Skip to main content
Erschienen in:
Buchtitelbild

Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

10. Fazit: Die Hürden auf dem Weg zur gesamtgesellschaftlichen Sichtbarkeit der Tailings

verfasst von : Anna Landherr

Erschienen in: Die unsichtbaren Folgen des Extraktivismus

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
loading …

Zusammenfassung

Das zentrale Ergebnis dieser Forschung ist, dass die gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Tailings in Chile Resultat eines multidimensionalen multiskalaren Prozesses ist, durch den die Unsichtbarkeit der Tailings nicht nur in ihrer derzeitigen Ausprägung besteht, sondern auch immer wieder durch verschiedene Gegebenheiten, soziale Mechanismen und (in)actions der jeweils beteiligten Akteure hergestellt oder zumindest begünstigt wird. Die Betrachtung einzelner Faktoren, Akteure oder Ebenen erklärt zwar zum Teil die Unsichtbarkeit eines bestimmten Tailings oder Untersuchungsfalls, allerdings nicht die derzeitige Ausprägung der gesamtgesellschaftlichen Unsichtbarkeit der Tailings, als zu lösendes Umweltproblem in Chile. Daraus ist die Notwendigkeit entstanden durch die Berücksichtigung der jeweils spezifischen Faktoren und Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen, ein Gesamtbild zu erstellen, das es ermöglicht, die Faktoren und Akteure einzeln zu identifizieren und darauffolgend deren Zusammenspiel, Überlappungen und Wechselwirkungen zu untersuchen.
Das zentrale Ergebnis dieser Forschung ist, dass die gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Tailings in Chile Resultat eines multidimensionalen multiskalaren Prozesses ist, durch den die Unsichtbarkeit der Tailings nicht nur in ihrer derzeitigen Ausprägung besteht, sondern auch immer wieder durch verschiedene Gegebenheiten, soziale Mechanismen und (in)actions der jeweils beteiligten Akteure hergestellt oder zumindest begünstigt wird. Die Betrachtung einzelner Faktoren, Akteure oder Ebenen erklärt zwar zum Teil die Unsichtbarkeit eines bestimmten Tailings oder Untersuchungsfalls, allerdings nicht die derzeitige Ausprägung der gesamtgesellschaftlichen Unsichtbarkeit der Tailings, als zu lösendes Umweltproblem in Chile. Daraus ist die Notwendigkeit entstanden durch die Berücksichtigung der jeweils spezifischen Faktoren und Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen, ein Gesamtbild zu erstellen, das es ermöglicht, die Faktoren und Akteure einzeln zu identifizieren und darauffolgend deren Zusammenspiel, Überlappungen und Wechselwirkungen zu untersuchen. Nur auf diese Weise könnten auch die dieser Arbeit zugrunde liegenden Forschungsfragen beantwortet werden. Der wichtigste Beitrag dieser Forschung liegt demnach in der Erstellung des Stufenmodells der (Un-)Sichtbarkeitspyramide, das es ermöglicht, auf jeder Stufe der (Un-)Sichtbarkeit die ausschlaggebenden Faktoren und Akteure zu identifizieren und unter ihnen die Ausprägungen und das Zusammenwirken des (Nicht-)Wissens und der (in)action in Bezug zur (Un-)Sichtbarkeit der Tailings zu setzen.
Anhand des in dieser Arbeit vorgeschlagenen Stufenmodells der (Un-)Sichtbarkeit (siehe Abbildung 9.​1 in Kapitel 9) konnten dann die jeweils sehr unterschiedlichen, aber größtenteils aufeinander aufbauenden und ineinander übergehenden Faktoren in Form von sozialen und materiellen Gegebenheiten, Mechanismen und Strukturen der (Un-)Sichtbarkeit sowie die beteiligten Akteure und ihre (in)actions (Handlungen und Praktiken) identifiziert werden, um auf diese Weise das Gesamtbild der (Un-)Sichtbarkeit der Tailings zu erstellen1. Das Stufenmodell zeichnet den Prozess der Sichtbarkeitswerdung der Tailings von ihrer vollständigen (sozialen) Unsichtbarkeit (Stufe I), über ihre lokale Sichtbarkeit (Stufe II) und die öffentliche Sichtbarkeit (Stufe III) bis hin zu ihrer gesellschaftlichen Anerkennung als zu lösendes Umweltproblem ab (Stufe IV).2 Dabei wurde in dieser Arbeit der Rolle des (Nicht-)Wissens und der (in)actions der jeweiligen Akteure bzw. ihrer agency und Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf den Umgang und die Lösung der von den Tailings ausgehenden slow violence, sowie der Sichtbarkeit des Phänomens eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die vorliegende Forschung wurde von folgenden Forschungsfragen geleitet: Warum bleiben Tailings trotz ihrer enormen Belastung für Mensch und Umwelt weitgehend „unsichtbar“? In welcher Beziehung stehen Wissen/Nichtwissen und action/inaction der Akteure zur Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit des Phänomens? Wie, warum und durch wen wird das slow violence-Phänomen unsichtbar gehalten oder sichtbar gemacht? Welche sozialen Mechanismen, Interessen und Strukturen stecken hinter dem Phänomen der Unsichtbarkeit und führen zu ihrer konkreten aktuellen Ausprägung? Welche Strukturen, Mechanismen und Akteure verhindern die Sichtbarkeit? Wann kommt es zu latenten und wann zu manifesten Konflikten in Bezug auf Tailings? Unter welchen Umständen wird dieses slow violence-Phänomen sichtbar? Die zentrale These dieser Arbeit besteht darin, dass alle drei Kategorien – (Un-)Sichtbarkeit, (Nicht-)Wissen und (in-)action – in ihren jeweiligen positiven oder negativen Ausprägungsformen miteinander korrelieren und sich wechselseitig verstärken, wobei die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Akteure gegenüber der Problematik direkt von den Wechselwirkungen abhängen.
Wie sich entlang der empirischen Forschung der drei Untersuchungsfälle Pabellón, Tierra Amarilla und Chañaral herausgestellt hat, ist das in Kapitel 9 ausführlich beschriebene Gesamtbild für die Beantwortung der einzelnen Forschungsfragen und der Untersuchung des Zusammenspiels der Kernkategorien der Forschungsheuristik ausschlaggebend, da auf den verschiedenen Stufen sowohl unterschiedliche Ausprägungen dieser Kategorien als auch unterschiedliche Akteurskonstellationen vorzufinden sind. Die Forschung hat gezeigt, dass die (Un-)Sichtbarkeit der Tailings durch eine ganze Reihe an Faktoren begünstigt wird, die erst in ihrem Zusammenwirken die derzeitige Ausprägung ihrer gesellschaftlichen Unsichtbarkeit in Chile erklären können. Diese lassen sich grob in drei Gruppen unterteilen: a) die nichtintendierten und größtenteils den Tailings inhärenten Faktoren, die von den materiellen und sozialen Gegebenheiten bis hin zu nichtintendierten alltäglichen, wissenschaftlichen und staatlichen Praktiken im Umgang mit ihnen reichen; b) die intendierten Faktoren, bei denen die beteiligten handelnden Akteure durch ihre (in)actions – von sozialen Praktiken bis hin zu gezielten Handlungen – direkt zur (Un-)Sichtbarkeit der Tailings beitragen. Für die daraus entstehenden sozialen Mechanismen und die agency der einzelnen Akteure sind dabei sowohl ihre Beziehungen untereinander und ihre Netzwerke als auch c) die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie die institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen auf nationaler und internationaler Ebene ausschlaggebend. Erst die Einteilung des (Un-)Sichtbarkeitsprozesses in die Stufen der (Un-)Sichtbarkeitspyramide und die Betrachtung sowohl der lokalen und regionalen als auch der nationalen Ebene sowie ihrer Einbettung in den internationalen Kontext haben es ermöglicht, die multiplen Faktoren der (Un-)Sichtbarkeit zu identifizieren und dadurch die einzelnen Forschungsfragen zu beantworten. Hierbei gestaltet sich gerade das Zusammenspiel der Kernkategorien der Forschungsheuristik auf jeder Stufe sehr unterschiedlich.

