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2012 | Buch

Die verstimmte Demokratie

Moderne Volksherrschaft zwischen Aufbruch und Frustration

herausgegeben von: Stephan Braun, Alexander Geisler

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Entziehen die Menschen in Deutschland der Demokratie das Vertrauen? Dies legen immer neue Schlagzeilen über Politiker- und Parteienverdrossenheit, wachsende Wahlmüdigkeit und eine vitalisierte Prostestkultur nahe. Sie fordern neue Formen demokratischer Entscheidungsfindung ein. Der vor liegende Band sucht Antworten. Kann tatsächlich von einer nachhaltig „verstimmten Demokratie“ die Rede sein? Wie können Anspruch und Wirklichkeit moderner Volksherrschaft besser zusammengeführt werden? Experten aus Wissenschaft, Politik, Journalismus und Zivilgesellschaft zeichnen ein differenziertes Bild zu Gegenwart und Zukunft der bundesdeutschen Demokratie. Neben aktuellen Entwicklungen in Ökonomie und Medienwelt werfen sie einen kritischen Blick auf die deutsche Parteiendemokratie und ihre politischen Repräsentanten. Sie nehmen alternative Formen politischer Partizipation ins Visier und zeigen vielversprechende Wege für einen besseren Dialog zwischen Politik und Bürgern auf. Die deutsche Demokratie ist verstimmt. Nachhaltig. Aber sie ist in vielen Punkten besser als ihr Ruf. Und sie hat die Substanz sich zu erneuern und weiter zu entwickeln – wenn die Akteure dies wirklich wollen. Das ist das Fazit der Herausgeber.

Wolfgang Thierse in seiner Einführungsrede anlässlich der Buchvorstellung am 30.08.2012 in Berlin:

„Die Perspektivenvielfalt macht den Reiz des Bandes aus. Sie wirkt anregend, mitunter aufregend, sie fordert den Leser zum Mitdenken und Mitdiskutieren heraus. […] Ein Vorteil des Buches ist, dass es sich nicht mit der Beschreibung von Negativszenarien begnügt, sondern – vor allem in seinem zweiten Hauptteil – nach neuen Wegen zur Vitalisierung der bundesdeutschen Demokratie sucht und alternative Formen politischer Partizipation diskutiert. […] Gerade in Zeiten von Krisen und unter dem Druck immer schnellerer politischer Entscheidungen geht es immer auch darum, Zeit und Raum für demokratische Reflexions-, Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse zurückzugewinnen. Das ist ein Anliegen des Sammelbandes von Stephan Braun und Alexander Geisler.“

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Die verstimmte Demokratie – Perspektiven auf gestern, heute und morgen

Die verstimmte Demokratie – Perspektiven auf gestern, heute und morgen
Zusammenfassung
Kurz vor Weihnachten 2011 wurde der Mannheimer Musiker Xavier Naidoo, bekannt als Solokünstler und Mitglied der Popgruppe „Söhne Mannheims“, in seiner Heimatstadt mit der Hans-Lenz-Medaille geehrt, vergeben von der öffentlich eher unauffälligen Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände (BDO). Das Medienecho war zumindest regional beachtlich, selbst wenn der Geehrte zugeben musste, erst durch die Verleihung erfahren zu haben, dass es überhaupt einen solchen Verband gibt.
Stephan Braun, Alexander Geisler

Wege und Irrwege der Demokratie – Ideen, Institutionen und das politische Personal zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Frontmatter

