Eine erste Dynamik wurde durch das Infektionsgeschehen bestimmt, welches gesellschaftlich als zu- bzw. abnehmende Infektionsausbreitung – metaphorisch versinnbildlicht in den sogenannten Wellen – wahrgenommen und kommuniziert wurde (Schilling et al.
2021). Hieraus entstand eine Prozessdynamik in Form eines
process stream, der die Politik herausforderte.
3 Dabei brach die Pandemie prozessual mit den routinierten Verfahrensformaten des Regierens – Agenda-Setting, Policy-Formulierung, Implementation, Evaluation –, indem sie den Infektionswellen entsprechende Phasen der Erregung, des Aktionismus und der Beruhigung evozierte. Als zweite Dynamik lässt sich die gemeinsame Beratung von Politik und Wissenschaft identifizieren, bei der Akteure in epistemic communities Objekte für die politische Bearbeitung in der Pandemie definierten, wodurch ein anhand der Konzepte und Leitideen des Pandemiemanagements zu beobachtender
problem stream (Howlett
2019, S. 418) entstand. Davon sind als dritte Dynamik die politischen Maßnahmen und Interventionen des
policy stream zu unterscheiden, die von Spezialisten für die Entwicklung, das Design und die Artikulation politischer Instrumente formuliert wurden.
4 Eine vierte Dynamik wird durch das kollektive Handeln programmatisch legitimierter Akteure aus der Verwaltung, den betroffenen Teil-Öffentlichkeiten und Stakeholdern bestimmt, die mit unterschiedlichen Interessen und Ressourcen in Prozessen der Ko-Produktion oder der gemeinsamen Erbringung von Dienstleistungen interagierten. Diese lassen sich anhand der PublicHealth-Maßnahmen als
programme stream (ebd., S. 419) beschreiben.
Alle vier genannten streams sind erst einmal als Prozessdynamiken zu verstehen, die bei der Implementation politischer Maßnahmen immer virulent sind. Im demokratischen Regieren wird dazu kollektives Handeln notwendig, welches durch verschiedene Orientierungen, spezifische Zeitstrukturen sowie differenzierte Arenen mit je eigenen Regeln bestimmt wird. Dementsprechend werden auch Akteursdynamiken induziert, in deren Verlauf kollektives Handeln mit eigenen Handlungsrationalitäten die Prozessdynamik mitbestimmen. Damit konstituieren die streams im Hinblick auf unser Problem eine Interaktionsgeschichte der Nichtwissensverarbeitung, die von eigenen Pfadabhängigkeiten und einer spezifischen Zeitstruktur geprägt ist. Diese Interaktionsgeschichte kann hinsichtlich der ersten zwei Infektionswellen von 2020/21 in vier Phasen differenziert werden, in denen die streams unterschiedlich relevant wurden, sich gegenseitig beeinflussten und so zur Bildung einer Akteurskonstellation der Nichtwissensbearbeitung beitrugen. In diesen Phasen änderten sich das Binnen- und Außenverhältnis der Akteurskonstellation wie auch die dominierenden Nichtwissensstrategien. Dementsprechend repräsentieren sie die Transformation der Nichtwissensbearbeitung im Verlauf der ersten zwei Infektionswellen der Pandemie.
3.1 Der pragmatische Ansatz und die Konstituierung der epistemic community
Der Prozess der Pandemie beginnt mit der Kommunikation einer neuen Viruskrankheit, COVID-19, in China, die zunächst exklusiv programmatisch bearbeitet wird. Am 17. Januar 2020 unterrichtet das Robert Koch Institut (RKI) via Twitter die „Fachöffentlichkeit“ zum „neuen Coronavirus“, nachdem das zweite Epidemiologische Bulletin des RKI (
2020a) vom 9. Januar 2020 über die gehäuften Pneumonien im chinesischen Wuhan informierte. Der erste Fall von COVID-19 in Deutschland wird am 28. Januar 2020 gemeldet und im siebenten Epidemiologischen Bulletin des RKI (
2020b) aufgeführt. Eine eigene politische Dynamik beginnt ab dem 12. Februar mit der Beratung des Gesundheitsausschusses des Bundestages zu diesem Thema sowie der Rede des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (
2020) in einer aktuellen Stunde. Darin problematisiert Spahn das virusspezifische Nichtwissen, grenzt es aber auf das ausstehende Wissen „über Ansteckungswege, über Inkubationszeiten oder auch über den klinischen Verlauf“ ein (ebd., S. 2). Mit dieser Rede startet der
policy stream, der sich anfangs nicht von der programmatischen Bearbeitung des RKI und dessen Einschätzung des Nichtwissens unterscheidet (RKI
2020b). Die zu dem Zeitpunkt involvierten Akteure, aber auch andere Wissenschaftler gehen von der Kontrollierbarkeit des Virus aus, befürworten die darauf aufbauende Containment-Strategie und ihre selektiven Maßnahmen (Maier und Brockmann
2020).
In Italien werden nach der starken Zunahme von COVID-19-Fällen am 23. Februar 2020 erstmals in Europa Containment-Maßnahmen in größerem Umfang eingeführt und Städte isoliert. Die vielen Infektionen in Italien konterkarieren das Vertrauen in die Kontrollierbarkeit und vergrößern das Nichtwissen über die Dynamik der Ausbreitung von SARS-CoV‑2. Zeitgleich wird die Öffentlichkeit durch die mediale Kommunikation der Krankheitsausbrüche in Italien für die Evaluation der bisherigen Maßnahmen sensibilisiert, was zur Politisierung des Nichtwissens beiträgt und dessen politische Neueinschätzung erfordert. Zunächst wird entsprechend der politisch-administrativen Nichtwissensstrategie am 26. bzw. 27. Februar ein gemeinsamer Krisenstab der Bundesministerien des Inneren und für Gesundheit eingesetzt. Dieser Krisenstab ist zwar noch Teil der internen Nichtwissensbearbeitung, dennoch induziert er eine neue programmatische Dynamik. Denn mit der Einbindung der Ressortforschung in die politisch-administrative Verarbeitung entsteht eine durch die Pandemiepläne vorgegebene Protoform koordinierter Nichtwissensverarbeitung, die aufgrund der institutionellen Einbettung der Experten in der Sozialdimension wenig differenziert ist (Gesundheitsministerkonferenz
2017, S. 10). Die involvierten Berater verstehen ihre Rolle als die von Ko-Produzenten, daher gibt es wenig Konkurrenz und Dissens. So bestätigt der Krisenstab in seiner ersten Sitzung die bestehenden Kontrollmaßnahmen für Einreisen, ohne weitergehende Maßnahmen zu fordern, womit die Annahme über die Kontrollierbarkeit des Nichtwissens und damit des Virus gestützt wird (Bundesministerium für Gesundheit
2020).