10.1 Zentrale Forschungsergebnisse entlang des Stufenmodells der (Un-) Sichtbarkeitspyramide

Die Basis der Unsichtbarkeit ergibt sich in den drei untersuchten Fällen aus den nichtintendierten, größtenteils den Tailings inhärenten Faktoren, die sowohl die lokale und öffentliche Sichtbarkeit der großen Mehrheit der Tailings als auch die Entstehungsmöglichkeit eines manifesten sozial-ökologischen Konflikts als (re)action auf ihre negativen Auswirkungen für die Betroffene verhindern. Die in der bestehenden Literatur zu slow violence (Nixon 2011) dargestellte Relevanz der materiellen und sozialen Gegebenheiten für die Unsichtbarkeit dieser Phänomene und die ausbleibende gesellschaftliche Gefahrenwahrnehmung gegenüber den daraus folgenden Umwelt- und Gesundheitsproblemen wurde auch in dieser Forschung in Bezug auf Tailings konstatiert. Besonders da sie weitgehend die Entstehung sozial-ökologischer Konflikte verhindern, tragen sie wesentlich zu ihrer gesellschaftlichen Unsichtbarkeit bei, erklären diese aber nicht gänzlich. Hinzu kommen eine Reihe von nichtintendierten alltäglichen, wissenschaftlichen und staatlichen Praktiken im Umgang mit Tailings, die die Unsichtbarkeit der Tailings begünstigen und verstärken. Diese Faktoren haben eine ausschlaggebende Wirkung auf das (Nicht-)Wissen und die (in)actions der Akteure sowie auf die (Un-)Sichtbarkeit der Tailings. Sie finden sich vor allem auf der ersten Stufe der allgemeinen (sozialen) Unsichtbarkeit der Tailings auf der (Un-)Sichtbarkeitspyramide wieder, sind allerdings auch auf den höheren Stufen teilweise ausschlaggebend für die Unsichtbarkeit der Tailings und stellen das Fundament dar, das Tailings zur Ursache von unerkannter slow violence macht.
Die zentralen Ergebnisse dieser Forschung zu den nichtintendierten Faktoren, die zur Unsichtbarkeit der Tailings beitragen, werden im Folgenden dargelegt3. Die materielle Unsichtbarkeit der Schadstoffe – bei Tailings handelt es sich vorwiegend um Schwermetalle und Chemikalien – und die allgemeine Ungewissheit bezüglich ihrer Langzeit-, Wechsel- und Auswirkungen sowie die häufig vorgefundene gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Betroffenen stellen zusammen die Grundlage der Unsichtbarkeit von Tailings dar. Diese grundlegende Unsichtbarkeit kann größtenteils nur durch das Wissen über die Tailings, ihre Bestandteile und deren Auswirkungen teilweise aufgebrochen werden und zu einer Gefahren-/Risikowahrnehmung unter den Betroffenen führen. Wissenschaftlich generiertes Wissen ist hierfür allerdings die einzig gesellschaftlich anerkannte und – aufgrund der teilweise dafür notwendigen aufwändigen wissenschaftlichen Verfahren – einzig mögliche Wissensform. Da gewusstes und ungewusstes Nichtwissen bezüglich Chemikalien und Schwermetallen ein inhärenter Teil der wissenschaftlichen Wissensproduktion, -management und -verbreitung sind, kann dieses die allgemeine Ungewissheit bezüglich ihrer möglichen Auswirkungen allerdings nie gänzlich aufheben. Dieses Nichtwissen wird durch das weit verbreitete Phänomen des kollektiven Vergessens bezüglich des Entstehungsprozesses der Tailings und somit ihrer Existenz und ihrer möglichen Zusammensetzung begünstigt und führt zu einer generell beobachteten wissenschaftlichen Produktion von Unbestimmtheit bezüglich Tailings. Unter den staatlichen Behörden führt dieses inhärente Nichtwissen auch bei bestehendem Wissen über die Anwesenheit und Zusammensetzung der Tailings wiederum zu einer Gouvernance des Nichtwissens. Die gleichzeitig beobachtete toxische Institutionalität und der lokal abwesende Staat bedingen die inaction staatlicher Behörden auf der ersten Stufe und erschweren bzw. verhindern teilweise zudem sowohl die Verbreitung des bestehenden Wissens über die Tailings als auch den Zugang zum diesem für andere Akteure, allen voran für die Betroffenen selbst. Obwohl wissenschaftliches Wissen über Tailings, wenn es sie erreicht, zwar meistens handlungsermöglichend auf die beteiligten Akteure wirkt, kann es aber auch eine handlungsbeschränkende4 Wirkung haben, wenn eine bspw. durch Nichtwissen entstandene negative Evidenz, die Abwesenheit eines Risikos nahelegt und als offizieller Nachweis dafür dient. Obwohl wissenschaftliches Wissen ein zentrales Handlungswerkzeug für alle beteiligten Akteure darstellt – besonders für die Akteursgruppen rund um die Betroffenen –, bedingt es für sich allein die actions der Akteure nicht. Die actions der Betroffenen hängen nicht allein von ihrem Wissen und ihrer Gefahrenwahrnehmung ab, sondern vielmehr von ihren Handlungsmöglichkeiten, die wiederum für die Betroffenen besonders durch ihre eigene (Un-)Sichtbarkeit und die ihres Problems, sowie ihrer gesellschaftlichen (Macht-)Position bestimmt sind. Während bei Betroffenen mit einem hohen Grad an Nichtwissen und einer ausbleibenden eindeutigen Gefahrenwahrnehmung gegenüber den Tailings eine toxische Ungewissheit (Auyero & Swinstun 2008a) beobachtet wurde, konnte bei jenen, die einen hohen Grad an (meist nicht wissenschaftlichem) Wissen und eine klare (individuelle) Risikowahrnehmung aufweisen, eine toxische Frustration (Singer 2011) festgestellt werden, die sich aus der weitgehend bestehenden und von den Betroffenen selbst wahrgenommenen Machtlosigkeit gegenüber der Kontamination durch die Tailings ergibt. Sowohl die toxische Ungewissheit als auch die toxische Frustration gehen mit einer (kollektiven) inaction der Betroffenen einher. Ein Großteil der Betroffenen befinden sich in einer Situation der environmental injustice gefangen, in der sich verschiedene soziale und ökologische Ungleichheiten überlappen und sich negativ auf ihre agency und die Möglichkeit eines aktiven Widerstands ihrerseits, sowie auf ihre eigene gesellschaftliche Sichtbarkeit und die ihrer Probleme, auswirken. Auf diese Weise kommt es häufig zu einer erzwungenen Normalisierung der Tailings im Alltag. Auf lokaler Ebene bestätigt sich auf der ersten Stufe der (Un-)Sichtbarkeitspyramide – insbesondere unter den Betroffenen des für diese Stufe repräsentativen Falls Pabellón – die Ausgangsthese dieser Arbeit, wonach das Nichtwissen und die inaction der Akteure und die Unsichtbarkeit der Tailings miteinander korrelieren, sich gegenseitig verstärken und die Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Akteure (mit-)bestimmen. Die Tailings auf der ersten Unsichtbarkeitsstufe befinden sich oftmals in einem Kreislauf der Unsichtbarkeit, der sich daraus ergibt, dass materiell unsichtbare Schadstoffe und gesellschaftlich unsichtbare marginalisierte Bevölkerungsgruppen selten Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung sind, wodurch wenig oder kaum Wissen über sie generiert wird. Dieses Wissen stellt allerdings bei slow violence-Phänomenen oftmals die einzige Möglichkeit einer – zumindest offiziellen – Risikodiagnose dar. Durch ihr Ausbleiben wird eine eindeutige Gefahrenwahrnehmung der Bevölkerung oftmals verhindert und somit auch die Entstehung eines sozial-ökologischen Konflikts, der das Problem für die Öffentlichkeit und für die Wissenschaft sichtbar machen könnte.
In den vergleichsweise seltenen Fällen,5 in denen seitens der Betroffenen dennoch eine kollektive Gefahrenwahrnehmung entsteht, wissenschaftliches Wissen über die Tailings generiert wird oder diese sich auf eine andere Form aus der vollständigen (sozialen) Unsichtbarkeit lösen, wird deutlich, dass ihre Unsichtbarkeit auch zu einem hohen Maß gesellschaftlich konstruiert und teilweise aktiv hergestellt wird. Erreichen Tailings auf diese Weise die zweite (Un-)Sichtbarkeitsstufe wird durch intendierte Faktoren der Unsichtbarkeit, hauptsächlich seitens des verursachenden Unternehmens, die intendierte Sichtbarmachung des Problems durch die Betroffenen unterbunden und der Entstehung eines manifesten Konflikts aktiv entgegengewirkt. Wenn dies nicht gelingt und Tailings durch einen manifesten Konflikt die Stufe der öffentlichen Sichtbarkeit erreichen, bilden sowohl die Betroffenen als auch das Unternehmen Allianzen zu anderen Akteuren, die sie jeweils bei der aktiven (Un-)Sichtbarmachung der Tailings unterstützen und erheblichen Einfluss auf ihre jeweilige agency haben. Die in diesen Prozessen involvierten Akteure, die sich rund um die zwei antagonistischen Hauptakteure formieren – einerseits die betroffene Bevölkerung und andererseits das verursachende Unternehmen oder in dessen Abwesenheit stellvertretend auch staatliche Behörden – sind im ersten Fall die nationale Zivilgesellschaft in Form von großen Umwelt-NGO und städtischen oder nationalen Umweltbewegungen, einige unabhängige WissenschaftlerInnen und Medien sowie vereinzelt auch die Gemeinden und lokale staatliche Behörden. Im zweiten Fall bilden die Unternehmen Allianzen zu anderen großen Bergbauunternehmen und nutzen ihre engen Kontakte zur besitzenden und herrschenden Klasse des Landes sowie zu politischen EntscheidungsträgerInnen. Sie haben dadurch u. a. einen großen direkten Einfluss auf wissenschaftliche Institutionen und die nationalen Medien. Die Beziehungen, Netzwerke und Machtpositionen der einzelnen Akteure sind für ihre Handlungsmöglichkeiten ausschlaggebender als der Zugang zu wissenschaftlichem Wissen und bestimmen im Wesentlichen auch den Prozess der Wissensgenerierung und -verbreitung selbst. In einem Kontext der allgemeinen Ungewissheit beeinflussen sie auch die Form, Art und den Inhalt des generierten Wissens, wobei die Unternehmen durch ihre Machtressourcen ihre Interessen besonders gut durchsetzen können. (Nicht-)Wissen bezüglich Tailings und den von ihnen ausgehenden gesundheitlichen und ökologischen Folgen ist damit kein neutrales Terrain, sondern Teil eines (Nicht-)Wissen-Macht-Komplexes, der durch Auseinandersetzungen um die „Wahrheit“ zwischen den (Un-)Sichtbarkeitsallianzen geprägt ist.