Lagebilder und Zukunftsaussichten moderner Demokratie

Nein-Sagen – Die Demokratie bewegt sich!
Zusammenfassung
Die etablierte Demokratie ist in die Kritik geraten. Zeitgleich organisiert sich eine Nein-Bewegung, die aber auch konstruktive Züge aufweist. Die Wut wächst und sie beginnt, sich zu organisieren. Straßenproteste rechnen weltweit mit den Bankern ab. Dort versammeln sich in der Regel Bürger, die nicht zu Berufs-Demonstranten zu zählen sind. Die so genannte bürgerliche Mitte protestiert in Deutschland, weil in ihrer Wahrnehmung die bürgerliche Politik gescheitert ist. Dazu gehörte bis dato immer das Sicherheitsversprechen für die Zukunft. Gerade traditionelle Volksparteien hatten Verlässlichkeit und ein Versprechen auf eine gewisse Planbarkeit des eigenen Lebens garantiert. Die Finanzkrise frisst offensichtlich viel an demokratischer Normalität auf. Selten zeigten sich so viele disparate Formen des Aufbegehrens und des öffentlich-kritischen Nachfragens, wie in 2011 zeitgleich nebeneinander. Die Suchbewegungen in der bürgerlichen Mitte sind Ausdruck der Krise der Repräsentation. Doch gleichzeitig mit dem facettenreichen Protest zeigen sich auch hoffnungsvolle Auswege. Dem Wutbürger entspricht durchaus auch ein Mutbürger in Deutschland.
Karl-Rudolf Korte
Postsouveränität und Postdemokratie
Zusammenfassung
Die europäischen Demokratien werden sich ihrer Krise gerade erst wirklich bewusst. Die Dekaden der relativen Stabilität scheinen vorbei. Europa war nach dem Zweiten Weltkrieg deshalb so stabil, weil seine Gesellschaften sozialen Aufstieg, Mobilität und Integration, Freiheit, Demokratie und Mitbestimmung ermöglichten. Es entstand eine liberale und soziale Moderne. Nun sind ihre Grundpfeiler in Gefahr.
Oliver Nachtwey
Souveräne Teilhabe unter Unsicherheit und Halbwissen: Politisches Wissen und politische Partizipation
Zusammenfassung
Darf solch ein Titel überhaupt sein? Er weckt womöglich sogleich die Assoziation von Beschimpfung der Bürgerinnen und Bürger als politisch ignorant und begibt sich damit in gefährliche Nähe zu antidemokratischer, elitärer Hybris. Vielmehr ist Demokratie doch nach modernem Verständnis gerade dadurch gekennzeichnet, dass jedem Mitglied der politischen Gemeinschaft dasselbe Recht auf politische Beteiligung zukommt – und zwar unabhängig von differenzierenden Zusatzkriterien. Dies ist in Deutschland auch verfassungsrechtlich niedergelegt, wenn es in Art. 20 GG heißt, die Staatsgewalt geht vom Volk aus und wird in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt, wenn in Art. 33 GG explizit betont wird, dass alle Deutschen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten haben und in Art. 38 die Wahlen als allgemeine und gleiche definiert werden.
Bettina Westle
Demokratie als Kitt einer gespaltenen Gesellschaft?
Zusammenfassung
Ausgrenzung und soziale Spaltung unterliegen in einer demokratischen Gesellschaft spezifischen Bedingungen. Einerseits widersprechen sie dem von der Demokratie ausgehenden Postulat der gleichen Teilhabe aller Bürger. Andererseits verfügt die Demokratie auch über spezielle Wege, um Integration im Sinne eines Mindestmaßes an gesellschaftlichem Zusammenhalt herzustellen und Ausgrenzung vorzubeugen. Diese können jedoch in einer vitalen Demokratie nur dann erfolgreich beschritten werden, wenn sie auch in der politischen Kultur bei den Bürgerinnen und Bürgern verankert sind. Besonders relevant ist dabei die Rolle der politischen Mitsprache als Integrationsmechanismus. Können Bürger ihre Anliegen wirksam in den demokratischen Entscheidungsprozess einbringen, stellt dies eine Form politisch-moralischer Anerkennung1 dar. Konflikte können über wirksame Beteiligung entschärft werden, wenn allen Interessengruppen die nötige politisch-moralische Anerkennung zuteil wird; d. h. ihre Standpunkte und ihre Interessen gehört und berücksichtigt werden. Werden in der demokratischen Öffentlichkeit Argumente vorgebracht, gehört und im besten Falle partikulare Interessen in allgemeine transferiert, so ist ein integrativer Umgang mit Konflikten leichter möglich. 2 Temporäre Lösungen können von allen getragen werden, wenn sie unter fairen Bedingungen zustande kommen.
Anna Klein, Wilhelm Heitmeyer, Andreas Zick

