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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

9. Zusammenfassung und Auswertung der Forschungsergebnisse

verfasst von : Anna Landherr

Erschienen in: Die unsichtbaren Folgen des Extraktivismus

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Das zentrale Erkenntnissinteresse dieser Forschung besteht darin, die Gegebenheiten, Mechanismen und Strukturen sowie die Akteure und ihre (in)actions zu identifizieren, die dazu beitragen oder die verhindern, dass die Tailings des chilenischen Bergbaus in der öffentlichen Wahrnehmung und unter den beteiligten Akteuren als zu lösendes Umweltproblem anerkannt werden. Zu diesem Zweck wurde eine Forschungsheuristik erstellt, die die Kernkategorie der (Un-)Sichtbarkeit, mit denen der (in-)action und des (Nicht-)Wissens in Verbindung setzt. Die vorliegende Forschung wird zudem von folgenden Forschungsfragen geleitet: Warum bleiben Tailings trotz ihrer enormen Belastung für Mensch und Umwelt weitgehend „unsichtbar“? In welcher Beziehung stehen Wissen/Nichtwissen und action/inaction der Akteure zur Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit des Phänomens? Wie, warum und durch wen wird das slow violence-Phänomen unsichtbar gehalten oder sichtbar gemacht? Welche sozialen Mechanismen, Interessen und Strukturen stecken hinter dem Phänomen der Unsichtbarkeit und führen zu ihrer konkreten aktuellen Ausprägung? Welche Strukturen, Mechanismen und Akteure verhindern die Sichtbarkeit? Wann kommt es zu latenten und wann zu manifesten Konflikten in Bezug auf Tailings? Unter welchen Umständen wird dieses slow violence-Phänomen sichtbar? Die zentrale These dieser Arbeit besteht darin, dass alle drei Kategorien – (Un-)Sichtbarkeit, (Nicht-)Wissen und (in-)action – in ihren jeweiligen positiven oder negativen Ausprägungsformen miteinander korrelieren und sich wechselseitig verstärken, wobei die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Akteure gegenüber der Problematik direkt von den Wechselwirkungen abhängen.
Hinweise

Ergänzende Information

Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann https://​doi.​org/​10.​1007/​978-3-658-43288-1_​9.
Das zentrale Erkenntnissinteresse dieser Forschung besteht darin, die Gegebenheiten, Mechanismen und Strukturen sowie die Akteure und ihre (in)actions zu identifizieren, die dazu beitragen oder die verhindern, dass die Tailings des chilenischen Bergbaus in der öffentlichen Wahrnehmung und unter den beteiligten Akteuren als zu lösendes Umweltproblem anerkannt werden. Zu diesem Zweck wurde eine Forschungsheuristik erstellt, die die Kernkategorie der (Un-)Sichtbarkeit, mit denen der (in-)action und des (Nicht-)Wissens in Verbindung setzt. Die vorliegende Forschung wird zudem von folgenden Forschungsfragen geleitet: Warum bleiben Tailings trotz ihrer enormen Belastung für Mensch und Umwelt weitgehend „unsichtbar“? In welcher Beziehung stehen Wissen/Nichtwissen und action/inaction der Akteure zur Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit des Phänomens? Wie, warum und durch wen wird das slow violence-Phänomen unsichtbar gehalten oder sichtbar gemacht? Welche sozialen Mechanismen, Interessen und Strukturen stecken hinter dem Phänomen der Unsichtbarkeit und führen zu ihrer konkreten aktuellen Ausprägung? Welche Strukturen, Mechanismen und Akteure verhindern die Sichtbarkeit? Wann kommt es zu latenten und wann zu manifesten Konflikten in Bezug auf Tailings? Unter welchen Umständen wird dieses slow violence-Phänomen sichtbar? Die zentrale These dieser Arbeit besteht darin, dass alle drei Kategorien – (Un-)Sichtbarkeit, (Nicht-)Wissen und (in-)action – in ihren jeweiligen positiven oder negativen Ausprägungsformen miteinander korrelieren und sich wechselseitig verstärken, wobei die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Akteure gegenüber der Problematik direkt von den Wechselwirkungen abhängen.
Zur Beantwortung dieser Fragen wurde anhand der Forschungsergebnisse der drei untersuchten Fälle eine (Un-)Sichtbarkeitspyramide erstellt. Das dadurch entstehende Stufenmodell ermöglicht es, die unterschiedlichen Fälle bezüglich ihres Sichtbarkeitsgrades einzuordnen und dabei eine rein statische Beschreibung des Jetztzustands zu überwinden, indem auf diese Weise auch die Prozesse und Übergänge eines Falles von einer Stufe auf die andere beobachtet werden können. Jede Stufe stellt nicht nur eine Ausprägung des Sichtbarkeitsgrades der Tailings dar, sondern beinhaltet gleichzeitig einen besonderen Kontext sowie spezifische materielle und soziale Gegebenheiten, Akteursgruppen, Mechanismen und Strukturen, die zur (Un-)Sichtbarkeit des Phänomens beitragen. Auch die drei Kernkategorien der Forschungsheuristik weisen auf jeder Stufe sehr unterschiedliche Formen und Ausprägungen auf. Die Pyramide wird in ihrer Differenziertheit damit den Forschungsergebnissen gerecht, die zeigen, dass wenn die Tailings eine neue Stufe der (Un-)Sichtbarkeit erreichen, jeweils neue Akteure und Faktoren1 relevant sind, um die (Un-)Sichtbarkeit der Tailings zu verstehen, während andere wieder verschwinden. Deshalb werden im Folgenden einerseits die drei untersuchten Fälle mit ihren zentralen Forschungsergebnissen in die (Un-)Sichtbarkeitspyramide eingeordnet. Andererseits werden die auf jeder Stufe zentralen materiellen und sozialen Gegebenheiten, Mechanismen, Strukturen, Akteure sowie die von ihnen ausgeübten (in-/inter-)actions und Formen des (Nicht-)Wissens dargestellt und ins Verhältnis zur (Un-)Sichtbarkeit der Tailings gesetzt. Anhand der erhobenen Daten konnte für den chilenischen Fall auf diese Weise der Weg der Tailings als Umweltproblem von ihrer absoluten gesellschaftlichen Unsichtbarkeit bis hin zu ihrer öffentlichen Wahrnehmung und Anerkennung nachgezeichnet und die wichtigsten Elemente, die zu Verschiebungen innerhalb der Pyramide führen, analysiert werden. Ziel ist es, ein Gesamtbild der gesellschaftlichen (Un-)Sichtbarkeit der Tailings zu erstellen und auf diese Weise ein Modell zu entwickeln, das als Wegweiser und Grundlage zur Untersuchung von sozial-ökologischen slow violence-Phänomenen dienen kann.2
Im Folgenden werde ich die einzelnen Stufen ausführlich beschreiben und die zentralen Befunde der Kapitel 5, 6, 7 und 8 in die Darstellung einordnen. Dabei wird deutlich, dass sich der Fall von Pabellón eindeutig der ersten, der Fall Tierra Amarilla tendenziell der zweiten und der Fall von Chañaral dem Übergang von der dritten zur vierten Stufe zuordnen lässt. Daraufhin lege ich die Beziehung der (in)actions und des (Nicht-)Wissens der jeweils beteiligten Akteure zur (Un-)Sichtbarkeit der Tailings dar und analysiere diese anschließend mit Blick auf die Kernkategorien der Forschungsheuristik. Darauffolgend werden allgemeine Erkenntnisse und übergeordnete Zusammenhänge, die aus der Forschung gewonnen wurden, dargelegt und die bestehenden Forschungen und Theorien aus Kapitel 2 und 3 zur Analyse herangezogen. Abschließend werden die Forschungsergebnisse und die (Un-)Sichtbarkeit der Tailings noch mit jenen Erklärungsansätzen aus Kapitel 2 in Bezug gesetzt, die in dieser Forschung nicht empirisch erhoben werden konnten, da sie den nationalen Rahmen überschreiten.

9.1 Slow violence entlang der (Un-)Sichtbarkeits - pyramide: Zentrale Ergebnisse der drei Forschungsfälle

Im Folgenden werden die Ergebnisse der drei Fallstudien zusammengefasst wiedergegeben und in ein Stufenmodell der gesellschaftlichen Sichtbarkeit des sozial-ökologischen Problems der Tailings eingeordnet. Dieses Stufenmodell wurde anhand der erhobenen Daten und der bestehenden Sekundärliteratur elaboriert. Dieses Gesamtbild der (Un-)Sichtbarwerdung der Tailings verdeutlicht, dass Tailings in diesem Prozess verschiedene (Un-)Sichtbarkeitsstufen durchlaufen, auf denen jeweils unterschiedliche Gegebenheiten, Mechanismen, Praktiken, Strategien und Strukturen wirken sowie unterschiedliche Akteure durch ihre (in)actions direkt daran beteiligt sind.3 Nach oben hin stellen die Stufen den Weg von der generellen Unsichtbarkeit der Tailings über einen latenten bis zu einem manifesten Konflikt hinweg bis zur Anerkennung der Tailings als (gesamt)gesellschaftliches Problem dar.
Die allgemeine gesellschaftliche Unsichtbarkeit ist der Normalzustand von slow violence- Phänomenen (Nixon 2011). Dies lässt sich in Chile derzeit auch mit Blick auf die Risiken und Auswirkungen von Tailings sagen (Ureta 2022; Ureta, Mondaca & Landherr 2018). Daher wird im Folgenden die Pyramide der (Un-)Sichtbarkeit (Abbildung 9.1) von unten nach oben gelesen – als Prozess von der Unsichtbarkeit zur Sichtbarkeit. Auf diese Weise können sowohl auf jeder Stufe die zentralen Faktoren gefasst werden, die sie sichtbarer machen, als auch jene, die bei erhöhter Sichtbarkeit zu ihrer erneuten Unsichtbarkeit beitragen: kurz gesagt, durch wen oder was werden Tailings unsichtbar gehalten und gemacht und wer oder was treibt ihre Sichtbarkeit an?
Pyramide der gesellschaftlichen (Un-)Sichtbarkeit der Tailings
Das Stufenmodell besteht aus vier Stufen: die materielle und allgemeine Unsichtbarkeit (I), die lokale Sichtbarkeit (II), die öffentliche Sichtbarkeit (III) und die öffentliche Anerkennung der Tailings als Ursache eines sozial-ökologischen Problems (IV). Die Stufen sind dabei allerdings kein permanenter Zustand eines Tailings, sondern stellen Etappen des (Un-)Sichtbarkeitsprozesses dar. Ein gleicher Fall kann innerhalb des Modells im Laufe der Zeit wiederholt auf- und absteigen. Die (Un-)Sichtbarkeitsanalyse soll es darüber hinaus ermöglichen, die untersuchten Fälle weder rein mikrosoziologisch zu analysieren noch die beobachteten Phänomene allein auf makrosoziologische Erklärungsansätze zurückzuführen. Wie die Forschungsergebnisse der einzelnen Fälle gezeigt haben, setzt sich die (Un-)Sichtbarkeit aus sehr unterschiedlichen Faktoren innerhalb der einzelnen Stufen zusammen, die allesamt von großer Bedeutung sind, um die (Un-)Sichtbarkeitsausprägungen und ihre Ursachen zu begreifen. Um in diesem Kontext die handelnden Akteure und ihre (inter)actions zu untersuchen, müssen gleichzeitig sowohl die materiellen und sozialen Gegebenheiten sowie der sozioökonomische Gesamtkontext der chilenischen Gesellschaft und die strukturellen Rahmenbedingungen, in denen sie handeln und die ihr Handeln teilweise direkt beeinflussen, berücksichtigt werden.
Akteure innerhalb der (Un-)Sichtbarkeitspyramide
Die von den Tailings betroffene Bevölkerung ist die einzige Akteursgruppe, die in allen Stufen der (Un-)Sichtbarkeit vorzufinden ist. Auf indirekte Weise trifft das zwar auch auf den Staat zu, da dieser in den meisten Fällen durch die Bestandaufnahme der Tailings durch den Sernageomin (2015, 2020) zumindest über die Anwesenheit der Tailings an diesen Orten informiert ist. Da der Staat allerdings auf der ersten und größtenteils auch auf der zweiten Stufe vorwiegend abwesend ist, beschränkt sich seine Beteiligung – wenn überhaupt – auf interne Aushandlungsprozesse zwischen den staatlichen Behörden. Während in den Stufen I und II regionale staatliche Behörden für die Tailings zuständig sind, schalten sich ab der dritten Phase die überregionalen Behörden und Ministerien ein, sowie Angehörige der nationalen politischen Klasse und sogar amtierende PolitikerInnen. Die Verursacher der Tailings, die größtenteils mittlere oder große Bergbauunternehmen sind, sind bei vielen Tailings – besonders bei den historischen der ersten Stufe – nicht mehr existent oder rechtlich nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen. Dafür sind sie ab der zweiten Stufe teilweise allgegenwärtig. Auf der ersten Stufe ist die Wissenschaft meistens nicht und auf der zweiten nur in Ausnahmefällen beteiligt.4 Auf der anderen Seite nimmt die Zahl wissenschaftlicher Studien zu Tailings bei den wenigen Fällen, die die Stufe III und IV erreichen, zu. Die lokale Zivilgesellschaft ist frühestens ab der zweiten Stufe anzutreffen und die nationalen NGO wiederum erst ab der dritten. Das gleiche gilt auch für die lokalen und nationalen öffentlichen Medien. Erst auf der obersten Stufe wird ein manifester Konflikt juristisch ausgetragen oder von staatlicher Seite aus offiziell als zu lösendes Problem anerkannt, etwa durch die Anerkennung als Opferzone (zona de sacrificio). Hier verlässt der Konflikt die reine Aushandlungsebene zwischen den beteiligten AkteurInnen mit ihren jeweiligen (Macht-)Ressourcen und wird auf institutionalisiertem Weg gelöst. Ab dieser Stufe fließen vor allem auch Erkenntnisse des Kontextkapitels 5 in meine Überlegungen ein und es werden sowohl die institutionalisierte Macht der jeweiligen Akteure als auch die bestehenden Strukturen relevant.

9.1.1 Erste Stufe der (Un-)Sichtbarkeit

Die materielle Unsichtbarkeit der Schadstoffe und die gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Betroffenen
Die Großzahl der heute in Chile bestehenden bekannten und registrierten Tailings befinden sich auf Stufe I. Sie werden demnach weder öffentlich als sozial-ökologisches Problem wahrgenommen noch von den Betroffenen klar als solches identifiziert. Diese Stufe stellt so etwas wie den Idealtypus eines slow violence-Phänomens dar. Auf dieser Stufe bestehen die beteiligten Akteure hauptsächlich aus den Betroffenen,5 den zuständigen staatlichen Behörden und dem verursachenden Unternehmen, wobei letzteres in der Regel nicht mehr existiert oder nicht mehr vor Ort aktiv ist. Viele der Tailings aktiver Bergwerke und so gut wie alle inaktiven und historischen Tailingdeponien sind in Chile derzeit gesellschaftlich komplett unsichtbar. Der in dieser Forschung untersuchte Fall von Pabellón ist einer von ihnen. Ausschlaggebend für die Unsichtbarkeit der Tailings in Pabellón sind in erster Linie die materiellen und sozial-ökonomischen Gegebenheiten. Die meisten Tailings – wie auch die in Pabellón – zeichnen sich durch ihre materielle Unsichtbarkeit aus. Da sie sich hauptsächlich aus Elementen aus der Umgebung zusammensetzen (Erze), sind sie ohne das Wissen über ihre Existenz meist nicht von ihrer Umgebung unterscheidbar. Zu der Schwierigkeit, die Tailingdeponien selbst von ihrer Umwelt zu unterscheiden, kommt noch die Tatsache hinzu, dass die in ihnen enthaltenen Schadstoffe (eine Mischung unterschiedlicher Chemikalien und Schwermetallen) für die menschlichen Sinne nicht wahrnehmbar sind und somit die Kernmerkmale der slow violence (Nixon 2011) aufweisen, indem sie sich schleichend und unbemerkt auf die Umgebung ausbreiten, in Pflanzen, Körper und ganze Nahrungsketten und Ökosysteme eindringen und ihre Wirkung meistens kumulativ und über lange Zeiträume entfalten. Besonders bei historischen Tailings ist ihre Existenz und Zusammensetzung durch die heutige Abwesenheit der verursachenden Produktionsstätten und das über die Jahre eingetretene kollektive Vergessen meistens nicht mehr rekonstruierbar.
Neben der materiellen Unsichtbarkeit der Tailings ist es besonders die gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Betroffenen selbst, die zur Unsichtbarkeit ihrer Probleme beiträgt. Bei den BewohnerInnen von Pabellón handelt es sich größtenteils um sozial und ökonomisch benachteiligte und gesellschaftlich marginalisierte Bevölkerungsgruppen. Sie verfügen weder über grundlegende Infrastruktur6 noch können sie sich bei der Gemeinde Gehör für ihre Anliegen verschaffen. Über die Gemeinde hinaus sind sie für staatliche Behörden größtenteils inexistent. Die mangelhafte Infrastruktur und das fehlende „ökonomische“ und „soziale Kapital“ (Bourdieu 1983) schränkt sowohl ihren Zugang zum bestehenden offiziellen Wissen über Tailings als auch ihre Handlungsmöglichkeiten erheblich ein. Weder sie selbst noch ihre Probleme werden in den meisten Fällen von den Behörden, den (Sozial-)Wissenschaften oder von den öffentlichen Medien berücksichtigt, was sie zu gesellschaftlich unsichtbaren Betroffenen macht. Pabellón stellt in dieser Hinsicht keinen Extremfall dar, eine derartige Unsichtbarkeit der Betroffenen ist bei slow violence-Phänomenen häufig der Fall (Nixon 2011:4). Die Unsichtbarkeit der Betroffenen verringert die Wahrscheinlichkeit einer gesellschaftlichen Sichtbarkeit von Tailings. Dies gilt sogar in solchen Fällen, in denen eine klare Gefahrenwahrnehmung der lokalen BewohnerInnen gegenüber der Tailings besteht.
Das Verhältnis von (Nicht-)Wissen und inaction zur Unsichtbarkeit der Tailings
Unter den BewohnerInnen von Pabellón konnte sowohl eine allgemeine Ungewissheit bezüglich der Tailings als auch Personengruppen mit unterschiedlichen Formen des Nichtwissens identifiziert werden. Diese reichen von vereinzelten Personen die ein nicht-gewusstes Nichtwissen (Wehling 2011:118ff) über die Anwesenheit der Tailings aufweisen, über eine große Mehrheit, die angibt zu vermuten, zu ahnen oder sich sogar sicher zu sein, dass es sich um Tailings handelt, allerdings ein gewusstes Nichtwissen (ebd.) über ihre Bestandteile und möglichen Folgen beschreiben, bis hin zu einigen wenigen BewohnerInnen, die unterschiedliche Wissensformen aufweisen, die ihnen ermöglichen, die Tailings sicher als Risikoquelle einzustufen. Insgesamt bleibt der Wissensaustausch unter den BewohnerInnen weitestgehend aus.7 Alle weisen ein großes Maß an Ungewissheit auf und verweisen diesbezüglich auf den fehlenden Zugang zu offiziellen Daten. Dennoch besteht unter knapp der Hälfte der Betroffenen eine individuelle Gefahrenwahrnehmung. Interessant dabei ist, dass die Risikowahrnehmung nicht direkt mit der Art des (Nicht-)Wissens in Verbindung steht. BewohnerInnen mit einem ähnlichen Wissensstand und -grad über die Tailings weisen teilweise entgegengesetzte Wahrnehmungen auf.8 Oft werden sogar die gleichen Faktoren als Beweise für eine bestehende Gefahr oder die Harmlosigkeit der Bergbaurückstände herangezogen. Im Alltag sind weder die Tailings an sich noch das Wissen über sie oder die unterschiedlichen Gefahrenwahrnehmungen ihnen gegenüber ein präsentes Thema unter den BewohnerInnen. In Pabellón sind die Tailings demnach kein kollektiv wahrgenommenes sichtbares Problem.
Auch wenn unter den BewohnerInnen eine allgemeine inaction gegenüber der Tailings zu beobachten ist und jegliche Formen des Widerstandes oder der Entstehung eines sozial-ökologischen Konflikts ausblieben, konnten unter einigen von ihnen Alltagspraktiken identifiziert werden, die dem Schutz ihrer Gesundheit vor den möglichen schädlichen Wirkungen durch die Tailings dienen. Sie sind als individuelle Antwort auf die unter manchen von ihnen bestehende toxische Frustration (siehe unten) zu deuten, als einzige mögliche Form sich der ungewissen, aber in diesen Fällen bewussten Gefahr zumindest teilweise zu entziehen. Ohne den Zugang zu offiziell generiertem Wissen über die Tailings und ohne das notwendige soziale und ökonomische Kapital ist die Bevölkerung – auch im Falle der Entstehung einer kollektiven Risikowahrnehmung – in ihren Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt.
Auch die staatlichen Behörden zeichnen sich im Fall von Pabellón durch ihre allgemeine inaction bezüglich einer Problemlösung aus. Ohne äußeren Druck9 scheint sich das Vorhandensein wissenschaftlich erzeugten Wissens über die möglichen ökologischen und gesundheitlichen Risiken, die von den Tailings auf dieser Sichtbarkeitsstufe ausgehen, kaum auf die Praktiken und Handlungen der zuständigen staatlichen Behörden auszuwirken. Obwohl zu den Tailings in Pabellón mittlerweile reichlich anerkanntes Wissen über ihre Zusammensetzung und den deutlich über den Richtwerten liegenden Schadstoffkonzentrationen besteht, Pabellón (zusammen mit Totoralillo) die Prioritätenliste des Umweltministeriums anführt und in dem 2012 ins Leben gerufenen Programm10 zur Aufarbeitung und Wiederherstellung der durch den Bergbau kontaminierten Böden in Chile als erstes behandelt werden sollte, wurden bis zur letzten Feldforschungsreise 2019 weder Maßnahmen zur Abschwächung der Umweltverschmutzung vorgenommen noch die Betroffenen oder die Gemeinde informiert. Auch die im Rahmen des staatlichen Programms erhobenen Daten wurden bisher weder veröffentlicht noch die Betroffenen informiert. Darüber hinaus ist der Wissensaustausch zu anderen beteiligten Behörden – wie etwa dem Bergbau- und Gesundheitsministerium oder dem Sernageomin – mangelhaft bis inexistent. Hinzu kommt, dass die genauen Zuständigkeiten bezüglich der Tailings auch innerhalb und unter den Behörden unklar sind und im Falle einer klaren Zuständigkeit – wie beim oben erwähnten Programm des Umweltministeriums – die finanziellen Mittel fehlen, um diese umzusetzen. Das Ergebnis ist, dass sich die actions der Behörden bisher darauf beschränken, weiteres Wissen über die wenigen bereits bekannten Fälle zu generieren, ohne dass dieses später verbreitet oder zur Behebung des Problems angewandt würde. Diese hier aufgeführten Faktoren, Umstände und Prozesse bilden zusammen das, was ich in dieser Forschung als toxische Institutionalität bezeichne. Sie führt beispielsweise dazu, dass die Umweltbehörden im Fall von Pabellón zwar über reichlich offiziell anerkanntes Wissen über die Tailings verfügen und dennoch gleichzeitig unter ihnen lange Zeit ein ungewusstes Nichtwissen bezüglich der Existenz der dort Lebenden und von ihnen betroffenen Menschen bestand. Dass sowohl das Regionalbüro als auch die für Tailings zuständige Abteilung des Umweltministeriums in Santiago auch nach der Durchführung der ersten Untersuchungen vor Ort mehrmals darauf hingewiesen haben, dass in Pabellón keine direkt Betroffenen vorzufinden seien, zeigt einmal mehr die Unsichtbarkeit dieser Betroffenen sowie das inkohärente Agieren der Behörden.11 Dieses ungewusste Nichtwissen über die Existenz von Betroffenen hat sich im Laufe der Zeit in Richtung eines gewussten Nichtwissen über die gesundheitlichen und sozialen Folgen der Tailings für die Betroffenen verschoben.
Eine völlige Ausnahme und einen großen Unterschied zu anderen Tailings auf dieser (Un-)Sichtbarkeitsstufe stellt auch die Tatsache dar, dass in Pabellón seit 1998 eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen von verschiedenen nationalen und internationalen Institutionen durchgeführt wurde. Wie in Kapitel 6 ausführlich dargestellt wurde, zeichnen sich diese dadurch aus, dass kein Wissensaustausch zwischen den einzelnen Behörden und Forschungsinstituten stattgefunden hat und sie sich nicht aufeinander beziehen. Als Folge einer toxischen Institutionalität sind sie vom kollektiven Vergessen betroffen und weisen aufgrund dieses verlorenen Wissens wiederum heute mangelndes Wissen über den Entstehungsprozess der Bergbaurückstände auf, was Probenentnahmen teilweise willkürlich macht und zu einer großen Varianz in den Ergebnissen führt. Das kollektive Vergessen und das der Wissenschaft inhärente Nichtwissen sind die zwei Hauptgründe für die wissenschaftliche Produktion von Unbestimmtheit. Die wenigsten dieser Studien sind außerdem heute öffentlich verfügbar und es konnte in dieser Forschung konstatiert werden, dass das in ihnen gesammelte Wissen teilweise aktiv zurückgehalten wurde, woran vorwiegend staatliche Behörden beteiligt waren.12
Während zu den in dieser Forschung untersuchten Tailings von Pabellón – im Vergleich zu allen anderen verlassenen historischen Tailings – überdurchschnittlich viel wissenschaftliches Wissen vorliegt, wurden zu der großen Mehrheit der 641 inaktiven oder verlassenen Tailingdeponien (Sernageomin 2020) bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen durchgeführt. Neben diesem gewussten Nichtwissen über die Zusammensetzung der bisher identifizierten Tailings besteht innerhalb der Behörden außerdem ein ungewusstes Nichtwissen über die tatsächliche Anzahl historischer und verlassener Tailings13 in Chile sowie deren Lage und Standort, Zusammensetzung und den von ihnen möglicherweise ausgehenden Risiken.
Auch wenn die Untersuchung in Pabellón bezüglich des Wissensbestandes über verlassene und inaktive Tailings ein verzerrtes Bild darstellt, lässt sich anhand der geführten Interviews mit WissenschaftlerInnen, ExpertInnen und MitarbeiterInnen der verschiedenen staatlichen Behörden sowie durch die Aufarbeitung der bestehenden Literatur und den zugänglichen wissenschaftlichen Untersuchungen ein allgemeines Nichtwissen über die Zusammensetzung dieser Art von Tailings sowie teils auch über die Existenz dieser Tailings konstatieren. Dieses und das der Wissenschaft inhärente Nichtwissen über Aus-, Wechsel- und Langzeitwirkungen von Chemikalien und Schwermetallen (Vogel 2008) hat sowohl eine allgemeine Ungewissheit (Roberts und Langston 2008) unter allen beteiligten Akteuren sowie eine offiziell als Evidenz anerkannte Produktion von Unbestimmtheit zur Folge und führt gleichzeitig zu dem was Peter Wehling (2011) eine Gouvernance des Nichtwissens nennt. Solange kein manifester und medial wirksamer sozial-ökologischer Konflikt oder ein tragischer Unfall in Zusammenhang mit Tailings besteht, ist unter staatlichen Behörden vorwiegend eine toxische Institutionalität zu beobachten. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die historischen und inaktiven Tailings zu einem kaum beachteten Randthema gemacht werden, dem so gut wie keine Ressourcen zugeteilt werden.14 Das hat auch damit zu tun, dass die Umweltproblematik dieser Tailings weder öffentliche Aufmerksamkeit genießt noch ihr aktuelle politische Relevanz zukommt. Lokale Behörden und die betroffenen Gemeinden werden nicht über die möglichen Risiken der dort bestehenden Tailings eingeweiht. Orte wie Pabellón zeichnen sich deshalb nicht nur durch die Tatenlosigkeit der Behörden aus, sondern auch durch einen komplett abwesenden Staat.
Die toxische Kombination aus Ungewissheit und Machtlosigkeit
Die prekäre sozio-ökonomische Situation der Betroffenen und die Überlappung mehrerer Umweltprobleme vor Ort lassen in Pabellón einen eindeutigen Fall der environmental injustice (Pulido 1996, 2015; Newton 2009) identifizieren. Dass von Tailings vorwiegend gesellschaftlich benachteiligte Gruppen betroffen sind, liegt teils daran, dass Bergwerke besonders häufig in abgelegenen und strukturschwachen Gebieten vorkommen. Andererseits liegen historische, verlassene und inaktive Tailingdeponien meistens brach, was dazu führt, dass Personengruppen ohne Grundbesitz sich vermehrt (meist unwissentlich) auf den schadstoffbelasteten Geländen niederlassen, wie es auch in Pabellón der Fall war. Hier konnte beobachtet werden, dass einerseits eine Reihe unmittelbarer und dringlicher sozialer, ökonomischer und ökologischer Probleme das slow violence-Phänomen im Alltag fast gänzlich überlagern, während andererseits die Betroffenen selbst und mit ihnen auch ihre Probleme größtenteils gesellschaftlich unsichtbar sind. Im Fall von Pabellón schildern die BewohnerInnen ihre allgemein schlechten Lebensbedingungen und andere dringlichere Umweltprobleme, wie etwa den Wassermangel oder die Kontamination durch Pestizide als zentrale Gründe für die mangelnde Priorität des Problems der Tailings in ihrem Alltag. Sie nennen außerdem ein allgemeines Ungerechtigkeitsgefühl sowie eine tiefe Machtlosigkeit gegenüber den Unternehmen und dem Staat, die zu Ohnmacht und einer erzwungenen Normalisierung ihrer Probleme führen. Fälle wie Pabellón sind in Chile meistens durch einen abwesenden Staat sowie kaum existierende Handlungs- und Einflussmöglichkeiten seitens der Betroffenen gekennzeichnet. Die Ungewissheit bezüglich der möglichen Risiken der Tailings stößt dabei auf die Gewissheit ihrer eigenen Machtlosigkeit. Die Situation der BewohnerInnen von Pabellón lässt sich hinsichtlich der Mehrheit von ihnen als toxische Ungewissheit (Auyero & Swinstun 2008a) bezeichnen. Bei einer zweiten, kleineren Gruppe besteht zwar kein Zugang zu offiziell anerkanntem Wissen, dennoch aber eine klare Risikowahrnehmung und die Gewissheit über die Tailings als Gefahr für die eigene Gesundheit und Umwelt. Diese BewohnerInnen sind dem Risiko in vollem Bewusstsein darüber ausgesetzt, was sich in Kombination mit der Gewissheit ihrer Machtlosigkeit in einer toxischen Frustration äußert (Singer 2011).
Die beschriebenen materiellen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten, die allgemeine Ungewissheit und der fehlende Zugang zu offiziell anerkanntem wissenschaftlichem Wissen über die Tailings sowie die beschränkten Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen verhindern in Pabellón die Entstehung eines latenten oder manifesten sozial-ökologischen Konflikts und somit einer der wenigen Möglichkeiten der Sichtbarwerdung des bestehenden Umweltproblems. Die Kombination aus Unsichtbarkeit, Ungewissheit und Machtlosigkeit der Betroffenen führt dazu, dass auch eine klare Gefahrenwahrnehmung keinen großen Einfluss auf die Sichtbarkeit hat. Während der Wechsel zwischen den anderen (Un-)Sichtbarkeitsstufen teilweise fließend geschieht, ist diese Stufe oftmals ein permanenter Zustand der Unsichtbarkeit, indem sich die materielle Unsichtbarkeit der Tailings und die Unsichtbarkeit der Betroffenen gegenseitig verstärken.