Entlang der Forschung konnten nur vereinzelte actions der Sichtbarmachung konstatiert werden. Auf den ersten zwei Stufen der (Un-)Sichtbarkeitspyramide waren diese ausschließlich auf die Betroffenen zurückzuführen, ab der dritten Stufe gingen sie teilweise auch von anderen Akteuren der Sichtbarkeitsallianz aus. Durch den generell fehlenden Zugang der Betroffenen zum bestehenden wissenschaftlichen Wissen waren in den untersuchten Fällen größtenteils andere, nicht anerkannte Wissensformen ausschlaggebend für die Entstehung der (kollektiven) Gefahrenwahrnehmung seitens der Betroffenen, die zur lokalen Sichtbarkeit des Problems und zu ersten actions ihrerseits führten. Wissenschaftliches Wissen ist zwar ausschlaggebend für eine gesellschaftlich anerkannte Problemdefinition, spielte aber in keinem der Fälle für die lokale Sichtbarkeit der Tailings oder die Entstehung eines sozial-ökologischen Konflikts eine ausschlaggebende Rolle. Dabei nimmt der in diesen Fällen auf eine kollektive Gefahrenwahrnehmung folgende Widerstand – in Form eines sozial-ökologischen Konflikts – die zentrale Rolle als Triebkraft zur Sichtbarkeit entlang aller folgender (Un-)Sichtbarkeitsstufen ein. Diese actions gehen zunächst meistens von Forderungen oder Protesten einzelner Akteure und AktivistInnen aus, die im Laufe der Zeit in einigen Fällen in einen (latenten oder manifesten) sozial-ökologischen Konflikt münden. Rund um diesen wurde seitens unabhängiger WissenschaftlerInnen in den untersuchten Fällen dann erst im Laufe der Zeit – spätestens ab dem Moment der öffentlichen Sichtbarkeit –Wissen über die Auswirkungen der Tailings generiert und über unabhängige und soziale Medien – oftmals mit Hilfe der nationalen Zivilgesellschaft – verbreitet. Ist ein Konflikt dabei erfolgreich, kann es bis zu einem Gerichtsstreit und einer anschließenden gesellschaftlichen Anerkennung der durch die Tailings verursachten sozialen und ökologischen Kosten in Form eines Gerichtsurteils oder einer anderen Form der politisch-juristischen Anerkennung kommen. Dass dies bei Tailings in Chile so gut wie nie der Fall ist, liegt an den zahlreichen intendierten Faktoren der Unsichtbarkeit, die entlang der Forschung identifiziert wurden.
Auf der zweiten (Un-)Sichtbarkeitsstufe, in der wie in Tierra Amarilla eine kollektive Gefahrenwahrnehmung unter den Betroffenen besteht, wendet das Unternehmen Unternehmenspraktiken „des guten Nachbarn“ und der CSR-Politik an, um der Entstehung eines möglichen Konflikts vorzubeugen und auf diese Weise die Fortführung der Bergbauaktivitäten zu gewährleisten. Kommt es doch zu Widerstand bzw. zu einem latenten Konflikt, greift das Unternehmen auch direkt ein. Diese actions reichten in den untersuchten Fällen von der Anstellung oder Entschädigung einzelner führender widerständiger Akteure, wodurch dem Konflikt die Triebkräfte entzogen werden und es nicht selten zur Spaltung der Bewegung kommt, bis hin zur Bestechung von Schlüsselakteuren, um Abkommen zur Konfliktniederlegung durchzusetzen und das Problem öffentlich als gelöst darzustellen. Durch die große territoriale Macht des Unternehmens und die lokale Abwesenheit des Staates sind diese Maßnahmen besonders effektiv. Diese Situation führt zu einer starken ökonomischen Abhängigkeit der Betroffenen gegenüber dem Unternehmen und macht dieses durch die Monopolisierung des Arbeitsmarktes, die Verdrängung lokaler Ökonomien und anderer Wirtschaftssektoren sowie die Zerstörung der Lebens-, Produktions- und Subsistenzgrundlagen der Bevölkerung zur einzigen Möglichkeit des individuellen sozialen Aufstiegs und der Teilhabe an der peripheren imperialen Lebensweise. Diese individuellen Aufstiegsmöglichkeiten durch Kollaboration mit den Bergbauunternehmen führen zu starken Interessenkonflikten innerhalb der lokalen Bevölkerung. All dies wird durch eine aktive Produktion von Ungewissheit begleitet, indem die Gefahrenwahrnehmung der Betroffenen durch kontrollierte (wissenschaftliche) Wissensproduktion widerlegt wird.
Erst sobald es ein Konflikt schafft, dennoch manifest zu werden, wissenschaftliches Wissen, das mögliche negative Auswirkungen der Tailings bestätigt, öffentlich wird oder die Tailings auf eine andere Weise – etwa durch einen Unfall – als Umweltproblem sichtbar werden, kommen die weiteren, oben dargestellten Akteure der beiden Allianzen vermehrt ins Spiel und es beginnt ein Aushandlungsprozess um die „Wahrheit“ und um die Darstellung der Tailings in der Öffentlichkeit, wobei die jeweiligen Konfliktparteien auf ihre unterschiedlichen (Macht-)Ressourcen zurückgreifen. Während es den Betroffenen der untersuchten Fälle schon schwerfällt, überhaupt Zugang zu dem bestehenden wissenschaftlichen Wissen zu erlangen und die Unterstützung nationaler Umweltorganisationen und unabhängiger WissenschaftlerInnen zu gewinnen, die meist selbst prekär aufgestellt sind, nutzen die Bergbauunternehmen ihre engen Kontakte zu anderen Großunternehmen und zur nationalen besitzenden Klasse. Auf diese Weise erhalten sie Zugriff auf deren Machtressourcen. Den Bergbauunternehmen spielen dabei die engen Verbindungen zwischen der politisch und der ökonomisch herrschenden Klasse, die starke Lobby des Sektors sowie dessen Einfluss auf die Wissenschaft und die öffentlichen Medien in die Hände. In diesem Kontext wendet das Unternehmen einerseits quiet politics (Culpepper 2011) zur Durchsetzung seiner Interessen und andererseits actions zur symbolischen Unsichtbarmachung, die dazu dienen, das Problem öffentlich als inexistent oder gelöst darzustellen, an. In der chilenischen Geschichte gab es bisher kaum Fälle, in denen sich Betroffene der Schadstoffbelastung durch Tailings gegen diese hegemoniale und informelle Macht der Bergbauunternehmen durchsetzen und die Aushandlungsprozesse um die „Wahrheit“ für sich gewinnen konnten. Einer der einzigen Fälle ist der auch in dieser Forschung beschriebene Fall von Chañaral. Dieser konnte zeigen, dass ein Konflikt, der die vierte (Un-)Sichtbarkeitsstufe der gesellschaftlichen Anerkennung erreicht, auf dieser Ebene auf eine Reihe von Strukturen und Institutionen stößt, die ebenfalls von der besitzenden Klasse dominiert werden und wiederum zur Unsichtbarkeit der Tailings als Umweltproblem beitragen. Die strukturelle und institutionalisierte Macht, auf die die Unternehmen zurückgreifen können, beinhaltet sowohl die juristische Inexistenz eines Großteils der Tailings, als auch die fehlende Regulierung bezüglich der Richtwerte, Zuständigkeiten oder Möglichkeiten, die Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen oder ihnen rechtliche Auflagen zur Sanierung oder Dekontaminierung der belasteten Gebiete zu erteilen. In der Praxis wurde die öffentliche Anerkennung des Umweltproblems nach dem Gerichtsurteil und der Erfüllung der Auflagen (die eine Dekontaminierung der Bucht nicht beinhalteten) durch das Unternehmen in einem erneuten Aushandlungsprozess über die „Wahrheit“ wieder auf die Stufe der allgemeinen Unsichtbarkeit gebracht. Diese strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen werden von den endogenen und globalen Macht- und Herrschaftsverhältnissen geformt und bedingen die actions der einzelnen Akteure entlang der vier Stufen, besonders auch diejenige der staatlichen Behörden, was sich in der Forschung häufig in einer passiven Komplizenschaft dieser mit den Unternehmen äußerte.