Die deutsche Parteiendemokratie in der Kritik

Unpopulär aus Tradition
Parteienverachtung in Deutschland und die Folgen
Zusammenfassung
Nicht nur Banken, sondern auch Parteien sind systemrelevant. Um sich dies klar vor Augen zu führen, muss man sich in Deutschland schon ausländischer Expertenstimmen bedienen. So sind für den renommierten amerikanischen Soziologen und Politikwissenschaftler Seymour M. Lipset Parteien für das Gelingen von Demokratie zentral und nicht wegzudenken.1 Und auch für den führenden britischen Parteienforscher Paul Whiteley2 sind Parteien essentiell, weil sie die parlamentarische Demokratie erst funktionsfähig machen würden. Des Weiteren sei noch der international renommierte italienische Parteienforscher Piero Ignazi genannt, für den Parteien für das 20. Jahrhundert „‚the‘ instrument par excellence (i. O. kursiv, E. W.) for expressing, representing, mobilising and crafting the will of the people“3 bilden würden.
Elmar Wiesendahl
Die demokratische Entkopplung zwischen Politik und Bürger
Wir brauchen eine neue demokratische Kultur in Wirtschaft, Gesellschaft und Parteien
Zusammenfassung
Verkehrte Welt im Sommer 2011. Während in Teilen der bislang durch Diktaturen geprägten arabischen Welt eine junge Generation aufbegehrt und Hoffnung auf Demokratie keimt, herrscht im Westen demokratische Depression. In einem Pionierland der Demokratie, den USA, blockieren sich die politischen Lager darin, die fatalen Folgeprobleme der globalen Finanzkrise zu lösen. Und gleiches gilt für Europa, wo mit Griechenland das hochverschuldete Mutterland der Demokratie Sorge bereitet. Politik, so der Eindruck vieler Bürgerinnen und Bürger, ist nicht mehr handlungsfähig, sondern nur noch von „den Märkten“ getrieben. Und wo nun ein gemeinsames Agieren nötig wäre, um den Vorrang der Demokratie gegenüber diesen „Märkten“ wieder durchzusetzen, blockiert sich die Demokratie angesichts der Egoismen von Parteien und Nationalstaaten selbst. Nicht unbegründet sieht der Spiegel-Journalist Dirk Kurbjuweit die Demokratie als „Opfer der Finanzkrise.“1
Andrea Nahles
Im Tal der Ahnungslosen – Politikberater als Kompetenzsimulatoren im Schatten der politischen Misstrauensgemeinschaft
Zusammenfassung
Es gibt kaum eine Disziplin über die so viel publiziert und debattiert wird, die aber gleichzeitig so selten in Reinkultur praktiziert wird, wie die Politikberatung. Je stärker die Legitimationsquellen, die Programm-Substanz, die Personalauszehrung und damit der Handlungsradius der Politik bezweifelt und reduziert werden, umso stärker wird öffentlich nach den Beratern, Experten, Strippenziehern und Küchenkabinetten gefahndet. Eine Branche auf Treibsand.
Thomas Leif
Die Schönwetterdemokratie im Umfragetief: Weniger Demoskopie wagen?
Zusammenfassung
Insbesondere in Zeiten des Wahlkampfs werden die Auguren der öffentlichen Meinung, die Demoskopen, argwöhnisch beäugt. Sie messen der Bevölkerung, wenn man so will, regelmäßig und dann besonders häufig den Puls. Nicht zuletzt die so genannte Sonntagsfrage gelangt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, auch wenn sie nicht wirklich Vorhersagequalitäten besitzt. Sie erfasst im Grunde nur die Stimmung der Bevölkerung zum Zeitpunkt der Befragung. Je weiter dieser noch vom Wahltermin entfernt liegt, als desto unzuverlässiger erweist sich eine solche „Prognose“ als Prognose für den Wahlausgang. Doch ungeachtet von „Fehlprognosen“, die schnell zu einem „Debakel der Demoskopen“ stilisiert werden, konnte die Branche der Umfrageforschung über die vergangenen Jahrzehnte hinweg florieren. Entgegen der öffentlichen Prominenz ist der Anteil der politischen Meinungsforschung an diesem expandierenden Dienstleistungssektor im Vergleich zur wirtschaftlichen Marktforschung klein.
Alexander Gallus