Am 26. Februar wird der erste Podcast von Christian Drosten unter dem Titel „Wir können die Ausbreitung verlangsamen“ veröffentlicht (Martini und Drosten
2020a). Drei Tage später diskutiert der Artikel „Flattening the curve“ im Economist die Idee, durch eine Abflachung der Infektionskurve die Folgen von COVID-19 zu beeinflussen (The Economist
2020). Dies verstärkt die öffentliche Diskussion über eine angemessene Reaktion auf die gesundheitlichen Gefahren und trägt zur Verschiebung der Problemperspektive bei, denn in beiden Beispielen der Wissenschaftskommunikation wird die Notwendigkeit prinzipieller Antworten auf eine nicht mehr sicher prognostizierbare Entwicklung befürwortet. Zwar werden später diese Prinzipien der Pandemiekontrolle mit ihren Zielsetzungen zu politischen Leitideen („flatten the curve!“) aufgewertet. Doch zu diesem Zeitpunkt geht es noch nicht um die Proklamation einer solchen Leitidee, sondern um die Erörterung der Vorteile eines allgemein orientierenden Prinzips, das eine Strategie fördert und fordert (Boin und Lodge
2021). Auch dies erfordert jedoch Deutungsbedürftigkeit und Rechtfertigung, sodass Wissenschaftler wie Drosten eine zentrale Rolle im öffentlichen Diskurs einnehmen. Für die Experten der deutschen Wissenschaftslandschaft wird die damit verbundene öffentliche Popularität in dieser Phase zum entscheidenden Türöffner in die Politikberatung (Hirschi
2021, S. 173; Pfadenhauer
2021, S. 443). Mit der thematischen und personellen Öffnung der primär breit öffentlich ausgetragenen Problemreflexion beginnt sich eine epistemic community zu etablieren, die Fachpolitiker, Public Health-Institute, Mediziner und Virologen für die Problematisierung von COVID-19 zusammenbringt und gegenüber der vorangegangenen Protoform selektiver Politikberatung deutlich kohärenter auftritt.
Am 2. März 2020 tritt diese community erstmals öffentlich als Gruppe in Erscheinung.
5 Zwar vermittelt sie den Eindruck, auch potenzielle Unsicherheiten der weiteren Entwicklung antizipieren zu können, jedoch problematisieren ihre Sprecher ebenso offen ihr Nichtwissen hinsichtlich der Gefährlichkeit des Virus wie auch der Dynamik weiterer Infektionen.
6 Dabei relativieren Drosten und Wieler die dramatischen Entwicklungsszenarien, die seinerzeit öffentlich zirkulieren, unter anderem mit Verweis auf ihre Unkenntnis der tatsächlichen Infektionszahl. Diese Unsicherheiten betreffen auch die Modellierungen der Ansteckungsdynamiken, die mit vorläufigen Zahlen arbeiten und erhebliche Schwankungen in ihren Prognosen aufweisen, worauf Wieler in der Pressekonferenz explizit hinweist. Die epistemic community kommuniziert dieses Nichtwissen und ihre davon ausgehende Unsicherheit, verzichtet aber zugleich auf eine spekulative Auflösung und eine damit verbundene Katastrophenkommunikation. Dies verweist auf ein kontrollorientiertes Verständnis des Nichtwissens als Noch-Nicht-Wissen, das weder zur Relativierung noch zur Dramatisierung der Situation genutzt werden kann. Dementsprechend gibt es zu dieser Zeit keine offensichtliche Notwendigkeit, weitere Experten – etwa aus den Sozialwissenschaften – einzubinden, da COVID-19 als Gesundheitsproblem exklusiv durch die entsprechenden Experten bearbeitbar scheint. Die aus ihnen rekrutierte epistemic community legitimiert ihren pragmatischen Ansatz des Pandemiemanagements mit dem Versprechen, das pandemische Nichtwissen qua „discovery through action“ sukzessive zu reduzieren (Boin und Lodge
2021, S. 5).
Mit der Einsetzung des Krisenstabes steigert sich die zeitliche Dynamik der politischen und programmatischen Bearbeitung der Coronakrise.
7 Erneut sind es Ereignisse in Italien, die den Prozess beeinflussen, denn am 8. März 2020 werden dort Provinzen isoliert und landesweit die Schulen geschlossen. Bis dahin wird durch das RKI die Gefahr für Deutschland als „mäßig“ eingestuft (RKI
2020c).
8 Zum 9. März erfolgt die Erweiterung, dass in besonders betroffenen Gebieten die Gefahr variiert und Gegenmaßnahmen, die u. a. die soziale Distanzierung befördern sollen, zu einer Entlastung des Gesundheitswesens beitragen können (RKI
2020d). Diese weitergehende, auf die Allgemeinheit abzielende Maßnahme stellt einen Einschnitt dar, der zwar
noch nicht mit dem bisherigen pragmatischen Ansatz bricht, wohl aber einen Perspektivwechsel auf das Nichtwissen in der epistemic community andeutet. Dieser betrifft zunächst die Evaluation der bisherigen Maßnahmen: Die involvierten Akteure relativieren deren Effektivität und schätzen das Nichtwissen über die Kontrollierbarkeit des Virus neu ein. Politisch wird dies mit der Forderung zur notwendigen Kontaktreduzierung und der Absage von Großveranstaltungen am 9. März kommuniziert.
Der Perspektivwechsel betrifft dann aber auch die Wissenschaft. So diskutiert Drosten im Coronavirus-Update 9 öffentlich eine Modellierungsstudie, die einen geringen saisonalen Effekt auf die Ausbreitung errechnet (Martini und Drosten
2020b). Dementsprechend bezweifelt er die Annahmen zum weiteren Verlauf und setzt sich mit der Gefahr einer Pandemie auseinander (Ärzteblatt
2020). Mit der Referenz auf diese Modellierungsstudie ändert sich die wissenschaftliche Kommunikation von Nichtwissen in der Öffentlichkeit, das nun als nicht mehr kontrollierbar bezeichnet, als einzuschätzende Unsicherheit behandelt und somit für die Beratung geöffnet wird. Diese Doppelbewegung einer Neubewertung des Nichtwissens einerseits und der daran anschließenden epistemischen Öffnung der Erkenntnisproduktion in der Beratung fördert den Perspektivwechsel in der Problemidentifikation: Entscheidend für die Risikobewertung ist ab jetzt nicht mehr vordringlich das, was ist, sondern das, was sein könnte.
3.2 Zentralisierung und Verflechtung der Nichtwissensbearbeitung
Am 11. März 2020 stuft die Weltgesundheitsorganisation (WHO) COVID-19 als Pandemie ein (RKI
2020e). Dies ändert den Modus der politischen Steuerung der Krise: Statt sie den Fachministerien und den programmatischen Akteuren zu überlassen, entwickelt sich mit der direkten Koordination der Exekutiven des Bundes und der Länder ein neues, fortan dominierendes Entscheidungszentrum mit einer eigenen zeitlichen Dynamik. Am Tag darauf werden in diesem Gremium Forderungen zur Ausweitung der Maßnahmen diskutiert, deren umstrittenste die Schließung von Schulen ist. Zwar beschließt die Kultusministerkonferenz noch am gleichen Tag, den Großteil der Schulen zunächst offen zu lassen und höchstens lokale Schließungen nach dem Vorbild von EU-Nachbarländern vorzunehmen. Doch zeichnet sich bereits eine eigene Dynamik der „policy diffusion“ unter den EU-Staaten ab: Die Einführung einer Maßnahme in einem Land setzt die Nachbarregierungen unter Handlungsdruck und ordnet damit auch die zeitliche Agenda hinsichtlich des Nichtwissens neu (Sebhatu et al.
2020). So sind es fortan weniger neue Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Maßnahmen, sondern das politisierte Nichtwissen über die Folgen einer (Nicht‑)Entscheidung, auf die die Entscheidungsträger reagieren. Folgt Deutschland dem „common sense“ der Nachbarstaaten und setzt eine Maßnahme um, oder sollte es darauf verzichten? Und hat die deutsche Regierung hier überhaupt eine Wahl, wenn alle anderen von der Wirksamkeit überzeugt sind? Kann sie auch
nicht entscheiden bzw. die Entscheidung delegieren? Vor diesem Hintergrund ändert sich nun auch die Nichtwissensbearbeitung der Akteurskonstellation im
problem stream.