10.2 Die doppelte Unsichtbarkeit der Tailings, die zentrale Rolle sozial-ökologischer Konflikte und allgemeine Tendenzen der (in)action und des (Nicht-)Wissens

Entlang der (Un-)Sichtbarkeitspyramide konnte auf diese Weise eine doppelte Unsichtbarkeit der Tailings konstatiert werden. Die handelnden Akteure bewegen sich im Fall von Tailings in einem Kontext, in dem gleichzeitig materielle und soziale Gegebenheiten von unten und „innen“ sowie strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen von oben und „außen“ die Unsichtbarkeit der von ihnen ausgehenden Umweltprobleme befördern, bedingen und teilweise sogar von sich aus hervorrufen. Slow violence-Phänomenen wie Tailings unterscheiden sich von anderen Umweltproblemen, da ihre gesellschaftliche (Un-)Sichtbarkeit nicht nur ein Resultat der Aushandlungsprozesse zwischen den beteiligten Akteuren und ihren Möglichkeiten, ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen, darstellt, sondern dieser Aushandlungsprozess gleichzeitig in einem Kontext geführt wird, in dem eine Reihe von spezifischen Faktoren ihre gesellschaftliche Unsichtbarkeit begünstigen. Gleichzeitig wurde in dieser Forschung der sozial-ökologische Konflikt als zentrale Form der Sichtbarmachung der sozialen und ökologischen Kosten seitens der Betroffenen identifiziert. Dieser wird auf allen Stufen der (Un-)Sichtbarkeit durch jeweils unterschiedliche intendierte und nichtintendierte Faktoren und durch jeweils verschiedene Akteure verhindert. Da auf diese Weise nur wenige durch Tailings ausgelöste Konflikte öffentlich sichtbar werden, dient der manifeste Konflikt nicht als Indikator für das Ausmaß des Umweltproblems insgesamt. Die Präsenz dieses Themas in der Öffentlichkeit gibt keinen Anhaltspunkt dafür, welchen Umfang und welche Dramatik die slow violence-Phänomenen rund um Tailings tatsächlich darstellen oder wie viele (latente) Konflikte um diese in Chile derzeit bestehen.
Auch das bestehende wissenschaftlich generierte Wissen allein hat in keinem der Fälle zur Sichtbarkeit der Tailings oder seitens der Betroffenen bzw. anderer Akteure zu actions gegenüber den Tailings geführt. Voraussetzung war stets, dass zudem zumindest eine kollektive Problemwahrnehmung oder ein latenter Konflikt vorhanden waren. Dies gilt auch für staatliche Institutionen, die in allen drei untersuchten Fällen sowohl über das Wissen als auch – zumindest theoretisch – die Handlungsmöglichkeiten verfügten. Außer den Unternehmenspraktiken zur Vermeidung eines seitens der Betroffenen initiierten Konflikts, die vorwiegend eine (re)action auf eine kollektive Gefahrenwahrnehmung oder auf die Möglichkeit ihrer Entstehung darstellen, sowie vereinzelten Protestaktionen seitens der Betroffenen, konnten auch bei keinem der beteiligten Akteure intendierte actions gegenüber den von Tailings ausgehenden sozial-ökologischen Problemen konstatiert werden, bevor ein manifester sozial-ökologischer Konflikt entstanden war. Erst ab diesem Moment dominieren die intendierten Faktoren der (Un)Sichtbarmachung. Je sichtbarer also der Konflikt desto mehr actions und Machtressourcen wurden dabei seitens der Unternehmen und ihrer Alliierten angewendet.
Die Wissenschaft und besonders die staatlichen Behörden verfügen zwar über verschiedene Möglichkeiten der Wissensgenerierung und Sichtbarmachung, die sie in den untersuchten Fällen allerdings kaum oder nur begrenzt nutzen. Dafür waren in dieser Forschung vor allem die strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen und die Machtressourcen der besitzenden Klasse, die sie zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen, ausschlaggebend. Dennoch konnte das bestehende wissenschaftliche Wissen in höheren Stufen als zentrales Werkzeug zur Identifikation, Anerkennung und Sichtbarmachung der Tailings als Umweltproblem, sowie zur Durchsetzung der jeweiligen Interessen in den Aushandlungen um die „Wahrheit“ identifiziert werden. Dabei konnte eine Wissenshäufung bei vereinzelten öffentlich sichtbaren Fällen beobachtet werden, während zur großen Mehrheit der Tailings nur gewusstes oder nichtgewusstes Nichtwissen besteht.6 Obwohl das Wissen zwar eine zentrale Voraussetzung für die Sichtbarkeit der Tailings ist, sind vor allem die Machtposition und die daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Akteure ausschlaggebend dafür, ob die öffentliche Sichtbarkeit eintritt. Während die Unsichtbarkeit der Tailings auf der ersten Stufe ein relativ permanenter Zustand zu sein scheint, der nur schwer verlassen werden kann, war die jeweils erreichte Sichtbarkeit der Tailings auf höheren Stufen in keinem der untersuchten Fälle von langer Dauer. Es handelt sich vielmehr um einen fortlaufenden dynamischen Prozess der (Un-)Sichtbarkeit, durch den Tailings die unterschiedlichen Stufen der (Un-)Sichtbarkeitspyramide durchlaufen, wobei die Faktoren der Unsichtbarmachung dominieren und sie tendenziell immer wieder in einen Zustand der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit versetzen.
Je unsichtbarer die Tailings sind, desto zutreffender ist demnach die Ausgangsthese dieser Arbeit, dass sich Nichtwissen, Unsichtbarkeit und inaction gegenseitig verstärken. Bis zur zweiten Stufe des Stufenmodells scheint auf lokaler Ebene einerseits das Nichtwissen über die Tailings in direktem Zusammenhang mit ihrer Unsichtbarkeit und der inaction der beteiligten Akteure zu stehen und andererseits wiederum das Wissen über die Tailings zu ihrer Sichtbarkeit und zu actions beizutragen. Je sichtbarer sie werden, desto stärker wird allerdings auch die aktive Produktion von Ungewissheit und somit steigt die Anzahl der actions zur Unsichtbarmachung des Problems. Außer den actions der Betroffenen und der Wissensgenerierung und -verbreitung durch einzelne WissenschaftlerInnen, die Zivilgesellschaft und vereinzelt auch staatliche Behörden konnten entlang der gesamten Forschung keine actions mit dem Ziel einer Problemlösung und der Sichtbarkeit identifiziert werden. Statt einer generellen inaction seitens der anderen Akteure konnte allerdings ab dem Moment einer lokalen Sichtbarkeit der Tailings als Umweltproblem bzw. der Entstehung eines Konflikts eine auf höheren Sichtbarkeitsstufen immer größer werdende Bandbreite an (re)actions konstatiert werden, die die Sichtbarkeit der Tailings verhindern oder diese aktiv unsichtbar machen. Diese actions zur Unsichtbarkeit stehen dabei in direktem Zusammenhang mit der Sichtbarkeit der Tailings. Ihre Dominanz und ihr Erfolg gegenüber den actions zur Sichtbarkeit sind dabei vorwiegend auf die Beziehungen, Netzwerke und gesellschaftlichen (Macht-)Positionen der Akteure, die diese ausführen, zurückzuführen, da sie im Wesentlichen die agency und Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Akteure bestimmen.
Das Wissen spielt bei materiell unsichtbaren Schadstoffen eine zentrale Rolle in der Möglichkeit einer Gefahrenwahrnehmung, der von ihnen ausgehenden sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Risiken. Allerdings haben die Deutungshoheit des wissenschaftlichen Wissens, die allgemeine Ungewissheit und das der Wissenschaft inhärente Nichtwissen, der ungleiche Zugang zu diesem Wissen unter den verschiedenen Akteuren und die (vor allem finanzielle) Abhängigkeit der Wissenschaft einen erheblichen Einfluss auf die Wissensgenerierung und somit auch auf die Ergebnisse dieser. Die Position der Wissenschaft innerhalb der bestehenden Machtverhältnisse ermöglicht es teilweise den mächtigeren Akteuren, ihre Interessen durch Einflussnahme auf den Wissensgenerierungsprozess durchzusetzen, deren Ergebnisse durch andere Akteure und Wissensformen nicht oder nur sehr schwer widerlegt werden können. Die wissenschaftliche Wissensproduktion über Tailings spiegelt demnach nicht immer die tatsächlichen Risiken, die sie bergen wider, sondern produziert in der Praxis zum Teil selbst Ungewissheit diesen gegenüber. In Bezug auf die Forschungsfragen kann daher festgehalten werden, dass sich die drei Kernkategorien zwar tatsächlich gegenseitig bedingen und verstärken, allerdings auf eine viel komplexere Form und auf sehr unterschiedliche Art und Weise als ursprünglich gedacht. Dabei haben besonders die gegenläufigen actions bzw. die (re)actions auf die Sichtbarkeit der Tailings sowie das wissenschaftlich inhärente Nichtwissen, die daraus resultierende Produktion von Unbestimmtheit und die aktive Produktion von Ungewissheit einen deutlich stärkeren Einfluss auf die gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Tailings als ursprünglich angenommen. Die Erstellung der oben dargestellten (Un-)Sichtbarkeitspyramide hat es ermöglicht, das Kategorienpaar der Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit auf den jeweiligen Stufen mit den anderen beiden Kategorienpaaren action/inaction und Wissen/Nichtwissen in Bezug zu setzen, zu analysieren und zu den oben dargelegten Ergebnissen zu kommen.