Inszenierung in der Politik: nur Show oder ein konstitutives Moment des Politischen?
Zusammenfassung
Die politische Kultur Deutschlands ist durch eine lange Tradition des Misstrauens gegen das Inszenierte und Ästhetische in der Politik gekennzeichnet. Inszenierung gilt hier stets als Gegenpol zu allem „Echten“, „Authentischen“; als gern genutzte Möglichkeit, von den politischen Realitäten abzulenken durch den Aufbau blendender Scheinwelten. Historisch zeigte sich dieses Misstrauen schon als Ablehnung des aristokratischmonarchischen Pomps durch das Bürgertum und seine „inneren Werte“ – ein Kontrast, dem in der idealistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, etwa bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die grundlegende Unterscheidung von „Sein“ und „Schein“ entsprach. Thomas Mann kritisierte in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „ästhetizistische Politik“. Das tiefe Misstrauen gegen inszenatorische Scheinwelten bekam später durch die monumentalen Massenchoreographien des Nationalsozialismus einen weiteren, vielleicht entscheidenden Schub. Die ideologiekritische Wendung gegen eine „Ästhetisierung der Politik“, wie sie Walter Benjamin 1936 formulierte,1 lässt sich dann vergleichsweise nahtlos verbinden mit jenen Vorbehalten, wie sie in neuerer Zeit gegen „Placebo-Politik“ und „Mediokratie“ (Thomas Meyer),2 nicht zuletzt auch gegen die „Amerikanisierung“ der politischen Kommunikation in Deutschland geäußert wurden. Das „Amerikanische“ steht hier gleichsam als Chiffre für eine Politik, die dem Schein und dem ablenkenden Showeffekt gewidmet ist.
Andreas Dörner
Selektive Inanspruchnahme des Demokratischen: Rechtspopulistische Politik der Feindbilder im Namen der Meinungsfreiheit
Zusammenfassung
Ein Rechtspopulismus mit muslimfeindlicher und europafeindlicher Stoßrichtung prägt die politische Agenda vieler europäischer Rechtsaußenparteien. Dabei werden ausgrenzende und diskriminierende Forderungen im Namen von Demokratie und Meinungsfreiheit verkündet. Denn im Unterschied zur traditionellen extremen Rechten treten Parteien der rechtspopulistisch modernisierten Rechten nicht offen demokratiefeindlich auf. Vielmehr inszenieren sie sich als ‚wahre Demokraten‘ und ‚Anwälte‘ der angestammten Bevölkerungsteile und bekunden, deren Interessen gegenüber einer als undemokratisch angeprangerten und transnational orientierten Politik zu ‚verteidigen‘.
Alexander Häusler
Amerika, Du hast es besser?
Über Furcht und Freude an amerikanischen Verhältnissen
Zusammenfassung
Wann immer im deutschsprachigen Raum über gesellschaftliche Megatrends und die damit einhergehenden Chancen und Risiken diskutiert wird, schweift der Blick publizistischer Kommentatoren gerne über den Atlantik in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika. Im Guten werden die USA als Inspirationsquelle und Vorbild herangezogen, im Schlechten als Negativfolie für drohende gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Das gilt auch für die Frage nach Zustand und Zukunft demokratischer Herrschaft. Immer wieder wird – teils bang, teils hoffnungsvoll – auf die US-amerikanischen Verhältnisse verwiesen. Oder auf das, was man dafür hält. Nicht nur die Publizistik tut sich augenscheinlich schwer, eine Balance zwischen der enttäuschungsanfälligen Idealisierung der USA als „Hort von Fortschritt, Demokratie und Aufklärung“1 und einer Amerikaskepsis zu finden, die in der jüngeren politischen Kultur der Bundesrepublik tief verwurzelt ist. So wird einerseits gerne der angebliche Showcharakter US-amerikanischer Politikdarstellung kritisiert, gleichzeitig blitzt in Umfragen und Zeitungskolumnen immer wieder der Wunsch auf, das heimische politische Personaltableau möge doch etwas mehr Charisma und ein bisschen Glamour entfalten.
Fritz Plasser

