästhetische Neigungen, prinzipienfest und autoritär — die Inkarnation eines Preußen.
Marieluise Christadler
Léon Blum
Zusammenfassung
Wohl kaum ein Begriff erfaßt das Leben und Wirken von Léon Blum (1872–1950) weniger als der, den Max Weber zur Kennzeichnung der Funktionäre der deutschen Sozialdemokratie vorgeschlagen hat. Er nannte sie „Parteibeamte“. Denn Blum übernahm erst mit 47 Jahren eine Funktion in der Sozialistischen Partei, nachdem er zuvor als Mitglied des höchsten französischen Verwaltungsgerichts, des Staatsrates, tätig gewesen war und als Chef des Kabinetts von Marcel Sembat im Ersten Weltkrieg Regierungserfahrungen erworben hatte. Engagierte er sich auch in der Zwischenkriegszeit rückhaltlos in der Parteiarbeit, leitete nicht nur die Parteizeitung „Le Populaire“, sondern schrieb dort auch täglich Leitartikel, hatte überdies den Vorsitz der Parlamentsfraktion inne, so war er doch eher der sozialistische Parlamentarier als der Mann des ohnehin nur rudimentär ausgebildeten Parteiapparats. Dem Typus des Beamten widersprechen schließlich auch seine literarisch-ästhetischen Neigungen, denen er vor 1914 halbprofessionell nachging, die aber auch danach in brillanten Formulierungen oder Artikeln zu künstlerischen Problemen noch durchblitzten. Eher als sozialistischer Intellektueller denn als Apparatschik, eher als Meister des parlamentarischen Spiels als der innerparteilichen Ochsentour, stärker auf der Bank der Opposition der Chambre des Députés denn als Parteifunktionär beeinflußte Blum den französischen Sozialismus.
Heinz-Gerhard Haupt
Kurt Schumacher
Zusammenfassung
Es gibt wenige deutsche Politiker in der jüngsten deutschen Geschichte, die zu ihren Lebzeiten so ambivalente Gefühle und Reaktionen bei Gegnern, bei neutralen Beobachtern aber auch bei einem Teil ihrer Anhänger erzeugt haben wie Kurt Schumacher. Und es kostet einige Anstrengung, Persönlichkeiten von vergleichbarem geschichtlichen Rang zu finden, deren Wirken so in Vergessenheit geraten ist wie das Kurt Schumachers. Das gilt auch für die politisch-historischen Wissenschaften1.
Hartmut Soell
Die Macht der Intellektuellen ist ihre Ohnmacht
Zusammenfassung
Was bringt zwei Theoretiker einer philosophischen Anthropologie dazu, Leitfiguren eines sozialistischen Engagements und schließlich Wortführer einer weltweiten libertären Bewegung zu werden? Daß die Macht der Intellektuellen ihre Ohnmacht, das heißt ihre totale Unabhängigkeit von jeder Institution ist, gehört zu den Selbstdefinitionen, die Marcuse und Sartre geteilt hätten. Was sie als Philosophen dazu gebracht hat, ist, in der spezifischen historischen Situation der Philosophie den Anspruch konkreter Philosophie ernst genommen zu haben — und zwar über Heidegger, den sie beide rezipiert haben, hinaus. Die Einbeziehung der konkreten, der sozialen Dimension ins philosophische System erweitert ihr Denken um die entscheidende Dimension — die politische.