10.3 Beiträge und Grenzen dieser Forschung

Diese Forschung beschäftigt sich in mehrerlei Hinsicht mit Gegenständen, die in den westlich dominierten Sozialwissenschaften und einer Soziologie, die von Boaventura de Sousa Santos (2010: 22 ff) als eine Soziologie der Abwesenheit bezeichnet wird, bisher kaum berücksichtigt und nur wenig untersucht wurden: Tailings und slow violence-Phänomene im Allgemeinen, sozial-ökologische Ungleichheiten aus denen keine oder nur latente Konflikte entstehen, marginalisierte und gesellschaftlich unsichtbare Betroffene sowie Nichtwissen, inaction oder die gesellschaftliche Unsichtbarkeit von bestehenden ökologischen Problemen. Diese konnten nur durch das Heranziehen von Ansätzen aus unterschiedlichen Forschungsbereichen operationalisiert, erforscht und analysiert werden, die erste Bausteine dessen darstellen, was de Sousa Santos eine Soziologie der Emergenzen (ebd.: 24 ff) nennt (siehe Abschnitt 2.​4 in Kapitel 2). Ein wesentlicher Beitrag der vorliegenden Forschung besteht darin, durch die Erstellung des Gesamtbildes der Pyramide der (Un-)Sichtbarkeit die Anknüpfungspunkte bisher größtenteils voneinander getrennt betrachteter Theorien und Erklärungsansätze aufzuzeigen und sie für die Untersuchung von slow violence-Phänomenen fruchtbar zu machen. Die Science and Technology Studies, die Umweltgeschichte und teilweise die Wissenssoziologie (siehe hierfür Abschnitte 2.​4.​2 und 2.​4.​3 in Kapitel 2 sowie Kapitel 3) beschäftigen sich etwa mit einzelnen Aspekten der nichtintendierten Faktoren. Ihre Erkenntnisse können einen großen Beitrag zur Untersuchung von slow violence-Phänomenen darstellen und insbesondere Erklärungsansätze für die durch ihre Materialität bedingten Problemen bei der Wissensgenerierung sowie dem politischen Umgang mit ihnen liefern. Einige dieser Erkenntnisse wurden auch in den Ergebnissen dieser Forschung bestätigt (siehe hierfür das Auswertungskapitel 9). Dabei liegt der Fokus ihrer Arbeiten allerdings größtenteils nur auf jeweils einzelnen Aspekten, der in dieser Forschung identifizierten nichtintendierten Faktoren, die zum Verständnis der Unsichtbarkeit des Umweltproblems sowie dem Nichtwissen oder der inaction der beteiligten Akteure beitragen. Diese Faktoren werden in den aufgeführten Theorien außerdem nur in vereinzelten Fällen als Teil der Ursachen sozial-ökologischer Ungleichheiten berücksichtigt, wobei ihr Zusammenhang mit den intendierten Faktoren und der agency der einzelnen Akteure sowie den Machtverhältnissen unter ihnen kaum in Bezug zur Unsichtbarkeit der Umweltprobleme gesetzt wird.
Auf der anderen Seite untersuchen die Politische Ökologie, die Ungleichheits- und Konfliktforschung und AutorInnen der Extraktivismusdebatte7 eben diese Machtverhältnisse und die aus ihnen resultierenden sozial-ökologischen Ungleichheiten nicht nur in Bezug auf die Verteilung der Ressourcen, sondern auch mit Blick auf die durch den Bergbau produzierten Kosten. Allerdings werden in diesen Ansätzen größtenteils weder die nichtintendierten Faktoren der slow violence-Phänomene noch sozial-ökologische Ungleichheiten, die sich nicht in Form eines manifesten sozial-ökologischen Konflikts äußern, berücksichtigt. Es wird von für die Betroffenen sicht- und spürbaren, klar definier- und artikulierbaren Ungleichheiten ausgegangen sowie von Akteuren, die in der Lage sind, aktiv gegen die Umweltprobleme, die sie betreffen, vorzugehen oder zumindest auf diese aufmerksam zu machen. Wie in der vorliegenden Forschung aufgezeigt wurde, wird auf diese Weise allerdings nur die Spitze des Eisbergs der Tailings als Ursache von slow violence und sozial-ökologischer Ungleichheit berücksichtigt. Nicht vorhandene oder latente Konflikte finden in der Literatur generell keinen Platz. Außer in einzelnen Ausnahmen (siehe etwa Ureta, Mondaca & Landherr 2019 zu Tailings und Auyero und Swinstun 2008b oder Singer 2011 zu ähnlichen slow violence-Phänomenen) werden auf diese Weise die Ursachen der Nicht-Entstehung oder der Latenz der Konflikte nicht berücksichtigt, die wiederum im Wesentlichen zu ihrer gesellschaftlichen Unsichtbarkeit beitragen. Dennoch leisten Ansätze der Politischen Ökologie und der Politischen Ökonomie sowie dekoloniale und ökofeministische Ansätze, die Stoffströmeanalyse und Begriffe wie die des ökologisch ungleichen Tauschs einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der nationalen und internationalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, der institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen und deren Einfluss auf die Unsichtbarkeit der Tailings (siehe hierfür die Abschnitte 2.​2 und 2.​3 in Kapitel 2 dieser Arbeit). In allen genannten Ansätzen spielen allerdings weder Tailings und gesellschaftlich unsichtbare ökologische Probleme noch die slow violence, die von ihnen ausgeht, eine wichtige Rolle. Auf diese Weise bleiben slow violence-Phänomene, wie sie durch Tailings hervorgerufen werden und verstanden als Ursache von einer Großzahl sozial-ökologischer Ungleichheiten und Probleme, die gleichzeitig einen wesentlichen Bestandteil der ökologischen Krise darstellen, aus den sozialwissenschaftlichen Analysen ausgespart oder werden in diesen höchstens als Randthema erwähnt, wobei sowohl ihr Ausmaß als auch ihre Auswirkungen in den bestehenden Erklärungsansätzen dadurch unterrepräsentiert sind.
Ein zentraler Beitrag der vorliegenden Forschung liegt darin – im Sinne einer Soziologie der Emergenzen (de Sousa Santos 2010: 24 ff) – Tailings als slow violence-Phänomene bzw. als Ursache gesellschaftlich und (sozial)wissenschaftlich unsichtbarer sozial-ökologischer Ungleichheiten auch dann als Forschungsgegenstand sichtbar zu machen, wenn (noch) kein manifester Konflikt durch sie entstanden ist. Dies ist besonders deshalb wichtig, weil die multiplen Faktoren der Unsichtbarkeit diese einerseits nur in seltenen Fällen durch einen Konflikt sichtbar werden lassen und auch dann deren spezifische Charakteristika, die vielfältigen und komplexen Formen der Umwelt- und Gesundheitsbelastung sowie die slow violence, die von ihnen ausgehen, nicht eigenständig als Ursache der sozial-ökologischen Ungleichheit gefasst werden. Durch die Erstellung eines Gesamtbildes der (Un-)Sichtbarkeit der Tailings wird: a) besonders auf die Relevanz der unteren beiden Stufen der Unsichtbarkeit, in denen die meisten Tailings verweilen und deren Abwesenheit in der Mehrheit der sozialwissenschaftlichen Forschungen aufmerksam gemacht; b) ein Beitrag zum Verständnis des komplexen Zusammenwirkens des (Nicht-)Wissens und der (in)action der beteiligten Akteure innerhalb der einzelnen (Un-)Sichtbarkeitsstufen sowie ihres Einflusses auf die gesellschaftliche (Un-)Sichtbarkeit der Tailings geleistet; c) die Konfliktzentriertheit – bzw. die häufige Gleichsetzung zwischen sozial-ökologischem Problem und manifestem Konflikt – der sozialwissenschaftlichen Analysen hinterfragt; d) die Anknüpfungspunkte bisher größtenteils voneinander getrennt betrachteten Theorien, Erklärungsansätzen und Forschungsbereichen bei der Untersuchung von slow violence-Phänomenen aufgezeigt; e) ein erster Wegweiser zur ganzheitlichen Untersuchung von slow violence-Phänomenen hergestellt, der auch die bessere Einbettung mikro- und makrosoziologischer Forschungen zu diesem Thema und die Zusammenführung ihrer Ergebnisse ermöglicht; f) ein noch vorläufiges Werkzeug zur Identifikation der einzelnen Faktoren und beteiligten Akteure an der (Un-)Sichtbarkeit der slow violence-Phänomene erstellt; g) ein Beitrag zur Überwindung der gesellschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Unsichtbarkeit der Tailings geleistet.
Die Erstellung eines Gesamtbildes der (Un-)Sichtbarkeit hat zum Ziel, die zentralen Faktoren, Mechanismen, Strukturen und Akteure zu identifizieren, die die (Un-)Sichtbarkeit der Tailings bedingen oder begünstigen und somit einen Beitrag zur weiteren Forschung in diesem Bereich zu leisten. Die Forschung weist allerdings genau deshalb auch einige Grenzen auf. Was die allgemeine Unsichtbarkeit der Tailings angeht, stellt sie etwa ein – zur Sichtbarkeit hin – verzerrtes Bild dar, das aufgrund der notwendigen Fallauswahl für die Erstellung des Gesamtbildes entsteht.8 Die öffentliche Sichtbarkeit und die gesellschaftliche Anerkennung der Tailings ist dadurch überrepräsentiert. Es konnte zudem kein Fall beschrieben werden, über den – wie bei der großen Mehrheit der chilenischen Tailings – weder wissenschaftliches Wissen noch irgendeine (bekannte) Form der Gefahrenwahrnehmung oder actions vorhanden sind.9 Die Untersuchung dieser Art von Tailings stellt für die Sozialwissenschaften wohl die größte Herausforderung dar und wäre gleichzeitig von großer Relevanz zum Verständnis ihrer absoluten Unsichtbarkeit. Die Forschung bietet zudem zwar einen Ansatz und Ausgangspunkt, um slow violence-Phänomene wie Tailings ganzheitlich zu untersuchen und plädiert für die tiefere Erforschung dieser Fälle als Ursache sozial-ökologischer Ungleichheiten. Sie kann allerdings keine Antworten auf das Problem der fehlenden Forschungskriterien für Forschungsgegenstände in Fällen, in denen sowohl die Problemursache als auch die Betroffenen wissenschaftlich und gesellschaftlich unsichtbar sind und es demnach bisher keine Anhaltspunkte für eine wissenschaftlich anerkannte und valide Form der Problemdiagnose gibt, liefern.
Gleichzeitig bleibt die Forschung aufgrund der großen Datenmenge und ihrem explorativen Charakter in einigen Teilbereichen der untersuchten Fälle deskriptiv und konzentriert sich vorwiegend auf die Analyse der übergeordneten Zusammenhänge. Ziel dieser Arbeit war es dabei, eine möglichst umfangreiche Darstellung der unterschiedlichen Elemente, die zur (Un-)Sichtbarkeit der Tailings beitragen zu bieten und nicht eine eingehende Analyse jedes einzelnen oder ein repräsentatives Bild der aktuellen (Un-)Sichtbarkeit der Tailings im chilenischen Kontext zu erstellen. Sie bietet somit zwar eine Orientierung für die Untersuchung der jeweiligen Stufen der (Un-)Sichtbarkeit, der beteiligten Akteure und ihren jeweiligen Bezug zu den Kernkategorien ((Nicht-)Wissen, (in)action, (Un-)Sichtbarkeit), kann aber keine tiefgreifende Analyse für jeden einzelnen identifizierten Faktor der (Un-)Sichtbarkeit vorweisen.10 Aufgrund der allgemeinen gesellschaftlichen Unsichtbarkeit der Tailings und der Dominanz dieser Unsichtbarkeit entlang der Forschung wurden besonders jene Faktoren und Akteure eingehend dokumentiert und analysiert, die zu ihrer Unsichtbarkeit beitragen. Als Beitrag zur Sichtbarmachung der Tailings wäre es in dieser Hinsicht besonders relevant, jene Faktoren und Bedingungen, die ihre Sichtbarkeit ermöglichen, noch tiefgründiger zu untersuchen. Zur Überwindung dieser Grenzen sind weiterführende zukünftige Forschungen notwendig, die sowohl den Gegenstand selbst untersuchen, um die Erkenntnisse dieser Arbeit zu erweitern und zu vervollständigen und andererseits Forschungsmethoden zu erarbeiten, die es ermöglichen, diese Art von Umweltproblemen auch ohne (natur-)wissenschaftliche Vorkenntnisse als solche identifizieren und untersuchen zu können. Die Entstehung des Nichtwissens innerhalb der (Natur-)Wissenschaften sowie der Einfluss der Strukturen, Institutionen und der globalen Machtverhältnisse auf den Forschungsgegensand wurden in dieser Forschung zu einem wichtigen Anteil aus Sekundärliteratur übernommen, sollten bezüglich ihrer spezifischen Rolle im Bezug zur (Un-)Sichtbarkeit der Tailings allerdings zudem empirisch überprüft werden.
Des Weiteren ist diese Forschung auch auf einige methodische und forschungspraktische Grenzen gestoßen, die sich teilweise schon bei der anfänglichen Schwierigkeit der Untersuchung bisher wenig erforschter Gegenstände angedeutet haben. Die Erforschung unsichtbarer Phänomene und vor allem die Erfassung dieser Unsichtbarkeit in den erhobenen Daten – gerade in den unteren Stufen der (Un-)Sichtbarkeit – haben sich als schwieriges Unterfangen dargestellt, da die Präsenz einer ForscherIn im Feld und ihre Thematisierung des Forschungsgegenstandes im Interview trotz aller Vorkehrungen, unvermeidliche Auswirkungen auf deren Sichtbarkeit bzw. die Problemwahrnehmung der InterviewpartnerInnen hat. Trotz der Erstellung breit aufgestellter und nicht-expliziter Leitfäden, die sich langsam an das Thema heranarbeiten, um die tatsächliche (Gefahren-)Wahrnehmung der Betroffenen möglichst nicht zu beeinflussen, hat die Forschung besonders in Pabellón dennoch zu einer kurzfristig stärkeren Sichtbarkeit der Tailings unter den BewohnerInnen geführt, wie aus den Daten im Laufe der Forschung abzulesen ist.
Auch der Zugang zum bisher bestehenden wissenschaftlichen Wissen über die untersuchten Tailings erwies sich teilweise als äußerst schwierig und konnte vereinzelt nicht gewährleistet werden, da staatliche Behörden diesen in manchen Fällen verweigerten und die Unternehmen, die durch den Produktionsprozess das Wissensmonopol über die Zusammensetzung der Tailings besitzen, den Zugang für externe Personen generell nicht erlauben. Da es sich zudem um ein politisch höchst sensibles Thema handelt, bei dem, wie auch diese Forschung gezeigt hat, mächtige Akteure ein starkes Interesse an der weiteren Unsichtbarkeit der Tailings haben, war es bei manchen Akteursgruppen besonders schwierig, InterviewpartnerInnen zu finden, die bereit waren über das Thema zu sprechen. Für einige WissenschaftlerInnen sowie die MitarbeiterInnen internationaler Organisationen und Kooperationsprojekte mussten deshalb besondere Interviewsettings und Anonymisierungsverfahren angewendet werden, die ihnen das Vertrauen für ein offenes Gespräch gaben. Auch einige staatliche MitarbeiterInnen sowie vereinzelte AktivistInnen haben sich erst durch Unterbrechung der Audioaufnahme getraut, über bestimmte Themen zu sprechen. Andere Akteursgruppen, wie die MitarbeiterInnen der Bergbauunternehmen, unterliegen größtenteils einer vertraglichen Schweigepflicht, weshalb sie durch ein Interview ihr Arbeitsverhältnis gefährden. Dies hat dazu geführt, dass einige relevante Aussagen nicht aufgenommen und transkribiert wurden und demnach anschließend erst durch aufwendige Recherche nach wissenschaftlichen Belegen Teil dieser Arbeit wurden.