Politiker – inkompetent, ungeliebt und abgehoben?

Abgeordnete und ihr Beruf
Von wahren Vorurteilen und falschen Vorverurteilungen
Zusammenfassung
So dichtete einst Reinhard Mey, und so spricht er bis heute Millionen von Deutschen aus der Seele. Faul, abgehoben, überbezahlt sind die Abgeordneten, und sie fallen – so einst Franz-Josef Strauß – lieber auf Feuerwehrfesten herum, als sich geistig ins Zeug zu legen. Im Parlament tragen sie ihre Meinungsverschiedenheiten höchst unsachlich aus, stellen nicht des Gemeinwohls willen die Interessen durchsetzungskräftiger Gruppen zurück und erfüllen ihre Arbeit weder in angemessener Zeit noch kostengünstig.1
Werner J. Patzelt
Politik als Lebenswelt und Karriere: Warum wir die Politiker haben, die wir haben
Zusammenfassung
Was treibt einen vergleichsweise jungen Menschen, der überdies die meiste Zeit seines bisherigen Lebens in Berlin verbracht hat, als Abgeordneten in den Sächsischen Landtag? Die kurze Antwort: Die sächsischen Zustände.
Miro Jennerjahn
Lebensferne Wichtigtuer?
Karriereprofile der neuen Politikergeneration
Zusammenfassung
Der Soziologe Max Weber unterscheidet in seiner berühmten Schrift Politik als Beruf zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf zu machen: Entweder man lebt für die Politik oder aber von der Politik, heißt es dort. „Von der Politik als Beruf lebt, wer danach strebt, daraus eine dauernde Einnahmequelle zu machen, – für die Politik der, bei dem dies nicht der Fall ist. In aller Regel tut man, mindestens ideell, meist aber auch materiell, beides.“1 Wer allerdings für und nicht von der Politik leben wolle, der müsse – unter normalen Verhältnissen – „ökonomisch von den Einnahmen, welche die Politik ihm bringen kann, unabhängig sein. Das heißt ganz einfach: er muß vermögend oder in einer privaten Lebensstellung sein, welche ihm auskömmliche Einkünfte abwirft.“
Gerd Langguth
Plädoyer für mehr Gesellschaftsutopie
Zusammenfassung
Ludwig Marcuse, der dem problematischen Spannungsfeld von Machtrealität und normativen Utopien eine Studie gewidmet hat, nimmt das in Syracus gescheiterte Experiment Platos zum Anlass, einen bedenkenswerten Gedanken zur Gesellschaftsutopie zu formulieren. Dass Plato die „Tat nicht vollbracht hat, sagt nichts aus über das Ziel seiner Versuche. Wer sich einmal ausrechnet, wie viele Experimente seit Prometheus nötig waren, um das Streichholz zustande zu bringen, wird aus dem Missglücken des platonischen Experiments zur Schaffung einer Gesellschaft ohne Krieg und Ungerechtigkeiten nicht gleich die pessimistischsten Konsequenzen ziehen. Das Erbauliche an seinem Leben ist nicht, was er erreicht hat, sondern was er versucht hat. Das Traurige an unserer Zeit ist aber nicht, was sie nicht erreicht, sondern was sie nicht versucht. Im Versuchen aber liegt der echte Idealismus.“1
Oskar Negt