9.1.2 Zweite Stufe der (Un-)Sichtbarkeit

Kollektive Gefahrenwahrnehmung und lokale Sichtbarkeit der Tailings
Auf der zweiten (Un-)Sichtbarkeitsstufe besteht zwar eine kollektive Gefahrenwahrnehmung bezüglich der Tailings unter den Betroffenen, die Sichtbarkeit des Umweltproblems bleibt allerdings partiell und tritt nicht über die lokale Ebene hinaus. In diesen Fällen besteht unter den Betroffenen größtenteils das Wissen über die Existenz der Tailings und meistens auch eine Risikowahrnehmung gegenüber diesen. Die materielle Unsichtbarkeit der Tailings wird in diesen Fällen zumindest insofern überwunden, dass die Betroffenen die durch die Produktion der Tailings entstehenden Veränderungen in der Umgebung, beobachten und wahrnehmen können. Deshalb handelt es sich hierbei oft um Tailings die einem aktiven Bergwerk angehören. Dies war beispielsweise anfangs in Chañaral der Fall, als sich die Tailings von Codelco Mitte des letzten Jahrhunderts langsam an der Bucht anhäuften und auf diese Weise eine physische Veränderung des Strandes sowie den drastischen Rückgang der vorher vorhandenen biologischen Vielfalt verursachten. Auch in Tierra Amarilla, einer Kleinstadt, in der der Bergbau allgegenwärtig ist, konnten die BewohnerInnen über Jahre die Entstehung eines großen „Berges“ in unmittelbarer Nähe zur Stadt durch die Anhäufung der Tailings beobachten. Auf diese Weise haben die Tailings in beiden Fällen eine Wirkungskraft (Kärger et al 2017:99) auf die menschliche Wahrnehmung und Handlung ausgeübt und konnten von den BewohnerInnen als mögliche Risikoquelle wahrgenommen werden. Auch die Betroffenen selbst sind bei den auf dieser Stufe zugeordneten Fällen nicht gänzlich gesellschaftlich unsichtbar, wie es bei den BewohnerInnen von Pabellón der Fall ist. Dennoch sind auch unter ihnen prekäre Lebensumstände und Arbeitsbedingungen sowie eine mangelhafte und teilweise ausbleibende staatliche Infrastruktur zu beobachten. Es besteht also sowohl eine Gefahrenwahrnehmung unter den BewohnerInnen von Tierra Amarilla sowie eine Art der kollektiven Sichtbarkeit des Problems, die allerdings meistens nicht über einen latenten Konflikt hinaus geht und durch unterschiedliche Faktoren auf der lokalen Ebene gehalten wird.
Wie schon angedeutet erlangen meistens jene Tailings diese zweite (Un-)Sichtbarkeitsstufe, die einem aktiven Unternehmen zugeordnet werden können. Dies konnte anhand der aktuellen Lage von Tierra Amarilla und der Geschichte Chañarals beobachtet werden und stimmt mit den Ergebnissen der bestehenden Forschungen zu ähnlichen Fällen überein (Svampa 2019:71ff; Bechtum 2022; Ureta 2022; Ureta & Contreras 2020, Vergara 2011). Neben den BewohnerInnen sind die zentralen Akteure auf dieser Stufe demnach die Unternehmen, von denen die Bergbaurückstände stammen. Während die Gemeinde sowohl in Tierra Amarilla als auch in der Geschichte von Chañaral eine aktive Rolle bezüglich des Umweltproblems eingenommen hat, tendieren regionale und nationale Behörden dazu, sich aus diesen Gebieten zurückzuziehen oder sind von vornherein kaum anwesend. Besonders wenn es sich um große Bergbaukonzerne handelt, bilden sich extraktivistische Enklaven (Svampa 2019:71ff) wobei der Staat eine passive Komplizenschaft eingeht, einen Großteil der Bereiche staatlicher Zuständigkeit auf lokaler Ebene diesen Unternehmen überlässt, welche dadurch ihre territoriale Macht (Landherr & Graf 2017, 2021) erweitern.
Die Produktion von Ungewissheit durch Unternehmen, toxische Institutionalität und actions zur (Un-)Sichtbarkeit der Tailings auf lokaler Ebene15
Während das Wissen der BewohnerInnen von Tierra Amarilla von gewusstem Nichtwissen über die genauen Bestandteile und möglichen Wirkungen der Tailings bis hin zu unterschiedlichen Wissensformen reicht, die größtenteils aus ihren Erfahrungen oder aus der Arbeit im verursachenden Bergwerk stammen, haben auch hier die Betroffenen größtenteils keinen Zugang zu wissenschaftlich generiertem Wissen, das ihre Gefahrenwahrnehmung offiziell bestätigen würde. Dennoch konnte auf lokaler Ebene eine kollektive Gefahrenwahrnehmung beobachtet werden, die sich in einem meist latenten, aber zwischenzeitlich auch manifesten, sozial-ökologischen Konflikt äußert. Dabei werden besonders die gesundheitlichen Folgen und die Häufung der Krankheiten vor Ort von den meisten BewohnerInnen direkt mit den Tailings als Schadstoffquelle in Verbindung gebracht. Die actions der Bevölkerung reichen in Tierra Amarilla von Protestaktionen und direkten Forderungen an das Bergbauunternehmen seitens einzelner BewohnerInnen und Nachbarschaftsorganisationen (juntas de vecinos) bis hin zu einem durch die Gemeinde eingeleiteten juristischen Verfahren gegen das Unternehmen. Hier kam es zu einem kurzzeitigen Überschreiten auf die dritte Stufe der (Un-)Sichtbarkeitspyramide. Dabei trug allerdings besonders der fehlende Zugang zu anerkannten wissenschaftlichen Daten über die Bestandteile der Tailings und ihre gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen dazu bei, dass der Konflikt immer wieder in seinen latenten Zustand zurückkehrte. Durch dieses fehlende Werkzeug zur breiteren öffentlichen Bestätigung und Anerkennung des Problems konnten die Wissensformen, die ihrer Gefahrenwahrnehmung zugrundeliegen, vom Unternehmen und teilweise auch von staatlichen Behörden immer wieder delegitimiert und als ungültige „Mythen“ (Ureta & Contreras 2021) abgestempelt werden. Auf diese Weise wurden dem Konflikt im Laufe der Zeit immer wieder die „objektiven“ Grundlagen entzogen. Die Mehrheit der Betroffenen verfallen deshalb heute – trotz Gefahrenwahrnehmung – einer toxischen Frustration und damit einhergehend einer alltäglichen inaction gegenüber der Tailings.
Mit Blick auf die Akteurskonstellation auf der zweiten Stufe ist zu beachten, dass die Sorgen der Bevölkerung den Interessen der Bergbauunternehmen meistens direktkonträr gegenüberstehen. Das Unternehmen besitzt das Wissensmonopol über den Produktionsprozess und die genaue Zusammensetzung der Tailings und somit gleichzeitig auch über die möglichen Risiken, die diese bergen. Dieses Wissen ist weder für die Öffentlichkeit noch für staatliche Behörden zugänglich. Nur in den seltenen Fällen, in denen das Unternehmen wissenschaftliches Wissen generiert hat, um einen „Mythos“ der Bevölkerung zu widerlegen, wurden die Untersuchungen medial inszeniert und die Ergebnisse unter Anwesenheit nationaler Medien verkündet. Durch die vom Unternehmen kontrollierte Wissensproduktion und das gezielte Zurückhalten von Informationen und Daten wird die gezielte Produktion von Ungewissheit vorangetrieben und Zweifel in die kollektive Gefahrenwahrnehmung gebracht. Durch die materielle Unsichtbarkeit der Bestandteile der Tailings und das fehlende staatlich generierte Wissen über sie, können diese Ergebnisse von anderen Akteuren wiederum nur schwer widerlegt werden. Diese Phänomene des doubt producing durch Unternehmen (Nixon 2011:40) wurden in Tierra Amarilla auch von Sebastián Ureta und Andrés Contreras (2021) wissenschaftlich belegt.
Solange ein Konflikt ausbleibt oder latent ist, beschränken sich die unternehmerischen actions durch unterschiedliche Unternehmenspraktiken der „guten Nachbarschaft“ (políticas del buen vecino) auf die Vermeidung möglicher Konflikte. Vorwiegend handelt es sich dabei um Corporate Social Responsability (CSR)-Politik (siehe auch Bechtum 2022), die von Infrastrukturprojekten, diversen Freizeitangeboten, kulturellen Veranstaltungen und Weiterbildungsangeboten bis hin zu Katastrophenhilfe und der Finanzierung von Förderprogrammen, Stipendien und in der nahegelegenen Regionalhauptstadt Copiapó sogar ganzer Universitäten und Krankenhäuser reicht. All diese Projekte und Unternehmenspraktiken werden vom Unternehmen dokumentiert und medial verbreitet, wobei sich das Unternehmen als sozial und nachhaltig inszeniert, indem es sich als „guter Nachbar“, Vorreiter des green mining und Pionier in der Sicherheit der ArbeiterInnen darstellt. Sobald Widerstand seitens der BewohnerInnen entsteht, greift das Unternehmen direkt und aktiv ein, um das Problem schnellstmöglich zu lösen. Dies geschieht meistens einerseits durch die Entschädigung einzelner sichtbarer Köpfe sozialer Bewegungen oder Vorsitzender der Nachbarschaftsorganisationen, was nicht nur treibende Kräfte aus der Bewegung nimmt, sondern gleichzeitig oftmals zur inneren Spaltung dieser führt. Andererseits werden widerständige Akteure oftmals auch durch eine feste Anstellung in das Unternehmen integriert. Wenn der Konflikt – wie 2014 in Tierra Amarilla – nicht mehr auf diese Weise gelöst werden kann, sind auch Abkommen zwischen der Gemeinde und dem Bergwerkbetreiber zur Niederlegung des Konflikts gegen Zahlungen des Unternehmens üblich. In der Öffentlichkeit konnte das Problem somit damals vorerst als gelöst dargestellt werden16 und dadurch die notwendige Umweltzulassung zur Verlängerung der Abbaugenehmigung des Unternehmens erlangt werden.
Hinter dem genannten Abkommen zwischen Gemeinde und Bergbauunternehmen in Tierra Amarilla verbargen sich allerdings noch weitere Praktiken und actions des Unternehmens, die teilweise auch der dritten (Un-)Sichtbarkeitsstufe entsprechen: Als der Konflikt kurzzeitig manifest wurde und durch das juristische Verfahren sowie Auftritte des damaligen Bürgermeisters im öffentlichen Fernsehen drohte, die Stufe der lokalen Sichtbarkeit zu verlassen, nutzte das Unternehmen nicht nur die starke Lobby des Sektors, sondern auch informelle Kontakte und Netzwerke der besitzenden Klasse zur politischen Elite des Landes. Auf diese Weise konnte – trotz des juristischen Verfahrens – nicht nur die Unterstützung des Umweltministers zur Verlängerung der Abbaugenehmigung des Unternehmens erlangt werden, sondern darüber hinaus die Gemeinde dazu gebracht werden, ihre Anzeige zurückzuziehen und das oben genannte Abkommen mit Candelaria zu unterzeichnen, um das Problem als gelöst darzustellen. Der hinter dieser Einigung stehende Bestechungsskandal wurde dann 2019 öffentlich und zeigte die Beteiligung von amtierenden ParlamentarierInnen und PolitikerInnen auf nationaler und regionaler Ebene, Lobbyisten, den damaligen Präsidenten und Vizepräsidenten von Candelaria und indirekt sogar Repräsentanten anderer großer Unternehmensgruppen auf. Dieser Bestechungsfall ist kein Einzelfall unter den in Chile operierenden großen Bergbauunternehmen und Teil einer ganzen Reihe an Korruptionsfällen, die in den letzten Jahren aufgedeckt wurden.17 Im Mittelpunkt dieser Aushandlungen und Abmachungen steht für das Unternehmen die Aufrechterhaltung der extraktiven Tätigkeiten des Bergbauunternehmens. Zusammenfassend kann gesagt werden: Je stärker die Sichtbarkeit des durch Tailings verursachten Umweltproblems und der Druck anderer Akteure – in diesem Fall der Betroffenen – desto aktiver setzen Unternehmen ihre Machtressourcen ein, um die öffentliche Sichtbarkeit des Problems zu verhindern. Das Augenmerk liegt dabei nicht auf der Lösung des Problems, sondern darauf, den Konflikt latent zu halten und zu verhindern, dass er die nächste Sichtbarkeitsstufe erreicht.
Während sich die Aushandlungsprozesse in Tierra Amarilla auf lokaler Ebene vorwiegend zwischen lokalen Organisationen oder der Gemeinde und dem betrachteten Bergbauunternehmen abspielen, halten sich regionale und nationale Behörden zurück und überlassen dem privaten Unternehmen zentrale staatliche Funktionen vor Ort. Der Staat ist in Tierra Amarilla und Pabellón in vielerlei Hinsicht abwesend. In besonderem Maße gilt dies allerdings mit Blick auf die Tailings. Obwohl in der Gemeinde von Tierra Amarilla eine sehr große Anzahl an Tailingdeponien – darunter laut staatlicher Untersuchungen auch mehrere der landesweit giftigsten – liegen, gibt es weder einen Wissensaustausch noch eine Zusammenarbeit des Umweltministeriums mit der Umweltbeauftragten der Gemeinde. Die Gemeinde hat nicht einmal Zugang zu den bisher nicht veröffentlichten Untersuchungsergebnissen. Die wenigen bestehenden, staatlichen, wissenschaftlichen Studien – in diesem Fall des Gesundheitsministeriums – werden vom jeweiligen Regionalbüro durchgeführt, ohne die Gemeinde einzubeziehen oder zu informieren. Weitere Untersuchungen und darauffolgende staatliche Handlungen blieben trotz hoher Schwermetallkonzentrationen unter den getesteten BewohnerInnen aus und sind nicht geplant. Die toxische Institutionalität in Bezug auf staatliche Wissensgenerierung zu Tailings wird dadurch gesteigert, dass die Zusammenarbeit und der Wissensaustausch zwischen den Behörden und Ministerien über die Tailings quasi inexistent ist. Deshalb kommt es auch wiederholt zu einer Gouvernance des Nichtwissens (Wehling 2011), die im Extremfall etwa zu staatlichen Sozialbauten auf einer Tailingdeponie führt, wie in dieser Forschung mehrmals konstatiert wurde. Die Gemeinde von Tierra Amarilla wiederum fungiert weniger als staatliche Instanz, sondern vorwiegend als Zwischenspieler zwischen Unternehmen und Bevölkerung, der von beiden Seiten unter Druck steht, dabei langfristig allerdings meistens dem Druck des Unternehmens erliegt. Ein entscheidender Grund dafür sind die knappen staatlichen finanziellen Mittel, die der Gemeinde zugeteilt werden, was sie stark von der externen Finanzierung durch die anliegenden (Bergbau-)Unternehmen abhängig macht. LokalpolitikerInnen und Gemeinde waren sowohl an den actions zur Sichtbarmachung der Umweltprobleme seitens der Bevölkerung als auch später an den actions des Unternehmens zu ihrer Unsichtbarmachung beteiligt. Dies und die wiederholten Korruptionsfälle haben die Gemeinde als vertrauenswürdige Ansprechpartner unter der Bevölkerung delegitimiert.
Territoriale Macht und abwesender Staat: lokale Grundstrukturen der Unsichtbarkeit
Die territoriale Macht der Unternehmen, die bei extraktivistischen Enklaven besonders stark ausgeprägt ist (Svampa 2020: 78f; Landherr & Graf 2021), beruht vorwiegend auf der Kontrolle über natürliche Ressourcen vor Ort durch den Besitz oder die Konzessionierung von Land, Wasser und Untergrund sowie dem Einfluss auf die lokale soziale Infrastruktur, die örtlichen öffentlichen Güter und besonders auch auf den regionalen Arbeitsmarkt (Landherr & Graf 2017, 2021). Hinzu kommt die Kontrolle über lokale Medien und der beschriebene starke Einfluss auf lokale PolitikerInnen und Behörden. Die Anwesenheit von großen extraktiven multinationalen Konzernen wie Candelaria in Tierra Amarilla, geht häufig mit der Zerstörung der lokalen Ökonomie sowie der Verdrängung anderer Wirtschaftssektoren sowie der Subsistenzwirtschaft einher (Svampa 2019:71ff; Landherr & Graf 2021) und erhöht dadurch die ökonomische Abhängigkeit der BewohnerInnen von diesen großen Unternehmen. Die BewohnerInnen von Tierra Amarilla sind allerdings selten direkt beim Unternehmen angestellt. Diejenigen, die trotzdem für Candelaria oder in anderen Bergwerken arbeiten, tun dies meist für Subunternehmen unter schlecht bezahlten, unsicheren und prekären Arbeitsbedingungen. Dennoch hängen die meisten BewohnerInnen indirekt ökonomisch vom Bergbau ab, was bei vielen von ihnen einen Interessenkonflikt zwischen der Umweltbelastung, ihren gesundheitlichen Folgen und der verminderten Lebensqualität einerseits und ihrer ökonomischen Abhängigkeit von Bergbau andererseits hervorruft. Die Abhängigkeit von den extraktiven Unternehmen wird dadurch verstärkt, dass an Orten wie in Tierra Amarilla häufig eine hohe Arbeitslosenquote sowie durch den abwesenden Staat hervorgerufene mangelhafte Gesundheits- und Bildungseinrichtungen vorherrschen. Neben der schlechten sozialen Infrastruktur herrscht in vielen Stadtteilen ein Mangel an Grundversorgung wie etwa Kanalisation, Trinkwasser oder Straßen. Genauso wie in Pabellón ist auch in Tierra Amarilla darüber hinaus eine Überlappung vieler gleichzeitig bestehender Umweltprobleme (besonders Wassermangel und -verschmutzung sowie Boden- und Luftverschmutzung durch Pestizide, Sprengungen und die nahegelegene Gießereianlage) und der sozialen Ungleichheit zu beobachten, die typisch für eine environmental injustice ist (Pulido 1996, 2015; Newton 2009). Die Möglichkeit einer Festanstellung stellt sich für viele als Chance des sozialen Aufstiegs und als Versprechen an der Teilhabe der peripheren imperialen Lebensweise dar. Dieses Teilhabeversprechen trägt wiederum direkt zur Legitimation der Kosten der Bergbauindustrie bei (Landherr & Graf 2022).
Unter den BewohnerInnen ist in Tierra Amarilla – noch deutlicher als in Pabellón – eine toxische Frustration (Singer 2011) zu beobachten. Die empfundene Ohnmacht wird in diesem Fall insbesondere dadurch verstärkt, dass gegen das Unternehmen nicht einmal mit einem Gerichtsstreit anzukommen ist. Die BewohnerInnen nehmen das Unternehmen deshalb als unbesiegbar war. Der schon immer abwesende Staat, aber besonders der Bestechungsfall und andere Korruptionsfälle in der Gemeinde und innerhalb von Nachbarschaftsorganisationen, haben ihnen laut eigener Aussagen die letzte Hoffnung einer Lösung der Umwelt- und Gesundheitsprobleme genommen. Gleichzeitig hat sich das oben beschriebene Teilhabeversprechen in der Praxis für die Mehrheit als unrealisierbar entpuppt. Einige BewohnerInnen sehen deshalb langfristig keinen anderen Ausweg als die Migration.
Die schon in dieser zweiten (Un-)Sichtbarkeitsstufe vom Unternehmen Candelaria angewendeten Machtressourcen zur Vermeidung der öffentlichen Sichtbarkeit der in Tierra Amarilla bestehenden Umweltprobleme, werden in der nächsten Stufe besonders relevant. Wenn die strukturelle und territoriale Macht sowie die Praktiken des Unternehmens nicht ausreichen, um die Sichtbarkeit der von den Tailings ausgehenden Risiken für die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung lokal zu begrenzen, greift das Unternehmen auch auf seine informelle, hegemoniale und institutionelle Macht18 zurück (Landherr & Graf 2017). Sie nutzen dabei ihre direkte Beziehung zur politischen Elite des Landes und wenden unterschiedliche, teils unsichtbare, politische Praktiken oder sogenannte quiet politics (Culpepper 2011) sowie Mechanismen und actions zur aktiven Unsichtbarmachung des Problems an.