Marieluise Christadler
Jean-Paul Sartre
Zusammenfassung
Jean-Paul Sartre war aufgrund seiner weltweit bekannten Philosophie etwa dreißig Jahre lang, von 1945 bis 1975, für eine internationale Intelligenzia der anerkannteste Wortführer sowohl eines humanitären Protests gegen jede Form der Unterdrückung als auch eines libertären Sozialismus unabhängig von den etablierten sozialistischen Parteien und Regierungen. Sein Engagement hat jedoch weder eine Theorie noch eine Praxis für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft hervorgebracht. Sartre hat nie einer Organisation angehört, die auf parlamentarische oder außerparlamentarische Weise an die Macht zu kommen strebte. Das einzige Postulat, das sich aus der „Kritik der dialektischen Vernunft“ ergibt, ist die Notwendigkeit einer „permanenten Revolution“ durch die ständige Wiederherstellung basisdemokratisch handelnder Gruppen (groupes en fusion) gegen den bürokratischen Apparat von Regierungen, Parteien und Gewerkschaften. Sartres Engagement ließ für die Entwicklung einer sozialistischen Theorie und Praxis keine Zeit, weil es immer um Leben und Tod ging: Krieg und Faschismus, Gefahr eines Atomkriegs zwischen den beiden Blöcken, Unterdrückung der Unabhängigkeitsbewegungen der Völker der Dritten Welt, Verfolgung von Minderheiten und Widerstandsgruppen in allen Teilen der Welt. Auch was das erste Ziel der Arbeiterbewegung betrifft, ging es für ihn um Leben oder Tod: „In bestimmten Situationen ist nur für Alternativen Raum, deren eine der Tod ist. Wir müssen es so weit bringen, daß der Mensch unter allen Umständen das Leben wählen kann.“
Traugott König
Herbert Marcuse
Zusammenfassung
Der öffentliche Einfluß Herbert Marcuses ging in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens weit über das hinaus, was einem Philosophen normalerweise an politischer Bedeutung zukommt. Sein Einfluß erstreckte sich nämlich weit über die schulbildenden Enklaven akademischer Richtungen hinaus, zentrale Denkfiguren seines Werkes wurden zu Metaphern verkürzt in die politische Alltagssprache aufgenommen. Politische Gegner benutzen die Formel von der „großen Weigerung“, vom „Kampf gegen das Leistungsprinzip“, von der „repressiven Toleranz“, den „Randgruppen“, der „eindimensionalen Gesellschaft“, um ihn als großen Verführer ganzer Studentengenerationen zu denunzieren, der die normativen Fundamente untergrabe.
Gertrud Koch
Jean Ferrat und Wolf Biermann Zwei Sänger in zwei Welten
Zusammenfassung
Zwei Sänger in zwei Welten: ein deutsch-französisches Kontrastprogramm? Der Versuch eines Vergleichs sieht sich vor schier unlösbare Probleme gestellt, zu verschieden sind die Barden, zu anders die Zivilisationen, für die sie stehen. Was auf den ersten Blick als gemeinsamer Nenner sich aufzudrängen scheint, der Sozialismus oder Kommunismus, zu dem sich Ferrat wie Biermann bekennen, hat in den Ländern, in denen sie leben, singen und politisieren, einen kaum vergleichbaren Stellenwert — vor allem für die Lyrik. Für den Kommunisten Ferrat im kapitalistischen Frankreich ist er nicht zuletzt ein poetisches Prinzip, das seinen Texten eine absolute Dimension verleihen kann. Biermann, der — als Freiwilliger hin, als Ausgewiesener zurück — den realisierten Sozialismus des Bauern- und Arbeiterstaates DDR als System erlebt hat, kam durch seine Detailkritik, die nie das Systematische — gar Utopische — seiner Ideologie in Frage stellte, in Konflikt mit den Machthabern, deren angewandte Ideologie keinen Widerspruch — auch nicht den gereimten — zulassen kann. Singende Poeten sind beide, Ferrat wie Biermann, und sie betreiben ihre Poesie mit einem sicheren Instinkt für das Politische — wie fur die Provokation — Ferrat zumindest auch mit einem Hang.zum Popularen.