Experimente auf dem Weg zu einer anderen Demokratie

Frontmatter

Direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung – jenseits von Stuttgart 21

Direkte Demokratie – die mühsame Öffnung zum Volksentscheid
Zusammenfassung
Direkte Demokratie war über Jahrzehnte ein Stiefkind des Demokratieverständnisses in Deutschland. Lange Zeit war es üblich, die Bundesrepublik zum Ideal repräsentativer Demokratie zu stilisieren und die Praxis der „kleinen“ Schweiz bis auf kritikwürdige Volksabstimmungen zu ignorieren. In den letzten Jahren haben jedoch einige Volksentscheide auf Landesebene bundesweites Interesse gefunden, vor allem der Entscheid für den Nichtraucher-Schutz in Bayern 2010, der Hamburger Entscheid gegen das Primarschulmodell von CDU und Grüne 2010 und der Entscheid zum Ausstieg aus dem Bahnprojekt Stuttgart 21 in Baden-Württemberg im November 2011. Damit scheint eine etwas ernsthaftere Diskussion über die Möglichkeiten direkter Demokratie hierzulande in Gang gekommen zu sein.
Theo Schiller
Möglichkeiten und Grenzen der direkten Demokratie – das Beispiel Stuttgart 21
Zusammenfassung
Die Debatte um die Einführung und Ausweitung direktdemokratischer Beteiligungsformen ist in der Bundesrepublik durch eine merkwürdige Ambivalenz gekennzeichnet. Auf der einen Seite führen die unbestreitbaren Legitimationsschwächen der repräsentativ- parlamentarischen Parteiendemokratie dazu, dass sich die Forderungen nach mehr unmittelbaren Mitspracherechten der Bürger mehren. Auf der anderen Seite wachsen die Bedenken, je mehr Erfahrung die Menschen mit den plebiszitären Instrumenten tatsächlich machen und je stärker diese in den politischen Prozess eingreifen. Zwei Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit – der Volksentscheid zu „Stuttgart 21“1 in Baden- Württemberg und der Volksentscheid zur Schulreform in Hamburg – markieren exemplarisch die Pole der Diskussion. Während Stuttgart 21 zu einem Synonym dafür geworden ist, dass die herkömmlichen Entscheidungsverfahren bei der Planung und Durchsetzung infrastruktureller Großprojekte an prinzipielle Grenzen stoßen, bestätigte die Hamburger Abstimmung scheinbar den Verdacht, wonach plebiszitäre Elemente in der Praxis zu einem Instrument gut situierter und organisierter Minderheiten mutieren können. Beide Verfahren lenken den Blick erneut auf die problematische Ausgestaltung der direkten Demokratie in den deutschen Länderverfassungen und den daraus zu ziehenden Lehren für die Bundesebene.
Frank Decker
Essay: Zukunftsmodell Schlichtung
Zusammenfassung