10.4 Rückschlüsse der Forschung auf die sozialwissenschaftliche Betrachtung von sozial- ökologischen slow violence-Problemen

Um slow violence-Phänomene ebenso fassen zu können wie andere Umweltprobleme, müssten sich die Sozialwissenschaften in erster Linie davon verabschieden, das Ausbrechen eines manifesten sozial-ökologischen Konfliktes als Hauptkriterium zur Diagnose eines sozial- ökologischen Problems heranzuziehen. Die Überwindung der Konfliktzentriertheit bedarf trotz der notwendigen kritischen Hinterfragung der (natur-)wissenschaftlichen Wissensgenerierung vielmehr der Zusammenarbeit mit NaturwissenschaftlerInnen und Mitgliedern der Zivilgesellschaft, um auch jene Umweltprobleme zu identifizieren, die sich nicht durch einen Konflikt äußern. Besonders aber ist die Zusammenarbeit mit den Betroffenen der auf diese Weise identifizierten Umweltprobleme notwendig sowie die Berücksichtigung anderer Wissensformen, die sie zur Gefahreneinschätzung nutzen und diese als valide Form der Problemdiagnose anzuerkennen. Wie diese Forschung gezeigt hat, kann die Gefahrenwahrnehmung der Betroffenen oder (wahrgenommene) gesundheitliche und ökologische Schäden durchaus bestehen, ohne dass sich diese in Form eines manifesten sozial- ökologischen Konflikts äußern. Dass ein sozial-ökologischer Konflikt manifest wird, sagt mehr über die Handlungsmöglichkeiten und die agency der Betroffenen und ihren Zugang zu offiziell anerkanntem Wissen aus als über die Existenz eines sozial-ökologischen Problems an sich. Die Auswirkungen von slow violence-Phänomenen sind zudem oft diffus und nicht lokal begrenzt, weshalb es teilweise auch keine klar identifizierbare bzw. abgrenzbare Betroffenengruppe gibt, von der ein manifester Konflikt ausgehen könnte. Die konfliktzentrierte Betrachtungsweise der Sozialwissenschaften verstärkt auf diese Weise die bestehende Unsichtbarkeit weniger privilegierter oder marginalisierter Bevölkerungsgruppen und ihrer sich oftmals vielfach überlappenden sozialen und ökologischen Probleme (siehe environmental injustice), die typischerweise die Hauptbetroffenen von slow violence-Phänomenen darstellen (Nixon 2011; Davis 2006). Die konfliktzentrierte Herangehensweise führt außerdem dazu, dass Umweltprobleme, die ohnehin – auch für die Betroffenen selbst und innerhalb der (Natur)Wissenschaften – schwer zu adressieren sind, nicht als sozial-ökologische Probleme anerkannt und untersucht werden.
Slow violence-Phänomene dürfen zudem nicht allein den Naturwissenschaften überlassen werden, weil sie Resultate des bestehenden sozialen Metabolismus unserer heutigen dominanten globalen Produktions- und Lebensweise darstellen und wiederum direkte teils drastische Auswirkungen auf diese haben. Sie müssen deshalb auch auf ihre sozialen Ursachen und Auswirkungen hin untersucht werden und können nicht allein durch naturwissenschaftliche Methoden erforscht werden. Bisher wurden sie allerdings hauptsächlich innerhalb der Naturwissenschaften behandelt ohne die gesellschaftlichen Komponenten ausreichend zu beleuchten und zu untersuchen. Während diese Phänomene – spätestens seit dem letzten Jahrzehnt im Rahmen der Debatten über die aktuelle Klimakrise – in makrostrukturellen sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen zwar immer häufiger theoretisch berücksichtigt werden, werden sie empirisch kaum untersucht. Diese empirische Lücke könnte geschlossen werden, indem auch latente Konflikte ebenso wie (etwa naturwissenschaftlich) identifizierte Umweltprobleme, bei denen kein Konflikt ausbricht, verstärkt in sozialwissenschaftliche Forschungen aufgenommen werden. Die Gründe der Nicht-Entstehung der Konflikte sind dabei zum Verständnis und zur Bewältigung ökologischer Probleme genauso relevant wie diejenigen für die Entstehung eines Konflikts. In dieser Hinsicht können besonders sozialwissenschaftliche Forschungen, die sich bisher vorwiegend mit einzelnen der slow violence inhärenten oder nichtintendierten Faktoren der Unsichtbarkeit beschäftigen, aufschlussreich sein, um diese Umweltprobleme einerseits identifizieren und andererseits besser untersuchen zu können. Neben einer interdisziplinären Zusammenarbeit sollte deshalb auch eine Kooperation zwischen den unterschiedlichen Forschungsbereichen der Sozialwissenschaften anvisiert werden.
Der Beitrag der Sozialwissenschaften zur Identifizierung und Lösung von schleichenden und langsam eintretenden Umweltkatastrophen würde auf diese Weise einerseits in einer Übersetzungsarbeit zwischen unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen liegen, die es ermöglichen könnte, bisher rein naturwissenschaftlich betrachtete Phänomene auch auf ihre sozialen Ursachen und Implikationen hin zu untersuchen. Dafür müsste einerseits die Erzeugung und Reproduktion der Unsichtbarkeit dieser Phänomene durch die Wissenschaft selbst – verstanden als soziale Praxis – analysiert werden und gleichzeitig untersucht werden, warum slow violence-Phänomene dieser Art mit den bestehenden Forschungsmethoden, Wissensbestände und Analysemethoden nicht erfasst werden (können), um diesem Problem mit alternativen Methoden begegnen zu können. Während die Sozialwissenschaften zwar keinen direkten Beitrag zur Überwindung des Nichtwissens über die stofflichen Komponenten von Tailings und deren Langzeit- und Wechselwirkungen sowie anderer Ursachen ökologischer slow violence leisten können, ist es ihnen allerdings möglich dazu beizutragen, einerseits sowohl auf das Vorhandensein dieses Nichtwissens und die daraus resultierende Fehlbarkeit und Ungenauigkeit der Risikoeinschätzungen der Naturwissenschaften (als gesellschaftlich anerkannte Wahrheitsproduzenten) sowie auf die Machtverhältnisse, in denen sich diese bewegen, aufmerksam zu machen. Andererseits können slow violence-Phänomene als solche sowie ihre sozialen Ursachen und Konsequenzen sichtbar gemacht werden. Diese Forschung leistet hierfür ihren Beitrag, indem sie durch die Erstellung des Gesamtbildes auch auf bisher unbeachtete Zusammenhänge, Prozesse und daraus resultierende Forschungslücken hinweist.
Um all dies zu leisten, müsste gleichzeitig die monokulturelle Rationalität (de Sousa Santos 2010) auch innerhalb der Sozialwissenschaften überwunden werden. Dafür ist es notwendig, dass sie sich aus ihrem abyssalen Denken (ebd.) befreien, in dem ökologische slow violence-Phänomene, wie sie durch Tailings hervorgerufen werden, in vielerlei Hinsicht „nichtexistent“ sind. Hierfür müssten auch andere Wissensformen, die bisher durch die Kolonialität des Wissens (Lander 2000) und den durch sie bedingten Epistemizid (de Sousa Santos 2010) verdrängt wurden, als valides Wissen anerkannt werden. Diese Aufgabe wird derzeit innerhalb der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften im Rahmen einer dekolonialen Wende vorangetrieben und unter Begriffen wie etwa Epistemologias del Sur (de Sousa Santos) oder Epistemologias de Frontera (Mignolo 2007) der Versuch unternommen, die Realitäten jenseits der abyssalen Linie aufzuzeigen. In Worten von Boaventura de Sousa Santos (2019) ist der Kampf für globale soziale Gerechtigkeit primär ein Kampf für die globale kognitive Gerechtigkeit,11 wozu der westlichen Moderne die alleinige Deutungshoheit abgesprochen werden muss.
Diese Forschung hat gezeigt, dass besonders die Betroffenen die Veränderungen in der Umgebung und in ihren Körpern oftmals weit vor dem anerkannten wissenschaftlichen Wissen beobachtet haben. Sie verfügen zudem oftmals über bessere Ortskenntnisse und ein breiteres Wissen über die Tier- und Pflanzenbestände oder ökologische Kreisläufe und deren Veränderungen über die Zeit als außenstehende WissenschaftlerInnen. Dennoch gilt bisher: was wissenschaftlich nicht belegt ist, wird nicht als solches anerkannt. Mein Vorschlag im Sinne der Soziologie der Emergenzen (de Sousa Santos 2010: 24 ff) besteht darin, einerseits aufzuzeigen, dass das was nicht existiert, teilweise aktiv als nicht-existent produziert wurde und andererseits darin, bisher unmögliche Forschungsgegenstände in mögliche, also abwesende in anwesende Gegenstände zu verwandeln und auf den Bereich der bisher kaum untersuchten (sozial-)ökologischen slow violence-Phänomene anzuwenden.12