Eine deutsche Besonderheit ist zu diesem Zeitpunkt, dass die wissenschaftliche Politikberatung hochgradig personalisiert und informell ist. Weder wird der Öffentlichkeit verdeutlicht, wie viele und welche Experten involviert sind, noch deren Auswahl politisch und wissenschaftlich begründet. So werden zu den Beratungen am 12. März drei Experten der epistemic community hinzugezogen, nämlich Lothar Wieler vom RKI sowie Christian Drosten und Heyo K. Kroemer von der Charité Berlin.
9 Da die Evidenzlage für Nicht-Pharmazeutische Interventionen (NPIs) bei der Bekämpfung von Atemwegsviren zu diesem Zeitpunkt generell umstritten ist (Aledort et al.
2007), stehen ihre Expertise und Empfehlungen für oder gegen solche Maßnahmen besonders unter Beobachtung. Zwar repräsentieren die drei Beteiligten mit RKI und Charité zwei hochangesehene Institutionen der Wissensproduktion, im Beratungskontext treten sie jedoch als autonome Experten auf, die situativ ihre persönlichen Einschätzungen kommunizieren, die nicht unbedingt einen institutionellen Konsens ihrer Organisationen reflektieren. Im Verlauf ihres Austausches rekurriert Drosten insbesondere auf eine epidemiologische Studie von 2007, welche die Effektivität von Maßnahmen bei der Bekämpfung der Spanischen Grippe 1918 in den USA analysiert (Markel et al.
2007; Martini und Drosten
2020c).
10 So kann das Nichtwissen derart operationalisiert werden, dass eine wissenschaftliche Einschätzung der Wirksamkeit von NPIs möglich erscheint.
11 Gleichzeitig wirkt die Nichtwissenskommunikation in der Beratung damit sehr individualistisch, denn allein Drosten bezieht sich vor allem auf diese und keine andere Studie und entwickelt dazu eine entsprechende Interpretation. Auch der Zufall kann hier eine Rolle gespielt haben, denn im Coronavirus-Update 12 gibt er an, von einer Kollegin auf die Studie aufmerksam gemacht worden zu sein (ebd.). In diesem Format diskutiert er nicht die Validität der Erkenntnisse der Studie, macht aber auf die Unsicherheiten bei der Übersetzung der Schlussfolgerungen in politische Maßnahmen der Gegenwart aufmerksam. Dennoch formuliert er auf der Basis eines „mixed judgments“ (Birch
2021, S. 6) eine Empfehlung, d. h. er verknüpft die normative Einsicht „es
muss mehr gemacht werden“ mit wissenschaftlichen Erkenntnissen.
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Dieser Vorgang ist eigentümlich. Denn aus der virologischen Perspektive und dem mit ihr verbundenen kontrollorientierten Umgang mit Nichtwissen sollte sich eigentlich eine viruszentrierte Pandemiekontrolle ableiten, die Grenzkontrollen, individuelle Maßnahmen und die Herdenimmunität im Fokus hat (Jasanoff et al.
2021, S. 12). Stattdessen wird das Pandemiemanagement in der Beratung auf die Regulation sozialer Praktiken verschoben, um so die Übertragungswege der Infektion zu minimieren – auch mit Referenz auf die genannte Studie zur Spanischen Grippe. Für eine robuste wissenschaftliche Begründung dieses Ansatzes würden eigentlich Erkenntnisse zum Wechselspiel resp. „feedback loop“ zwischen menschlichem Verhalten und Infektionsintensitäten benötigt, die das „hard problem“ der Epidemiologie sind (Perra
2021, S. 2). Durch mathematische Abstraktion in Form von Annahmen, Schätzungen und Selektionen kann die Epidemiologie ihr Nichtwissen über die Zusammenhänge von Maßnahmen und Effekten in Pandemien so operationalisieren, dass die Komplexität erfolgreich reduziert wird und begrenzte Aussagen über die Infektionsdynamiken möglich sind. Doch während in Großbritannien entsprechende Empfehlungen von Epidemiologen selber artikuliert werden (Birch
2021; Ferguson et al. 2020), machen das in Deutschland zunächst Wissenschaftler, die eigentlich nicht mit diesen Nichtwissensansätzen arbeiten. Das setzt sich auch in der öffentlich weithin wahrgenommenen ersten Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina fort, in der Virologen, Biologen und Mediziner starke Regulierungen der sozialen Praktiken auf der Basis komplexitätsorientierter Nichtwissensansätze fordern und damit epidemiologisch argumentieren (Leopoldina
2020a, S. 3).
Als Überschneidung von policy und problem stream strukturiert der simultane Wandel von Nichtwissensbearbeitung und Pandemiepolitik den process stream der ersten Phase des Infektionsgeschehens. Die Zentralisierung der Problembearbeitung in der Exekutive und die Einbeziehung bestimmter Berater verknüpft die politische mit der epistemischen Autorität. Dank des informellen Charakters der Interaktion von Politik und Wissenschaft kooperieren die Akteure beider Seiten schnell und konfliktlos. Weder müssen institutionelle Eigenzeiten noch verteilte Zuständigkeiten durch Verfahren geregelt werden. Dies fördert die Verbindung von staatlich-administrativen und jetzt komplexitätsorientierten Nichtwissensstrategien, die schnell auf externe zeitliche Herausforderungen reagieren und dabei nur einen geringen internen Pluralismus verarbeiten müssen. Die zentrale Herausforderung ist die sich abzeichnende Gefahr einer pandemischen Katastrophe, weil das Nichtwissen zur Pandemie infolge der Ereignisse in Italien und anderswo nicht mehr zu kontrollieren ist.
Damit beginnt eine Katastrophenkommunikation, die das Nichtwissen als potenziell unbegrenzt markiert und deshalb weitgehende Präventivmaßnahmen fordert (Japp
2003). In dieser zeitlich drängenden Situation kann aus der Perspektive der Beteiligten weder auf eine pluralistische Expertise noch auf zeitlich anspruchsvolle Reflexionen Rücksicht genommen werden. Die epistemische Autorität liegt nun exklusiv bei den virologisch-medizinischen Experten, denn von den Sozialwissenschaften erwartet man keine Aufklärung über die gesundheitlichen Gefahren des Virus. Diese Einschätzung ist vermutlich von den meisten Sozialwissenschaftlern in dieser Situation vorbehaltlos geteilt worden. Im Rückblick stellt sich dagegen die Frage nach der möglichen „Intervention“ sozialwissenschaftlicher Expertise in diesem „Schockzustand“ differenzierter (Kraemer
2023, S. 15). Zumindest mit Blick auf die Behandlung von Nichtwissen hätte der kontextualisierende Ansatz der Sozialwissenschaften durchaus eine legitime methodische Intervention in die Katastrophenkommunikation und ihre Vermeidungsstrategien darstellen können. Das bezieht sich sowohl auf die Differenz zwischen normalem und krisenhaftem Nichtwissen als auch auf die Reflexion von Nichtwissen hinsichtlich der gesellschaftlichen Effekte der Vermeidungsstrategie.
3.3 (Selbst‑)Distanzierung der epistemic community
Mit Inkrafttreten des Lockdowns am 16. März 2020 verlangsamt sich die Ausbreitung von COVID-19 und der
process stream tritt in eine neue Phase. Zu diesem Zeitpunkt erlaubt die politische Dynamik keine Abweichungen von strengen Einschränkungen des sozialen Lebens, da nur diese Option in der öffentlich-medial vermittelten Wahrnehmung als legitim gilt (Dausend
2021). In diesen Tagen etabliert sich das globale Standardmodell der politischen Reaktionen auf COVID-19, aus dem sich die einzelnen Staaten in Abhängigkeit ihrer jeweiligen Kapazitäten fortan bedienen werden (Capano et al.