9.1.3 Dritte Stufe der (Un-)Sichtbarkeit

Manifeste sozial-ökologische Konflikte um öffentliche Sichtbarkeit
Nur sehr wenige Umweltprobleme, die von Tailings ausgehen, werden über die lokale Ebene hinaus öffentlich sichtbar.19 Diese Stufe charakterisiert sich meistens durch die Entstehung eines manifesten sozial-ökologischen Konflikts und durch die Thematisierung der Kontaminierung in den öffentlichen Medien sowie durch zivilgesellschaftliche oder politische Akteure. Für die breitere Sichtbarkeit auf dieser Stufe sind wissenschaftliche Untersuchungen, die das Problem belegen, zwar häufig ausschlaggebend, aber nicht notwendigerweise bedingend oder alleinständig hinreichend.20 Auf dieser Stufe besteht unter allen beteiligten AkteurInnen aber zumindest das Wissen über die Tailings als potenzielles Risiko für die Umwelt und/oder die Gesundheit der anliegenden Bevölkerung. Wenn ein Fall die lokale Ebene verlassen hat, wie es etwa in Chañaral geschehen ist, dann folgt darauf meist ein symbolischer und öffentlich medialer Aushandlungsprozess um die „Wahrheit“, wobei dieser in der Regel zwischen nationalen NGO, anderen anerkannten zivilgesellschaftlichen Akteuren und unabhängigen WissenschaftlerInnen einerseits und dem Unternehmen und dem Staat auf der anderen Seite, geführt wird,21 Dabei entsteht ein regelrechter Informations- und Datenkrieg, in dem vor allem die Machtressourcen, -beziehungen und -positionen der einzelnen Akteure ausschlaggebend für die Durchsetzung ihrer Interessen sind. Die Zivilgesellschaft, die unabhängige Wissenschaft und besonders die Betroffenen sind in dieser Hinsicht klar im Nachteil, denn sie besitzen im Vergleich nur wenige Werkzeuge und eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten, um dem Unternehmen und teilweise auch dem Staat zu begegnen. Dies ist auch der Hauptgrund, warum die öffentliche Sichtbarkeit der Tailings als gesellschaftliches Problem nur selten über einen längeren Zeitraum anhält. Dies hat auch der Fall von Tierra Amarilla gezeigt.
Die aktive Produktion von Ungewissheit und Unsichtbarkeit durch Staat und Unternehmen
In Chañaral bestand ab Beginn der Tailingproduktion der Bergwerke Potrerillos und El Salvador Ende der 1930er Jahre – die seit 1971 zum staatlichen Unternehmen Codelco gehören – eine Gefahrenwahrnehmung seitens der Betroffenen. Sie ergab sich in diesem Fall aus den sichtbaren Veränderungen der Umgebung, also der materiellen Sichtbarkeit und der daraus resultierenden Wirkungskraft der Tailings (Kärger et al. 2017:99). Das lokale Wissen der BewohnerInnen über ihre Umwelt und die in ihr bestehenden Ökosysteme sowie die berufliche Erfahrung besonders der FischerInnen haben diese Wahrnehmung bestätigt. Dieses Wissen wurde im Laufe der Jahre auch durch wissenschaftliche Untersuchungen zu den physischen Veränderungen der Bucht und dem starken Rückgang der Biodiversität ergänzt. Das wissenschaftlich generierte Wissen reichte über lange Zeit allerdings nicht aus, um die ökologischen Veränderungen auf die Tailings der Bergbauindustrie zurückzuführen und die Risikowahrnehmung der Betroffenen zu bestätigen. Diese Tatsache und weitere Faktoren wie die ökonomischen Vorteile die manche Betroffenen – besonders die FischerInnen, die durch die Verseuchung der Bucht ihre ökonomische Grundlage verloren hatten – aus der handwerklichen Wiederaufarbeitung der Tailings aus dem Fluss ziehen konnten, führte plötzlich zu Interessenkonflikten unter den BewohnerInnen, was im Zusammenspiel mit der repressiven Politik der Militärdiktatur ab 1973 dazu führte, dass der lange Zeit bestehende offene Konflikt erstmals wieder latent wurde und sich für fast zwei Jahrzehnte erneut auf der zweiten (Un-)Sichtbarkeitsstufe befand. Erst als Untersuchungen zur chemischen Zusammensetzung des Strandes und der Präsenz von Schwermetallen und Chemikalien in diesem nachgewiesen wurden, konnten die Betroffenen handeln und der Konflikt wurde nach jahrelangem Ruhen wieder manifest. Ihre langjährige Gefahrenwahrnehmung wurde nun erstmals auch von nationalen NGO und sogar internationalen Organisationen (etwa der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik –CEPAL– der UNO) geteilt. Das wissenschaftliche Wissen änderte also nichts an der ursprünglichen Wahrnehmung der lokalen Bevölkerung und verschaffte ihnen auch kein komplett neues Wissen. Es war aber ein zentrales Handlungswerkzeug, das letztendlich sogar zur Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens gegen Codelco führte (siehe hierzu mehr auf Stufe IV). Offiziell anerkanntes wissenschaftliches Wissen und besonders der Zugang zu diesem sind demnach ein zentrales Element, um den Handlungsspielraum und die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen zu erweitern.
Chañaral ist durch den Ende der 1980er Jahre gewonnen Rechtsstreit zwar eine Ausnahmeerscheinung, was eine erfolgreiche action der Betroffenen gegenüber der Umweltverschmutzung eines Bergbauunternehmens angeht. Die über Jahrzehnte angehäuften Tailings kontaminieren allerdings weiterhin ungehindert die Bucht und die Bevölkerung der Stadt.22 Statt einer Lösung der bestehenden Umweltverschmutzung war das Urteil vielmehr der Startschuss für die darauffolgenden Aushandlungsprozesse um die „Wahrheit“ und für die aktive symbolische Unsichtbarmachung der Tailings. Seitens des verursachenden Unternehmens und des Staates23 konnten also auch auf dieser Stufe kaum actions beobachtet werden, die zur Lösung des Problems angedacht waren, sondern viel mehr der Produktion von Ungewissheit und der aktiven Unsichtbarmachung der Umweltverschmutzung dienten. Gleichzeitig besitzen diese beiden Akteure das „Wahrheits- und Wissensgenerierungsmonopol“ und besonders der Staat steht, was die Ergebnisse anbelangt, ganz oben auf der „Gültigkeitshierarchie“ unter den wissensgenerierenden Akteuren. Ziel ihrer Handlungen und der Aushandlungen um die „Wahrheit“ ist es aus der Sicht staatlicher Behörden, das Problem in der öffentlichen Wahrnehmung als gelöst darzustellen und dadurch die Fortführung der Produktion des staatlichen Bergbauunternehmens zu gewährleisten. Die actions der Unternehmen und des Großteils der staatlichen Behörden lassen sich in diesem Fall folgendermaßen charakterisieren: Erstens als Wissensproduktion und vor allem Wissensverbreitung, die der Delegitimierung von Widerstand sowie zur Widerlegung der Kontaminationsvorwürfe – kurz zur Produktion von Ungewissheit – dient; zweitens lassen sich symbolische – nicht wissensbasierte – Handlungen feststellen, die die Abwesenheit oder Lösung des Problems nahe legen und sich als symbolische Unsichtbarmachung bezeichnen lassen; drittens erfolgt die Legitimierung der Umweltverschmutzung und der daraus folgenden Kosten für die Betroffenen durch die Abwägung dieser Kosten mit den Nutzen des Sektors, durch Heranziehen des hegemonialen (Fortschritts-)Diskurses, der die Notwendigkeit der Produktion der Tailings für das gesamtgesellschaftliche Allgemeinwohl darlegt – kurz: die öffentliche Rechtfertigung. Dabei wurden in den untersuchten Fällen auch Manipulation und Falschaussagen eingesetzt oder Ergebnisse bestehender wissenschaftlicher Studien, die den unternehmerischen und staatlichen Interessen widersprachen, nicht anerkannt und gleichzeitig auch nicht offiziell überprüft, wodurch eine scheinbar unüberwindbare „Wissensleere“ entstand. Diese intendierte inaction gegenüber der Tailings, die vorwiegend seitens staatlicher Behörden eingesetzt wurde, ist die Hauptform der passiven Komplizenschaft dieser mit den Bergbauunternehmen. Das bestehende Wissen wurde als „unbrauchbar“ deklariert, allerdings gleichzeitig auch kein neues „brauchbares“ hergestellt. Diese gezielte Form der staatlichen inaction, zusammen mit der materiellen Unsichtbarkeit der Schadstoffe, den symbolischen unternehmerischen und staatlichen actions zur Unsichtbarmachung und der Produktion und Verbreitung von Ungewissheit unter der Bevölkerung bzw. die Darstellung der Tailings als dekontaminierter Strand waren in Chañaral so effektiv, dass nicht nur der Konflikt aufgehoben, sondern auch die Gefahrenwahrnehmung der Bevölkerung über einen langen Zeitraum von fast zwanzig Jahren dadurch ausgesetzt wurde. Der einzige Unterschied, der in dieser Zeit zum Fall in Pabellón bestand, lag darin, dass über die Kontamination und den Widerstand der Bevölkerung in Chañaral weiterhin historische Aufzeichnungen vorhanden waren. Dennoch befanden sich die Tailings in diesem Zeitraum zum ersten Mal in ihrer Geschichte wieder auf der ersten (Un-)Sichtbarkeitsstufe. Dies zeigt deutlich, wie stark sich die actions von einem mächtigen Akteur auf die Wahrnehmung, das Wissen und die actions anderer Akteure auswirken können. Während in den ersten beiden Stufen vorwiegend Elemente vorzufinden sind, die die Tailings vor der öffentlichen Wahrnehmung unsichtbar halten, kommen auf dieser Stufe auch jene Faktoren und actions zum Vorschein, die ein bereits sichtbar gewordenes Phänomen aktiv wieder unsichtbar machen. Der Fall von Chañaral zeigt durch die häufigen Wechsel zwischen den Stufen zudem deutlich die Instabilität der (Un-)Sichtbarkeit bei slow violence-Phänomenen auf.
Erst die Recherchen und die Zusammenarbeit einer lokalen Umwelt-NGO (Chadenatur) mit nationalen Umwelt-NGO und die Erscheinung einer Reihe neuer wissenschaftlicher Studien über die gesundheitlichen Folgen der Tailings bei Kindern in Chañaral haben das Thema der Tailings in der jüngeren Zeit langsam unter der Bevölkerung wieder sichtbar gemacht. Auf diese Weise konnte das eingetretene kollektive Vergessen über die Jahre wieder überwunden und durch eine ganze Reihe wissenschaftlich generierter Daten ersetzt werden. Sobald das slow violence-Phänomen und vor allem seine Folgen einmal sichtbar waren, wurde der Fall plötzlich auch vermehrt zum Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft. Während zu den Tailings auf den ersten beiden (Un-)Sichtbarkeitsstufen meistens weder von staatlichen noch von unabhängigen WissenschaftlerInnen Wissen generiert wird,24 häufen sich zu den wenigen öffentlich sichtbaren Fällen die (natur-)wissenschaftlichen Studien. Ab dieser Stufe werden die Tailings also auch wissenschaftlich als Problem (an)erkannt und untersucht.
Das wiedergewonnene und neue Wissen über die möglichen Risiken der Tailings wurde in Chañaral anfangs nur auf lokaler Ebene beschränkt verbreitet und in wenig beachteten wissenschaftlichen Studien veröffentlicht. Durch die katastrophalen Überschwemmungen im Jahr 2015 war Chañaral plötzlich aber in allen öffentlichen Medien präsent. Während bis dahin vor allem die staatliche Version bezüglich der (De-)Kontamination der Bucht vermittelt wurde, ließen die öffentlichen Medien nun erstmals auch die unabhängigen WissenschaftlerInnen zu Wort kommen. In dieser Hinsicht hat die Wirkungskraft (Kärger et al. 2017:99) der Überschwemmungen zur Wissensverbreitung über die Risiken der Tailings und zur öffentlichen Wahrnehmung des Problems beigetragen. Worüber allerdings seitens der Betroffenen weiterhin ein großes Maß an Nichtwissen besteht, sind die politischen Aushandlungsprozesse und vor allem die quiet politics (Culpepper 2011) zwischen staatlichen und politischen Akteuren und dem Unternehmen, zu denen oft kein Zugang für die Betroffenen oder die Öffentlichkeit existiert.
Was die staatlichen Behörden angeht ist auf Stufe III – wie auch schon auf Stufe II – eine toxische Institutionalität zu beobachten. Dabei setzen sich die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der zuständigen Behörden hinsichtlich der Tailings beim Umgang mit chemischen Schadstoffen und Schwermetallen aus der Gouvernance des Nichtwissens (Wehling 2011) und den fehlenden finanziellen Mitteln zusammen. So lässt sich in dieser Hinsicht einerseits eine generelle, größtenteils nichtintendierte, staatliche inaction bezüglich der Lösung des Umweltproblems beobachten, wobei der Staat gleichzeitig auch hier auf lokaler Ebene, wie in den anderen beiden Fällen, vorwiegend abwesend ist. Auf Stufe III sind staatliche Behörden andererseits gleichzeitig Treiber der aktiven Unsichtbarmachung, die sich aus einem Zusammenspiel aus passiver Komplizenschaft sowie symbolischer Unsichtbarmachung und der Produktion von Ungewissheit zusammensetzt.
Ungleiche Machtressourcen der Wahrheitsproduktion
Wie sich in den Fällen von Tierra Amarilla und besonders Chañaral zeigte, ist eine kurze Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit kein Garant für die permanente Sichtbarkeit eines Umweltproblems. In Betrachtung der Forschungsergebnisse und der wenigen anderen bisher öffentlich sichtbaren Fälle, in denen Tailings die Hauptursache eines Umweltproblems dargestellt haben, scheint es als sei besonders die Anzahl der involvierten Akteure auf nationaler Ebene, die versuchen das Problem sichtbar zu halten sowie deren (Macht-)Position innerhalb der Gesellschaft, ausschlaggebend für eine anhaltende gesellschaftliche Sichtbarkeit des Problems. Die lokale Bevölkerung hängt in dieser Hinsicht stark von der nationalen Zivilgesellschaft und besonders von den großen Umwelt-NGO und unabhängigen WissenschaftlerInnen ab, um das Problem sichtbar zu machen und gegen dieses vorgehen zu können. Letztere sind in Chile allerdings sehr prekär aufgestellt und ihrerseits auf private und öffentliche Finanzierung angewiesen. Sowohl die Wissenschaft als auch die Zivilgesellschaft werden zudem meistens themengebunden finanziert. Es lassen sich allerdings nur selten Geldgeber finden, die ein Interesse daran haben, die Schadstoffbelastung durch Tailings und deren Auswirkungen zu untersuchen. Auch die staatlichen fondos concursables werden hierfür nicht vergeben. Forschungen, die den staatlichen und unternehmerischen Interessen widersprechen, verfügen demnach selten über ausreichend finanzielle Mittel, um aussagekräftige Untersuchungen durchzuführen und müssen zur Wissensverbreitung meistens auf soziale Medien zurückgreifen. Die Reichweite der Verbreitung des Wissens und der damit einhergehenden Risikoeinschätzung hängt somit direkt vom Bekanntheitsgrad und der gesellschaftlichen Position der einzelnen NGO ab, da sie oftmals nur ihre eigenen Follower direkt erreichen können. Je nach Brisanz des Themas werden diese Inhalte dann in seltenen Fällen auch von unabhängigen öffentlichen Medien (meist online) aufgenommen und geteilt. Bei Tailings war dies bisher allerdings nur dann der Fall, wenn ein Unfall, eine Umweltkatastrophe oder ein Korruptionsskandal diese sichtbar gemacht hatte oder es einem Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin gelungen ist, schwerwiegende Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung nachzuweisen. Chañaral ist wiederum einer der einzigen Fälle in Chile, bei dem gleich mehrere dieser Faktoren zugetroffen haben und der deshalb wiederholt medial präsent war.
Während es den oben beschriebenen Akteuren also äußerst schwerfällt, unabhängiges anerkanntes Wissen zu generieren und mit ihren Anliegen ein größeres Publikum zu erreichen, trifft dies auf die chilenischen Großunternehmen und staatliche Behörden nicht zu. Die Bergbauunternehmen investieren große Geldmengen in Untersuchungen, die die Sicherheit und Harmlosigkeit der Tailings bestätigen. Staatliche Autoritäten und chilenische Großunternehmen haben gleichzeitig einen direkten medialen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung und Meinung. Große Bergbauunternehmen wie Candelaria und Codelco sind in Chile gut miteinander vernetzt und organisieren sich unter anderem in Unternehmensverbänden wie dem Consejo Minero, der allein 95 Prozent der Kupferproduktion (sowie 56 Prozent der nationalen Goldproduktion, 78 Prozent des Silbers, 99 Prozent des Molybdäns und 99 Prozent des Eisens25) der chilenischen Bergbauproduktion vereint und vertritt. Auf diese Weise bedienen sich auch international operierende Unternehmen der Machtressourcen der nationalen besitzenden Klasse und können durch die starke Lobby des Sektors Einfluss auf politische Entscheidungsträger und somit die chilenische Wirtschaft als ganze ausüben. Die besitzende Klasse kontrolliert wiederum sowohl die großen öffentlichen privaten und staatlichen Fernseh- und Radiosender sowie Tageszeitungen und die einflussreichen Print- und Onlinemedien. Sie nutzen diese unter anderem für große Medienkampagnen, die die Möglichkeit eines sozial und ökologisch verträglichen green mining propagieren. Dabei ist zu beachten, dass im Gegensatz zu anderen Umweltproblemen sozial-ökologische slow violence-Phänomene besonders schwer nachzuweisen sind, weshalb die Aushandlungsprozesse um die „Wahrheit“ und dementsprechend auch der Einfluss auf die offiziellen „Wahrheitsproduzenten“ ausschlaggebend für deren Sichtbarkeit sind. Auch hier stehen die Unternehmen und der Staat gegenüber den anderen Akteuren klar im Vorteil, da sie sowohl wissenschaftliche Einrichtungen und Universitäten direkt als auch eine große Anzahl an Think Tanks und teilweise sogar die großen (Umwelt-)NGO selbst finanzieren. Daraus resultiert wiederum eine starke hegemoniale Macht des Bergbausektors in der chilenischen Gesellschaft – nicht nur im Vergleich zu den anderen in dieser Forschung beteiligten Akteuren – sondern auch zu anderen Wirtschaftssektoren.
Ein besonderer Machtfaktor ist zudem die informelle Macht der Unternehmen und ihre enge Beziehung zur politischen Klasse, die es ihnen ermöglicht, auf wichtige politische Akteure und Entscheidungsträger hinter verschlossenen Türen Einfluss zu nehmen. Auf diese Weise können einerseits politische Entscheidungen direkt beeinflusst werden, wie etwa bei der Verlängerung der Abbaugenehmigung im Fall von Tierra Amarilla, der Errichtung von groß angelegten Tourismusprojekten in Chañaral, die den weiterhin kontaminierten Strand als harmlose Tourismusoase framen sollten oder der Fortführung des dortigen Kontaminierungsplans trotz wiederholter Warnung der zuständigen Behörde (CONAF) über seine Nutzlosigkeit. Andererseits ermöglicht es auch die Anwendung symbolischer Macht durch den Einsatz gesellschaftlich anerkannter Persönlichkeiten als Nachweis der von ihnen projizierten „Wahrheit“, wie es etwa die medial inszenierte Einweihung des Strandes von Chañaral durch das Bad des Präsidenten Ricardo Lagos zur Bestätigung der (vermeintlich) erfolgreichen Dekontaminierung war. Der Aushandlungsprozess wird in diesen Fällen ohne die Beteiligung der anderen Akteure geführt. Dabei geht es weniger um die Bestimmung und Inanspruchnahme der „Wahrheit“ an sich als um die Schaffung von Tatsachen und Evidenzen und somit die Herstellung von „Wahrheiten“, die über die reine Produktion von Ungewissheit hinaus gehen.
Die quiet politics (Culpepper 2011) werden besonders in den Fällen eingesetzt, in denen das von unabhängigen WissenschaftlerInnen generierte Wissen nicht eindeutig widerlegt oder zumindest infrage gestellt werden oder ein sozial-ökologischer Konflikt nicht durch andere Mechanismen latent gehalten werden kann. Die Anwendung der informellen Macht im Zusammenspiel mit der hegemonialen Macht bedingt und ermöglicht die zentralen Mechanismen der Unsichtbarmachung auf dieser (Un-)Sichtbarkeitsstufe – wie etwa die symbolische und diskursive Unsichtbarmachung des Problems. Beim untersuchten staatlichen Unternehmen Codelco kommt es dabei durch die Interessenkonvergenz zwischen Staat und Unternehmen zu einer besonders starken Machtkonzentration. Zudem besteht eine strukturelle Unterfinanzierung sowie Zuständigkeitslücken unter den für durch Tailings verursachte Umweltverschmutzung zuständigen staatlichen Behörden in Chile. Auch das Umweltministerium selbst verfügt nur über wenige finanzielle Mittel und hängt für die Finanzierung der einzelnen Themenbereiche direkt vom Finanzministerium ab, welches wiederum eine enge Beziehung zum Bergbauministerium und den großen Unternehmen pflegt.
Auf der dritten Stufe sind – wie wir gesehen haben – Netzwerke und Beziehungen ausschlaggebend zur Durchsetzung der Interessen der jeweiligen Konfliktparteien. Während die Unternehmen – wie schon beschrieben – gut vernetzt sind, pflegen die Betroffenen in der Regel keine oder nur einen sporadischen Austausch zu anderen Betroffenengruppen. Die Unternehmen agieren als geschlossener Block, während die betroffenen Gemeinden meistens vereinzelt und allein dem jeweiligen Unternehmen entgegentreten.26 Die Bevölkerung von Chañaral befindet sich derzeit sowohl was ihre prekären Lebensumstände – die durch die Überschwemmungen noch erheblich verschlechtert wurden – als auch was ihre Ohnmacht und toxische Frustration gegenüber der Umweltbelastung durch die Tailings und ihrer sozialen, ökonomischen und gesundheitlichen Folgen angeht in einer ähnlichen Lage wie die Bevölkerung von Tierra Amarilla. Die Ausnahme stellt in Chañaral eine aktive Gruppe von UmweltaktivistInnen dar, die einerseits den Konflikt von Zeit zu Zeit wieder aufflammen lässt und andererseits in engem Kontakt zu nationalen NGO und WissenschaftlerInnen stehen. Der Konflikt um Tailings in Chañaral schwankt demnach zwischen latent und manifest, genauso wie die Sichtbarkeit der Tailings, die in den letzten zehn Jahren immer wieder zwischen der lokalen und der nationalen Ebene gewechselt hat. Der Fall zeigt somit besonders deutlich die Fluktuation der Tailings zwischen den (Un-)Sichtbarkeitsstufen auf. Er zeigt zudem, dass die (Un-)Sichtbarkeit von slow violence-Phänomenen weniger ein permanenter Zustand, als ein stetiger und kontinuierlicher Prozess ist.