Vorrede der Herausgeber: Die Idee, der „verstimmten Demokratie“ einen Sammelband zu widmen, entstand nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um das umstrittene Großprojekt Stuttgart 21. Der Streit um die Zukunft des Stuttgarter Hauptbahnhof war 2011 deutschlandweit zu einem politischen Symbol für die Entfremdung zwischen den Bürgern, ihren politischen Repräsentanten und den Verfahren der parlamentarischen Demokratie insgesamt avanciert. Als die zwischen Gegnern und Befürwortern des Vorhabens aufgerissenen Gräben mit Hilfe eines aufwändigen Schlichtungsverfahrens überwunden werden sollten, lag der Vorschlag auf der Hand, den Konflikt auch im vorliegenden Band aufzugreifen und die Perspektiven einer erfolgreichen Beilegung auf demokratischem Wege kontrovers zu diskutieren. Leider konnte der als Gegenpol angedachte Beitrag aus der Feder des Schlichters, Heiner Geißler, nicht realisiert werden, sodass es den Leserinnen und Lesern überlassen bleiben muss, diese Leerstelle zu füllen.
Arno Luik
Mitreden, streiten. Und zuhören?
Die Volksversammlung in Stuttgart: Beobachtungen und Anmerkungen zu einer neuen alten demokratischen Einrichtung
Zusammenfassung
Eigentlich beruht die direktdemokratische Erfindung aus der „Stuttgarter Republik“ auf einem Missverständnis. Wenn die Grünen in Baden-Württemberg an die Regierung kommen, könne man die Montags-Demonstrationen gegen Stuttgart 21 so nicht fortführen, hatte sich einer der führenden Aktivisten, Gangolf Stocker, im Frühjahr 2011 gedacht. Denn bis dahin hatten CDU und FDP das Land regiert, also die politischen Betreiber und Befürworter des milliardenteuren Tiefbahnhof-Projekts, allen voran die beliebte Hassfigur aller Protestbürger: Ministerpräsident Stefan Mappus. „Lügenpack“ hatte es bei jeder Demo tausendfach gehallt. Und „Mappus weg.“ Die Grünen dagegen, mit ihrem Spitzenkandidaten Winfried Kretschmann, waren zu diesem Zeitpunkt eine feste Größe in den Protestreihen, aus Sicht der Demonstranten also die Guten, die Unterstützer, die vor der Landtagswahl hoch und heilig versprochen hatten, das „unterirdische“ Vorhaben der Bahn zu verhindern. Wogegen sollten die machtkritischen Bürger denn montags demonstrieren, wenn der erträumte Regierungswechsel Realität würde, etwa gegen die Grünen, die Mitstreiter? „Kretschmann weg“ – nein, solche Rufe würden dann keinen Sinn machen. Dachte Gangolf Stocker.
Rainer Nübel
Chancen und Grenzen von Bürgerbeteiligungen – Theorie und Praxis
Probleme heutiger politischer Kultur und Bürgerbeteiligung
Zusammenfassung
Die Zeichen der Zeit sind eindeutig genug: Die Spaltung der westlichen Gesellschaften nimmt nicht nur objektiv zu. Sie wird auch zunehmend von den Bevölkerungen selbst wahrgenommen, mittlerweile besonders auch von den benachteiligten Gruppen. Einige Länder sind von Unruhen schon nicht mehr verschont. In Deutschland hält sich der Protest noch in Grenzen. Wie lange noch? Der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer kommt nach mehr als zehnjähriger Forschung zu dem bedrückenden Ergebnis, dass sich in Deutschland eine „rohe Bürgerlichkeit“ herausbilde, die sich durch den „Rückzug aus der Solidargemeinschaft“ auszeichne und den „Weg zu einer eskalierenden Spaltung“ der Gesellschaft bereite.1
Wolfgang Gessenharter