2020). Diese Konventionalisierung des globalen Pandemiemanagements nimmt Bewegung aus dem
policy stream, auch weil weitergehende Regulierungen kaum mehr möglich sind und allenfalls die Frage nach dem Ende der Regulierungen prospektiv relevant wird. Indessen konzentriert sich die programmatische Bearbeitung des RKI (
2020f) auf die Formalisierung, Planung bzw. Anpassung von Richtlinien und die wissenschaftliche Begründung der Vermeidungsstrategie im Rahmen einer epidemiologischen Interpretation (Haas et al.
2020), unterstützt mit sozialwissenschaftlichen Argumenten vonseiten des Bundesministeriums des Inneren. Dort wird ein pluralistisches Beratungsgremium u. a. mit Ökonomen und Soziologen eingesetzt, welches Szenarien strategischer Alternativen und rhetorische Formeln „für die Begründung der getroffenen Entscheidungen“ entwickeln soll (Bude
2022, S. 247). Folglich sind die Sozialwissenschaften im
programme stream punktuell in der Systematisierung von „Deutungswissen“ involviert, um „das Unvermeidbare der Entscheidungsmaßnahmen kommunikativ in die Bevölkerung hinein zu transportieren“ (Kraemer
2023, S. 15). Zur Output-Optimierung der Maßnahmen dient auch die Mannheimer Corona-Studie, für die Mitarbeiter des German Internet Panels ab dem 20. März Umfragen mit insgesamt 3600 Bürgern zu den sozialen Auswirkungen des Lockdowns durchführen, deren Ergebnisse daraufhin im gemeinsamen Krisenstab der Bundesministerien des Inneren, für Gesundheit sowie für Arbeit und Soziales verarbeitet werden.
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Mit dem Lockdown beginnt die Neuorganisation der wissenschaftlichen Politikberatung zur Bewältigung des
problem stream, in deren Folge fast alle Exekutiven der Bundesländer eigene Expertenräte einsetzen (Sell et al.
2021). Die Organisation der Räte ist häufig intransparent und setzt die Dominanz biomedizinischer Expertise fort. Pluralistische Räte, in denen auch sozialwissenschaftliche Expertise integriert wird, finden sich vereinzelt z. B. in Nordrhein-Westfalen oder Thüringen (Sell et al.
2021, S. 7). Die Ausdifferenzierung der Beratung hat dabei weder Einfluss auf die den
problem stream bestimmende epistemic community noch auf die Diversifikation des Beratungswissens. Letzteres erfolgt durch die Aktivierung von Wissenschaftsnetzwerken, die eigenes Wissen zur Beratung anbieten (EbM-Netzwerk
2020; Schrappe et al.
2020a), wobei die Bearbeitung von Nichtwissen und dessen Folgen für das Pandemiemanagement im Zentrum stehen. So evaluieren Matthias Schrappe et al. die zur Verfügung stehenden epidemiologischen Daten und kommen zu dem Schluss, dass diese kein Verhältnis zur Grundgesamtheit haben oder Fälle überschätzen, weshalb aus ihnen keine validen Aussagen zur Infektionsdynamik abgeleitet werden könnten (ebd., S. 4 f.). Die Daten projizieren demnach vor allem Nichtwissen, das nach Ansicht von Schrappe et al. jedoch mittels einer systematischen Datenerhebung bearbeitet werden kann. Sie plädieren für einen radikal pragmatischen Ansatz, der sich gegen eine Politisierung des Nichtwissens in die eine oder andere Richtung stellt. Dafür ist ihnen zufolge ein selektiver Zugriff auf Expertise zu vermeiden, da komplexe Pandemien Mehrfachinterventionen erfordern, die „Erkenntnisse aus den Bereichen Epidemiologie, Verhaltenspsychologie, Kognitionswissenschaften, Public Health, Soziologie, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft“ verarbeiten (ebd., S. 8). Damit fordern die Autoren auch die Anwendung einer kontextualisierten Nichtwissensstrategie.
Neben den thematisch fixierten Netzwerken beginnen einzelne Fachdisziplinen, darunter auch sozialwissenschaftliche, mit der wissenschaftlichen Diskussion der Situation. So organisiert das Wissenschaftszentrum Berlin ab dem 8. März soziologische Vorträge zur Pandemie.
14 In einem dieser Vorträge vom 15. April schlussfolgern Rainer Schnell und Menno Smid, das Nichtwissensproblem sei aufgrund der mangelhaften Datenerhebung durch das RKI so eminent, dass ihrer Ansicht nach kein professionelles Pandemiemanagement möglich ist. Angesichts dieser Kritik am RKI schlagen sie vor, mit Prävelenzstichproben, Panel-Studien, Post-Mortem-Stichproben und sozialwissenschaftlichen Zufallsstichproben vier verschiedene Samplemethoden zu kombinieren, um das Nichtwissen zur Infektionsgefahr und -dynamik aufzuklären und so ein detailliertes Bild zur Grundlage politischer Entscheidungsfindung zu erlangen.
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Auch Ökonomen identifizieren das Nichtwissen in diesem Zeitraum als zentrale, von der Wissenschaft zu bearbeitende Herausforderung. Ebenfalls im April schlagen das Kieler Institut für Weltwirtschaft, das Bremer Leibniz Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie mit weiteren Institutionen, unter anderem dem Bundesgesundheitsministerium, ein Konzept für ein Corona-Screening vor, welches systematisch Daten zur Pandemie erheben soll (Dts. Nachrichtenagenur
2021). Doch obwohl dieses Konzept persönlich vom Chef des Kieler Instituts, Gabriel Felbermayer, vehement beworben wurde, lehnen die angesprochenen Ministerien es mit dem Hinweis auf Ungeeignetheit ab. Dies unterstreicht, dass im
problem stream der ersten Monate Potenziale zur Minimierung des Nichtwissens durch eine Noch-Nicht-Wissen-Strategie nicht ausreichend wahrgenommen bzw. nicht gefördert werden.
Einen relevanten Schritt weiter geht dann allerdings die medizinische Studie, die systematisch die Immunität im Kreis Heinsberg, Ort der ersten Massenausbrüche von COVID-19 in Deutschland, untersucht (Streeck et al.
2020). Finanziert von der Landesregierung Nordrhein-Westfalens unter dem seinerzeitigen CDU-Vorsitz-Aspiranten Armin Laschet, der einer rigiden Regulierung des gesellschaftlichen Alltags skeptisch gegenübersteht und damit innerhalb des
policy streams mit der Bundesregierung unter Angela Merkel konkurriert, klärt die großangelegte Untersuchung systematisch das Verhältnis von Erkrankten und Nichterkrankten auf. Zwar ermöglichen diese Art Studien nur begrenzte Aussagen für eine Region (Rendtel et al.
2021, S. 165), dennoch versucht die sogenannte Heinsberg-Studie induktiv und fallorientiert das entscheidungsrelevante Nichtwissen aufzuklären. Damit könnte sie der Politisierung des Nichtwissens wissenschaftlich vorbeugen – jedoch bleibt die Studie nicht ohne Folgen für die Diskussion um die Legitimation der Lockdown-Maßnahmen, weshalb die Diskussion ihrer Ergebnisse von Beginn an stark politisch geframt ist. So präsentieren die Studienleiter bereits am 9. April erste Zwischenergebnisse gemeinsam mit Laschet der Öffentlichkeit und werben mit ihm für eine Neubewertung der Gefahr durch COVID-19. Diese Politisierung der Studienergebnisse provoziert gemischte Reaktionen. Daran beteiligen sich auch die in der Problembearbeitung involvierten Wissenschaftler, die ihrerseits Kritik üben und damit die mediale Polarisierung der Studie wiederum weiter katalysieren (Dausend
2021; Hirschi
2021).