9.1.4 Vierte Stufe der (Un-)Sichtbarkeit

Der Kampf um öffentliche Anerkennung der durch Tailings verursachten Umweltprobleme
Auf dieser letzten Stufe der Pyramide der (Un-)Sichtbarkeit wird das Umweltproblem der Tailings öffentlich als zu lösendes gesellschaftliches Problem anerkannt.27 Im Unterschied zur vorherigen Stufe geht es dabei nicht allein um die Präsenz des Problems in der öffentlichen Wahrnehmung, sondern seine institutionelle bzw. politische Anerkennung. Diese Anerkennung erfolgt in Chile typischerweise entweder durch ein Gerichtsurteil, das die Umweltverschmutzung bestätigt und das verantwortliche Unternehmen zur Rechenschaft zieht, oder durch die Anerkennung des Ortes als zona de sacrificio (Opferzone).28 Letztere werden zwar meistens erstmals von AktivistInnen und NGO als solche identifiziert, anschließend dann in manchen Fällen allerdings auch von staatlichen Behörden prioritär behandelt. Der Status der Opferzone ist somit eine Form der öffentlichen, staatlichen und chileweiten Anerkennung einer besonders starken Umweltbelastung. Von den 127 derzeit manifesten sozial-ökologischen Konflikten in Chile29 trifft dieser Status allerdings derzeit nur auf fünf Orte zu.30 Da ein Rechtsstreit gegen ein großes Bergbauunternehmen bei slow violence-Phänomenen wie den Tailings für die Betroffenen und die Zivilgesellschaft besonders schwer zu gewinnen ist, ist die Anerkennung als zona de sacrifico ein Versuch, den Staat auch ohne Gerichtsurteil in die Verantwortung zu nehmen bzw. ihn zur Intervention und Anwendung der bestehenden Regulierungen aufzufordern. Auch in den zwei untersuchten Fällen Tierra Amarilla und Chañaral wird dieser Status deshalb von den Betroffenen angestrebt.
Auf dieser Stufe stoßen alle bisher aufgeführten handelnden Akteure auf die institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen, die wiederum erheblichen Einfluss auf die langfristige Sichtbarkeit der Tailings als zu lösendes Umweltproblem und dem gesellschaftlichen Umgang mit ihnen haben.31 Von den in dieser Forschung untersuchten Fällen hat nur Chañaral die vierte Stufe zeitweise erreicht und stellt diesbezüglich gleichzeitig eine einmalige Ausnahme unter den von Tailings ausgehenden Umweltproblemen in Chile dar. Obwohl in dem letzten Jahrzehnt generell in Chile ein starker Anstieg erfolgreicher Gerichtsverfahren gegen extraktive Großunternehmen zu beobachten ist, geschieht diese Form der Anerkennung eines Umweltproblems verglichen mit der großen Anzahl manifester sozial-ökologischer Konflikte dennoch selten und betrifft so gut wie nie slow violence-Phänomene, wie sie etwa von Tailings hervorgerufen werden.
Die inaction nach der Anerkennung des Umweltproblems und einem kurzzeitigen Wissenskonsens
Die vierte Stufe baut direkt auf der vorangegangenen auf. Deshalb ergeben sich insbesondere bezüglich des Wissens kaum Änderungen gegenüber der dritten Stufe. Eine Ausnahme bildet die Tatsache, dass offiziell generiertes und anerkanntes wissenschaftliches Wissen nun von besonderer Bedeutung für den Erfolg im Falle eines Gerichtsstreites als auch zur Anerkennung als Opferzone ist. Spätestens wenn diese Anerkennung erfolgt, besteht ein – meist kurzweiliger – Wissenskonsens unter allen beteiligten Akteuren, der vorwiegend auf dem wissenschaftlichen „Beweismaterial“ beruht, das zu dieser Anerkennung geführt hat. Dieser Konsens löst sich allerdings, wie der Fall Chañaral gezeigt hat, schon in dem Moment wieder auf, in dem das Unternehmen die gerichtlichen Auflagen erfüllt, um unter dem Deckmantel der künftigen „Problembehebung“ den Fortbestand der Extraktions- und Produktionsstätte aufrecht zu halten. Der Fall von Chañaral zeigt, dass sich sowohl das Wissen als auch die Wahrnehmung der einzelnen Akteure in Bezug auf eine mögliche Lösung des Konflikts oder gar des Problems wesentlich voneinander unterscheiden und sie sich nach dem Gerichtsurteil und der öffentlichen Anerkennung des Problems wieder in einen neuen Aushandlungsprozess, um die „Wahrheit“ begeben, der die Dauer der gesellschaftlichen Anerkennung des Problems bestimmt.
Diese maximale Form der Sichtbarkeit hat nicht unbedingt actions zur Lösung des Problems seitens der Unternehmen oder des Staates zur Folge. In den untersuchten Fällen wurden die Bergbauprojekte bis zur Erfüllung der Auflagen zwar stillgelegt, es kam landesweit bisher allerdings noch nie zu einer endgültigen Schließung nach einem Gerichtsstreit. Welche Art der actions der öffentlichen Anerkennung des Problems folgen und wie ausgeprägt diese sind, hängt direkt von dem bestehenden institutionellen und juristischen Rahmen ab. Während die Umweltregulierungen in Chile generell sehr flexibel in ihrer Auslegung und Anwendung sind, ist die erst seit 2012 bestehende Regulierung der Tailings lückenhaft, in ihrem Anwendungsbereich beschränkt und für die Mehrzahl der Tailings – alle inaktiven und verlassenen – ungültig. All diese Tailings sind somit juristisch inexistent. Der Fall von Chañaral zeigt, dass durch einen Rechtsstreit zwar erreicht werden kann, dass ein Unternehmen eine illegale Praktik unterlässt,32 dennoch ist es laut damaliger und heutiger Rechtslage kaum möglich, ein Unternehmen darüber hinaus zur Restaurierung, Sanierung oder Dekontaminierung der belasteten Gebiete zu verpflichten. Dennoch gilt in der Öffentlichkeit „das Problem“ nach Erfüllung der gerichtlichen Auflagen als „gelöst“, wodurch die weiterhin bestehende Schadstoffbelastung danach erneut ihre öffentliche Anerkennung verliert.
Im Fall von Chañaral bestanden die Auflagen für Codelco lediglich in der Unterlassung der weiteren Einleitung ihrer Tailings in den Fluss El Salado und der Errichtung einer Tailingdeponie. Die 350 Millionen Tonnen an Tailings, die sich bis dahin am Fuße des Flusses in der Bucht von Chañaral akkumuliert hatten, waren von den Auflagen nicht betroffen. Wie oben bereits dargestellt, zeigte die darauffolgende symbolisch und diskursiv inszenierte „Lösung des Problems“ seitens des Staates und des Unternehmens seine Wirksamkeit sogar bei den Betroffenen selbst, und „löste“ damit nicht nur den bestehenden Konflikt, sondern beseitigte sowohl das bis dahin bestehende Wissen über die potenziellen Risiken der Tailings als auch die Gefahrenwahrnehmung unter den Betroffenen über einen längeren Zeitraum, obwohl die Probleme vor Ort weiterhin unverändert bestehen. Der Fall ist ohne jegliche Veränderung am bestehenden Umweltproblem von der öffentlichen Anerkennung in wenigen Jahren auf die I. Stufe der allgemeinen Unsichtbarkeit zurückgekehrt.
Während die gesellschaftliche Anerkennung also tendenziell zu actions seitens des Unternehmens und des Staates führte, die sich allerdings auf die Unsichtbarmachung des Problems richteten, anstatt zu seiner Lösung beizutragen, trug das Gerichtsurteil besonders unter den Betroffenen zur allgemeinen inaction bei. Auch die anderen beteiligten Akteure – darunter auch WissenschaftlerInnen, Medien und nationale Zivilgesellschaft – zogen sich nach dem Gerichtsurteil teilweise ganz aus der Angelegenheit zurück und stellten ihre bisherigen actions ein. Die wenigen bisher öffentlich als Umweltproblem sichtbar gewordenen Tailings haben auch zu symbolisch wirksamen staatlich-privaten Projekten wie adopta un relave (siehe Kapitel 7 zu Tierra Amarilla) geführt. Dabei wird die ökonomisch rentable Wiederaufarbeitung vereinzelter historischer Tailings medial als freiwillige Dekontaminierung durch große Bergbauunternehmen von Tailings, die rechtlich nicht in ihrer Zuständigkeit stehen, dargestellt.
Lähmende institutionelle Rahmenbedingungen, strukturelle sozial-ökologische Ungleichheiten und environmental injustice als gesamtgesellschaftliche Probleme
Die bestehenden Institutionen und Strukturen, die sich hinter den dargestellten „Kämpfen um Anerkennung“ befinden, sind keineswegs neutral und begünstigen einige Akteure in der Durchsetzung ihrer Interessen weit mehr als andere. Diese „strukturellen Selektivitäten“ (Offe 1972: 74ff) lassen sich in Chile als Kombination aus einem vielerorts abwesenden Staat und einer hohen Machtkonzentration bei den großen Unternehmen kennzeichnen. Wie in Kapitel 5 ausführlich dargestellt, profitieren im chilenischen extraktivistisch neoliberalen Modell besonders die großen (Bergbau-)Unternehmen von ihnen (siehe Kontextkapitel sowie Fischer 2011: 125; Pizarro 2020: 340; Machado 2010: 11; Correa 2016: 27ff). Zur starken Vermögens- und Einkommenskonzentration kommt in Chile eine juristisch abgesicherte Land- und Ressourcenkonzentration in den Händen einer kleinen, aber mächtigen besitzenden Klasse, die mit der politisch herrschenden Klasse eng verbunden ist, hinzu (Matamala 2015:27f; Fischer 2011:150ff; Landherr & Graf 2017, 2021). Einige wenige Familienunternehmen und Grupos Económicos (Unternehmensgruppen) dominieren die chilenische Wirtschaft33 und kontrollieren die relevanten Märkte in Form von Oligopolen und Monopolen, wobei die gleichen Unternehmensgruppen zeitgleich in mehreren Wirtschaftssektoren operieren. Dieser hierarchische Kapitalismus (Schneider 2013) geht mit einer starken sozialen Ungleichheit und der Machtkonzentration bzw. einer hohen strukturellen Macht weniger Akteure einher. Die extreme Kommodifizierung, Privatisierung und ungleiche Verteilung der Ressourcen in Chile hat nicht nur zur Zuspitzung sozial-ökologischer Probleme beigetragen, sondern gleichzeitig die politischen Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Der Staat überträgt auf diese Weise nicht nur die Kontrolle über einen Großteil der industriellen Produktion und der grundlegenden sozialen Dienstleistungen, sondern auch über strategische Ressourcen und Gebiete an private Unternehmen und besitzt in Folge kaum direkte oder juristische Interventionsmöglichkeiten (Landherr, Graf & Puk 2019). Er nimmt die Form eines schlanken Estado Subsidiario an (Pizarro 2020: 343; Gudynas, 2011: 386): ein größtenteils abwesender Staat, der lediglich in den Bereichen eingreift, in denen private Akteure nicht investieren und demnach eine Regulierung durch den Markt ausbleibt. Auf diese Weise können wenige große Bergbauunternehmen nicht nur einen Großteil des Ressourcenabbaus auf sich konzentrieren, sondern auch den Großteil der Explorations- und Abbaukonzessionen sowie andere für den Sektor strategische Ressourcen. Die starke territoriale Macht der Unternehmen in Kombination mit dem abwesenden Staat haben eine Beschlagnahme der Demokratie (captura de la democracia) zur Folge (Oxfam 2016a), die zur Unterbindung demokratischer Prozesse und dem Kontrollverlust staatlicher Institutionen über Land und Ressourcen führen. Wie sich ab der zweiten Stufe der (Un-)Sichtbarkeit gezeigt hat, können aufflammende Konflikte durch die Unternehmen auf diese Weise „Enklaven-Intern“ gehalten bzw. gelöst werden, ohne dass sie die Öffentlichkeit erreichen (Landherr & Graf 2021). Die schon beschriebene hohe Organisationsmacht der großen Bergbauunternehmen u. a. durch Unternehmensverbände wie den Consejo Minero ermöglicht den einzelnen Unternehmen Zugriff auf die stärkste Lobby des Landes und direkte Beziehungen zur politischen Klasse, um die Wettbewerbsfähigkeit des Sektors auf dem Weltmarkt und seine Legitimität innerhalb Chiles durchzusetzen (Skoknic 2014). Neben der daraus resultierenden informellen und hegemonialen Macht konnten die Unternehmen auf diese Weise gleichzeitig ihre Interessen institutionalisieren, indem sie diese in der heute noch gültigen Verfassung und der Bergbau- und Umweltgesetzgebung verankerten (Machado 2011; Fischer 2011), wodurch bisher jegliche Reformversuche verhindert wurden.
Der institutionelle Rahmen Chiles dient somit vorwiegend der Förderung der wirtschaftlichen Interessen der „besitzenden Klasse“ (Landherr & Graf 2017) und der großen Unternehmen und sichert deren Zugang zu- und Kontrolle über die zentralen Rohstoffe und Gebiete ab. Der Staat fördert den Bergbau aktiv auf nationaler Ebene, während er sich auf regionaler und lokaler zurückzieht. Unter den Investitionsanreizen für die Unternehmen befinden sich auch niedrige Steuerabgaben sowie flexible und teils inexistente Arbeits- und Umweltregulierungen (für die detaillierte Darstellung siehe Kontextkapitel 5). Sowohl das bestehende Bergbaugesetz und der Wasserkodex als auch die Verfassung selbst, ermöglichen die private und teils unwiderrufliche Aneignung des Untergrunds und des Wassers – zwei der zentralen Ressourcen des Bergbausektors – und schützen die Unternehmen vor staatlichen Interventionen (Landherr, Graf & Puk 2019). Das starke, in der Verfassung festgeschriebene Eigentumsrecht gewährt den Unternehmen auch jegliche Befugnisse bezüglich des Zugriffes auf ihre Altlasten und somit auch ihrer Tailings.34 Gleichzeitig ist die bestehende Regulierung der Tailings lückenhaft, betrifft nur die kleine Gruppe der aktiven Tailingdeponien direkt und beschränkt sich auf deren „sichere Lagerung“ bei Schließung des Bergwerks (siehe Toro Araos 2017; Yurisch Toledo 2016). Dabei werden weder Tailings, Altlasten noch die sicheren Lagerungsform als solche definiert. Aufgrund dieser Rechtslage können juristische Maßnahmen seitens der Betroffenen oder der Zivilgesellschaft auch erst dann ergriffen werden, wenn die Umweltschäden schon eingetreten sind (Medvinsky-Roa, Caroca & Vallejo 2015). Für die 641 inaktiven und verlassenen Tailings – also einen Großteil der chilenischen Tailings – genauso wie für die Restaurierung, Sanierung oder Dekontaminierung der Altlasten besteht bisher weder eine Regulierung noch eine zuständige staatliche Behörde. Sie sind in Folge juristisch inexistent. Am schwerwiegendsten ist allerdings die Tatsache, dass es keine festgelegten Normen und Richtwerte für die Schadstoffbelastung durch Chemikalien und Schwermetalle gibt, die eine Risikoeinstufung von Untersuchungsergebnissen erst möglich machen würde (Yurisch Toledo 2016:23 ff). Durch das Ausbleiben dieser Richtwerte können sogar staatliche Behörden offiziell keine Schadstoffbelastung feststellen und müssen sich dafür auf internationale Richtwerte berufen, die dann allerdings weder verbindlich noch rechtskräftig sind. Das generierte Wissen hat dadurch also schlichtweg keine Aussagekraft, was eine Risiko- oder Gefahrendefinition anbelangt.
Der institutionelle Rahmen, der in Bezug auf Tailings von einer toxischen Institutionalität begleitet wird und mit der juristischen Inexistenz eines Großteils der Tailings einhergeht, schützt folglich einerseits die Bergbauaktivitäten vor jeglicher – auch staatlicher – externer Intervention. Andererseits verhindert er sowohl eine offiziell anerkannte Problemdiagnose als auch die Regulierung der Tailings vor ihrer Schließung sowie die Identifikation der Verantwortungsträger der durch Tailings entstandenen Umweltbelastungen. Er wirkt sich in dieser Hinsicht einschränkend auf das vorhandene Wissen und lähmend auf die actions staatlicher, zivilgesellschaftlicher und betroffener Akteure aus. Wenn ein sozial-ökologischer Konflikt also die vierte Stufe der Sichtbarkeit beispielsweise durch die Anerkennung des auslösenden Umweltproblems der Tailings durch einen gewonnenen Gerichtsstreit erreicht, dient dieses Urteil meistens vorwiegend nur ebendieser zeitlich begrenzten Anerkennung, da das Unternehmen bei heutiger Rechtslage nicht zu actions zur Problemlösung gezwungen werden kann. Wenn die Anerkennung wiederum durch die Definition als „Opferzone“ resultiert, kann auf diese Weise der Staat zwar durch äußeren Druck zur Rechenschaft gezogen werden, er bleibt allerdings in seinen möglichen actions stark eingeschränkt. Eine ausbleibende offizielle Problemdefinition und Regulierung des Umgangs bzw. der Behebung dieser Art von Umweltproblemen ermöglicht es den Unternehmen zudem, das Problem anschließend durch die auf Stufe III beschriebenen Strategien und Mechanismen in der öffentlichen Wahrnehmung, als gelöst darzustellen.
Die in allen Fällen beobachtete und in Chile weit verbreitete environmental injustice (Pulido 1996, 2015; Newton 2009) trägt ebenfalls zur Unsichtbarkeit der mit den Tailings verbundenen Probleme bei. Die strukturelle soziale Ungleichheit des Landes kombiniert mit der derzeitigen Häufung dringlicher, unmittelbarer und immer sichtbarer werdender Umweltprobleme – allen voran der landesweite Wassermangel – führen einerseits dazu, dass gerade slow violence-Phänomene besonders weit hinten in der Prioritätenliste der – oftmals nicht wissentlich – direkt betroffenen ChilenInnen stehen.35 Andererseits fördert die gleichzeitige Überlappung mehrerer Ungleichheiten und Umweltbelastungen das Gefühl der Machtlosigkeit bei den Betroffenen und begünstigt – besonders dann, wenn nach einem gewonnenen Rechtsstreit das Problem nicht behoben wird – bei vielen der wissentlich Betroffenen einen Zustand der toxischen Frustration (Singer 2011). Die sehr kleine und mächtige besitzende Klasse, die einerseits selbst einen Großteil der extraktiven Sektoren kontrolliert, mit den großen transnationalen Unternehmen kooperiert und mit der politischen Elite eng vernetzt ist, sieht ihre Position durch eine große Kluft gesichert, die zwischen den (Macht-)Positionen der zwei antagonistischen Hauptakteure – den extraktiven Unternehmen und der lokalen Bevölkerung – klafft. Dies hat besonders für deren jeweilige Handlungsmöglichkeiten und ihren Handlungsspielraum große Auswirkungen und erscheint für die Betroffenen eine unüberwindbare Hürde zur Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber so mächtigen Gegenspielern.
Trotz der institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen, die der gesellschaftlichen Sichtbarwerdung und Anerkennung von Umweltproblemen und im Besonderen von slow violence-Phänomenen wie den Tailings, derzeit im Weg stehen, ist in den letzten Jahren ein Erstarken sozial-ökologischer Kämpfe zu beobachten. Diese stehen in enger Verbindung mit der allgemeinen Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem extraktivistisch neoliberalen chilenischen Wirtschaftsmodell, die im Oktober 2019 auch zum estallido social (siehe Kontextkapitel 5) geführt haben. Neben den hohen Lebenserhaltungskosten, den prekären Arbeitsverhältnissen, teuren und schlechten Gesundheits-, Bildungs- und Rentensystemen sowie kaum existierenden sozialen Aufstiegschancen und der hohen Verschuldung der Mehrheit der ChilenInnen, waren auch die sozialen und ökologischen Kosten der extraktiven Industrien, die zur Zerstörung der Lebens-, Produktions- und Subsistenzgrundlagen der Bevölkerung führen, ein zentraler Auslöser der Protestbewegungen. Die bröckelnde gesellschaftliche Legitimität des neoliberal extraktivistischen Wirtschaftsmodell betrifft sowohl ihre extraktivistische Grundlage als auch die Umverteilung der Erträge und der daraus resultierenden Ungleichheit. Dies und die starke Krise des Sektors nach Ende des Rohstoffbooms ab 2014 sowie die dadurch sichtbar gewordene Abhängigkeit des Sektors von den Weltmarktpreisen und die im Land hinterlassenen sozialen und ökologischen Kosten haben die Legitimität des Bergbausektors als zentralem Wirtschaftsmotor des Landes gesellschaftlich in Frage gestellt. Auf diese Weise stößt der Sektor nicht nur auf seine ökologischen Grenzen (siehe Abschnitt 5.​2.​3), sondern auch auf sozialen Widerstand, der sich in den letzten Jahren u. a. durch eine Reihe teilweise erfolgreicher Gerichtsverfahren gegen große Bergbauunternehmen geäußert hat.
Neuere Entwicklungen und Veränderungen der Rahmenbedingungen für die (Un-)Sichtbarkeit von und die Konflikte um Tailings in Chile
Obwohl bis heute Tailings als solche und besonders als Quelle von Umweltbelastungen in Chile weitgehend gesellschaftlich unsichtbar sind und eine generelle Tatenlosigkeit seitens aller Akteure bezüglich einer Problemlösung zu beobachten ist, wirken sich derzeit zwei Aspekte begünstigend auf die Entstehung und den Erfolg sozial-ökologischer Konflikte im Allgemeinen aus und öffnen somit auch ein Möglichkeitsfenster für die Sichtbarkeit der mit Tailings verbundenen Gesundheits- und Umweltprobleme. Es handelt sich dabei einerseits um die von Maristella Svampa (2020) beschriebene allgemeine ambientalización (Ökologisierung) der sozialen Bewegungen und Kämpfe in Lateinamerika sowie die ökoterritoriale Wende, als eine besondere Form des environmentalism of the poor (Martinez-Alier 2002) und der environmental justice-Bewegungen (Pulido 1996), die die Entstehung von sozial-ökologischen Konflikten sowohl begünstigen als auch eine gesellschaftliche Legitimität ihrer Anliegen geschaffen haben. Auf der anderen Seite haben die bisher gewonnenen Gerichtsverfahren zwar selten zu einer langfristigen Lösung der Umweltprobleme geführt, sie stehen allerdings als Präzedenzfälle zur öffentlichen Anerkennung anderer Umweltverschmutzungsfälle zur Verfügung. Wie das Gerichtsurteil Ende der 1980er Jahre im Fall von Chañaral und die spätere Sichtbarkeit der Tailings von Las Palmas durch einen Dammbruch gezeigt haben und wie auch anhand anderer medial präsenter Umweltprobleme beobachtet werden kann,36 reicht manchmal bereits die gesellschaftliche Anerkennung vereinzelter emblematischer Fälle aus, um sowohl das verfügbare Wissen über das Problem zu verbreiten, bisher unbeteiligte Akteure miteinzubeziehen und die Handlungsmöglichkeiten aller beteiligten Akteure zu erweitern. Die oben beschriebenen Kontextveränderungen könnten eine Häufung solcher Fälle begünstigen und auf diese Weise auch bezüglich der Schadstoffbelastungen durch Tailings ein anhaltendes Problembewusstsein in der öffentlichen Wahrnehmung hervorrufen. Letzteres wiederum würde auch die Kräfteverhältnisse bei den Aushandlungsprozessen um die „Wahrheit“ bezüglich der Umweltverschmutzung durch Tailings und ihren möglichen Auswirkungen auf die Bevölkerung verändern. Insbesondere aber öffnet dieser Kontext neue Diskussionsfenster und alternative gegenhegemoniale Diskurse und Entwicklungswege, in denen der Bergbau nicht mehr als unantastbarer Sektor und als „Erlöser aus der Unterentwicklung“, sondern als „Verursacher von Problemen“ verstanden wird. Dies würde auch einen Platz zur Auseinandersetzung mit den Tailings und dem gesellschaftlichen Umgang mit ihnen ermöglichen.
Zu diesen diskursiven Veränderungen in Chile selbst kommt auch der immer größer werdende Konsens bezüglich der Notwendigkeit einer globalen Bekämpfung des Klimawandels, in dem mittlerweile – zumindest vereinzelt – auch slow violence-Phänomene berücksichtigt werden. Dabei hat sich allerdings ein neuer hegemonialer Diskurs eines green capitalism durchgesetzt, dessen Lösungsansätze vorwiegend im Einsatz erneuerbarer Energien und technologischer Innovationen bestehen. Dieser Diskurs wird auch vom chilenischen Staat37 und den großen Bergbauunternehmen38, aber auch von internationalen Organisationen und Staaten des globalen Nordens dazu genutzt,39 die Notwendigkeit der Fortführung oder gar des Ausbaus des Rohstoffabbaus in Chile zu rechtfertigen. Besonders das chilenische Kupfer und Lithium werden als unabdingbar für eine globale sozial-ökologische Transformation dargestellt. Ökologische Krisenbearbeitung bedeutet in der Folge weniger gegen die durch den Bergbau verursachten Schäden vorzugehen, als vielmehr deren Förderung eher zu intensivieren und die Produktion von Tailings in Chile zu steigern. Ein Blick auf die internationalen Abkommen, die Großzahl der bestehenden asiatischen und europäischen „technischen“ Kooperationsprojekte oder sogar auf die Rohstoffsicherungspolitik der Bundesregierung zeigt auch in diesem Kontext die internationale Relevanz des chilenischen Bergbausektors (siehe Kontextkapitel 5). Mit dem globalen Druck zur Intensivierung des Bergbaus und der Vertiefung des Extraktivismus geht auch ein allgemeines (exogenes und endogenes) Interesse einher, jegliche Faktoren, die die Bergbauaktivitäten behindern – darunter auch sozial-ökologische Konflikte oder die Sichtbarkeit von schwerwiegenden Umweltproblemen wie sie von Tailings hervorgerufen werden – zu unterbinden. Umweltbewegungen und -aktivistInnen, die sich den „fortschrittsbringenden“ Sektoren widersetzten, werden nicht nur von den Unternehmen und in den öffentlichen Medien wiederholt als „Fortschrittsgegner“ dargestellt, sondern erfahren diese Beschuldigungen auch auf lokaler Ebene innerhalb der eigenen Gemeinde (siehe Kapitel 8 zu Chañaral). Die (trans-)nationalen Unternehmen und die besitzende Klasse Chiles wenden zudem eine ganze Palette unterschiedlicher Mechanismen an, um die Internalisierung externer Kosten im Land und vor allem in den regionalen Peripherien zu legitimieren (Landherr & Graf 2019, 2021). Als Resultat der internationalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse wird der Platz Chiles in der internationalen Arbeitsteilung und im kapitalistischen Weltsystem auf diese Weise gewährleistet und verfestigt.40 Insgesamt wird deutlich, dass auf der vierten Stufe gesamtgesellschaftliche „Kämpfe um Anerkennung“ der Tailings als Gesundheitsrisiken und Umweltprobleme durch die institutionellen Rahmenbedingungen und die Machtkonzentration bei der besitzenden Klasse und den transnationalen Unternehmen sowie durch die Überlagerung einer Vielzahl von ökologischen und sozialen Problemen bei der lokalen Bevölkerung weitgehend behindert werden. Gesteigert wird diese Problematik durch die internationalen Abhängigkeiten und Interessen an der chilenischen Rohstoffförderung, die aktuell im Rahmen der ökologischen Krisenpolitik eher verstärkt als abgeschwächt werden. Lediglich die in den letzten Jahren aufkommenden sozial-ökologischen Proteste verstärken die Sichtbarkeit der enormen sozialen und ökologischen Kosten der extraktivistischen Ausrichtung der chilenischen Ökonomie, was langfristig auch die Sichtbarkeit der Schadstoffbelastung durch Tailings begünstigen könnte.
Die Tabelle 9.1 dient zur Veranschaulichung einiger zentraler Ergebnisse meiner Forschung entlang der vier Stufen der (Un-)Sichtbarkeitspyramide (eine detaillierte Tabelle mit allen Ergebnissen ist im Anhang im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar). Wie bereits beschrieben, ist die (Un-)Sichtbarkeit dabei kein konstanter Zustand der Tailings, sondern vielmehr ein Prozess. So, wie jeder Fall zwischen den Stufen fluktuiert, können dies im Einzelfall auch einzelne Kategorien und Ergebnisse tun.
Tabelle 9.1
Übersicht zentraler Ergebnisse entlang der (Un-)Sichtbarkeitsstufen. (Eigene Darstellung)
 
(Un-)Sichtbarkeit, (Nicht-)Wissen, (in)action
Materielle und soziale Gegebenheiten, soziale Mechanismen und Strukturen
Allgemeine
Unsichtbarkeit
Materielle Unsichtbarkeit, allgemeine Ungewissheit/Nichtwissen (Roberts & Langston 2008; Wehling 2006) und ausbleibende kollektive Gefahrenwahrnehmung
Kein Zugang zu anerkanntem Wissen, keine kollektiven actions und ausbleibender Konflikt
Environmental injustice (Pulido 1996), toxische Ungewissheit (Auyero & Swistun 2008a,b) und toxische Frustration (Singer 2011)
Toxische Institutionalität und wissenschaftliche Produktion von Unbestimmtheit
Lokale
Sichtbarkeit
Überwindung materieller Unsichtbarkeit, kollektive Gefahrenwahrnehmung trotz allgemeiner Ungewissheit
Kollektive actions der Betroffenen (latenter Konflikt) und erste (re)actions des Unternehmens
Abwesender Staat und Territoriale Macht des Unternehmens (Landherr & Graf 2021)
Abhängigkeit und Interessenskonflikte unter den Betroffenen
Öffentliche Sichtbarkeit
Öffentliche Sichtbarkeit durch manifesten Konflikt, anerkanntes wissenschaftliches Wissen
Aktive Produktion von Ungewissheit und Dominanz der actions zur Unsichtbarmachung
Aushandlungsprozess um die „Wahrheit“
Bildung von Allianzen mit sehr unterschiedlichen Machtressourcen (Landherr & Graf 2017)
Öffentliche Anerkennung
Gesellschaftliche Anerkennung des Problems, erfolgreicher Konflikt, ausbleibende Lösung des Problems
Institutionelle und strukturelle Rahmenbedingungen fördern Unsichtbarkeit

9.2 Stufenübergreifende Forschungserkenntnisse: Allgemeine Tendenzen der (Un-)Sichtbarkeit

Bezüglich der Heuristik und der Kernkategorien dieser Forschung konnten einige Regelmäßigkeiten und Gemeinsamkeiten in den drei untersuchten Fällen herausgearbeitet werden. Gleichzeitig haben die Unterschiede der ausgewählten Fälle auch einige fallspezifische Besonderheiten in den Wechselwirkungen zwischen den Kategorien aufgezeigt, besonders was die Prozesse der (Un-)Sichtbarwerdung/-machung anbelangt. Dadurch konnten die drei empirisch untersuchten Fälle grob verschiedenen Stufen der (Un-)Sichtbarkeitspyramide zugeordnet werden. In den folgenden Abschnitten gehe ich über das dargestellte Stufenmodell hinaus und lege übergeordnete Zusammenhänge und Wechselwirkungen der Kategorien und weitere Forschungserkenntnisse zur detaillierten Beantwortung der einzelnen Forschungsfragen dar.
Die oben ausführlich beschriebene (Un-)Sichtbarkeitspyramide soll als Erklärungsmodell der unterschiedlichen Stufen dienen, die ein sozial ökologisches slow violence-Phänomen wie das der Tailings auf dem Weg zu seiner gesellschaftlichen Anerkennung als solches durchläuft. Obwohl es sich dabei um einen dynamischen Prozess mit teilweise häufigen Wechseln zwischen den Stufen handelt, soll die idealtypische Unterscheidung der verschiedenen Stufen es ermöglichen, die jeweils sehr unterschiedlichen Faktoren, Mechanismen und Akteure zu identifizieren, die zur (Un-)Sichtbarkeit des Phänomens beitragen. Wie die Fälle von Tierra Amarilla und Chañaral gezeigt haben, ist die einmal erreichte Sichtbarkeit keineswegs ein permanenter Zustand, sondern vielmehr eine Ausprägungsform eines instabilen Zustands entlang einer Kontinuitätslinie zunehmender Sichtbarkeit.