10.5 Die slow violence der Tailings im aktuellen globalen Kontext

Vor dem Hintergrund der Dramatik der heutigen ökologischen Krise erfährt die Sichtbarmachung von ökologischen slow violence-Phänomenen besondere Dringlichkeit und Relevanz. Nur durch ihre Sichtbarmachung kann die Gesamtheit der Ursachen der aktuellen Krise und die Komplexität ökologischer Zusammenhänge erkannt und ihnen effektiv begegnet werden.13 Durch die Untersuchung von slow violence-Phänomenen könnte die derzeitige, von ungewusstem Nichtwissen geprägte, Gouvernance des Nichtwissens ihnen gegenüber zumindest in eine Gouvernance des gewussten Nichtwissens überführt werden. Dadurch würden Risiken und potenzielle Konsequenzen offenbart, die anschließend in politischen Entscheidungen berücksichtigt werden könnten. Ein erster Schritt wäre es also, sowohl die naturwissenschaftlichen als auch die sozialwissenschaftlichen Grenzen anzuerkennen und zu problematisieren, um falsche Prognosen, negative Evidenzen und unzureichende Lösungsversuche und ihre möglichen negativen Nebeneffekte frühzeitig zu erkennen. Es scheint auch notwendig, die politischen Handlungsmöglichkeiten unter Bedingungen des Nichtwissens bzw. allgemeiner Ungewissheit und die Möglichkeiten, dennoch Problemlösungen anzustoßen, zu problematisieren und untersuchen.
Autoren wie Sebastián Ureta sehen die Tailings in Chile als Ausgangspunkt des chilenischen Anthropozäns. Sie beschreiben sie als menschlich verursachte, materielle, geologische und chemische, langfristige und weitestgehend irreversible Veränderung der Umgebung mit weitgehend noch unvorhersehbaren sozialen und ökologischen Folgen (Ureta 2022). Die Auseinandersetzung mit Tailings verdeutlicht die enge Verstrickung zwischen Geologie, Biologie und Sozialem, wobei die Möglichkeit einer Restaurierung oder gar endgültigen Lösung, der mit den Tailings verbundenen Umweltprobleme, derzeit ausgeschlossen scheint. Sie stellen – in den Worten von Linda Nash (2006) – inescapable ecologies dar. Ureta und Flores (2022) plädieren in dieser Hinsicht für das, was sie politics of weakness nennen: ein Agieren unter der (An-)Erkennung unserer Abhängigkeit von vielfältigen ökologischen Prozessen, die wir nicht vollständig verstehen (können) und das Einnehmen einer vorbeugenden und ehrfürchtigen Haltung gegenüber diesen – durch menschliche Intervention hervorgerufenen – neuen Formen der symbiotischen Beziehung zwischen Mensch und Natur. Die notwendige Verschiebung im Umgang mit slow violence-Phänomenen wie Tailings wäre also die von einer Gouvernance des Nichtwissens (Wehling 2011) hin zu einem ökologischen Ansatz der politics of weakness (Ureta & Flores 2022).
Diese Veränderungen betreffen allerdings nicht nur einzelne Gebiete und Länder, in denen die Tailing produziert und deponiert werden. Die drei untersuchten Fälle sind nicht lokale Einzelfälle oder vereinzelte Ausnahmen des chilenischen Bergbausektors. Diese Art der slow violence ist fest in den Strukturen des kapitalistischen Weltsystems verankert und wird durch die Hinterlassenschaften der ehemaligen kolonialen sowie der bestehenden globalen Arbeitsteilung produziert und durch die nationalen und internationalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie den aus ihnen resultierenden Ungleichheiten und Abhängigkeiten aufrechterhalten. Sie sind gleichzeitig fester Bestandteil des bestehenden Wachstumsparadigmas, der hegemonialen (Fortschritts-)Diskurse, der von diesen bestimmten Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur und damit des globalen sozialen Metabolismus. Das abyssale Denken, das die Moderne kennzeichnet, führt zur Normalisierung, Legitimierung und Unsichtbarmachung dieser sozial-ökologischen Gewaltformen auf der Ebene des dominanten Wissens. Gleichzeitig ist die slow violence eine der zentralen Erscheinungsformen der heutigen ökologischen Krise. Ihre abstrakte und schleichende Gestalt macht ihre Identifizierung und den sozialen und politischen Umgang mit ihnen besonders schwierig, nimmt den Entscheidungsträgern dadurch den Handlungsdruck und ermöglicht es den ökonomischen big players, ihr Profitinteresse und den Zentralstaaten ihre Rohstoffsicherheit ohne größeren Widerstand seitens der Öffentlichkeit durchzusetzen. Dass slow violence-Probleme meistens gar nicht oder höchstens auf lokaler Ebene ausgehandelt werden, während sie selten Teil der öffentlichen (Problem-)Wahrnehmung werden, ist ein großes Problem in Hinblick auf die Zukunft. Würden sie allerdings gesellschaftlich sichtbar und als ernstzunehmende ökologische Probleme anerkannt, hätte dies wiederum erhebliche Konsequenzen für die Aufrechterhaltung des derzeitigen sozialen Metabolismus des kapitalistischen Weltsystems.
Die gesellschaftliche und politische Unsichtbarkeit von slow violence-Phänomenen, wie sie etwa die in dieser Forschung untersuchten Tailings darstellen, birgt die Gefahr, dass wesentliche Bestandteile und Treiber der derzeitigen ökologischen Krisen in den Analysen und Lösungsansätzen nicht berücksichtigt werden und letztere deshalb im besten Fall verzerrt, im schlimmsten Fall wirkungslos bleiben. Dieses betrifft einerseits die Analyse des Jetztzustands, wobei bspw. in Chile derzeit weder die Reichweite und das Ausmaß der Verbreitung der Schwermetalle und chemischen Schadstoffe noch ihre tatsächlichen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der betroffenen Bevölkerung abgeschätzt werden können. Andererseits kann auf Basis dieses Nichtwissens auch keine Prognose über die möglichen zukünftigen Folgen großer schadstoffbelasteter Gebiete auf ökologische Kreisläufe, zukünftige wirtschaftliche Aktivitäten oder die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort erstellt werden. Da die Zerstörung der Lebensräume und -bedingungen teilweise irreversibel ist bzw. für mehrere Jahrtausende14 andauern kann, kann dies durchaus schwerwiegende unvorhersehbare soziale, ökologische und auch wirtschaftliche Konsequenzen für die betroffenen Gebiete und Länder mit sich bringen und bestehende globale sozial-ökologische Ungleichheiten verstetigen und vertiefen.
Die gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Tailings birgt außerdem eine weitere Dimension bezüglich zukünftiger Strategien im Umgang mit dem Klimawandel. Die anvisierte sozial- ökologische Transformation besonders der Zentrumsländer und großer Teile Asiens, beruht hauptsächlich auf technologischen Lösungen zur Erzeugung erneuerbarer Energien und der Minimierung der CO2-Emissionen in Produktionsprozessen oder im Transportbereich durch ihren Umbau auf den Elektroantrieb. Dieser Weg hin zur „CO2-“ oder „Klimaneutralität“ gewisser Staaten ist allerdings höchst ressourcenintensiv und hängt stark vom Bergbau ab. Für die Extraktion und Weiterverarbeitung der notwendigen Metalle, Mineralien und seltenen Erden wird in Ländern wie Chile der Bergbau intensiviert. Dadurch wird an diesen Orten u. a. der Wasser- und Energiebedarf höher – dabei selten CO2-neutral gedeckt – und die extraktivistische Ausrichtung der Wirtschaft verschärft. Diese Tendenz konterkariert die von diesen Länden anvisierte sozial-ökologischen Transformationen – ein Problem, das von kritischen WissenschaftlerInnen immer wieder aufgeworfen wird (siehe Kapitel 5). Was in diesen Debatten allerdings fast vollständig ausbleibt, ist die dadurch entstehende – und durch die sinkende Reinheit der Vorkommen überproportional steigende – Menge an künftig anfallenden Tailings, für die bisher keine endgültigen und effizienten Lösungen bereitstehen (Ureta & Flores 2022). Ähnlich wie beim Atommüll und anderen unerwünschten outputs von Produktionsprozessen werden sie in großen Mengen auf vermeintlich sicheren Deponien akkumuliert, ohne dass die heutige Wissenschaft in der Lage wäre, verlässliche Aussagen über ihre Risiken zu machen. Die Produktion und Akkumulation der Tailings – vorwiegend im globalen Süden – läuft nicht parallel zu sozial-ökologischen Transformationsprozessen in anderen Weltregionen, sondern ist ein Produkt und Bestandteil dieser. Die derzeit hegemoniale Strategie der Zentrumsländer zur Überwindung oder wenigstens Anpassung an die Klimakrise – im Rahmen des sogenannten grünen Kapitalismus – produziert weiterhin an anderen Orten des Planeten und besonders in Form von slow violence Umweltzerstörung. Werden diese unsichtbaren Folgen des menschlichen Handelns außer Acht gelassen, gefährdet es die Effektivität dieser Strategien zur Bekämpfung des Klimawandels. Dasselbe gilt für viele andere, größtenteils unsichtbare Konsequenzen menschlichen Handelns. Besonders unsichtbare Schadstoffe – in diesem Fall Schwermetalle und Chemikalien – die sich unbemerkt auf ihre Umwelt und die in ihr lebenden Körper ausbreiten, in sie eindringen und deren Wirkung sich erst im Laufe der Zeit entfaltet, können nicht als output des sozialen Metabolismus begriffen werden, sondern sind und bleiben langfristig ein giftiger Teil dieses Kreislaufs. Sozial- ökologische Transformationsprozesse können nicht auf der Externalisierung ökologischer Kosten (Lessenich 2016) und somit allein auf der räumlichen Verschiebung der Konsequenzen basieren, um ein effektives Instrument zur Bewältigung der globalen ökologischen Krise darzustellen. Denn erstens werden dadurch Transformationsprozesse in den Ländern, die diese Kosten internalisieren, unterbunden und erschwert. Zweitens sind Schadstoffe dieser Art aufgrund ihrer Materialität schlichtweg nicht vollkommen externalisierbar, da sie nicht lokal eingrenzbar sind und sich über die Zeit auf ganze Ökosysteme und globale Kreisläufe ausbreiten und ein Teil von ihnen werden.
Hinter dem im ersten Absatz dieser Arbeit beschriebenen Bild der Bucht von Chañaral verbirgt sich nicht nur die Verseuchung des lokalen Strandes durch Tailings, die hohe Schadstoffbelastung der Körper der dort lebenden Menschen und die Zerstörung ihres Lebensraums und ihrer Produktionsgrundlagen. Hinter dem Bild dieses weißen Strandes verbirgt sich u. a. auch die jahrzehntelange Verbreitung von großen Mengen an Chemikalien und Schwermetallen auf die Organismen von Meerestieren und ganzer Fischbestände, die durch die Meeresströme und Nahrungsketten wiederum Teil ganzer Meeresökosysteme werden und durch den Fischfang und -konsum in menschliche Körper aus anderen Weltregionen eindringen. Chañaral als Einzelfall in Bezug auf den gesamten Pazifikraum und seine Meeresökosysteme mag zwar keine ernsthafte Bedrohung oder zumindest nur ein sehr geringes Risiko für die Mehrheit der Weltbevölkerung darstellen. Die Vielzahl der rund um den Globus verteilten Chañarals und die slow violence, die von all den an diesen Orten vorkommenden Tailings und anderen outputs der Weltwirtschaft kontinuierlich und unbeachtet ausgeht, wird in ihrer Summe über kurz oder lang allerdings große Auswirkungen auf das globale Ökosystem der Erde und somit auf jeden von uns haben. Slow violence-Phänomene noch in ihrer schleichenden unsichtbaren Form zu erkennen und zu untersuchen ist demnach essenziell, um Umweltprobleme zu identifizieren, bevor sie im schlimmsten Fall zum Kollaps natürlicher Kreisläufe, ganzer Ökosysteme oder Gesellschaften führen, wie sie derzeit im Rahmen der ökologischen Krise immer häufiger von WissenschaftlerInnen beobachtet und prognostiziert werden.15
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Fußnoten
1
Die Aussagekraft der einzelnen Untersuchungsergebnisse beschränkt sich dabei zwar auf die drei untersuchten Fälle, das Stufenmodell als solches kann allerdings durchaus auch auf andere Tailings und slow violence-Phänomene sowie Umweltprobleme im Allgemeinen angewandt und erweitert werden.
 