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In den medial stark inszenierten Auseinandersetzungen gelingt es den Mitgliedern der epistemic community in der Folge, ihre epistemische und politische Autorität öffentlich zu behaupten. Zum einen wird mit ihrer Hilfe der potenzielle Einfluss der Heinsberg-Studie auf die Nichtwissensverarbeitung begrenzt. Durch die auch von der epistemic community geäußerte Kritik am Vorgehen der Studie und angesichts des öffentlich polemisierten Zweifels an ihrem Beitrag zur Reduktion des Nichtwissens, wird der alternative Nichtwissensansatz derart in Frage gestellt, dass eine Rückkehr zur kontrollorientierten Strategie unwahrscheinlich wird. Zum anderen wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung durch die politische Polarisierung der Debatte auf die persönliche Ebene verschoben. Statt sachlich über die Angemessenheit von Methoden und die Evidenz von Erkenntnissen zu diskutieren, wird mit der öffentlichen Identifikation von inhaltlichen Positionen mit Protagonisten aus Wissenschaft und Politik die Wahrnehmung konstruiert, selektiv wissenschaftliche Ansätze und Nichtwissensstrategien seien mit diesen Personen quasi verbunden. Starke, aber nunmehr charismatische Loyalitätsbeziehungen werden ebenso möglich wie die Kultivierung von personenbezogenen Sym- und Antipathien – „Team Drosten“ vs. „Team Streeck“.
Da die Mitglieder der epistemic community anfangs weit mehr öffentliches Vorschussvertrauen genießen als ihre Konkurrenz, können sie mit Zuspruch in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch in der Wissenschaft rechnen. Dies ermöglicht ihnen eine nachhaltige Distanzierung von anderen Akteuren sowie ihren Erkenntnissen und Diskursen, was den Einfluss der community auf die Deutung der Krise konsolidiert. Andere Wissensproduzenten mit abweichenden Positionen werden nicht in die zentrale epistemic community eingebunden, auch wenn sie, wie der Bonner Internist und Professor für Patientensicherheit Matthias Schrappe, von der Opposition im Bundestag angehört werden oder, wie Hendrik Streeck, die Exekutiven der Länder beraten. Die Abschottung der epistemic community in einem informellen Beratungsumfeld stärkt dabei die enge Verflechtung von politischer und wissenschaftlicher Nichtwissensstrategie, die sich auch gegenüber neu institutionalisierten Beratungsangeboten behaupten kann.
Exemplarisch dafür ist der Umgang mit der dritten Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina (
2020a), die psychologische, soziale, rechtliche, pädagogische und wirtschaftliche Aspekte der Regulierungen beleuchtet. In verschiedenen Arbeitsgruppen entwickeln 26 Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen Empfehlungen für ein risikoreduzierendes Ende des Lockdowns. Und obwohl den Empfehlungen keine spezifischen Forschungsergebnisse zugrunde liegen und ihnen eine fehlende Reflexion der eigenen Wertfragen bzw. Interessen angelastet wird (Bogner und Menz
2021, S. 121), enthalten sie doch eine eigene Nichtwissensstrategie. Speziell auf die Bewältigung der Coronakrise ausgerichtet, vereint diese Strategie drei Elemente: Erstens fordert sie, analog zum Thesenpapier von Schrappe et al. (
2020a), eine systematische Datenerhebung, um grundlegendes Nichtwissen in der Pandemie aufzuklären (Leopoldina
2020a, S. 17). Zweitens müsse das Nichtwissen in der wissenschaftlichen Beratung sowie den darauf basierenden Entscheidungen durch unterschiedliche disziplinäre Perspektiven, aber auch Betroffenenperspektiven, identifiziert und kontrolliert werden. Ziel ist die bewusste Reflexion der unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Grenzen, die das Nichtwissen erst beobachtbar machen (ebd., S. 24). Drittens solle Nichtwissen in Entscheidungen durch transparentes Abwägen und die offene Kommunikation von Kontingenzen als Problem für alle nachvollziehbar sein. Mit Arnim Nassehi ist ein prominenter Sozialwissenschaftler, der sich vorher auch in der o. g. Vortragsreihe am WZB zur Pandemie geäußert hat, an dieser Stellungnahme beteiligt. Summarisch gesprochen, wird hier eine Nichtwissensstrategie formuliert, die den kontextualisierenden Ansatz, wie er in den Sozialwissenschaften profiliert ist, in einen konkreten Rahmen überführen will.
Zwar wird dieser Stellungnahme unmittelbar nach der Publikation im
policy stream eine grundlegende Bedeutung für die weitere Dynamik zugesprochen, dennoch bleibt sie daraufhin für die politisch relevante Problematisierung der Pandemie folgenlos: Die informelle Struktur der Beratung behindert die notwendige Koordination zur Implementation der Empfehlungen (Bogner und Menz
2021, S. 119). Ohne einen formal fixierten Input für die Beratung, der einen Zwang erzeugt, systematisch auf neue Erkenntnisse zu reagieren oder bestimmte Forschungsprojekte zu implementieren, können die Mitglieder der epistemic community auf ihrem Wissensstand beharren. Gleichzeitig erklären viele Wissenschaftler die Relevanz ihres Wissens für das Pandemiemanagement selbst in Anerkennung der epistemischen Autorität der Virologie und der „quantitativen Autorität“ (Mansnerus
2013, S. 287) modellierender Epidemiologen für sekundär (Bude
2022, S. 254). Diese Selbstbeschränkung ist aber nicht epistemologisch begründet – denn wie die oben angesprochenen methodischen Interventionen von Schrappe, Schnell und Smid und anderen zeigen, lassen sich die Grenzen des Entscheidungswissens und die Ansätze für seine Optimierung durchaus systematisch bestimmen. Stattdessen ist zu vermuten, dass die Katastrophenkommunikation eines unspezifischen Nichtwissens bis in die Wissenschaft fortwirkt, prominent vorgetragen in einem Interview mit Jürgen Habermas, der am 10. April 2020 von der Neuheit des „Wissens über unser Nichtwissen“ spricht (Habermas
2020). Angesichts dieses Schocks debattiert Habermas
nicht über wissenschaftliche Nichtwissensansätze, sondern hierarchisiert die bestehenden (Nicht‑)Wissensansätze disziplinär und mahnt die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften vor „unvorsichtigen Prognosen“ (ebd.).
Diese Selbstlimitierung von Wissensansprüchen erschwert in der Folge sowohl die offene Verhandlung relevanten Nichtwissens als auch die transparente Formulierung von Wissenslücken, aus denen sich eine Nachfrage nach Expertise für das Pandemiemanagement ableiten ließe. Demzufolge wird der Ansatz der virologisch informierten Pandemiekontrolle auch politisch nicht systematisch hinterfragt – denn eine stetige Evaluation würde die Politik dazu animieren, auf weitere Beratungsangebote zu reagieren. Dazu gehört zum Beispiel die Empfehlung des Deutschen Ethikrates (
2020, S. 5 f.) vom 27. März 2020, öffentlich über die negativen Effekte des Lockdowns, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und die akzeptierten Lebensrisiken zu debattieren. Gleichzeitig forcieren die politischen Akteure die Politisierung des Nichtwissens hinsichtlich der Folgen einer zu frühen Abkehr von den Regulierungen des Lockdowns, was unter anderem in Rechtfertigungen wie „das Erreichte nicht verspielen“ seinen Ausdruck findet. Hierbei können die relevanten Akteure des Pandemiemanagements mit politischen und medialen Kommunikationsstrategien ihre herausragende politische und epistemische Autorität behaupten, indem sie den Erfolg der Maßnahmen zum Narrativ einer gelungenen Steuerung der Krise erheben, zumal im Vergleich mit europäischen Nachbarländern.