9.2.1 Die Rolle sozial-ökologischer Konflikte in der Sichtbarwerdung der Tailings

Anhand der drei untersuchten Fälle und der bestehenden Sekundärliteratur konnte gezeigt werden, dass die Möglichkeit der gesellschaftlichen Sichtbarkeit der Tailings in engem Zusammenhang mit der Entstehung eines manifesten sozial-ökologischen Konflikts steht.41 Dabei durchläuft der genannte Konflikt bis er (in sehr seltenen Fällen) die gesellschaftliche Anerkennung erlangt, bei Tailings meistens alle vier Stufen der (Un-)Sichtbarkeit (siehe Abbildung 9.2). Die jeweiligen materiellen und sozialen Gegebenheiten und beteiligten Akteure auf den einzelnen Stufen, das (Nicht-)Wissen und die (in)actions sowie die verschiedenen Mechanismen, Strategien und Machtpositionen der einzelnen Akteure und ihre Netzwerke und Beziehungen untereinander sind dabei ausschlaggebend für die Entstehung und den späteren Ausgang des Konflikts. Aus den erhobenen Daten wurden in dieser Hinsicht sowohl die Faktoren untersucht, die zur Sichtbarkeit führen als auch jene, die zur Unsichtbarkeit der Tailings beitragen. Dabei kann als zentrales Ergebnis festgehalten werden, dass diejenigen Faktoren, die unter den Betroffenen zu Nichtwissen, zu Ungewissheit und zu inaction und somit zur Nichtentstehung eines Konflikts und der daraus folgenden Sichtbarkeit beitragen, beim Phänomen der Tailings in Chile mehrheitlich vorhanden sind und weitaus wirksamer ausfallen als jene, die zur Entstehung eines Konflikts und zur gesellschaftlichen Sichtbarkeit der Tailings beitragen.
Die Nichtentstehung eines Konflikts oder sein latenter Zustand sind bei Tailings zahlenmäßig der Regelfall. Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass an diesen Orten keine sozial-ökologischen Probleme bestehen oder die Betroffenen nicht unter den Konsequenzen der Schadstoffbelastung durch Tailings leiden. Vielmehr verweist dies auf das Vorhandensein wirksamer Faktoren, die die Gefahrenwahrnehmung oder die Problemursachenidentifikation sowie die Entstehung eines Konflikts und anderer actions erschweren oder verhindern.
Den unterschiedlichen Stufen der Pyramide lassen sich zudem nicht nur verschiedene Konfliktniveaus und -formen zuordnen, sondern auch die Art der Faktoren, die jeweils zur (Un-)Sichtbarkeit beitragen. Bis zur Entstehung eines Konflikts wirken fast ausschließlich nichtintendierte Faktoren auf die Unsichtbarkeit der Tailings (siehe nächster Abschnitt), die gleichzeitig auch die zentrale Ursache dafür sind, dass ein Konflikt nicht entstehen kann. Ab der Entstehung eines latenten Konflikts beginnen intendierte Faktoren eine immer größere Rolle in der (Un-)Sichtbarkeit der Tailings zu spielen. Wenn dieser Konflikt manifest wird, bilden die intendierten Faktoren und die aktive (Un-)Sichtbarmachung den Kern der (Un-)Sichtbarkeit der Tailings.42
Sozial-ökologische Konflikte sind allerdings nicht nur zentral für die gesellschaftliche Sichtbarkeit der Tailings, sondern auch für deren Sichtbarkeit innerhalb der Sozialwissenschaften. Die nichtintendierten Faktoren, die zur Unsichtbarkeit von Tailings führen, werden – mit Ausnahme einiger Forschungen aus den Bereichen der Umweltgeschichte, der Wissenssoziologie und der Science and Technology Studies (STS) – innerhalb der Sozialwissenschaften nur sehr selten untersucht. Obwohl sich auf den Stufen I bis II die meisten sozial-ökologischen Ungleichheiten und Probleme von slow violence-Phänomenen befinden, sind sie selten Gegenstand der Politischen Ökologie, der Extraktivismusdebatte oder der Ungleichheits- und Konfliktforschung (siehe Abschnitte 2.​3.​62.​3.​8 des Theoriekapitels). Ihre empirischen Forschungen und theoretischen Ansätze befassen sich vorwiegend mit den intendierten Faktoren der (Un-)Sichtbarkeit ab der dritten Stufe, auch wenn sie diese selten in Bezug zur (Un-)Sichtbarkeit des Phänomens untersuchen. Die intendierten Faktoren sind zwar sehr wichtig in der Erklärung der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit der Tailings und die dabei genutzten theoretischen Ansätze liefern wichtige Anknüpfungspunkte für die vorliegende Forschung. Sie können allerdings die Unsichtbarkeit der Probleme, die mit Tailings einhergehen, nur in begrenztem Maße erklären und ihre Erkenntnisse treffen nur auf die Minderheit der slow violence-Fälle zu. Im Folgenden werde ich deshalb zunächst näher auf die nichtintendierten Faktoren der Unsichtbarkeit eingehen. Danach untersuche ich die intendierten (in)actions von Akteuren und Akteursgruppen in Bezug auf die (Un-)Sichtbarkeit der Risiken, die von Tailings ausgehen. Darauffolgend gehe ich auf die entscheidende Rolle, die dem (un-)gewussten und (nicht-)intendierten (Nicht-)Wissen bei der (Un-)Sichtbarkeit von Tailings zukommt, ein. Abschließend thematisiere ich die größeren Zusammenhänge und Strukturen, in die diese Prozesse, Kräfteverhältnisse und Konflikte eingebettet sind.

9.2.2 Nichtintendierte Faktoren der Unsichtbarkeit

Die Faktoren, die zur (Un-)Sichtbarkeit der Tailings beitragen, können in zwei Gruppen unterteilt werden: nichtintendierte und intendierte Faktoren. Erstere wirken sich größtenteils passiv auf die (Un-)Sichtbarkeit der Tailings aus und letztere stellen diese meist aktiv her. Während in dieser Forschung verschiedene intendierte (aktive) Faktoren, die sowohl die Sichtbarkeit der Tailings als auch ihre Unsichtbarkeit begünstigen, identifiziert werden konnten, trägt die Mehrheit der nichtintendierten Faktoren im Wesentlichen zu ihrer gesellschaftlichen Unsichtbarkeit bei. Sie verhindern die Gefahrenwahrnehmung durch die Betroffenen und bilden die Basis der derzeitigen Ausprägung der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit der Tailings in Chile. Im Folgenden stelle ich diese nichtintendierten Unsichtbarkeitsfaktoren systematisch dar. Auf die Gruppe der intendierten Faktoren wird anschließend im folgenden Abschnitt dieser Arbeit zu (in)actions ausführlich eingegangen.
In dieser Forschung konnte eine Gruppe an Elementen identifiziert werden, die auf eine passive oder nichtintendierte Art zur Unsichtbarkeit der Tailings beitragen. Dazu zählen sowohl die materiellen und sozialen Gegebenheiten, die im Fall von Tailings eine sehr starke Wirkung auf ihre Unsichtbarkeit haben, eine Reihe sozialer Mechanismen als auch passive (nichtintendierte) Formen der (in)action der beteiligten Akteure. Am ausschlaggebendsten sind hier die materielle Unsichtbarkeit der Schadstoffe und die gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Betroffenen. Diese Faktoren werden durch den Dauerzustand der environmental injustice – eine Überlappung der sozialen und ökologischen Ungleichheiten – noch verstärkt. Ebenfalls verstärkend wirkt das häufige Ausbleiben einer Gefahrenwahrnehmung bzw. die toxische Ungewissheit seitens der Betroffenen auf der untersten Stufe der (Un-)Sichtbarkeitspyramide. Falls es doch zu einer Gefahrenwahrnehmung kommt, führt sie meistens – aufgrund der mehrheitlich ausbleibenden agency der Betroffenen – zur toxischen Frustration und erzwungenen Normalisierung unter ihnen. Teilweise entwickeln die Betroffenen aus ihrer Alternativlosigkeit und Ortsgebundenheit (Altman & Low 1992; Hidalgo & Hernández 2001) heraus auch eine kognitive Dissonanz, wie sie Festinger (1975) und Slovic (2000) beschreiben. Durch diese passen sie ihre ursprüngliche Risikowahrnehmung nach unten an, um ihre alltägliche Handlungsfähigkeit zu bewahren. Im ersten Fall bestehen also nicht einmal die Voraussetzungen für die Entstehung eines sozial-ökologischen Konflikts, im zweiten Fall bleibt dieser aufgrund mangelnder Handlungsmöglichkeiten weitestgehend aus.
Dazu kommen weitere soziale Mechanismen, Prozesse und (in)actions wie das kollektive Vergessen und Alltagspraktiken der Betroffenen sowie nichtintendierte wissenschaftliche und staatliche Praktiken, die durch die Produktion von Unbestimmtheit oder eine toxische Institutionalität zur Unsichtbarkeit der Tailings beitragen. Staatliche Behörden neigen zudem besonders in den ersten beiden Stufen der (Un-)Sichtbarkeit zu einer passiven Form der inaction gegenüber Tailings. Diese kennzeichnet sich vorwiegend durch das Ignorieren des bestehenden – teils selbst generierten – Wissens, über die potentiellen Gefahren der Tailings und dadurch, dass sie das durch dieses identifizierte sozial-ökologische Problem „sich selbst überlässen“ (Hirschauer 2016: 49). Ein weiterer Faktor ist das der Wissenschaft inhärente ungewusste sowie das gewusste Nichtwissen bezüglich der in den Tailings enthaltenen Schadstoffe und ihren Auswirkungen (siehe Abschnitt 9.4), das auf die anderen Akteure übertragen wird.
Diese Faktoren stellen die Basis der Unsichtbarkeit der durch Tailings verursachten Umweltprobleme auf den unteren (Un-)Sichtbarkeitsstufen dar und haben auch auf höheren Stufen noch eine starke Wirkungskraft. Besonders ausschlaggebend für die Unsichtbarkeit der Tailings sind dabei – wie bereits beschrieben – die durch sie bewirkten fehlenden Bedingungen zur Entstehung eines manifesten sozial-ökologischen Konflikts. Die allermeisten durch Tailings verursachten sozial-ökologischen Probleme scheinen – in Anbetracht der Forschungsergebnisse und der bestehenden Sekundärliteratur – aufgrund dieser nichtintendierten Faktoren auf der ersten (Un-)Sichtbarkeitsstufe zu verweilen oder höchsten die zweite Stufe zu erreichen. Sie stellen zusammen die erste und größte Hürde der Sichtbarkeit dar, wobei diese meistens nur durch das Vorhandensein von Wissen und handlungsermöglichender Werkzeuge unter den Betroffenen überwunden werden kann, die die Entstehung eines Konflikts ermöglichen.
Auf allen, aber vor allem auf der ersten Stufe der (Un-)Sichtbarkeit haben Tailings Eigenschaften, die für slow violence-Phänomene typisch sind und sie von anderen sozial-ökologischen Problemen unterscheiden. Das Problem der materiellen Unsichtbarkeit der Schadstoffe, sowie das Nichtwissen und die Ungewissheit (in ihren verschiedenen Formen) begleiten die Auseinandersetzungen mit und um Tailings auf allen Stufen. Darüber hinaus begünstigen sie andere, immaterielle Unsichtbarkeitsfaktoren. Während sie anfangs besonders der Problemwahrnehmung und der Entstehung eines Konflikts im Wege stehen, schränken sie später die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen ein und dienen vor allem den Unternehmen dazu, im „Kampf um die Wahrheit“ bezüglich der Tailings und ihren möglichen Risiken ihre Interessen durchzusetzen. Sie behindern die agency der Betroffenen, um das Problem sichtbar zu machen, während sie den Bergbauunternehmen und teilweise auch dem Staat agency verleihen, um es unsichtbar zu halten oder diese Unsichtbarkeit aktiv herzustellen. Insofern kann bezüglich der Ausgangsheuristik festgehalten werden, dass wissenschaftliches Wissen – als gesellschaftlich anerkannte „Wahrheitsquelle“– zwar nicht unbedingt zu actions seitens der beteiligten Akteure führt (Wehling 2006:23), allerdings ab einer gewissen Stufe im Wesentlichen als einzige Nachweisform zur Bestätigung der Gefahrenwahrnehmung gilt und auf diese Weise die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen bestimmt. Während die Unternehmen und staatliche Behörden solange das Problem allgemein unsichtbar ist bzw. kein offiziell anerkanntes Wissen ein solches bestätigt, durch eine allgemeine inaction gekennzeichnet sind, konnten bei jeglicher Form der Sichtbarkeit des Problems und dieses bestätigenden Wissens anschließend direkte Handlungen zur Unsichtbarmachung seitens dieser beiden Akteure beobachtet werden. Je größer die Sichtbarkeit der Tailings, desto mehr intendierte Faktoren der (Un-)Sichtbarkeit konnten beobachtet werden. Diese werden im folgenden Abschnitt dargestellt.

9.3 (In)actions: Intendierte Faktoren und Akteure der (Un-)Sichtbarkeit

9.3.1 (Un-)Sichtbarkeitsblöcke: Zentrale Akteure, ihre Allianzen und ihre Interessen

Erst wenn die oben beschriebenen nichtintendierten Unsichtbarkeitsfaktoren zumindest teilweise überwunden sind, können die beteiligten Akteure tatsächlich aktiv an der (Un-)Sichtbarmachung der durch Tailings verursachten sozial-ökologischen Probleme mitwirken. In diesem Abschnitt werden vorwiegend derartige intendierte Faktoren der (Un-)Sichtbarkeit dargelegt. Dabei sind Allianzen, Beziehungen, Netzwerke und die gesellschaftliche (Macht-)Position der Akteure ausschlaggebend für die entsprechenden Möglichkeiten, ihre jeweiligen Interessen durchsetzen zu können. In dieser Forschung konnten in dieser Hinsicht zwei antagonistische Blöcke identifiziert werden, die jeweils zur Sichtbarkeit und zur Unsichtbarkeit der Tailings als Umweltproblem agieren. Die Hauptakteure, um die sich diese Blöcke formieren, sind einerseits die Betroffenen, die eine Problemlösung und die Sichtbarkeit des Problems, das sie betrifft, suchen. Auf der anderen Seite stehen die Unternehmen, die ein Interesse an der Unsichtbarkeit des Konflikts und des diesem zugrundeliegenden Umweltproblems sowie an einer schnelle „Problembeseitigung“ zur ungestörten Fortsetzung ihres Produktionsprozesses haben. Diese beiden Akteure bilden wiederum Allianzen mit anderen Akteuren, die als „Helfer“ bei der Durchsetzung ihrer Interessen auftreten.
Die Betroffenen haben dabei meist ein Interesse am Erhalt ihrer Lebens-, Subsitzenz- und Produktionsgrundlagen sowie ihrer körperlichen Unversehrtheit. Wenn möglich, bilden sie eine Allianz mit der nationalen Zivilgesellschaft, städtischen Umweltbewegungen und großen Umwelt-NGO, die wiederum ein Interesse am Erhalt der natürlichen Ökosysteme und Lebensräume sowie an der Bekämpfung des Klimawandels und der ökologischen Krise im Allgemeinen aufweisen. Hier entsteht auf diese Weise eine Kooperation zwischen dem environmentalism of the poor (Martinez-Alier 2002) der Betroffenen mit dem städtischen Umweltaktivismus oder in Worten von Joan Martinez-Alier und Ramachandra Guha (1997) eine Allianz aus empty belly und full stomach environmentalism, wobei sich ein gemeinsames Interesse an der gesellschaftlichen Anerkennung des Problems der Tailings und einer Problemlösung herausbildet. Diese Allianz war allerdings bei den untersuchten Tailings erst ab Stufe drei möglich, nachdem die öffentliche Sichtbarkeit – meist durch die Entstehung eines manifesten sozial-ökologischen Konflikts – erreicht wurde, der diese Umweltprobleme in die Wahrnehmung der nationalen Zivilgesellschaft gerückt hat. Ausschlaggebend war auch der öffentliche Zugang zu Wissen über die Risiken und Auswirkungen eines bestimmten Tailings. Ohne diese Voraussetzungen stellen Tailings ein selten thematisiertes Randthema unter zivilgesellschaftlichen Organisationen in Chile dar.
Die Unternehmen hingegen teilen ihr Interesse an der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, sowie am weitgehenden Erhalt des neoliberalen Wirtschaftssystems in Chile und des privaten Zugriffs auf Ressourcen, die dieses ermöglicht, mit anderen Unternehmen, Sektoren, internationalen Akteuren und der besitzenden Klasse des Landes (Landherr & Graf 2017, 2021). Die Mitglieder der besitzenden Klasse investieren dabei entweder selbst in extraktive Sektoren oder sichern und erhalten durch die Aufrechterhaltung des extraktivistischen Modells ihre wirtschaftliche Position (Matamala 2015; Fischer 2011; Schneider 2013). Die Bergbauunternehmen organisieren sich dafür in Unternehmensverbänden, die im chilenischen Fall die mächtigsten des Landes darstellen und nutzen ihre Beziehungen zur nationalen besitzenden Klasse und der politischen Elite. Der Zentralstaat wiederum hat zwar ein Interesse an der Einhaltung der Umweltregulierungen, aber auch ein generelles Interesse am Erhalt des politischen Systems und des ihm zugrundeliegenden Wirtschaftsmodells (Larraín, Yañez & Humire 2014) sowie an der Fortführung des eingeschlagenen Entwicklungspfades und an der Einhaltung internationaler Abkommen und internationaler wirtschaftlicher Allianzen (Correa 2016: 7; Habersang 2016:139). Damit befindet sich Chile im kapitalistischen Weltsystem in einer Position der Abhängigkeit zu den Zentrumsländern und Abnehmern aus den Semiperipherien (Graf et. al 2020: 22; Correa 2016, S. 29; ausführlich in Kapitel 5).
Aufgrund der – vor allem aus wirtschaftlichen und institutionellen Gründen – kaum stemmbaren Lösung eines so umfassenden Problems wie dem der Tailings in Chile sowie zusätzlich wegen der Relevanz des Bergbaus für die chilenische Volkswirtschaft entsteht größtenteils auch eine Interessenkonvergenz zwischen den Unternehmen und dem Zentralstaat bezüglich der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit der Tailings.43 Dabei verfährt der Staat weitgehend nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn bzw. ein Problem, das nichtgelöst werden kann, sollte besser auch nicht gesellschaftlich als Problem wahrgenommen werden. Dies äußert sich größtenteils in einer passiven Komplizenschaft und teilweise auch darin, dass Praktiken der Unsichtbarmachung von einzelnen Behörden und PolitikerInnen aktiv unterstützt werden. Unter passive Komplizenschaft fällt vor allem die intendierte staatliche inaction bezüglich der den staatlichen Behörden bekannten Risiken, die von den Tailings ausgehen sowie das Ignorieren oder die Nichtanerkennung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die diese belegen. In Chañaral waren staatliche Behörden und einzelne Regierungsmitglieder darüber hinaus auch direkt an der aktiven (symbolischen) Unsichtbarmachung der Tailings beteiligt.
Die staatlichen Behörden befinden sich bezüglich ihrer Zuständigkeiten generell allerdings in einem Spannungsfeld zwischen den Interessen der beiden Blöcke. Für einzelne Behörden und Institutionen – allen voran das Umwelt- und das Gesundheitsministerium – steht die Unversehrtheit der betroffenen Bevölkerung und der Umwelt durchaus im Mittelpunkt ihrer Zuständigkeiten. Dieser Tätigkeitsbereich widerspricht sich allerdings mit den Aufgaben der finanziell und personell weitaus stärker aufgestellten Bergbau- und Finanzministerien. Das Umweltministerium steht dabei sogar in direkter ökonomischer Abhängigkeit vom Finanzministerium, was die Untersuchung oder Regulierung von Tailings angeht. Auch auf lokaler und regionaler Ebene gibt es deshalb zwar immer wieder staatliche Behörden, die sich der geschilderten Interessenkonvergenz aus Staat und Bergbauunternehmen entziehen, sie gehören in den untersuchten Fällen allerdings mehrheitlich den strukturell und finanziell benachteiligten Behörden an. Der Staat agiert bezüglich Tailings also nicht als homogener Block, sondern vielmehr als das Zusammenspiel vereinzelter Behörden und politischer Akteure, aus denen sich die oben beschriebene Gleichzeitigkeit einer toxischen Institutionalität sowie einer größtenteils passiven Komplizenschaft mit den Unternehmensinteressen ergibt.
Die Medien und die Wissenschaft sind in hohem Maße Teil des unternehmerisch-staatlichen Wissensregimes, wodurch private und staatliche Akteure großen Einfluss und immense Kontrolle auf sie ausüben können. Sie stehen also meistens im Dienst des „Unsichtbarkeitsblocks“, was sich bei beiden auf unterschiedliche Weise äußert. Die Kontrolle über die privaten und öffentlichen nationalen Medien (siehe Abschnitt 5.​2.​2) stellt ein wichtiges Standbein der hegemonialen Macht der chilenischen besitzenden Klasse dar (Landherr & Graf 2017). Dem Bergbausektor dient sie unter anderem dazu, die sozialen und ökologischen Kosten vor einem breiten Publikum zu legitimieren und im Sinne eines zukünftigen green mining als vorübergehendes Problem darzustellen (siehe Kontextkapitel 5). Die Medien stellen für sie ein Werkzeug dar, dass es ihnen ermöglicht, auch gezielt jenes Wissen zu verbreiten, das der gesellschaftlichen Akzeptanz ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten dient und jenes Wissen, das diese in Frage stellt oder gefährdet, vor breitem Publikum anzuzweifeln oder zu widerlegen. Die nationalen Medien sind damit auch im Falle der chilenischen Tailings wesentlicher Bestandteil und wichtiges Werkzeug in den Aushandlungsprozessen um die „Wahrheit“, wie sie auch Peter Wehling (2006: 254) beschreibt. Tailings als (Umwelt-)Problem wurden in ihnen bisher nur in seltenen Fällen thematisiert. Wenn dies der Fall ist, geht es meist um ein katastrophales Ereignis wie einem Dammbruch, Überschwemmungen oder Unfälle. Durch solche Ereignisse gewinnen die Tailings und die durch sie entstandenen Veränderungen der Umgebung eine Wirkungskraft (Kärger et al. 2017:99), die zu ihrer medialen Präsenz führt und die Tailings im Normalzustand hingegen nicht besitzen. Da die Allianz zwischen Betroffenen und Zivilgesellschaft größtenteils keinen Zugang zu diesen Medien hat, greift sie zur Verbreitung ihres Wissens über die Gefahren und Risiken der Tailings meist auf soziale Netzwerke und teilweise auch auf unabhängige Medien mit geringerer Reichweite und freie JournalistInnen zurück. Diese spielen eine sehr wichtige Rolle in der Sichtbarmachung der (Umwelt-)Probleme der Allianz rund um die Betroffenen. Obwohl gerade durch soziale Medien durchaus ein großes Publikum erreicht werden kann, verbreiten sich die Informationen in ihnen meistens nur in begrenzten Kreisen.44
Die Wissensgenerierung und -verbreitung über Tailings und den in ihnen enthaltenen Schadstoffen sowie deren Auswirkungen auf Umwelt und Bevölkerung ist eine der wichtigsten actions auf dem Weg zu ihrer (Un-)Sichtbarkeit (siehe Abschnitt 9.4). Die Unternehmen besitzen allerdings nicht nur großen Einfluss auf die relevanten Medien, sondern durch den Einblick in den Produktionsprozess auch das für alle anderen Akteure (auch staatliche Behörden) unzugängliche Wissensmonopol über stoffliche Prozesse im Bergbau. Darüber hinaus konzentriert in den drei untersuchten Fällen im Wesentlichen der Staat das wissenschaftliche Wissen, welches nach wie vor nur zu geringen Teilen öffentlich zugänglich ist. Er greift zur Wissensproduktion über Tailings einerseits auf seine technischen MitarbeiterInnen etwa des Sernageomin zurück, lagert den Großteil der Wissensproduktion allerdings aus, indem er außerstaatliche WissenschaftlerInnen beauftragt. Demnach findet die (außerunternehmerische) Wissensproduktion hauptsächlich in universitären und außeruniversitären wissenschaftlichen Forschungsinstituten statt. Aber auch Think Tanks und zivilgesellschaftliche Organisationen sind daran beteiligt. Die chilenische Wissenschaft zeichnet sich dabei dadurch aus, dass sie entweder im Rahmen des Forschungsprogramms einer Universität agiert oder auf private oder staatliche Fördergelder oder AuftraggeberInnen angewiesen ist – welche häufig Unternehmen der extraktiven Industrien sind.45
Die Sichtbarkeitsallianz ist deshalb auf die wenigen unabhängigen WissenschaftlerInnen angewiesen bzw. auf jene, die es schaffen, für dieses Anliegen an staatliche Fördergelder zu gelangen sowie auf den Zugang, der vom Umwelt- und Gesundheitsministerium in Auftrag gegebener Untersuchungen. Die wenigen Studien zu Tailings, die diese auf ihre gesundheitlichen und ökologischen Folgen hin untersuchten, wurden allesamt durch MitarbeiterInnen staatlichen Universitäten, staatlich beauftragte Forschungsinstitute oder unabhängige WissenschaftlerInnen durchgeführt, wobei besonders letztere dafür nur über sehr begrenzte Forschungsgelder verfügten. Die ersten beiden Akteure hängen dabei gleichzeitig direkt von der staatlichen Erlaubnis zur Veröffentlichung der Ergebnisse ab. Manche der staatlichen Untersuchungen können zwar durch die ley de transparencia gegen Petition eingesehen werden (vorausgesetzt die Person ist über die Existenz und den genauen Namen der Forschung informiert), wirklich veröffentlicht wurden bisher allerdings nur die Untersuchungen der unabhängigen WissenschaftlerInnen. Besonders sie weisen allerdings durch die fehlenden finanziellen Mittel große Schwierigkeiten auf, aussagekräftige Forschung zu betreiben (siehe Kapitel zu Chañaral 8). Die staatliche Kontrolle, die Unterbindung der Veröffentlichung ungewünschter Resultate und die selektive Finanzierung führen auf diese Weise zu einer politischen Erzeugung von Wissenslücken, wie sie auch Peter Wehling (2006:259ff) beschreibt. Die großen Bergbauunternehmen hingegen finanzieren aufwendige Studien und kontrollieren, dass die Veröffentlichung der Ergebnisse in ihrem Interesse ausfällt (siehe hierfür Ureta & Contreras 2020 und Kapitel 7 zum Fall Tierra Amarilla). Der Staat und die Unternehmen kontrollieren aber nicht nur den Großteil der Wissensproduktion über Tailings, sondern besitzen gleichzeitig das Gültigkeitsmonopol des generierten Wissens. Die Medien und die Wissenschaft nehmen auf diese Weise Sonderpositionen unter den beteiligten Akteuren ein. Sie haben als Institutionen kein direktes Eigeninteresse an der (Un-)Sichtbarkeit der Tailings, sondern werden indirekt, durch äußeren Druck, Teil einer der Allianzen, wobei die Mehrheit dem Unternehmensblock beisteht. Gleichzeitig finden sich allerdings –wie bereits dargestellt – immer wieder einzelne „Ausreißer“, die sich auf die Seite der Betroffenen stellen und eine zentrale Rolle in der Sichtbarmachung des Umweltproblems spielen (siehe Kapitel 8). Genauso wie die Wissenschaft ist auch die Zivilgesellschaft, als zentraler „Helfer“ der Betroffenen ab der III. Stufe der öffentlichen Sichtbarkeit der durch Tailings produzierten sozial-ökologischen Probleme, keineswegs unabhängig. Durch ihre ökonomische Prekarität gerät sie oftmals in Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber ihren GeldgeberInnen,46 die direkten Einfluss auf die behandelten Themenbereiche haben. Dabei kommt es auch zu Interessenkonflikten durch die Kooperationen zwischen großen Umwelt-NGO mit privaten extraktivistischen Unternehmen.47
Die Anzahl der beteiligten Akteure und die Sichtbarkeit des Problems bedingen sich zudem gegenseitig. Je sichtbarer ein Problem wird, desto mehr Akteure sind involviert und je mehr Akteure involviert sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der gesellschaftlichen Sichtbarkeit. Während sich die Sichtbarkeit der Tailings im Fall von Tierra Amarilla, bei dem weder zentrale Akteure der Sichtbarmachung wie große Umwelt-NGO und unabhängige WissenschaftlerInnen noch öffentliche nationale Medien involviert waren, nicht lange halten konnte, war gerade die Beteiligung dieser Akteure ausschlaggebend dafür, dass das Problem der Tailings in Chañaral im Laufe der Zeit immer wieder sichtbar wurde. Dabei lassen sich verschiedene Arten der (Un-)Sichtbarmachung unterscheiden, die im Folgenden ausführlich beschrieben werden.