Ein neuer Dialog zwischen Bürger und Politik

abgeordnetenwatch.de – Bürger fragen, Politiker antworten1
Zusammenfassung
Das demokratische System Deutschlands mag in einer Krise stecken, aber es bietet auch die Chance, in überschaubaren Schritten weiterentwickelt zu werden. Das mag in Richtung direkter Demokratie gehen oder mit Open Data für mehr Informierung der Bürger2, was jeweils aufwendige Aktionen des Gesetzgebers oder sogar Verfassungsänderungen voraussetzt. Dann ist da aber noch die Zivilgesellschaft, die selbst in Richtung mehr Demokratie aktiv wird und neue Instrumente schafft. Eines dieser Instrumente ist Abgeordnetenwatch, das sich seiner Logik nach vor allem der Stärkung der repräsentativen Demokratie widmet.
Hans J. Kleinsteuber, Kathrin Voss
Politik im Netz der Jedermann-Demokratie
Zusammenfassung
Am 13. April 2009 verbot Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner die bis dahin einzige zum Anbau zugelassene Gentechnik-Pflanze, den Genmais MON 810. Ein großer Erfolg einer Kampagne, die die 2005 gegründete Kampagnen-Organisation „Campact“ gemeinsam mit vielen Verbänden und Bürgerinitiativen organisierte und in der Aktionen im Internet und im realen Raum beispielhaft ineinandergriffen.
Günter Metzges
Demokratie lernen? Jugend zwischen Politikverdrossenheit und Protest
Zusammenfassung
Die Jugend begehrt wieder auf. Davon zeugten in den vergangenen Jahren so unterschiedliche Protestformen und -ereignisse wie die von Heranwachsenden und sozialen Netzwerken begleitete Demokratisierungsbewegung im arabischen Raum, die gewaltförmigen Ausschreitungen marginalisierter Jugendlicher in französischen und englischen Vorstädten und die Demonstrationen und Protestcamps im Zuge von Wirtschaftskrise und der befürchteten Einschränkung von Bürgerrechten in Spanien oder Deutschland.
Nicolle Pfaff
Demokratie-Lernen an der Schule
Service-Learning – Lernen durch Engagement als demokratiepädagogische Unterrichtsmethode
Zusammenfassung
Wer gestaltet unsere Demokratie? Wie werden Jugendliche zu Gestaltern ihrer eigenen Gegenwart und Zukunft in einer demokratischen Gesellschaft? Und welche Rolle können Erfahrungen in der Schule dabei spielen?
Anne Seifert, Franziska Nagy
E-Partizipation: Bürgerbeteiligung für Baden- Württemberg – Wie wir die Politik öffnen können
Zusammenfassung
Unsere Demokratie sieht sich vielfältigen Herausforderungen gegenüber. Eine der zu lösenden Fragen ist, ob und wie es trotz zunehmender Komplexität von Planungs- und Entscheidungsprozessen gelingt, die Information, Mitbeteiligung und Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern zu verbessern. So hat etwa die europäische Integration viele zentrale Entscheidungen auf Ebenen verlagert, die weit entfernt sind von unmittelbaren demokratischen Einwirkungsmöglichkeiten. Umso wichtiger ist es für Regierungen, Verwaltungen und andere politische Institutionen, Informationen früh zugänglich zu machen, Diskussionsmöglichkeiten zu eröffnen und die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Entscheidungsprozessen zu erleichtern. Dass dies nicht nur im Interesse der Erhaltung einer lebendigen Demokratie liegt, sondern auch konkreten Entscheidungsprozessen zu Gute kommen kann, zeigen inzwischen viele Beispiele gerade auch auf der kommunalen Ebene. Bei zahlreichen aktiven Bürgerinnen und Bürgern erzeugen Verwaltungsentscheidungen, die sich ausschließlich auf das nicht näher zu hinterfragende Urteil von Fachleuten stützen, zumindest ein Gefühl des Unbehagens.
Gisela Erler
„Man kann die Politik richtig fühlen“ – Erfahrungen mit dem Planspiel Kommunalpolitik der Friedrich- Ebert-Stiftung in Baden-Württemberg
Zusammenfassung
„Demokratie braucht Demokraten“, so lautet ein berühmt gewordenes Zitat von Friedrich Ebert, dem ersten demokratisch gewählten Reichspräsidenten Deutschlands. Für die nach ihm benannte Stiftung ist diese Aussage eines der wichtigsten Leitmotive ihrer Arbeit. In der politischen Bildungsarbeit leitet sich daraus der Auftrag ab aufzuzeigen, wie Demokratie funktioniert. Doch wie geht das? Wie kann Demokratie erfahrbar und erlebbar gemacht werden? Und wie gelingt das gerade bei jungen Menschen?
Christine Arbogast, Vinzenz Huzel
Backmatter
Metadaten
Titel
Die verstimmte Demokratie
herausgegeben von
Stephan Braun
Alexander Geisler
Copyright-Jahr
2012
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-19035-8
Print ISBN
978-3-531-18410-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-19035-8