2
Siehe Abbildung 9.​1 des Stufenmodells in Kapitel 9.
 
3
Die einzelnen Faktoren werden hier nur genannt, können aber sowohl im Auswertungskapitel 9 als auch in den vier empirischen Kapiteln (5, 6, 7 und 8) dieser Arbeit nachgelesen werden. Dort werden sie jeweils ausführlich thematisiert, detailliert beschrieben und die zur Analyse herangezogene Literatur dargestellt.
 
4
Gemeint sind in diesem Fall Handlungen, die auf die Sichtbarkeit der Tailings oder die Problemlösung der durch sie verursachten Schadstoffbelastung abzielen. Diese Art von Nichtwissen kann gleichzeitig gegenläufige Handlungen begünstigen (siehe Abschnitt 9.​4 in Kapitel 9).
 
5
Die Aussage bezieht sich auf die Tatsache, dass Tailings im Gegensatz zu anderen Ursachen sozial-ökologischer Probleme, nur selten die lokale Sichtbarkeit erreichen, wie der Abgleich mit der bestehenden Sekundärliteratur ergeben hat.
 
6
Da Tailings eine jeweils unterschiedliche und spezifische Zusammensetzung an Chemikalien und Schwermetallen aufweisen, die sich aus der Zusammensetzung der abgebauten Erze und dem zu gewinnenden Metall oder Mineral ergeben, haben sie nicht nur sehr unterschiedliche Auswirkungen, sondern gleichzeitig kann das bestehende generierte Wissen über diese einzelnen Tailings nicht auf andere übertragen werden.
 
7
Für die ausführliche Darstellung der Erklärungsansätze siehe Abschnitte 2.​3.​6, 2.​3.​7 und 2.​3.​7 des 2. Kapitels.
 
8
Um alle Stufen der (Un-)Sichtbarkeit abdecken zu können, war es notwendig, etwa auch einen der einzigen öffentlich sichtbar gewordenen Fälle, wie Chañaral in die Forschung mitaufzunehmen.
 
9
Dies liegt an dem weiter unten aufgeführten Problem der fehlenden wissenschaftlichen Validität einer Problemdiagnose in solchen Fällen. Ich habe im Laufe meiner Forschung mehrere dieser Tailings besucht u. a. die Tailings von Totoralillo und Nantoco sowie weitere namenlose historische Tailings in den Gemeinden von Tierra Amarilla und Copiapó, bei denen durch teilnehmende Beobachtung und qualitative Interviews –außer ihrer Erscheinung in dem Tailingkataster des Sernageomin (2020), die sie als solche identifizieren lässt– eine Situation der absoluten Unsichtbarkeit und Nichtwissens, konstatiert wurde.
 
10
So wurden bspw. die Medien nicht als aktiv beteiligte Akteure an der (Un-)Sichtbarmachung analysiert, sondern lediglich ihr Beitrag zu dieser sowie die Beziehungen und Vernetzungen zu anderen Akteuren.
 
11
Wolf Senff (2019, 25. Januar): Gesellschaft | Bonaventura de Sousa Santos: Epistemologien des Südens, [online] https://​titel-kulturmagazin.​net/​2019/​01/​25/​gesellschaft-bonaventura-de-sousa-santos-epistemologien-des-suedens/​ [18.05.22].
 
12
Im Fall von Tailings und anderen slow violence-Phänomenen reicht dafür allerdings die Überwindung der monokulturellen Rationalität allein nicht aus. Es müsste zudem das Problem der allgemeinen Ungewissheit (Roberts & Langston 2008) gegenüber unsichtbaren Schadstoffen wie etwa Strahlungen, Chemikalien, Schwermetallen oder komplexen ökologischen Kreisläufen und Prozessen dafür berücksichtigt werden.
 
13
Die Relevanz zeigt sich schon allein daran, dass Treibhausgase, die heute als zentrale Ursache des Klimawandels und somit als Kern der ökologischen Krise gelten, selbst bis vor wenigen Jahrzehnten ein unbeachtetes slow violence-Phänomen darstellten und erst in den letzten Jahren eine gesellschaftliche Anerkennung als ernstzunehmendes und dringliches gesamtgesellschaftliches (globales) Problem erfahren haben.
 
14
Der Zeitrahmen, in dem die Stoffe gefährlich sind, ist je nach Komposition unterschiedlich und kommt auf die einzelnen Bestandteile an, die in den Tailings vorhanden sind (siehe hierfür die Abschnitt 2.​4.​2 und 5.​3). Quecksilber beispielsweise kann mehrere tausende Jahre gefährlich sein, vgl. Agencia Europea de Medio Ambiente (2018, 17. Oktober): El mercurio, una amenaza persistente para el medio ambiente y la salud, [online] https://​www.​eea.​europa.​eu/​es/​articles/​el-mercurio-una-amenaza-persistente [7.7.2022].
 
15
Vgl. Cooper, Willcock & Dearing (2020): Regime shifts occur disproportionately faster in larger ecosystems [online] https://​www.​nature.​com/​articles/​s41467-020-15029-x [26.04.22].
 
Metadaten
Titel
Fazit: Die Hürden auf dem Weg zur gesamtgesellschaftlichen Sichtbarkeit der Tailings
verfasst von
Anna Landherr
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43288-1_10