9.3.2 Formen der (Un-)Sichtbarmachung

Bisher wurde lediglich zwischen intendierter und nichtintendierter (Un-)Sichtbarmachung differenziert. Allerdings lassen sich auch verschiedene Formen der intendierten (Un-)Sichtbarmachung unterscheiden und entlang der (Un-)Sichtbarkeitspyramide im Verlauf der Stufen eine Zunahme der intendierten Unsichtbarmachung und der actions der AkteurInnen konstatieren. Während die actions des Unternehmens auf Stufe II meistens präventiv versuchen die actions der Betroffenen und damit die Sichtbarkeit des Problems zu unterbinden, kommt es vor allem in der III. Stufe zur aktiven Unsichtbarmachung, die teilweise auch noch auf der IV. Stufe fortgeführt wird (für einen Überblick siehe Tabelle 9.2). Anders ausgedrückt lässt sich die oben beschriebene Tendenz auch auf die Praktiken und Handlungen der Akteure beziehen: Je weniger sichtbar das Phänomen der Tailings und ihrer Folgen ist, desto passiver fallen die (in)actions der beteiligten Akteure ihnen gegenüber aus, mit jeder höheren Sichtbarkeitsstufe werden diese hingegen aktiver in der (Un-)Sichtbarmachung.48 Während auf den unteren Stufen der (Un-)Sichtbarkeit die (Re-)Produktion der (Un-)Sichtbarkeit der Tailings besonders eine Folge der Praktiken der einzelnen Akteure (Schatzki 2002: 71; Hirschauer 2016:46) ist und diese etwa durch Alltagspraktiken der Betroffenen, wissenschaftliche Praktiken, Unternehmenspraktiken oder die Praktiken der staatlichen Behörden (Reckwitz 2003: 289) hergestellt wird, wird die (Un-)Sichtbarkeit auf höheren Stufen der (Un-)Sichtbarkeitspyramide immer mehr durch gezielte Handlungen (im Sinne von Hirschauer 2016: 48f, 50f) hervorgebracht. Erstere sind in der Regel von fehlender Kommunikation, Nichtwissen und unübersichtlicher Zuständigkeiten geprägt und im Alltag verankert. Letztere stellen meistens konkrete und gezielte actions dar, die als Reaktion auf eine steigende Sichtbarkeit betrachtet werden müssen. Während zu Beginn der Forschung das Kategorienpaar der action/inaction noch besonders als analytisches Werkzeug in Bezug auf die Lösung und Sichtbarkeit des Problems gedacht war, hat sich im Laufe der Forschung herausgestellt, dass besonders ab der zweiten Stufe die actions einer Großzahl der Akteure nicht etwa nur ausblieben – wie bei früheren Forschungen konstatiert – oder der Problemlösung dienten, sondern vielmehr auf die aktive Unsichtbarmachung des Problems zielten bzw. eine gezielte (re)action auf diese Sichtbarkeit darstellten. Je größer die Problemwahrnehmung unter den Akteuren – besonders der Betroffenen – desto stärker wird die Unsichtbarmachung und „Konfliktlösung“ von anderen Akteuren mit gegenläufigen Interessen vorangetrieben.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Während auf den ersten beiden Stufen vor allem Gegebenheiten, Mechanismen und Praktiken beobachtet werden können, die die Sichtbarkeit der Tailings be- oder verhindern, finden sich auf Stufe III und IV vorwiegend Mechanismen, Strukturen und Handlungen, die zur Unsichtbarkeit eines bereits sichtbar gewordenen Problems führen und an denen mehrere Akteure, besonders die Unternehmen und der Staat, aktiv beteiligt sind. Bei der Mehrheit der Betroffenen, der WissenschaftlerInnen und der staatlichen Behörden konnte konstatiert werden, dass die Unsichtbarkeit der Tailings aus ihren Praktiken – als körperlichen Vollzug sozialer Phänomene oder als kulturell vorstrukturierte „ways of doing“ (Reckwitz 2003:288; Hirschauer 2016:46) – entsteht. Es sind unter ihnen in der Regel lediglich einzelne Akteure, die aktiv durch konkrete, intendierte Handlungen zur (Un-)Sichtbarkeit der Tailings beitragen. Bei den Unternehmen hingegen sind die Praktiken selbst schon „Unsichtbarkeitspraktiken“. Das bedeutet, dass sie darauf ausgelegt sind, das reibungslose Funktionieren der (Kupfer-)Produktion zu gewährleisten und störende Faktoren – allen voran den Widerstand der anliegenden Bevölkerung und das Sichtbarwerden eines Umweltproblems (und möglichen -skandalen) – präventiv oder reaktiv zu beseitigen. Wenn diese allerdings ihre Wirkung verfehlen, leitet das Unternehmen – als Ganzes und im Auftrag der Führungskräfte – konkrete Handlungen zur Unsichtbarkeit bzw. zur Produktion von Ungewissheit bezüglich der potenziellen Konsequenzen der Tailings ein, was sie zu sogenannten „doubt producers“ macht, wie sie auch Rob Nixon (2011: 40) oder Ureta und Otaegui (2021: 884) beschreiben. Dasselbe gilt für die Zivilgesellschaft, deren Praktiken und Handlungen allerdings vorwiegend auf die Sichtbarwerdung der Umweltproblems ausgerichtet sind.
Innerhalb der bestehenden Machtverhältnisse und nationalen sowie internationalen Strukturen nehmen die handelnden Akteure bzw. Akteursgruppen gleichzeitig sehr unterschiedliche Positionen ein, die mit sehr verschiedenen Machtressourcen verbunden sind. Die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Akteure sind dadurch je nach gesamtgesellschaftlicher Position und je nach Stufe der (Un-)Sichtbarkeitspyramide sehr unterschiedlich. Während Betroffene generell Schwierigkeiten haben, ihre Anliegen und Interessen in konkrete Handlungen zu übersetzen, verfügen die Unternehmen über verschiedene Machtressourcen, die sie sowohl lokal, aber auch auf nationaler Ebene effektiv einsetzen können. Die große Kluft zwischen der agency (Kärger et al. 2017:100) und Handlungsmöglichkeiten der beiden antagonistischen Akteure wird vor allem durch die territoriale Macht der Unternehmen aufrechterhalten, die es letzteren ermöglicht, den Konflikt latent und die sozial-ökologischen Probleme der Tailings somit auf den unteren Stufen der (Un-)Sichtbarkeitspyramide zu halten.
Denn je höher die Stufe, desto größer werden durch ihre Bündnisse mit anderen Akteuren auch die Handlungsspielräume der Betroffenen. Während die Unternehmen auf jeder Stufe und jederzeit ihre Machtressourcen mobilisieren können, besitzen die Betroffenen auf der untersten Stufe der (Un-)Sichtbarkeitspyramide gar keine Machtressourcen.
Die dominante Form der aktiven Sichtbarmachung seitens der Betroffenen ist der aktive Widerstand gegen das verursachende Unternehmen und die Austragung eines manifesten sozial-ökologischen Konflikts. Dabei werden die Bedingungen für die Entstehung eines manifesten Konflikts sowohl durch nichtintendierte Faktoren der Unsichtbarmachung –darunter die, besonders bei historischen Tailings, oftmals ausbleibende Wirkungskraft (Latour 2000:27; Kärger et al. 2017:98f) der Tailings–, handlungseinschränkende Strukturen (siehe Kapitel 2 und 5) als auch durch intendierte Praktiken und Handlungen der Allianz rund um das Unternehmen entlang der ersten zwei Stufen der (Un-)Sichtbarkeitspyramide wesentlich erschwert. Nur in sehr wenigen von Tailings verursachten sozial-ökologischen Problemfällen entsteht durch sie ein Konflikt. Noch seltener gelingt es den Betroffenen aus einer latenten lokalen Form einen manifesten Konflikt entstehen zu lassen. Von hier an sind die Allianzen der Betroffenen von besonderer Relevanz für die weitere aktive Sichtbarmachung, die meistens in der Verbreitung von Wissen und der Generierung weiteren Wissens als offiziellen Nachweis des bestehenden Risikos besteht. In zwei der untersuchten Fälle ist es auf diese Weise sogar zur Einleitung eines Gerichtsverfahrens gekommen.
Die Formen der aktiven Unsichtbarmachung seitens der Allianz rund um das Unternehmen sind weitaus vielseitiger und reichen von Unternehmenspraktiken (vorwiegend Politik des Guten Nachbars und CSR-Politik) und der Produktion von Ungewissheit durch kontrollierte Wissensgenerierung über symbolische Unsichtbarmachung bis hin zu Lobby und quiet politics (Culpepper 2011). Die Unternehmen greifen hierfür auf ihre Kontakte zu anderen Unternehmen und der nationalen besitzenden Klasse, ihre Beziehungen zu PolitikerInnen und sektorenübergreifende Netzwerke zurück und nutzen die aus ihnen resultierenden Machtressourcen. Sie haben auf diese Weise direkten Einfluss auf politische Entscheidungen, Institutionen und teilweise sogar auf die Rahmenbedingungen selbst. Der Zentralstaat verlässt ab der dritten Stufe teilweise seine passive Komplizenschaft mit den Unternehmen und wirkt sowohl an der Aufrechterhaltung des hegemonialen Fortschrittsdiskurses als auch an der symbolischen Unsichtbarmachung aktiv mit. Diese actions zur Unsichtbarmachung dominieren nicht nur in ihrer Zahl, sondern vor allem in ihrer Effektivität über die actions zur Sichtbarmachung des anderen Blocks. Unter diesen Bedingungen ist die öffentliche Sichtbarkeit und ein für die Betroffenen erfolgreicher Abschluss des Konflikts fast genauso unwahrscheinlich wie seine anfängliche Entstehung. Sogar wenn er die öffentliche Sichtbarkeit erreicht, ist es für die Betroffenen schwer, eine gesellschaftliche Legitimität und Anerkennung ihres Anliegens gegen die gesellschaftlich anerkannten „Wahrheitsinhaber und -ProduzentInnen“ durchzusetzen.
Tabelle 9.2
Überblick der actions zur (Un-)Sichtbarmachung der jeweiligen Akteursgruppen rund um die Betroffenen und das Unternehmen.. (Eigene Darstellung)
(Un)Sichtbarkeit
Actions zur
Actions
Agency
I. Stufe
Sichtbarkeit
Keine*
Keine
Unsichtbarkeit
Zurückhaltung von Wissen
Eingeschränkt durch toxische Institutionalität
II. Stufe
Sichtbarkeit
Lokaler Widerstand, latenter Konflikt
Beschränkt: fehlende ökonomische Mittel und kaum soziales Kapital,
Fehlender Zugang zu offiziellem wissenschaftlichem Wissen
Unsichtbarkeit
Unternehmenspraktiken wie CSR- und „gute Nachbarschafts“ -Politik,
Mediale Inszenierung des Unternehmens
Territoriale Macht der Unternehmen
III. Stufe
Sichtbarkeit
Verbreitung durch soziale und öffentliche Medien, Publikation von wissenschaftlichen Studien,
Klage bzw. Einleitung eines Gerichtsverfahrens
Allianzen mit NGO und unabhängiger Wissenschaft, allerdings finanzielle Abhängigkeit und Prekarität dieser
Unsichtbarkeit
Studien, Lobbyismus und Bestechung der Unternehmen
Hegemoniale und informelle Macht der Unternehmen, Interessenkonvergenz mit dem Staat
IV. Stufe
Sichtbarkeit
Klagen, Verbreitung wissenschaftlicher Studien
Mögliche Einschaltung internationaler Organisationen durch Gerichtsurteil/
Umweltkatastrophen
Unsichtbarkeit
Kampagnen der aktiven Unsichtbarmachung in Medien, Verpflichtungen zu „Problemlösungen“
Hegemoniale und informelle Macht der Unternehmen
* Vereinzelt kommt es hier zu individuellen „Schutz“-Praktiken, diese führen aber weder zur Sichtbarkeit noch zur Unsichtbarkeit

9.3.3 Unsichtbarkeitsmechanismen und strukturelle Rahmenbedingungen, die die Unsichtbarkeit der Tailings begünstigen

Neben den oben aufgeführten (in)actions der beteiligten Akteure wurden in dieser Arbeit einige zentrale – in den Abschnitten 9.1 und 9.2 schon dargestellte – übergeordnete Unsichtbarkeitsmechanismen und strukturelle Rahmenbedingungen identifiziert, die auf unterschiedlichen Ebenen direkt zur Unsichtbarkeit der Tailings beitragen. Sie sind sowohl Resultat des Zusammenspiels und der Aggregation der nichtintendierten und intendierten Faktoren der (Un-)Sichtbarkeit und bedingen diese gleichzeitig teilweise direkt. Diese Mechanismen und Strukturen ergeben sich in diesem Zusammenhang einerseits auch aus den (in)actions der beteiligten Akteure und (re)produzieren sich durch sie, sie wirken sich gleichzeitig wiederum direkt auf deren actions und agency aus. Die Strukturen wirken sich handlungseinschränkend bzw. handlungsermöglichend auf die unterschiedlichen Akteure aus, wobei sich agency und Struktur gegenseitig konstituieren (Kärger et al 2017:100).
Unter den Betroffenen sind es vor allem die strukturellen sozial-ökologischen Ungleichheiten, die üblicherweise als Überschneidung verschiedener sozialer und ökologischer Ungleichheiten in Form einer environmental injustice in Erscheinung treten. Letztere geht mit einer, von den Betroffenen selbst wahrgenommenen, Machtlosigkeit gegenüber ihren sozial-ökologischen Problemen einher und führt – je nach Wissensgrad über die Tailings und ihrer Gefahrenwahrnehmung ihnen gegenüber – zu einer toxischen Ungewissheit (Auyero und Swinstun 2008a) oder toxischen Frustration (Singer 2011). Diese zentralen „endogenen“ Unsichtbarkeitsmechanismen führen zusammen mit der oftmals durch sie ausbleibenden agency zur inaction seitens der betroffenen Bevölkerung und damit einhergehend auch ihrer eigenen gesellschaftlichen Unsichtbarkeit. Ab Stufe II greift darüber hinaus die, durch die territoriale Macht der Unternehmen zugespitzte, Abhängigkeit der Betroffenen vom Bergbausektor sowie das Teilhabeversprechen an der peripheren imperialen Lebensweise (Landherr & Ramirez 2019; Landherr & Graf 2021) und die daraus entstehende Interessenkonflikte der Betroffenen.
Die Wissenschaft kennzeichnet sich durch eine allgemeine Ungewissheit (Roberts & Langston 2008) und einen hohen Grad an Nichtwissen (Wehling 2001) unter denen sie Wissen produziert (siehe Abschnitt 9.4). Dies trifft sowohl bezüglich Tailings im Allgemeinen als auch bezüglich deren Entstehung und deren Komponenten zu. Sie wird gleichzeitig allgemein und offiziell als Produzentin von Tatsachen und der „Wahrheit“ wahrgenommen, was eine anerkannte Produktion von Unbestimmtheit zur Folge hat. Die institutionelle und strukturelle Verankerung der wissenschaftlichen Praxis und die oben beschriebene Position der Wissenschaft innerhalb der gesellschaftlichen Machtverhältnisse begünstigt nicht nur die durch sie mögliche anerkannte Bestätigung der Gefahrenwahrnehmung der Betroffenen, sondern gleichzeitig die meist durch Unternehmen eingeleitete Produktion von Ungewissheit (siehe Abschnitt 9.4). Gleichzeitig wurde unter staatlichen Behörden und Akteuren eine toxische Institutionalität im Umgang mit Tailings konstatiert, die zusammen mit dem lokal strukturell abwesenden Staat und dem großen, der Wissenschaft inhärenten, Nichtwissen zu einer Gouvernance des Nichtwissens (Wehling 2011) führt. Die wissenschaftliche Produktion von Unbestimmtheit und die toxische Institutionalität im Umgang mit Tailings stellen demnach zwei zentrale Unsichtbarkeitsmechanismen dar, die in ihrem Zusammenwirken zudem in erheblichem Maße die Aufhebung des über Tailings bestehenden Nichtwissens behindern. Hinzu kommt eine institutionell verankerte juristische Inexistenz vieler Tailingdeponien, durch einen teils fehlenden teils lückenhaften institutionellen Rahmen.
Was die äußeren Faktoren angeht, kommen zu den materiellen Gegebenheiten, die ab der ersten (Un-)Sichtbarkeitsstufe einen großen Einfluss auf die gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Tailings haben, die strukturellen Rahmenbedingungen, die ebenfalls eine starke Wirkung in diese Richtung aufweisen. Sie stellen größtenteils die institutionalisierte Macht der chilenischen besitzenden Klasse dar und ermöglichen, bedingen und verstetigen sowohl die strukturelle Macht der Unternehmen im nationalen Kontext als auch deren territoriale Macht auf lokaler Ebene. Die strukturell bedingten Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Akteure stehen dabei in direktem Zusammenhang zu ihrer gesellschaftlichen (Macht-)Position. Die institutionalisierte, strukturelle und territoriale Macht stellen im Zusammenspiel wiederum die Basis des Unsichtbarkeitsblocks dar, um seine Interessen sowohl bei Aushandlungsprozessen, als auch bei politischen oder gerichtlichen Entscheidungen durchsetzen zu können. Sie tragen damit im Wesentlichen zum Erhalt des extraktivistisch-neoliberalen Modells bei, das gleichzeitig auch durch die Institutionen und die Verfassung selbst gestützt wird. Auf diese Weise verfestigt sich gleichzeitig auch die Position Chiles innerhalb der globalen Arbeitsteilung, der Fokus der nationalen Ökonomie auf den Bergbau und mit ihm auch auf die Produktion von Tailings. Die Position Chiles im kapitalistischen Weltsystem und die daraus resultierende ökonomische Abhängigkeit sind allerdings besonders auf die bestehenden internationalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse zurückzuführen. Dieser letzte Punkt geht über die Reichweite dieser Forschung hinaus, ist allerdings relevant, um das Gesamtbild der (Un-)Sichtbarkeit –soweit möglich– zu vervollständigen. Deshalb wird dieser und drei weitere übergeordnete Faktoren der (Un-)Sichtbarkeit und ihr Bezug zu den Forschungsergebnissen im letzten Abschnitt dieses Kapitels mit Hilfe der in Kapitel 2 aufgeführten Ansätzen und Theorien dargestellt und theoretisch diskutiert. Zuvor wird im folgenden Abschnitt allerdings noch ausführlich auf die übergeordneten Forschungsergebnisse bezüglich der Rolle des (Nicht-)Wissens bezüglich der (Un-)Sichtbarkeit der Tailings und der (in)action der Akteure eingegangen.

