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01.07.2021 | Emissionen | Essay | Online-Artikel

Wissenschaftler auf den Barrikaden

verfasst von: Marc Ziegler

6 Min. Lesedauer

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In offenen Briefen an die EU-Kommission fordern Hunderte Wissenschaftler mit Nachdruck einen Kurswechsel bei der Umsetzung der Verkehrswende. Der Tenor: Nur ein freier, technologieoffener Wettbewerb kann schnelle und reale Reduktionen der Treibhausgasemissionen bewirken. 

Deutschland wird klimaneutral. Nicht bis 2050 – wie die gesamte EU es als Ziel verfolgt –, sondern schon bis 2045. Soweit zumindest der politische Plan. Für die einen scheinen diese Pläne naiv, weil sie das Ziel für nicht erreichbar halten, anderen hingegen gehen sie nicht weit genug, weil es 2045 deutlich zu spät ist, um die Ziele des Weltklimarats von einer maximalen Erderwärmung von 1,5°C noch erreichen zu können. Machen wir weiter wie bisher, ist das weltweite Restbudget an zusätzlich freigesetzten, fossilen Treibhausgasen nämlich innerhalb der kommenden sieben Jahre aufgebraucht. Eine Emissionsreduktion kann dieses Budget entlasten, so viel ist klar, aber geschieht das tatsächlich? 

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Ökobilanzen - Strittig, aber alternativlos

Die Abkehr von fossilen Energieträgern in der Mobilität ist beschlossene Sache. Die meiste Aufmerksamkeit erfahren derzeit batterieelektrische Fahrzeuge, doch auch synthetische Kraftstoffe und Brennstoffzellen sind noch nicht aus dem Rennen.

Genau damit befasst sich ein offener Brief, den Prof. Dr.-Ing. Thomas Willner von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und Dr. Armin Günther von der Air Liquide Deutschland GmbH initiiert und den im Nachgang 168 Wissenschaftler aus aller Welt gegengezeichnet haben. 

Und sie sind nicht die einzigen, die auf die Barrikaden gehen: Ein zweiter, vor allem in den Massenmedien zuletzt aufgegriffener offener Brief an die EU-Kommission behandelt dasselbe Thema. Er basiert auf einem Positionspapier, das ebenfalls 170 Wissenschaftler unterschrieben haben, die in der International Association of Sustainable Drivetrain and Vehicle Technology Research (Iastec) vereinigt sind.

Berechnung entgegen physikalischer Tatsachen

Anlass für dieses geballte Aufgebot sind die neuen europäischen Flottengrenzwertanrechnungen, bei denen zum Beispiel BEVs (Battery Electric Vehicles) entgegen den physikalischen Tatsachen weiterhin ohne CO2-Ausstoß gerechnet werden sollen, alternative Kraftstoffe aber vollkommen ohne Berücksichtigung bleiben. Außerdem sind alternative Kraftstoffe nach wie vor in der Regel nicht steuerbegünstigt. Und durch die Erneuerbare Energien Richtlinie (RED) in ihrer Version von 2021 werden sich nach Meinung von HAW-Forscher Thomas Willner, Armin Günther und der Mitzeichner keine ausreichenden Verbesserungen einstellen.

Willner stellt drei grundlegende Forderungen heraus:

  • No delay: Emissionsreduktionen müssen augenblicklich und real erfolgen und Maßnahmen auch daran gemessen werden, ob sie eine unverzügliche Emissionsreduktion erreichen.
  • No Greenhouse Gas export: Es darf kein Emissionsexport stattfinden, da in einem weltweiten Kontext völlig egal ist, wo Treibhausgase emittiert werden.
  • Fast rollout: Maßnahmen müssen schnell und weltweit ausgerollt werden können, da Klimaschutz eine globale Aufgabe ist und nur in der internationalen Zusammenarbeit gelingen kann.

Im Gespräch mit MTZ und springerprofessional.de konkretisiert der Verfahrenstechniker: "Man muss Dinge bis zum Ende durchrechnen. Ein BEV erhöht erst einmal den CO2-Ausstoß bei der Produktion und erreicht erst nach etwa fünf bis fünfzehn Jahren eine erste Emissionsreduktion, die Batterien werden in Fernost hergestellt, und der notwendige Aufbau von Infrastruktur wird noch Jahre dauern." Damit widerspreche die einseitige Förderung allen drei Forderungen. "Allein ein freier, technologieoffener Wettbewerb kann zu sofortigen, realen und globalen Reduktionen führen", sagt Willner. 

Energiegewinnung in Sweet Spots

Dabei ist für die Wissenschaftler der Export und Aufbau von Windkraft- und Solaranlagen an Sweet Spots wie Afrika unabdingbar, da dort – nach der Eigenversorgung der Region mit Strom – die anfallenden Überkapazitäten genutzt werden können, um CO2-neutrale Energieträger zu generieren, etwa Wasserstoff oder synthetische Kohlenwasserstoffe. Diese können als grüne Moleküle in der vorhandenen Infrastruktur distribuiert und in der bestehenden Flotte eingesetzt werden. Ziel ist letzten Endes eine saubere Kreislaufwirtschaft. Einen Überblick über die tatsächlichen Potenziale der Produktion von grünen Molekülen hat auch das Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE mit einem Power-to-X-(PtX)-Atlas zusammengestellt. Das Institut weist darin aus, dass langfristig bis zu 109.000 TWh flüssiger grüner Wasserstoff oder 87.000 TWh synthetische Kraftstoffe außerhalb Europas produzierbar wären.