17 Der Erfolg lässt kaum Raum für Kritik und befördert einen Lock-in-Effekt im
problem stream, bei dem der prinzipielle Eindämmungsansatz des Pandemiemanagements zur exklusiven Selbstreferenz wird.
3.4 Partielle Flexibilisierung und weitere Polarisierung
Nach Ende der ersten Welle und der Beendigung des Lockdown und weiterer Regulierungen im Mai 2020 nimmt die Intensität der einzelnen Dynamiken vorerst ab. Zwar verhindert der politische Streit über den richtigen Zeitpunkt der Rücknahme der Regulierungen eine koordinierte Exit-Strategie in Deutschland, und das, obwohl Wirtschaftswissenschaftler eine solche Strategie bereits im April konzeptualisiert hatten (Bardt und Hüther
2020). Somit werden die Kontaktverbote je nach Bundesland uneinheitlich und sukzessive gelockert (Kuhlmann et al.
2021, S. 563). Gleichzeitig beginnt jedoch eine erste kritische Evaluierung des Pandemiemanagements, die der Bundesgesundheitsminister am 22. April selber lanciert. Spahn verweist dabei auf das enorme Nichtwissen, durch das die Politik in der Krise herausgefordert sei, weshalb es wahrscheinlich zu einer Neubewertung der getroffenen Entscheidungen kommen werde (Deutscher Bundestag
2020a, S. 19211). Damit lässt sich nun auch der Konsens über die Zweckmäßigkeit der politischen Entscheidungen hinterfragen (Bogner und Menz
2021, S. 124).
Eine politischen Neubewertung der Krise erfolgt jedoch vorerst nicht – vor allem, weil das Erfahrungswissen aus der ersten Welle zu einem Erfolgsmodell der politischen Bearbeitung von Pandemien abstrahiert und generalisiert wird (Hegelich
2021, S. 306). Die harte Regulierung des sozialen Lebens hat sich bis dahin als Handlungsmodell zur Eindämmung von Infektionen bewährt, womit das Pandemiemanagement im Fall einer erneuten Verschlechterung der Lage darauf wieder zurückgreifen kann. Eine kritische Diskussion würde dies jedoch schwieriger machen, weshalb diejenigen Akteure, die diese Strategie unterstützt haben, kein wirkliches Interesse an einer Reflexion der Maßnahme haben. Stattdessen konzentrieren sich die politischen und programmatischen Akteure im Sommer auf die Implementation (vermeintlich) neuer Instrumente der Pandemiekontrolle, die zu dieser Zeit verfügbar werden – darunter die digitale Warnapp, Lüftvorgaben an Schulen, der Aufbau der Testinfrastruktur und die Versorgung der Republik mit ausreichend Masken. Auch der
problem stream reagiert darauf und erarbeitet Empfehlungen, welche die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den neuen Instrumenten zusammenfassen (Leopoldina
2020a).
Indessen kommt es auch zu personellen Rotationen in der epistemic community, sowohl in der Exekutive als auch in den Fachministerien. An einer der ersten Pressekonferenzen der epistemic community nach dem Sommer nehmen neben dem Gesundheitsminister Spahn und Wieler vom RKI jetzt auch die Infektiologin Susanne Herold von der Universität Gießen, der Vorstandsvorsitzende Andreas Gassen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Aerosolforscher Martin Kriegel von der TU Berlin teil. Die zwischenzeitliche Abwesenheit der Virologie in der Beratung könnte ein Hinweis für eine stärker praktisch orientierte Problembearbeitung aus der Perspektive des Fachministeriums sein, die Themen der Implementationen technischer Maßnahmen und die effizientere Organisation der medizinischen Infrastruktur als wesentliche Elemente der Prävention versteht.
Mit Blick auf die Bearbeitung des Nichtwissens in dieser Phase der Pandemie fällt auf, dass keine neuen Ansätze im
problem stream relevant werden, und zwar obwohl Vorschläge wissenschaftlicher Experten vorliegen, die Nichtwissenskontrolle auf der Grundlage formaler Leitlinien und Empfehlungen anstreben (siehe etwa Leopoldina
2020a; Expertenrat Corona der Landesregierung Nordrhein-Westfalen
2020; Schrappe et al.
2020b). Diese Vorschläge zielen darauf ab, lokalen Infektionsdynamiken mit spezifischen und flexibel anwendbaren Einzelmaßnahmen statt mit allgemeinen Lockdowns zu begegnen. Verschiedene Maßnahmen, so der Tenor, sollen mithin in stärker formalisierter Weise implementiert werden, um damit Nichtwissen einzugrenzen und Erwartungssicherheit aufzubauen. Hierin lässt sich die Absicht erkennen, zu einem pragmatischen Ansatz des Pandemiemanagements zurückzukehren, der auf lokal begrenzten Risikobewertungen basiert. Die damit verknüpfte Proklamation partieller Wissensansprüche in der Pandemie, wie zum Beispiel die Einschätzung der Gefährdung von Kindern, woraus sich die Öffnung von Schulen begründen lässt, geht nicht zuletzt auf den Einfluss sozialwissenschaftlicher Nichtwissensexpertise in den genannten Stellungnahmen zurück (ebd., S. 62). Diese beharrt sowohl auf den Unsicherheiten und Kontingenzen der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung als auch, daran anschließend, auf der Offenheit und Flexibilität politischer Entscheidungsfindung. Und sie mahnt daher zur Transparenz, wenn Wissenschaft und Politik mit spezifischen Nichtwissensansätzen im hochvolatilen pandemischen Geschehen aktiv werden (ebd., S. 63).
Eine weitere Idee für den Umgang mit Nichtwissen, die sich in diesen Stellungnahmen findet, betrifft den Versuch, die epistemic community und ihre Nichtwissensansätze deutlich zu pluralisieren. Daran anschließend wird in einer Anhörung des Ausschusses für Gesundheit im Bundestag am 9. September ein Antrag der Grünen diskutiert, der die Einsetzung eines plural besetzten nationalen Pandemierates fordert (Deutscher Bundestag
2020b). „Interdisziplinär“ und „wissenschaftlich unabhängig“ zusammengesetzt, soll dieser Rat ein vergleichendes Monitoring der Analysen aus den einzelnen Wissenschaften übernehmen, Empfehlungen formulieren, getroffene Maßnahmen evaluieren sowie Vernetzung ermöglichen. Das Gremium soll Wissenschaftler verschiedener Disziplinen wie Virologie, Epidemiologie und Gesundheitswissenschaften sowie „insbesondere auch weitere Sozialwissenschaften, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaften, Bildungswissenschaften, Sicherheitsforschung sowie Klima- und Nachhaltigkeitsforschung“ vereinen, wodurch „eine möglichst ganzheitliche Perspektive auf die Pandemieentwicklung sowie die Corona-Maßnahmen“ (ebd., S. 3) sichergestellt werden soll. Im ganzen ersten Pandemiejahr bleibt dies der einzige politische Versuch, eine zentrale Instanz der interdisziplinär informierten Problembearbeitung zu kreieren. Die Große Koalition lehnt den Antrag nicht nur ab, sondern lässt auch die Idee vollständig versanden, indem sie keine vergleichbaren Anträge stellt. So bleibt es beim informellen Modus der Problembearbeitung, dessen Intransparenz eine weitergehende Diskussion über den gewählten Weg der Nichtwissensverarbeitung unmöglich macht.