9.4 (Nicht-)Wissen: Allgemeine Ungewissheit und der Wissen-Macht-Komplex

9.4.1 Die Rolle der Wissenschaft bei der Überwindung der Unsichtbarkeit und die Produktion von Unbestimmtheit

Bisher wurden die Konfliktformen, Machtressourcen, Handlungsweisen und Akteurskonstellationen entlang der Pyramide der (Un-)Sichtbarkeit betrachtet. Aufgrund der Großzahl an Faktoren, die eine Gefahrenwahrnehmung bzw. Problemdefinition bezüglich der Tailings erschweren, nimmt das Wissen über sie einen zentralen Platz ein, um die nichtintendierten Unsichtbarkeitsfaktoren überwinden zu können. Anhand der erhobenen Daten der drei Untersuchungsfälle werden im Folgenden die zentralen Ergebnisse bzgl. des (Nicht-)Wissens entlang der (Un-)Sichtbarkeitspyramide identifiziert (siehe Abbildung 9.3).
Die Wirkungskraft der Tailings (Kärger et al. 2017:99; Latour 2000:27) ist durch die materielle Unsichtbarkeit ihrer Schadstoffe beschränkter als die anderer dringlicherer Ursachen von Umwelt- oder Gesundheitsschäden. Sie entfalten ihre Wirkungskraft erst, indem ihre materielle Unsichtbarkeit aufgehoben wird. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen: Erstens etwa durch die sichtbare Anhäufung der Tailings, wie am Strand von Chañaral; zweitens durch Wissen über ihren Produktionsprozess und daraus folgend über ihre Existenz, ihre Zusammensetzung, ihre Risiken und ihre Umwelt- und Gesundheitsfolgen wie es in Tierra Amarilla der Fall war; drittens durch ihre zeitlich verschobenen negativen Konsequenzen, wie etwa das Fischsterben und die Häufung von beobachteten Krankheitsfällen unter den Betroffenen in Chañaral. In seltenen Fällen ist die Wirkungskraft viertens eine Folge einer einmaligen drastischen Veränderung, die die Tailings plötzlich sichtbar macht und dadurch direkt eine höhere Stufe der Sichtbarkeit erreichen lässt. Da ihre materielle Unsichtbarkeit allerdings tendenziell selten aufgehoben wird, ermöglicht meistens erst das Wissen über ihre potenziellen Auswirkungen eine Gefahrenwahrnehmung und dadurch ihre Sichtbarkeit. Dabei bestimmt die Form, Art und der Inhalt des Wissens, ob es diese Gefahrenwahrnehmung verstärkt oder mindert bzw. ob es zu einer Gewissheit bezüglich der Risikoeinschätzung oder zu mehr Ungewissheit unter den beteiligten Akteuren führt. Dieses Wissen durch eigene Erfahrungen – ohne die Wirkungskraft der Tailings – zu generieren, ist bei Chemikalien und Schwermetallen wiederum so gut wie unmöglich, da sie ihre Wirkungen schleichend und unbemerkt über lange Zeiträume entfalten und als Ursache schwer von anderen Umweltfaktoren zu trennen sind (Ureta et al. 2018).
Bezüglich des Wissens über Tailings und dessen Einfluss auf die actions der beteiligten Akteure und auf die Sichtbarkeit des Umweltproblems kann anhand der erhobenen Daten in erster Linie eine allgemeine Ungewissheit (Roberts & Langston 2008) konstatiert werden, die schon bei den offiziell anerkannten Wissensproduzenten besteht und sich dementsprechend auf alle anderen Akteursgruppen ausbreitet. Dabei besteht bezüglich Tailings ein besonders hoher Grad an Nichtwissen innerhalb des existenten wissenschaftlichen Wissens. Neben dem in der Wissenschaft immer inhärenten nicht-gewussten Nichtwissen (Wynne 1992:115) konnte für alle drei Fälle und für Tailings in Chile im Allgemeinen zudem ein hoher Grad an gewusstem Nichtwissen (Wehling 2006:113) konstatiert werden. Dies fängt bei der Tatsache an, dass zuständige staatliche Behörden wie der Sernageomin und das Umweltministerium zwar ein Kataster der bestehenden Tailings erstellen, bisher aber nur zu einem sehr geringen Prozentsatz dieser Tailings weitere Daten erhoben haben, um bspw. deren Schadstoffgehalt nachzuweisen. Deshalb ist das Kataster bis heute hochgradig unvollständig und in seiner Aussagekraft beschränkt. Dieses Phänomen besteht auch in Bezug auf die Gesundheitsrisiken. Die Behörden, Forschungsinstitute und WissenschaftlerInnen, die die betroffene Bevölkerung auf die Präsenz von Schadstoffen in ihren Organismen untersucht haben, konnten diese zwar nachweisen, allerdings – mit wenigen bereits dargestellten Ausnahmen (siehe Kapitel 8 zu Chañaral) – keinen Zusammenhang zu den Tailing als Ursache herstellen, obwohl sie die notwendigen Forschungsverfahren kennen und beherrschen, um diesen Zusammenhang herzustellen und mögliche gesundheitliche Auswirkungen der Tailings nachzuweisen. Hier sprechen vor allem die hohen Kosten solcher Untersuchungen und politische und wirtschaftliche Interessen gegen die Aufhebung dieser Art von Nichtwissen (siehe Abschnitt 9.3).
Bei der Revision der bestehenden Studien zu den Tailings in Chile konnte darüber hinaus eine Wissenshäufung bei einzelnen Fällen beobachtet werden, während gleichzeitig über einen Großteil der Tailings in Chile kein wissenschaftliches Wissen besteht. Über die meisten inaktiven und historischen Tailings wurde bisher gar kein Wissen generiert. Es fehlt sowohl das Wissen über ihre Zusammensetzung, ihre Schadstoffkonzentrationen und teilweise sogar über ihre genaue Lage, weshalb viele bis heute nicht als solche identifiziert werden können. Generell wurde Wissen immer wieder dort generiert, wo im Vorfeld bereits Wissen bestand oder es zu offenen Konflikten kam, die dem Problem eine gewisse Sichtbarkeit geben konnten. Jene Tailings, über die bereits Untersuchungsergebnisse vorliegen, werden demnach mit höherer Wahrscheinlichkeit zur wissenschaftlichen und staatlichen Priorität, um weitere Untersuchungen durchzuführen. Dass ein Fall wie Pabellón49 in der Prioritätenliste des Umweltministeriums ganz oben steht, hat weniger damit zu tun, dass er objektiv einer der schadstoffreichsten in Chile ist, sondern viel mehr damit, dass über diesen Fall genügend Wissen existiert, um ihn als solchen zu definieren (Vogel 2008). Erst Messungen und ein gewisses Vorwissen machen also chemische Substanzen oder Schwermetalle für die Wissenschaft sichtbar und somit zu ihrem Untersuchungsgegenstand (ebd.). Das führt dazu, dass es in Chile eine Hand voll sehr gut erforschter Tailings gibt, während die Wissensproduktion über alle anderen Fälle fast gänzlich ausbleibt.
Viele WissenschaftlerInnen weisen entlang meiner Forschung zudem auf die fehlenden Kenntnisse innerhalb der Naturwissenschaften in Bezug auf die Langzeit- und Wechselwirkungen der Chemikalien und Schwermetalle (siehe auch Vogel 2008) sowie auf das fehlende historische Wissen über den Entstehungsprozess der Tailings und auf das verlorene Wissen (siehe Frickel 2008) durch kollektives Vergessen hin, die – wie im letzten Absatz angedeutet – ein großes Hindernis in der Durchführung ihrer Untersuchungen darstellen. Die vorliegende Forschung bestätigt dadurch die Erkenntnisse der in Kapitel 2 und 3 dargestellten, bestehenden sozialwissenschaftlichen Forschungen in diesem Bereich, die ein hohes Maß an nichtintendiertem Nichtwissen gegenüber Schadstoffen, wie sie in Tailings vorhanden sind, innerhalb der Wissenschaft und unter EntscheidungsträgerInnen konstatieren. Diese Umstände führen zu einer systematischen Produktion von Unbestimmtheit innerhalb der offiziell anerkannten Form der Wissensgenerierung und verschränken sich mit der toxischen Institutionalität der zuständigen staatlichen Behörden, die teilweise in eine passive Komplizenschaft mit den verursachenden Unternehmen übergeht. Diese drei Aspekte behindern die wissenschaftliche Wissensgenerierung selbst, fördern das Ausmaß an Nichtwissen entlang des Wissensgenerierungsprozesses sowie die mangelhafte Wissensverbreitung bezüglich der Tailings.
Andere Wissensformen als das wissenschaftliche Wissen über die Tailings bestehen zwar reichlich, sind allerdings gesellschaftlich nicht anerkannt und gelten deshalb nicht als ausreichend für eine Problemdefinition. Sie werden zudem immer wieder durch wissenschaftliches Wissen entwertet und als „Unwissenheit“ (Wehling 2006:18) oder „Mythos“ (Ureta & Contreras 2020) abgestempelt. Betroffenen mit einer eindeutigen Gefahrenwahrnehmung bezüglich der möglichen Konsequenzen der Schadstoffe, die in den Tailings enthalten sind, sehen ihre Handlungsmöglichkeiten durch die ausbleibende offizielle Anerkennung ihres Wissens und des sozial-ökologischen Problems als solches blockiert und sehen sich dadurch gezwungen, ihr Wissen dem wissenschaftlich generiertem Wissen – allen voran dem staatlichen – und der durch dieses konstatierten Probleme sowie der allgemeinen staatlichen inaction gegenüber Tailings unterzuordnen. Daran anschließend konnte im Laufe der gesamten Forschung eine Kolonialität des Wissens konstatiert werden, durch die sich die technologisch-wissenschaftliche Rationalität als einzige gültige Wissensproduktion durchgesetzt hat (Quijano 2000, Escobar 2007). Diese (eurozentrische) Wissensproduktion produziert ihre eigene Alternativlosigkeit, indem sich alle anderen Wissens- und Lebensformen als „nicht-existent“ deklariert und durch eine scheinbar unüberwindbare abyssale Linie voneinander trennt (de Sousa Santos 2010:22f). Auf diesen Aspekt wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels tiefer eingegangen.

9.4.2 Der Wissen-Macht-Komplex und die durch bestehendes Wissen resultierenden Handlungsmöglichkeiten und agency der beteiligten Akteure

Generell kann anhand der erhobenen und ausgewerteten Daten festgehalten werden, dass die Menge an nichtintendierten, teilweise überwindbaren Nichtwissen (Wehling 2006:113f) am größten ist, je unsichtbarer die Tailings sind, während die Menge an intendiertem (Nicht-)Wissen über sie mit ihrer Sichtbarkeit steigt und damit die Rolle des unüberwindbaren Wissens (Wehling 2006:136ff). Je sichtbarer die Tailings und je mehr Wissen über sie besteht, desto wahrscheinlicher auch, dass ungewusstes Nichtwissen zu gewusstem Nichtwissen wird (Wehling 2006:118f).50 Wie bereits angemerkt, besteht im Vergleich zu den meisten anderen Tailings in Chile über die drei untersuchten Fälle überdurchschnittlich viel wissenschaftliches Wissen (siehe unten Wissenshäufung). Dieses Wissen ist – mit Ausnahme von Chañaral – allerdings nur für eine begrenzte Anzahl der AkteurInnen zugänglich. Dabei handelt es sich vorwiegend um die forschenden WissenschaftlerInnen selbst und oftmals staatliche Behörden, die diese in Auftrag gegeben haben, sowie im Fall eines aktiven Bergwerks das verursachende Unternehmen. Unter ihnen konnte zwar auch ein erheblicher Anteil an nichtintendiertem Nichtwissen über die Tailings konstatiert werden, gleichzeitig aber zudem die aktive Herstellung von Nichtwissen.
Wissensgenerierung und Wissensverbreitung bilden zusammen einen Wissens-Macht-Komplex51 zwischen Staat, Kapital und Wissenschaft. Solange sich das Wissen ausschließlich auf diese drei Akteursgruppen begrenzt, scheint es kaum Auswirkungen auf die Sichtbarkeit und actions bezüglich der Tailings zu haben. Die Gründe hierfür sind größtenteils in der oben beschriebenen Allianz dieser Akteursgruppe und den dieser zugrundeliegenden Interessen zu finden. Diese drei Akteure – Staat, Kapital und Wissenschaft – bestimmen größtenteils sowohl die Wissensgenerierung als auch das Wissensmanagement und die Wissensverbreitung. Wenn wissenschaftliches Wissen, das die ökologischen und gesundheitlichen Risiken von Tailings bestätigt, öffentlich wird, konnten seitens der Unternehmen wiederum in den meisten Fällen gegenläufige (re)actions im Bereich der Wissensgenerierung und -verbreitung beobachtet werden. Ein Beispiel dafür ist etwa die intendierte Produktion von Ungewissheit durch die Einleitung von Studien, die dieses Wissen widerlegen. Während einige – besonders lokale und regionale – staatliche Behörden dem generierten Wissen mit begrenzten actions, vorwiegend in der weiteren Produktion von Wissen, begegnet sind, konnte bei der Mehrheit der staatlichen Behörden die schon erwähnte passive Komplizenschaft mit den Unternehmen konstatiert werden. Diese äußerst sich dadurch, dass einerseits das erstmals generierte Wissen teilweise nicht als gültig anerkannt und selbst kein neues generiert, dafür aber gleichzeitig die unternehmerische Wissensproduktion aktiv begleitet und unterstützt wird.
In den untersuchten Fällen, in denen die Betroffenen Zugang zum bestehenden wissenschaftlichen Wissen erlangt haben, bestand vorher unter ihnen sowohl eine Gefahrenwahrnehmung bezüglich der Tailings als auch andere Wissensformen über ihre möglichen Auswirkungen. Das Wissen hat also in keinem der untersuchten Fälle den Betroffenen komplett neue Informationen geliefert, sondern vielmehr als Bestätigung des bereits vorhandenen Wissens und der Gefahrenwahrnehmung der Betroffenen fungiert. Es hatte auch in keinem der Fälle eine direkte Handlungswirkung oder Wirkungskraft auf die Betroffenen. Vielmehr kann konstatiert werden, dass in keinem der Fälle wissenschaftliches Wissen alleine zu action der Betroffenen führt. Wenn allerdings bereits ein latenter oder manifester Konflikt vorzufinden war, ermöglicht dieses Wissen den Betroffenen weitere Handlungen, besonders was juristische Maßnahmen und die öffentliche Anerkennung anbelangt. Das Ausbleiben von anerkanntem Wissen ist – wie anfangs bereits dargestellt – andererseits ein zentraler Grund für das Verbleiben eines durch Tailings verursachten Umweltproblems oder eines aus ihm hervorgegangenen Konflikts auf den unteren beiden (Un-)Sichtbarkeitsstufen. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass dieses wissenschaftliche Wissen auch andere Akteure – besonders die Zivilgesellschaft und die Medien – erreicht.52
Die Entstehung eines manifesten sozial-ökologischen Konflikts sowie die öffentliche Darstellung in den Medien (Wehling 2006:254; Matthies 1994:3)53 haben – wie bereits dargestellt – einen mindestens genauso großen Einfluss auf die öffentliche Sichtbarkeit der Tailings wie das wissenschaftliche Wissen, das über die Tailings produziert wird. Doch selbst wenn wissenschaftlich generiertes Wissen eigenständig nicht unbedingt ausschlaggebend für die Sichtbarkeit der Tailings oder die Entstehung eines Konflikts ist (Wehling 2006:23), bleibt es ein zentrales Werkzeug der Machtausübung, das vor allem den Akteuren zusteht, die in der Lage sind, offiziell anerkanntes wissenschaftliches Wissen zu generieren. Da alle anderen Wissensformen nicht als solche anerkannt werden, hängen die Betroffenen insbesondere auf den höheren Stufen der Pyramide vom Zugang zu dieser Art von Wissen ab, um einen Konflikt als legitim darstellen und für seine Ursache überhaupt öffentliche Anerkennung erlangen können. Dementgegen ist zu Beginn – besonders auf der ersten Stufe der (Un-)Sichtbarkeitspyramide – die Anwesenheit von jedwedem Wissen – unabhängig von seiner Form – ausschlaggebend für eine Gefahrenwahrnehmung und somit auch die Sichtbarkeit der Tailings für die Betroffenen. Der Zugang zu wissenschaftlichem Wissen wird allerdings zunehmend relevanter für die Problemdiagnose und die gesellschaftliche Anerkennung des Problems auf höheren Stufen der Pyramide, während anderen Wissensformen hier keine Relevanz und Legitimität diesbezüglich zugeschrieben wird. Spätestens ab der dritten (Un-)Sichtbarkeitsstufe, das heißt, wenn ein sozial-ökologischer Konflikt manifest geworden ist und es zu einem Aushandlungsprozess um die „Wahrheit“ zwischen den beteiligten Akteuren kommt, erlangt das wissenschaftlich generierte Wissen eine besondere Relevanz, einerseits als Werkzeug zur Durchsetzung der jeweiligen Interessen und andererseits zur gesellschaftlichen Legitimation der jeweils gegensätzlichen Anliegen. Während die Betroffenen und die Zivilgesellschaft durch eine Allianz mit unabhängigen WissenschaftlerInnen versuchen, die Risiken und möglichen Auswirkungen der Tailings auf ihre Gesundheit und die Umwelt nachzuweisen, konnte seitens der Unternehmen eine kontrollierte Form der Wissensgenerierung beobachtet werden, die eine aktive Produktion von Ungewissheit zur Folge hat.
Wissenschaftliches Wissen ist gleichzeitig nicht immer mit einer Handlungsmöglichkeit verbunden. Vielmehr kann gerade Nichtwissen zum Handeln führen (Wehling 2006: 23). Dieses handlungsermöglichende Nichtwissen wurde in dieser Forschung besonders häufig unter lokalen und regionalen staatlichen Behörden beobachtet und ist wesentlicher Bestandteil der toxischen Institutionalität54. Sehr oft weisen die Behörden aber auch einen passiven Umgang mit dem von ihnen generierten Wissen auf, der entlang der Forschung auch ein wichtiger Bestandteil der passiven Komplizenschaft staatlicher Behörden mit den verursachenden Unternehmen war und in den meisten Fällen mit einer generellen inaction bezüglich der Lösung des sozial-ökologischen Problems einherging.

9.4.3 Die Herstellung von Nichtwissen: Allgemeine Ungewissheit als Basis des chilenischen Bergbaus

Insgesamt ermöglicht das wissenschaftlich inhärente Nichtwissen über Tailings und die daraus entstehende allgemeine Ungewissheit die Aufrechterhaltung der chilenischen Bergbauproduktion und Lagerung der Industrieabfälle, wie sie heute staatfinden. Dabei spielt das bestehende Nichtwissen über die genauen Auswirkungen der Schadstoffe der Tailings auf die menschlichen Körper eine zentrale Rolle. Die größten Hürden zur Herstellung einer Korrelation zwischen den in den Tailings enthaltenen Schadstoffen und den Veränderungen in den Körpern und der Umwelt besteht innerhalb der Wissenschaft einerseits in der allgemeinen Ungewissheit (Roberts & Langston 2008) bezüglich der Auswirkungen, Wechselwirkungen und Langzeitfolgen von chemischen Substanzen, die sich auch insbesondere aus dem Fehlen allgemeiner Normen und Richtwerte der Schadstoffkonzentrationen ergibt (siehe Abschnitt 5.​3.​2 und vgl. Vogel 2008). Andererseits trägt aber auch die fehlende Finanzierung der notwendigen Untersuchungen und das gezielte Wissensmanagement – teilweise bis hin zur Manipulation und dem Zurückhalten von Ergebnissen (Allen 2008) – seitens jener Akteure, die ein Interesse an der Unsichtbarkeit der Tailings haben, zur Ungewissheit bei.
Die generell fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen den Krankheiten und den Tailings, die teilweise auch aus unzureichenden Untersuchungsmethoden resultieren, werden dann wiederum oftmals als negative Evidenz (Walton 1996:140) dafür genutzt, um zu „widerlegen“, dass überhaupt ein Zusammenhang besteht. Diese negative Evidenz ist politisch weitaus wirkungsvoller als die vorher bestehende Ungewissheit, da sie suggeriert, dass trotz einer wissenschaftlichen (also qualitativ hochwertigen und unfehlbaren) Untersuchung keine negativen Folgen nachgewiesen wurden, diese also nicht existieren. Die endogenen Grenzen der Wissenschaft bei der Wissensgenerierung sowie das bestehende Nichtwissen über die Schadstoffe werden dabei ebenso wenig thematisiert, wie die Grenzen der gewählten bzw. eingesetzten Forschungsmethoden, um diese Beziehung überhaupt herstellen zu können.
Die Wissenschaft operiert nicht nur in einem Feld, in dem eine große Menge an Nichtwissen besteht, sondern auch innerhalb eines politisch festgelegten Rahmens. Von besonderer Bedeutung sind hierbei etwa bestimmte Grenz- und Normwerte. Diese Werte stellen Regulierungen dar, die Identitäten harmloser oder risikoreicher Substanzen konstruieren, die allerdings gleichzeitig stark auf gewusstem Nichtwissen basieren (Frickel 2008; Nash 2008).55 Trotz diese Schwäche bieten Grenz- und Normwerte eine Orientierung, die in Chile nicht existiert. Das Fehlen von Normen und Richtwerten ist ausschlaggebend dafür, dass eine eindeutige Interpretation von Daten und die Einstufung von Schadstoffkonzentrationen als Risiko für die Umwelt und die Gesundheit der BewohnerInnen möglich wird (Yurisch Toledo 2016: 23ff). Diese Tatsache stellt auch das Fundament für die juristische Inexistenz einer Großzahl der Tailings dar. Es macht die Tailings zu einem nicht interpretierbaren bzw. nicht einstufbaren Risiko und führt nach der Logik der negativen Evidenz (Walton 1996:140) zur Inexistenz des Risikos, was wiederum die Dringlichkeit einer Regulierung erheblich mindert. Die juristische Inexistenz eines Großteiles der Tailings zeichnet sich nicht nur durch die fehlende Regulierung der Grenzwerte der in ihnen vorkommenden Schadstoffe aus, sondern auch durch ihren Produktionsprozess und ihre Lagerungsformen sowie der Aussparung aller vor 2012 produzierten Tailings und errichteten Tailingdeponien. Damit produziert auch der regulatorische Rahmen relevantes Nichtwissen und daraus folgende Ungewissheit über das Ausmaß von Risiken und Umweltverschmutzungen.
Die Unmöglichkeit einer genauen Risikodefinition und das Fehlen anerkannten Wissens über die negativen Effekte der Tailings auf Umwelt und Körper nehmen den Betroffenen zudem die Möglichkeit, in einem Rechtsverfahren die ökologischen und gesundheitlichen Folgen der Chemikalien und Schwermetalle nachzuweisen und dieses Wissen als juristisches Werkzeug einsetzen zu können. In den beschriebenen drei Fällen, in denen jeweils hohe Konzentrationen vieler verschiedener Schadstoffe in den Tailings vorgefunden wurden,56 wurde von staatlichen ebenso wie von durch Unternehmen finanzierten Untersuchungen das Ausbleiben verbindlicher Richtwerte und die bestehenden Wissenslücken mehrfach genutzt, um das Zusammenwirken unterschiedlicher Schadstoffe und Kontaminationsformen zu ignorieren und auf diese Weise die Einhaltung der Normen nahe zu legen, wodurch die betroffenen Gebiete als unbedenklich für die menschliche Gesundheit dargestellt wurden. Dabei sind sich alle Interviewten ExpertInnen (darunter auch staatlich angestellte WissenschaftlerInnen) einig, dass die Ergebnisse unter diesen Umständen keine Aussagekraft für eine solche Schlussfolgerung haben (siehe hierzu auch Nash 2008). Trotzdem genießt das vom Staat und den Unternehmen generierte Wissen eine höhere gesellschaftliche Anerkennung als das der unabhängigen WissenschaftlerInnen, die zu anderen Ergebnissen kommen. Die ausbleibenden verbindlichen Schadstoffnormen stellen somit ein zentrales Werkzeug in den Aushandlungsprozessen um die „Wahrheit“ zwischen den Akteuren dar.
Allgemein lässt sich demnach festhalten, dass bei Tailings Wissen ausschlaggebend für die Entstehung einer (Gefahren-)Wahrnehmung ist und diese wiederum für die Entscheidungen und actions der beteiligten Akteure, wie es auch Slovic (1987) darlegt (siehe auch Sandman et al. 1998). Allerdings haben die Ergebnisse der vorliegenden Forschung erstens ergeben, dass auf den unteren Stufen der (Un-)Sichtbarkeitspyramide auch nichtwissenschaftliches Wissen eine zentrale Rolle spielt und zweitens, dass Wissen darauffolgende actions keineswegs bedingt, sondern vorwiegend die gesellschaftliche (Macht-)Position und die daraus resultierende agency der jeweiligen Akteure bestimmt, ob es zu Handlungen ihrerseits kommt. Durch diese Handlungen kann wiederum neues Wissen generiert werden, das die Wahrnehmung der anderen Akteure verändert oder deren Handlungen beschränkt, da Wissen sowohl ein handlungs- und sichtbarkeitsermöglichendes als auch verhinderndes Werkzeug darstellen kann. Drittens wurde deutlich, dass bestimmte Arten des Nichtwissens für den chilenischen Bergbau weniger ein Problem als vielmehr dessen Überlebensgrundlage darstellen. Um das dem wissenschaftlichen Wissen inhärente Nichtwissen und seine hinsichtlich der Produktion von Tailings funktionale Rolle im Rahmen der Bergbauproduktion noch besser nachvollziehen zu können, müssen sowohl das Wissen als auch der Produktionsprozess der Tailings selbst in ihrem globalen Kontext betrachtet werden.