International sollten einerseits strukturschwache Regionen, aber auch Staaten, die derzeit über große Vorkommen von fossilen Energieträgern verfügen, gefördert werden. So ließen sich Anreize schaffen, eben nicht auf die billige fossile Energie zurückzugreifen. So würde kein, oder zumindest weniger weiteres, fossiles CO2 ausgestoßen, indem Öl, Gas und Kohle in der Erde verblieben. 

Mehr CO2-Außstoß durch mögliches deutsches Verbrenner-Verbot

Einem Verbot von Verbrennungskraftmaschinen steht der Wissenschaftler ebenfalls kritisch gegenüber. "Wenn wir in Deutschland Motoren verbieten, führt es eigentlich nur dazu, dass fossiler Kraftstoff weltweit etwas billiger wird. Das hat am Ende eher einen gegenteiligen Effekt, es wird nämlich an anderer Stelle mehr CO2 ausgestoßen." In einem technologieoffenen Ansatz wäre hingegen die Nutzung von Abfallströmen sinnvoll. Plastik oder Altfette können mit geringem Energieaufwand gecrackt werden und so als Kohlenstoffquelle dienen, um dann sehr preisgünstig mit wenig Wasserstoff zu Diesel oder anderen Kraftstoffen synthetisiert zu werden. Eine Versuchsanlage befindet sich an der HAW Hamburg im Bau, noch 2021 soll sie ihren Betrieb aufnehmen und dann aus Abfall Kraftstoff herstellen.

Auch in dem Iastec-Brief an die EU-Kommission fordern die sechs Wissenschaftler aus Italien, Spanien, Griechenland, Schweden, Polen und Deutschland im Namen der 170 Positionspapier-Unterzeichner, die geplante Gesetzgebung "im Namen aller EU-Bürger, die eine effektive CO2-Reduktion erwarten, neu zu kalibrieren". Zwar sei die durchschnittliche Reichweite der insgesamt aufgewandten Energie in einem direkt geladenen BEV im Vergleich zu einem Hybridfahrzeug mit synthetischen Kraftstoffen zwei bis drei Mal höher, aber auf der anderen Seite sei die Leistung von Photovoltaik und Windkraft in vielen Regionen der Welt zwei bis drei Mal höher als in Europa. Und: "Fragen der Energiespeicherung werden parallel dazu auf dem Weg der reFuels gelöst." Die Iastec-Wissenschaftler um Prof. Dr. Thomas Koch vom Karlsruhe Insitut für Technologie (KIT) schreiben weiter: "Wir möchten daher anmerken, dass der CO2-ärmste Antriebsstrang eines Kleinwagens, insbesondere ein Diesel-Hybrid, politisch und ökonomisch komplett verboten zu sein scheint, obwohl das CO2-Reduktionspotential eines kombinierten Diesel-Hybrids mit R33-Kraftstoff im Jahr 2030 circa 50 % beträgt, was für viele Länder mit einer BEV-Strategie völlig unmöglich ist." Koch und seine Mitzeichner fordern: "Wir brauchen alle technischen Lösungen einschließlich einer verbesserten BEV-Strategie. Aber die einzige Chance, automobilbasierte Mobilität für alle Regionen in Europa in Kombination mit intensiver CO2-Reduktion zu ermöglichen, ist die intensive Steigerung der reFuels-Produktion." Auch andere Regionen der Erde wie China, Korea, Japan und USA würden eine intensive reFuels-Strategie empfehlen.

Fazit

Wie man es auch dreht und wendet, man kann den Wissenschaftlern eigentlich nur recht geben. Emissionsreduktionen müssen sofort, überall und nachhaltig erfolgen, um zu einem Erfolg zu führen. Die aktuell gängige Anrechnung mit Emissionsfaktoren erfüllt diese Kriterien nicht. Langfristig kann sich sicherlich ein weiterer Wandel vollziehen, Lösungen müssen sich aber in jedem Fall in allen Gesichtspunkten bewähren, um nachhaltig sein zu können. Ein Aufbau von internationaler umweltfreundlicher Infrastruktur ist dabei nicht nur umweltfreundlich, sondern auch sozial, ist er doch Wirtschafts- und Entwicklungshilfe in einem. Auch wird man wohl kaum Argumente gegen Kraftstoffe aus biologischen Abfällen oder aus Plastikmüll finden, lösen auch diese doch mehrere Probleme auf einmal. Moderne Verbrennungskraftmaschinen und synthetische Kraftstoffe aus Förderungen auszunehmen, ist in jedem Fall der falsche Weg. Denn zum einen können und werden sie klimaneutral darstellbar sein, zum anderen sind sie in vielen Einsatzszenarien schlicht alternativlos, nicht nur im Verkehr, sondern in allen Sektoren.

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