Mit dem erneuten Anstieg der Infektionen ändert sich die Prozessdynamik im Herbst dann wieder erheblich, wodurch sich im
policy stream der Handlungsdruck auf die politischen Akteure erneut erhöht. Da das Pandemiemanagement in Deutschland formal durch das Infektionsschutzgesetz geregelt ist, dessen Vollzug den Bundesländern obliegt, agieren die Exekutiven der Länder immer noch als Vetoakteure. Dementsprechend verlangt eine einheitliche politische Strategie in der Pandemie ein hohes Maß an Koordinations- und Kooperationsanstrengungen. Zusätzlich erschwert wird koordiniertes Handeln durch wachsende politische Konkurrenz und Profilierungsversuche der beteiligten Akteure angesichts des bevorstehenden Bundestagswahlkampfes, wie auch durch die zu diesem Zeitpunkt regional stark differenzierten Infektionsdynamiken. Vor diesem Hintergrund versucht die Bundesregierung, alle relevanten Akteure zur Rückkehr zum vermeintlich bewährten Ansatz zu bewegen, soziale Kontakte strikt zu regulieren, und bestimmt damit die politische Dynamik in der Folge. Hierfür rekrutiert sie nun auch neue Experten und bindet sie in die epistemic community ein – wobei es sich aber vor allem um gut vernetzte Wissenschaftler handelt, die modellbasiert arbeiten und teilweise schon in die Produktion von Beratungswissen involviert sind.
18 Sie werden nun zum Teil direkt an den Gesprächen zwischen den Exekutiven des Bundes und jenen der Länder beteiligt. Zugleich wird die fortgesetzte einseitige Berücksichtigung wissenschaftlicher Expertise durch die Bundesregierung nun auch von einigen Landesregierungen kritisiert. Im Grunde dominiert bei der Auswahl der wissenschaftlichen Berater, so zeigt sich im Rückblick, erneut die Suche nach Unterstützung für strikte Kontakteinschränkungen. Der Lockdown muss gerechtfertigt werden – ohne Irritation etwa durch die Sozialwissenschaften mit ihrem Fokus auf seine ungleich verteilten sozialen Folgen und mittel- wie langfristigen Sekundärfolgen.
Die neuen Experten der Bundesregierung arbeiten dagegen mit einem komplexitätsorientierten Ansatz, der Nichtwissen in kalkulatorisches Wissen transformiert. Damit machen sie es zwar für die Genese der möglichen Szenarien operabel, aber es wird eben nur aufgrund bestimmter Vorannahmen in Wissen übersetzbar, was die Unsicherheiten der Modellierung steigert. Diese Unsicherheiten betreffen
Parameter wie die Reproduktionszahlen, Populationsstruktur und Effekte der sozialen Distanzierung,
Szenarien wie Effekte der NPIs und ihre Kombination, die
Modellstruktur selber sowie den
Output der Modellierung, darunter die Zahl der Fälle, Hospitalisierungen und deren Reduktion durch NPIs (Leung und Wu
2021, S. 98). Hieraus folgt die notwendige Einordnung der Modellszenarien, die zwar hilfreiche Werkzeuge zur Ausmessung möglicher Entwicklungen bilden, aber aufgrund ihres Hangs zur Überschätzung von Daten bzw. einfachen Kausalität nur bedingt die Wirklichkeit abbilden (Mansnerus
2013, S. 285).
Modelle sind aber auch Grenzobjekte, die sowohl politisch relevant als auch wissenschaftlich objektiv zu sein beanspruchen (Korinek und Veit
2013, S. 271). Sie reduzieren Komplexität und machen Nichtwissen kalkulatorisch verfügbar, z. B. indem sie das Unwissen über die Immunität durch die Annahme einer nicht existenten natürlichen Immunität ersetzen (Adam
2020, S. 317). Durch die Manipulation einzelner Parameter erzeugt das Modell intern kausale Vorhersagen (Fuller
2021, S. 3), was bedingte oder abhänge Prognosen künftiger Szenarien erlaubt (Schroeder
2021, S. 3). Indem diese von den Akteuren als wirklichkeitskonstituierend anerkannt werden, beeinflussen sie bereits die Wirklichkeit und tragen damit zur Verhaltensänderung bei, wodurch die Modelle ihre Szenarien selber verhindern können (van Basshuysen et al.
2021). In der Interaktion mit der Politik müssen die mit Modellen argumentierenden Wissenschaftler auf eben diese Aspekte im Prinzip nachdrücklich hinweisen und die durch das Nichtwissen verursachte hohe Unsicherheit der Modelle transparent kommunizieren. Wenn bereits kleine Schwankungen in den Parametern der Modelle große Effekte auf die errechneten Szenarien haben (Edeling et al.
2021, S. 132), können politische Maßnahmen auf dieser Basis nicht ausreichend legitimiert werden. Zugleich erwartet die Politik von den in ihre epistemic community berufenen Experten ja aber gerade keine Kommunikation von Unsicherheiten, sondern „ergebnisorientierte Deutungen“ (Gärditz
2021, S. 459). Wollen Wissenschaftler diese Erwartungen der Politik erfüllen, müssen sie die Unsicherheit ihrer Modellierungen eher ausblenden und zum Beispiel nicht mehr von Szenarien, sondern von Prognosen sprechen.
19 Damit verkehrt sich der Charakter von Modellierungen, und sie werden zu Instrumenten einer technischen Rationalität, die zur Konstitution von Autorität in der politischen Steuerung der Krise eingesetzt werden (Mansnerus
2013, S. 288).
Diese Modelle bilden die Grundlage von Worst-Case-Szenarien, die seit Ende September 2020 vermehrt diskutiert werden, auf die aber die meisten politischen Akteure verhalten reagieren. Erst mit der Herbstwelle wird die Gefahr des Kontrollverlustes wieder akuter und drängt sich die Rückkehr zu sozialen Kontaktbeschränkungen auf. Die dazu im
policy stream verhandelte Re-Regulierung sozialer Kontakte erfolgt in mehreren Schritten, von Kontaktbeschränkungen, Heimarbeit, Schließung der Freizeiteinrichtungen bis zur erneuten Schulschließung. Die Problemverarbeitung interagiert dabei erneut eng mit dem
policy stream. In ihrer 6. Ad-hoc-Stellungnahme vom 23. September plädiert die Leopoldina (
2020b) für einen nachhaltigen Ansatz der Pandemiemaßnahmen im Herbst, die verstärkt die Interessen der Kinder und Jugendlichen beachten und soziale wie auch psychische Folgen berücksichtigen. Auf dieser Basis kritisiert die Hallenser Akademie die jüngsten politischen Maßnahmen, fordert ein konsequenteres Handeln und die Implementation verpflichtender Schutzmaßnahmen. Mit ihrer 7. Stellungnahme vom 8. Dezember spricht sie sich dann für einen harten Lockdown zum Jahresende aus (Leopoldina
2020c), wobei Timing und Argumentation aus der Wissenschaft selber kritisiert werden (Beck und Nardmann
2021, S. 203; Wiesing et al.