Jürg Altwegg
Georges Casalis und Helmut Gollwitzer Protestantismus und Sozialismus
Zusammenfassung
Nach einer Umfrage von SOFRES gab es 1972 1,6 Millionen französischer Protestanten, das sind 2% der Gesamtbevölkerung. Bei der Repräsentativerhebung 1980 erklärten 4,5% der Befragten, „dem Protestantismus nahezustehen“, während 92% sich zum katholischen Glauben bekannten. Gleichgültig, ob man die niedrigere oder die höhere Prozentzahl für relevant hält, bleibt die Tatsache bestehen, daß die Protestanten in Frankreich eine verschwindende Minderheit bilden.
Marieluise Christadler
Georges Casalis „Unterwegs bleiben“
Zusammenfassung
Eine so kontrastreiche und komplexe Persönlichkeit wie Georges Casalis ist schwer darzustellen. Das erste Bild, das auftaucht, ist das eines unermüdlichen Reisenden vor dem Herrn, der Geschichte und Geographie mit großen Schritten durchquert. Mit Einreiseverbot für die Ostblockstaaten belegt infolge seiner Aktivitäten als Vizepräsident der Christlichen Friedenskonferenz (CFK), sah er sich wenige Jahre später aus New York ausgewiesen, in seinem Paß den Stempel „deported“. Gleichwohl ist er stets guten Mutes, und mit menschlicher Wärme wendet er sich all denen zu, die ihm auf seinem Wege begegnen, seien es die kleinen Leute von Lissabon, die Vietnamesen oder die lateinamerikanischen Campesinos. Hinter der „Rundlichkeit“, die sich ebensosehr in der Form seines Kopfes wie in seinem ungewöhnlich freien Benehmen ausdrückt, erkennt man das, was das Neue Testament „parrhesia“ nennt, die Seelenkraft, eine tiefe Überzeugung ruhig, aber notfalls mit Vehemenz zu verteidigen. Georges Casalis ist ein „homme du terrain“, wie die Kommunisten sagen, ein engagierter Theologe, wie die Christen sagen, die von einer Theologie träumen, die genau das nicht ist — aber was wäre sie dann? Wenn man sich die Mühe macht, über solche immer ein wenig oberflächlichen Charakterisierungen hinauszugehen, so entdeckt man einen Prediger in der Tradition von Barth und Luther, einen Mann, der glaubensvoll und freudig „das große Feldgeschrei Gottes“ anstimmt.
Jean-Louis Klein
Helmut Gollwitzer. „Gekrümmt vor dem Herrn — aufrecht im Klassenkampf’
Zusammenfassung
„Ich bin der Sohn eines evangelisch-lutherischen Pfarrers in Bayern ... Mein Vater war konservativer Theologe und gleichzeitig selbstverständlich streng national, was hieß, rechts, königstreu, das Militär bejahend.“ So beschreibt der 1908 geborene Helmut Gollwitzer seine Herkunft. Im Jahre 1970 heißt es dann im Vorwort zu einem seiner Bücher: „Diese Schrift ... ist gedacht von einer Position aus, die den (christlich-marxistischen) Dialog schon hinter sich hat, die also sowohl marxistisch als auch christlich ist“ (Krummes Holz, 13).
Rolf Rendtorff
Willy Brandt und François Mitterrand
Zusammenfassung
Brandt und Mitterrand gehören der gleichen Generation an. Brandt wurde 1913, Mitterrand 1916 geboren. Für beide war die Herrschaft der Nazis und der Zweite Weltkrieg eine Zeit des Lernens und des Ausreifens ihrer politischen Orientierung. Beide gelangten — relativ spät — an die Spitze ihrer Partei und an die Spitze von Regierungen. Aber damit scheinen die Ähnlichkeiten auch schon erschöpft.
Iring Fetscher
Backmatter
Metadaten
Titel
Die geteilte Utopie Sozialisten in Frankreich und Deutschland
herausgegeben von
Marieluise Christadler
Copyright-Jahr
1985
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-663-09714-3
Print ISBN
978-3-8100-0457-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-663-09714-3