2021; Hirschi
2021, S. 176 f.). In der dafür verantwortlichen Arbeitsgruppe sind alle bisher in Verbindung mit der epistemic community stehenden Wissenschaftler aus Medizin, Virologie, Epidemiologie sowie die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, einer ebenfalls institutionalisierten Politikberatung, und der Präsident des RKI vertreten. Dieser „Appell“ wird in der politischen Debatte zur Legitimation strenger Maßnahmen und zur Begründung ihrer Alternativlosigkeit instrumentalisiert (ebd.). Das ist nur möglich, weil sie für „kategorische Handlungsvorschriften“ deskriptive und normative Aussagen miteinander vermischt (Wiesing et al.
2021, S. 17). Ohne eine wissenschaftlich begründete Wenn-dann-Argumentation argumentiert sie für die politische Notwendigkeit eines Lockdowns (ebd., S. 12).
In dieser Phase werden die Sozialwissenschaften auch weiterhin nicht in die Beratung des
problem streams einbezogen. Dies betrifft auch die Wirtschaftswissenschaften, deren Fokus auf den wirtschaftlichen Folgen des Pandemiemanagements liegt, wobei viele ihrer Experten die Maßnahmen legitimieren (Handelsblatt
2020). Gleichzeitig bemängeln einige Ökonomen die angewandte Nichtwissensstrategie. So macht der oben bereits erwähnte Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung Gabriel Felbermayer im Dezember 2020 erneut öffentlich auf das ungelöste Nichtwissensproblem aufmerksam und kritisiert die schlechte Datenlage als gesellschaftliches Versäumnis (RND
2020). Auch sein Kollege und Präsident des Münchner Ifo-Instituts Clemens Fuest fordert im Oktober 2020 dazu auf, das Wissen um die Infektionslage mit viel mehr Testungen zu verfeinern (Der Spiegel
2020). In der Forderung steckt eine dedizierte Kritik am Nichtwissensansatz: Denn statt es weiter nur modellhaft zu kalkulieren, erlauben die Corona-Tests, es technisch als Noch-Nicht-Wissen zu behandeln. Damit könnte ein pragmatischeres Vorgehen gerechtfertigt werden, denn insbesondere repräsentative Testungen grenzen das Nichtwissen derart ein, dass dem Hang politischer Akteure zu „risikoaversen Entscheidungen“ wirksam begegnet werden könnte (Presseportal
2020). Die Problematik der Kausalität von Nichtwissen und Pandemiemanagement wird von den Ökonomen Reiner Eichenberger und David Stadelmann (
2020) Ende September öffentlich noch einmal zugespitzt. So lange die öffentliche Wahrnehmung der Pandemie durch die unterkomplexe Kommunikation von Infektionszahlen dominiert werde, entstehe ein „Teufelskreis“ von steigenden Fallzahlen und stärkeren Einschränkungen, die von immer weniger befolgt werden, demnach nicht wirken und immense Kosten verursachen. Erst die Kontextualisierung des Risikos ohne Überschätzung durch die gemeldeten Infektionszahlen machen den beiden zufolge ein personenbezogenes und lokal differenziertes Pandemiemanagement möglich.
Auch die im
problem stream nicht beachtete Soziologie diskutiert nun über ihren Beitrag zur grundsätzlichen Bearbeitung der Pandemie.
20 So definiert Hartmut Rosa in dieser Zeitschrift die Aufgabe einer öffentlichen Soziologie damit, „jederzeit revisionsoffen alles heranzuziehen, was im Lichte des vorhandenen soziologischen Wissens […] dazu beiträgt, mit Hilfe der zur Verfügung stehenden theoretischen Konzepte die Krisenlage und die sich in ihr zeigenden Dynamiken und Entwicklungen zu verstehen“ (Rosa
2020, S. 208). Dies wären soziologische Deutungsangebote der sozialen Veränderung, die im öffentlichen Diskurs hinsichtlich ihrer Lücken und Widersprüche zu „best accounts“ modifiziert werden. Wie diese konkret in der Beratung wirken können, bleibt indes unklar. Ähnlich wie die anderen Autoren der Diskussion ordnet Rosa die Coronakrise in die Dauerkrisen moderner Gesellschaften ein und überlegt, ob sich angesichts der plötzlich überaus wirksamen Gesellschaftssteuerung der Anspruch eines weitergehenden sozialen Wandels ergibt – das Kernanliegen auch von Klaus Dörre (
2020). Dabei wird der Beitrag des kontextualisierenden Nichtwissensansatzes zur Bewertung des soziologischen Beitrags gut dargestellt. Stephan Lessenich (
2020) geht noch weiter und diskutiert im Hinblick auf die Position der Virologie in der epistemic community die Funktion sozialwissenschaftlicher Deutungsangebote. Das Beispiel der Beratungsleistung der Virologie und deren kritische Aufklärung bietet ihm zufolge eine hilfreiche Referenz für die Soziologie um das von ihr konstruierte (von Lessenich aber nicht so betitelte) Nichtwissen der eigenen Politisierung verfügbar zu machen. Genau damit zeigen die Beiträge, dass die Sozialwissenschaften den wissenschaftlichen Diskurs erheblich bereichern, insofern sie die Polarisierungstendenzen, die sich im Winter 2020/21 in Wissenschaft wie Politik angesichts des Pandemiemanagements entwickeln, durch eine breite Kontextualisierung produktiv konterkarieren.
Im Herbst und Winter kommt es bei der Bewertung von politischen Maßnahmen auch innerhalb der Wissenschaft zur Polarisierung im Zusammenhang mit zwei Initiativen: die pragmatische „Great Barrington Declaration“ und das „John Snow Memorandum“, welches schärfere Reglementierungen befürwortet.
21 Am 19. Oktober veröffentlicht die Gesellschaft für Virologie (
2020a) eine Stellungnahme, in der sie sich für das John Snow Memorandum stark macht und die Strategie der Herdenimmunität ablehnt. Im Anschluss daran erarbeitet die Kassenärztliche Bundesvereinigung gemeinsam mit den Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit einen pragmatischen, lokal differenzierten und gruppenspezifischen Ansatz der Pandemiebekämpfung, der als Alternative zum bisherigen Pandemiemanagement kommuniziert und von medizinischen und Public Health-Organisationen unterstützt wird (KBV
2020). Auch von diesem Vorschlag grenzt sich die Gesellschaft für Virologie (
2020b) scharf ab und vermerkt, dass „die Mehrzahl der Virologen/Innen sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus ärztlicher Sicht“ diese Positionen nicht teilen. Dies ist oberflächlich ein wissenschaftlicher Dissens, der jedoch durch die Einbindung der Öffentlichkeit als auch die ungleiche Involvierung der Wissenschaftler und ihrer Positionen in die politische Beratung normativ aufgeladen wird. Die damit einhergehende Polarisierung erfolgt nicht über bestimmte Theorien oder Methoden, sondern über die
politische Behandlung einer Krankheit. Daran knüpfen auch weitere Ansätze wie z. B. die NoCovid-Initiative an, in der wissenschaftliche und politische Rationalitäten miteinander verbunden werden.
22 Letztlich folgt die Polarisierung der Politisierung der Wissenschaft, die dadurch noch stärker an die politische Dynamik gebunden ist. Das stabilisiert die Nichtwissensverarbeitung und damit die Kooperation von Wissenschaft und Politik. Deren Struktur verändert sich bis zur Bundestagswahl 2021 nicht weiter, weshalb hier die bis zu diesem Zeitpunkt gewonnenen Erkenntnisse abschließend systematisiert werden können.