9.5 Rückschlüsse der empirischen Erkenntnisse auf die bestehende Theorie: Tailings in globaler Perspektive und die doppelte Unsichtbarkeit von ökologischen slow violence-Phänomenen

In diesem letzten Unterkapitel werden im Folgenden die oben dargelegten empirischen Erkenntnisse in Bezug zu den in Kapitel 2 dargestellten Theorien gesetzt, um auch die übergeordneten strukturellen Rahmenbedingungen, die zur Unsichtbarkeit der Tailings beitragen darzustellen. Während die bestehende sozialwissenschaftliche Forschung und die Erklärungsansätze zu den drei Kernkategorien der Forschungsheuristik (3.2), dem Bergbau im Allgemeinen, dem gesellschaftlichen Umgang mit materiell unsichtbaren Schadstoffen, wie Chemikalien und Schwermetallen und zu Tailings im Spezifischen (2.4) bereits einen wichtigen Stellenwert in der Auswertung und Analyse der Forschungsergebnisse in diesem Kapitel eingenommen haben, wurden die Theorien zu den globalen Strukturen des kapitalistischen Weltsystems und den bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen (2.2) sowie dem damit einhergehenden globalen sozialen Metabolismus und der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Senken (2.3) bisher nur am Rande berücksichtigt. Da diese allerdings unabdingbar für ein ganzheitliches Verständnis der (Un-)Sichtbarkeit der chilenischen Tailings sind, werden sie in diesem Abschnitt auf die (Un-)Sichtbarkeit der Tailings bezogen und mit den Forschungsergebnissen in Dialog gesetzt.
Die doppelte Unsichtbarkeit: von „oben“ und „unten“
Der Prozess der (Un-)Sichtbarkeit wurde in dieser Arbeit „von unten“ her entlang der (Un-)Sichtbarkeitspyramide erforscht. Wie sich besonders auf der vierten Stufe zeigt, handelt es sich dabei allerdings um keinen unilateralen, sondern einen beidseitigen Prozess. Bei diesem verstärken sich (Un-)Sichtbarkeitsfaktoren „von unten“ und „von oben“ gegenseitig und verschränken sich auf der untersuchten Ebene der handelnden Akteure. Sie werden zwar oftmals analytisch voneinander getrennt, sind aber besonders auf der Mesoebene in der Praxis teilweise untrennbar miteinander verstrickt. Neben den materiellen und sozialen Gegebenheiten auf der untersten Stufe der (Un-)Sichtbarkeitspyramide, die sich auch auf alle anderen Ebenen auswirken, stehen auf der obersten Stufe die institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen, die sich ebenso auf die restlichen Stufen und die in ihnen agierenden Akteure sowie deren agency (in)actions und (Nicht-)Wissen auswirken. Während die Forschung bei der Beschreibung der nationalen Rahmenbedingungen endet, haben allerdings – wie im zweiten Kapitel dieser Arbeit bereits angedeutet – auch internationale übergeordnete Machtverhältnisse und -strukturen direkte Auswirkungen auf die strukturelle, institutionelle und epistemologische Unsichtbarkeit der Tailings, die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Akteure sowie die Möglichkeit der Wissensgenerierung und -verbreitung über Tailings. Sie beeinflussen zudem die gesellschaftliche (Risiko-)Wahrnehmung und begünstigen, verstetigen und erzeugen teilweise sogar die gesellschaftliche Unsichtbarkeit der Tailings. Diese internationalen Verhältnisse sollen im Folgenden anhand der bestehenden und im Kapitel 2 bereits dargestellten Theorie sowie der empirischen Ergebnisse dieser Arbeit mit Blick auf ihre Rolle bezüglich der von Tailings ausgehenden slow violence eingeordnet werden. Ziel ist es, auf diese Weise das Gesamtbild der (Un-)Sichtbarkeit so gut es geht zu vervollständigen.
Die doppelte Unsichtbarkeit der Tailings besteht dabei einerseits in der Unsichtbarkeit, die durch die Faktoren erzeugt wird, die den Tailings inhärent bzw. Tailings-spezifisch sind und auf denen in dieser Forschung der Fokus liegt und dem äußeren Rahmen, der von der Spezifik der Tailings und den von diesen ausgehenden slow violence-Phänomenen unabhängig ist. Dieser Rahmen wirkt sich auf unterschiedliche Art und Weise auf so gut wie alle sozial-ökologischen Phänomene aus, entfaltet jedoch – so meine These – bei slow violence-Phänomenen eine besonders starke Wirkung. Die doppelte Unsichtbarkeit stellt den Kontext dieser empirischen Forschung dar, in dem die intendierte (Un-)Sichtbarmachung durch die analysierten Akteure in Chile stattfindet, wobei deren (in)actions und agency stark von diesem Kontext beeinflusst werden. Besonders die Allianz um die Betroffenen, deren actions auf die Sichtbarkeit der Tailings gerichtet sind, müssen sich nicht nur gegen den Block um die Bergbauunternehmen durchsetzen, sondern bewegen sich auch in dem widrigen Gesamtkontext der doppelten Unsichtbarkeit.
Im Folgenden werden die von Rob Nixon (2011:41) für ökologische slow violence-Phänomene identifizierten zentralen äußeren Einflüsse untersucht, die weit über den nationalen Kontext hinaus gehen und dennoch die Probleme der Betroffenen verstärken und mit den Einsichten aus dem Theorieteil ergänzt. Diese sind erstens, die geografische Distanz zwischen Produktion der Tailings und dem Konsum der Bergbauprodukte und somit auch jenen Akteuren, die aus der Bergbauindustrie einen Nutzen schlagen und jenen, die deren Kosten tragen sowie die zeitliche Distanz zwischen den Ursachen und den Konsequenzen, also zwischen kurzlebigen Handlungen und langlebigen Konsequenzen. Diese räumlichen und zeitlichen Distanzen machen ökologische slow violence-Phänomene diffus und ungreifbar und stammen größtenteils aus den Strukturen des heutigen Weltsystems. Sie sind allerdings auch, zweitens, der spezifischen Materialität der Umwelt bzw. der Schadstoffe – in diesem Fall vorwiegend Schwermetalle und Chemikalien – geschuldet. Drittens identifiziert Nixon (2011:41) die ungleiche Verteilung der Umweltprobleme auf lokaler, nationaler und globaler Ebene, die den Forschungsgegenstand der Politischen Ökologie darstellt. Er nennt viertens die rhetorische Kluft zwischen dem Diskurs des globalen Fortschritts in Form eines für alle erreichbaren wachstumsgetrieben Konsums und seinen ökologischen Grenzen (ebd.). Diese Aspekte wurden im Kapitel 2 theoretisch aufgearbeitet und nun in Form von vier, teilweise ineinander übergehenden Schritten auf meinen Forschungsgegenstand bezogen.

9.5.1 Tailings als inhärenter Teil des kapitalistischen Weltsystems

Tailings und ihre sozial-ökologischen Konsequenzen sind inhärenter und untrennbarer Bestandteil des Bergbaus, da Metalle und Mineralien bei heutigem technologischem Stand weder ohne die Produktion großer Mengen an Tailings abgebaut werden können noch für diese teilweise höchst giftigen Industrieabfälle bisher langfristig sichere Lagerungsformen existieren (Umweltbundesamt 2004; Ureta & Flores 2022). Trotz technologischer Innovationen, die Tailings weniger schadstoffbelastet und sicherer gestalten, geht der Bergbau immer mit der Produktion von Tailings einher. Bei heute steigender Nachfrage und sinkender Reinheit der Vorkommen produziert der chilenische Bergbau sogar tendenziell immer mehr Tailings.57 Diese Industrieabfälle und ihre langfristigen Risiken für die Bevölkerung und die Umwelt sind allerdings kein losgelöstes nationales Problem Chiles. Der chilenische Bergbau und seine Abfallproduktion sind inhärenter Teil der internationalen Arbeitsteilung des kapitalistischen Weltsystems (Wallerstein, 1986:519), das den Extraktivismus in diesen Ländern befördert, verstetigt und vertieft (Svampa 2016). Chile ist dabei Rohstofflieferant für andere Weltregionen, besonders für die Industrienationen und Teile Asiens – allen voran China – und stellt somit die Grundlage und den ersten Arbeitsschritt globaler Warenketten dar. Der Fokus der chilenischen Wirtschaft auf den Export von Bergbauprodukten und unter ihnen vorwiegend von Kupfer, macht das Land nicht nur von der Nachfrage und den Preisschwankungen auf dem Weltmarkt (Gudynas 2019; Svampa 2020) sowie den Abnehmerländern im Zentrum und der Semiperipherie des modernen Weltsystems abhängig (Frank 1969; Dos Santos 1970; Wallerstein 1986), sondern auch von der Möglichkeit weiterhin Tailings zu produzieren und diese billig und ungestört entsorgen zu können (Ureta 2022).58
Die heutige internationale Arbeitsteilung weist trotz Verschiebungen der globalen Machtverhältnisse (Schmalz 2018a) für die abhängige Position Chiles im Weltsystem eine geschichtliche Kontinuität auf. Schon die Fokussierung des Landes auf den Abbau von Bodenschätzen stammt aus seiner ursprünglich kolonialen Einbindung in den Weltmarkt (Machado 2014, 2010). Das Erbe davon sind unter anderem die große Anzahl – teils dem kollektiven Vergessen verfallener und heute nicht als solche identifizierter – historischer Tailings entlang des Nationalgebietes, deren Schadstoffe sich seitdem unbemerkt auf die Natur und die Körper der EinwohnerInnen ausbreiten (Sernageomin 2020). Während die extraktivistisch ausgerichteten Länder der Peripherie – wie Chile – zwar die Kosten der Rohstoffextraktion tragen und gleichzeitig nur einen geringen Anteil der Gewinne für sich in Anspruch nehmen können, eignet sich eine kleine Gruppe großer, privater, meist international agierender Unternehmen große Profite an (siehe ausführlich in Kontextkapitel 5). In den Zentren konzentriert sich gleichzeitig sowohl Kapital, Macht und technisches Wissen (Acosta 2018) sowie Teile der Profite (Palma 2013) und letztendlich die abgebauten Rohstoffe selbst (Schaffartzik & Kusche 2020: 62; Martínez-Alier & Walter 2015: 77f).
Die bestehenden globalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse ermöglichen es den Industrienationen, ihre Interessen an billigen Ressourcen durchzusetzen und auf diese Weise die Rohstoffzufuhr für ihre nationale Produktion zu sichern.59 Das Nicht-Sichtbarwerden der Tailings als sozial-ökologisches Problem ist demnach nicht nur im Interesse großer chilenischer und transnationaler Bergbauunternehmen, sondern auch der Industrienationen, die die billige Zufuhr von Rohstoffen für ihre Ökonomien gewährleisten wollen und für die Rentabilität ihrer eigenen Produktion größtenteils darauf angewiesen sind. Auch im Hinblick auf die steigende Nachfrage nach mineralischen und metallischen Rohstoffen und die Verknappung gewisser Ressourcen durch die ökologische Krise steigt der äußere Druck auf rohstoffexportierende Länder.60 Die Unsichtbarkeit von Umweltproblemen, wie sie durch Tailings ausgelöst werden, und ihre ökonomische Externalisierung ist dabei zentral für die Aufrechterhaltung sowohl des kapitalistischen Weltmarktes in seiner derzeitigen Form als auch für geplante sozial-ökologische Transformationen im Rahmen eines „grünen Kapitalismus“ (Mahnkopf 2021, 2022). Einzelnen Staaten der Peripherie – wie Chile – sehen ihre Handlungsmacht dadurch stark eingeschränkt. Stärkere Umweltregulierungen oder die Durchsetzung einer ökonomischen Internalisierung der sozial-ökologischen Kosten würde für sie im Einzelfall womöglich vorwiegend bedeuten, dass die Unternehmen ihre Extraktion/Produktion in andere Gebiete verlagern. Durch die Interessenkoinzidenz der nationalen (in den Peripherien) und internationalen herrschenden Klassen (Cardoso/Faletto 1976 [1969]: 217) können auch die Interessen transnationaler Unternehmen innerhalb der Länder wie Chile durchgesetzt und legitimiert werden (Landherr & Graf 2017,2019, 2021).
Die „Internalisierung externer Interessen“, wird durch das Zusammenspiel aus ausländischen Großunternehmen und inländischer „besitzender Klasse“ vollzogen (Landherr & Graf 2017: 569f; Cardoso & Faletto 1976: 218). Ausländischen Unternehmen gelingt es nicht nur, ihre extraktiven Aktivitäten aufrecht zu erhalten, sondern auch, ihre sozialen und ökologischen Kosten auf lokaler Ebene zu „internalisieren“. Sowohl die EigentümerInnen, die NutznießerInnen sowie EndverbraucherInnen kommen größtenteils weder direkt aus den Abbaugebieten noch aus Chile. Dennoch entstehen vor Ort die schwerwiegendsten Gesundheits- und Umweltschäden. Wie der Fall Tierra Amarilla zeigte, entstehen hier aber gleichzeitig nur wenige Arbeitsplätze. Damit bestätigt meine Forschung zu Tailings ein allgemeines Phänomen: Indem die Zentren der globalen Wirtschaft auf die billige Natur der Peripherien zurückgreifen, externalisieren sie – wie die breitere Forschung zum Thema darlegt – zugleich soziale und ökologische Kosten in diese Gebiete (Lessenich 2016: 53ff, 96ff; Altvater 1992: 14ff; Landherr & Graf 2022). Anders als bei nationalen Bergbauunternehmen, die allerdings auch fast ausschließlich für den Export produzieren, muss die Internalisierung der Kosten von multinationalen Konzernen oft noch stärker gerechtfertigt werden (Landherr & Graf 2019, 2022). Dies erklärt die starke und aktive Präsenz des Unternehmens vor Ort sowie die direkte und schnelle Intervention im Falle eines drohenden Konfliktes. Diese territoriale Macht vor Ort und die beschriebene strukturelle, institutionalisierte und informelle Macht, ermöglicht es großen Unternehmen und ökonomisch dominanten Gruppen auf nationaler Ebene, ihre Interessen innerhalb peripherer Regionen durchzusetzen (Fairfield 2015: 27 ff.; Landherr & Graf 2017; Landherr & Graf 2021). Dadurch wird einerseits der Extraktivismus als Entwicklungsmodell aufrechterhalten und intensiviert (Svampa 2016) und andererseits die Internalisierung externer Kosten gewährleistet (Landherr & Graf 2019). Da soziale und ökologische Kosten auf lokaler Ebene – verstärkt durch den Klimawandel und eine wachsende öffentliche Kritik am Extraktivismus – allerdings immer häufiger sichtbar werden (Svampa 2017: 80 ff.), gewinnen Internalisierungsmechanismen vor Ort und insbesondere die territoriale Macht der Bergbauunternehmen zunehmend an Bedeutung, um die heutige internationale Arbeitsteilung und die imperiale Produktions- und Lebensweise im globalen Norden aufrecht zu erhalten.
Die Internalisierung dieser durch externe Interessen verursachten Kosten in Chile wird gleichzeitig durch eine spezifische Regulierung – insbesondere durch die Kommodifizierung der natürlichen Ressourcen und flexible Arbeits- und Umweltregulierungen – ermöglicht, die wiederum Investitionsanreize für internationales Kapital darstellen. Wie auf den unterschiedlichen Stufen der (Un-)Sichtbarkeitspyramide beschrieben wurde, hat dieser politisch regulatorische Rahmen großen Einfluss auf die Unsichtbarkeit von Tailings. Insbesondere auf der vierten Stufe wurde zudem deutlich, dass sich Akteure auf der nationalen Ebene einschalten, um die ökologischen und sozialen Konsequenzen von Tailings als auch die durch sie entstehenden Konflikte in einer Allianz aus besitzender Klasse mit Teilen der staatlichen Behörden aktiv unsichtbar zu machen. Die äußeren Zwänge des Weltmarktes und die bestehenden globalen Machtverhältnisse stärken dabei den Unsichtbarkeitsblock mittels eines für diesen günstigen, nationalen, institutionellen und strukturellen Rahmen. Die bestehenden Freihandelsabkommen und die Rohstoffsicherungspolitik mächtiger Länder begünstigen in hohem Maße die staatliche inaction gegenüber den Tailings ebenso wie ihre passive Komplizenschaft mit den ausländischen Unternehmen.
Die Sichtbarkeit, der von Tailings ausgehenden Risiken, bleibt auf diese Weise – wenn sie überhaupt auftritt – in den allermeisten Fällen lokal beschränkt. Gleichzeitig findet die Weiterverarbeitung der extrahierten Metalle und Mineralien in anderen Weltregionen statt und die späteren KonsumentInnen und anderweitigen NutznießerInnen des chilenischen Bergbaus befinden sich geografisch weit entfernt von den Tailingdeponien und somit auch von den möglichen Risiken, die sie bergen. Diese räumliche Distanz zwischen Produktion und Konsum (Nixon 2011:41) hat einen erheblichen Effekt auf ihre Unsichtbarkeit innerhalb der Zentren und der Zentren der Peripherie, also jenen Orten, an denen die politischen Entscheidungen u. a. zur Aufrechterhaltung der internationalen Arbeitsteilung, des nationalen Entwicklungsmodells und somit auch der chilenischen Bergbauproduktion getroffen werden. Auf diese Weise ermöglicht sie das „Nicht-Wissen-Wollen“ bzw. die Verdrängung der externalisierten Kosten unter der dort lebenden Bevölkerung (Lessenich 2016:67f) und verhindert auch die Sichtbarkeit der Tailings als Umweltproblem für die dortige Zivilgesellschaft und somit die Entstehung gesellschaftlichen Drucks bezüglich des Umgangs mit ihnen auf die Entscheidungsträger.

9.5.2 Tailings als untrennbarer Teil des globalen sozialen Metabolismus

Versteht man den sozialen Metabolismus und die in ihm enthaltenen Stoffströme als materiellen und energetischen Austausch zwischen Gesellschaft und Natur (Fischer-Kowalsky 1997; Martínez-Alier 2004; Toledo 2013), wird deutlich, dass Tailings ein notwendiger Teil eines globalen sozialen Metabolismus darstellen. Die damit verbundenen Stoffströme beinhalten sowohl die Inputs wie etwa Ressourcen und Energie und gleichzeitig deren Outputs in Form von Abfällen oder Emissionen. Tailings und die Freisetzung der in ihnen beinhalteten Schadstoffe stehen insofern auf der Output-Seite. In der bestehenden Forschung wird vorwiegend auf die zerstörerische Wirkung auf der Input-Seite verwiesen: Der globale Kapitalismus treibe die Zerstörung ökologischer Kreisläufe, die Verknappung nicht nachwachsender Rohstoffe und die Zerstörung des natürlichen Gleichgewichts des globalen Ökosystems voran (Altvater 1992:265f; O’Connor 2001; Gudynas 2019). Neben der Tendenz eines zunehmenden Energie- und Materialkonsums wird aber außerdem die steigende Produktion von Abfällen auf globaler Ebene beobachtet (Martínez-Alier & Walter 2015: 75; Schaffartzik & Kusche 2020: 61). Dadurch werden auch die ökologischen Produktions- und Existenzbedingungen zerstört und es kommt zu einem metabolischen Bruch (Foster/Clark/York 2011:76), der sich heute auf die ganze globale Ökonomie ausbreitet und sich besonders deutlich im Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie zeigt (ebd.: 77). Durch den metabolischen Bruch im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur – so wurde konstatiert – kommt es zu einer Akkumulation von Reichtum auf der einen und zur Anhäufung von Ressourcenverarmung, Umweltverschmutzung, Arten- und Lebensraumzerstörung etc. auf der anderen Seite (ebd. 196). Es handelt sich dabei um einen weiterhin bestehenden strukturell verankerten ökologisch ungleichen Tausch (Hornborg 1998; Bunker 1984), der die asymmetrische Verteilung von Ressourcen und Abfällen bedingt. Dabei stehen die sozial-ökologischen Probleme und Konflikte des globalen Südens in direkter Verbindung zum wachsenden sozialen Metabolismus der Gesellschaften des globalen Nordens (Martínez-Alier & Walter 2015:75; Schaffartzik & Kusche 2020:62). Länder des globalen Nordens erweitern ihren ökologischen Handlungsspielraum (Schaffartzik & Kusche 2020: 63f) durch das Externalisieren der Industrie und umweltunverträglichen Produktionsweisen auf andere Weltregionen in der Peripherie (Lessenich 2016:26). Externalisierung ist demnach ein globaler Ausbeutungsmechanismus, der auf der Grundlage der oben bereist beschriebenen globalen Machtasymmetrien besteht (ebd.:52).
Die Produktions- und Lebensweise der Zentren ist zudem nicht nur global gesehen in Bezug auf die ökologischen Grenzen nicht verallgemeinerbar (Mies & Shiva 2016: 75; Hornborg 1998; Schaffartzik & Kusche 2020: 63f; Brand und Wissen 2017: 90), weil sie überdurchschnittlich auf die global commons als Energie- und Rohstoffressourcen und als Deponie zurückgreift (Altvater 1992:21f), sondern weil sie gleichzeitig in den Peripherien auf lokaler Ebene, wie etwa in den drei in dieser Forschung untersuchten Ortschaften, die lokalen Produktions-, Subsistenz- und Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstört und dort wiederum weitere ökologische Grenzen hervorruft. Wie die vorliegende empirische Forschung ergeben hat, sind die einst verbreitete Landwirtschaft in Pabellón und Tierra Amarilla, sowie die Fischerei in Chañaral aufgrund der hohen Schadstoffbelastung an diesen Orten nicht mehr rentabel oder schlichtweg nicht mehr möglich. Auch die BewohnerInnen der drei Ortschaften sehen sich aufgrund der irreversiblen massiven Umweltzerstörung oftmals dazu gezwungen, die betroffenen Gebiete zu verlassen und in andere Ortschaften zu migrieren. Die billigen Exportpreise der Rohstoffexportländer wie Chile berücksichtigen diese lokalen ökologischen, ökonomischen und sozialen Externalitäten und die Erschöpfung der Ressourcen(quellen) nicht und die überlasteten Senken der Welt werden in Folge kostenlos beansprucht. Weil der nichtmonetäre Wert von Natur in Handelsbilanzen nicht abgebildet wird, bleiben diese Arten von asymmetrischen Ressourcenflüssen und Machtverhältnissen (Bunker 1984:1018) und die von ihnen ausgehende Naturzerstörung in der Regel ungesehen (Ureta 2022). Tailings stellen in dieser Hinsicht die unsichtbaren Outputs globaler kapitalistischer Produktionsprozesse dar, die in Chile nicht nur größtenteils kostenlos „entsorgt“ werden, sondern gleichzeitig über lange Zeiträume unsichtbarer, aber dennoch inhärenter Teil des lokalen, nationalen und globalen Metabolismus werden. Während sie in ihrer Menge zwar teilweise durch neue Formen der Stoffstromanalyse und Indikatoren wie dem ökologischen Rucksack oder Fußabdruck berücksichtigt werden können (siehe etwa Martínez-Alier & Walter 2015), sind ihre tatsächlichen Auswirkungen, die räumliche und zeitliche Ausbreitung der Schadstoffe auf ökologische Kreisläufe, Nahrungsketten und tierische und menschliche Körper sowie die von ihnen ausgehende slow violence in Form von Krankheiten, Naturzerstörung und langsamer Zerstörung von Lebensräumen nicht mess- oder darstellbar. Auch ihr räumlich unbegrenzter und zeitlich weit in die Zukunft reichender Fortbestand als inhärenter und untrennbarer Teil des globalen sozialen Metabolismus bleibt demnach unsichtbar.

9.5.3 Die Inexistenz der Tailings innerhalb der hegemonialen Wissensproduktion

Diese extraktivistische Form der Ressourcenausbeutung basiert auf dem hegemonialen westlichen anthropozentrischen Weltbild. Dieses prägt ein Naturverständnis, in dem die Gesellschaft und die Natur voneinander getrennt sind. Natur wird als Umwelt des Menschen begriffen, die von ihm losgelöst ist und ihm gleichzeitig als auszubeutendes und unendliches Ressourcenarsenal zu seiner freien Verfügung steht (Acosta 2014). Diese Trennung von Mensch und Natur und das hegemoniale produktivistische Verständnis von Natur sind gleichzeitig die Grundbedingung für die moderne Kapitalakkumulation. Die heutige Form der materiellen Ausbeutung der Natur und die Idee des grenzenlosen Wachstums, auf denen der Kapitalismus beruht, basieren auf der Idee einer kodierbaren, quantifizierbaren, rationalisierbaren und kommodifizierbaren Natur (Moore 2020: 10). Das durch die wissenschaftliche Revolution der Moderne erzeugte Bild der Natur hat es geschafft, diese zu mechanisieren und zu rat–ionalisieren und durch Naturbeherrschung und – bemächtigung „die Gewalt der Natur zu besiegen“ (Merchant 1987:113).
Dabei ist Natur nicht gleich Natur. Vielmehr werden durch dieses Weltbild mehrere Naturen produziert (Alimonda 2011: 22). Der Zugriff auf und die Ausbeutung der Natur Lateinamerikas, als erste Peripherie des europäischen Kolonialsystems, stellte von Anfang an einen wesentlichen Bestandteil der Ökonomien der Zentren und des Weltsystems dar (O´Connor 2001; Martinez-Alier 2004; Nixon 2011; Alimonda 2011; Machado 2014). Die „Kolonialität der Natur“ (Alimonda 2011: 32) besteht in der massiven Form der Ressourcenausbeutung in den (Semi)Peripherien des Weltsystems, wobei diese als subalterner Raum fungiert (Alimonda 2011: 22; Machado 2014), was die Konzentration ökologischer Kosten und die Ausbreitung schleichender Gewalt in diesen Gebieten begünstigt (Fanon 2018: 42; Nixon 2011). Allerdings bleibt diese strukturell gewaltvolle Kehrseite der Moderne (Galtung 972b; Alimonda 2011) weitgehend unsichtbar, obwohl die Kolonien und die Natur – neben den Frauen – die Basis der Reproduktion des Lebens und des kapitalistischen Weltsystems darstellen (Shiva 1989; Federici 2018; Mies 2015). Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur wird auf diese Weise größtenteils durch kapitalistische Märkte vermittelt, durch die Machtverhältnisse des Weltsystems strukturiert und führt durch seine Akkumulationslogik und die daraus resultierende massive Ausbeutung und Zerstörung der Natur zu menschengemachten klimatischen und ökologischen Veränderungen, die unter Begriffen des Anthropozäns (Svampa 2020:116ff) oder Kapitalozäns (Moore 2020:262) bekannt sind. Einige BeobachterInnen sprechen in diesem Zusammenhang von einer endgültigen ökologischen Krise: „Die Kolonisierung der Quellen der Lebenserneuerung, das (konzeptuelle und physische) Auseinanderreißen der Regenerationszyklen in einen linearen Fluss von Rohmaterialien und Gütern, das Zerreißen natürlicher Wachstumszyklen als Quelle des Kapitalwachstums bedeutet die endgültige ökologische Krise“ (Mies & Shiva 2016:45).
Dieses produktivistische anthropozentrische Verständnis der Natur und die Kolonialität der Natur der Peripherien gehen mit der Kolonialität des Wissens einher, das heißt der Durchsetzung des westlichen eurozentrischen und anthropozentrischen Wissensparadigmas durch das lineare Entwicklungsparadigma, das in der westlichen Ökonomien mit ihren Produktions-, Macht- und Signifikationssystemen verankert ist (Escobar 2008: 337) und den Industrienationen den Status des für alle zu erreichenden Fortschritts verleiht. Die hegemoniale Dominanz dieses Wissensparadigmas hat konkrete Konsequenzen für die Aneignungs- und Ausbeutungsformen der Natur und der Ressourcen, besonders im globalen Süden. Enrique Leff (2017: 229) versteht die ökologische Krise in dieser Hinsicht als Krise der hegemonialen Verständnisformen dieser Welt, des wissenschaftlichen Wissens und der technisch-ökonomischen Vernunft, die weltweit institutionalisiert wurde. Die Alternativlosigkeit dieses Wissensparadigmas wird durch ein abyssales Denken (de Sousa Santos 2010) produziert, dass andere Wissensformen, AkteurInnen und Praktiken als nicht-existent hervorbringt. Durch dieses werden große Teile der Weltbevölkerung sowie ihre Realitäten und Probleme unsichtbar gemacht. Dies trifft – wie sich in dieser Forschung gezeigt hat – auch auf die BewohnerInnen von Pabellón und Tierra Amarilla sowie teilweise auch Chañaral zu. Dabei sind die Betroffenen und ihre Probleme in diesen Fällen gesellschaftlich unsichtbar und die von ihnen zur Problemdefinition angewandten Wissensformen werden gleichzeitig nicht als gültige Nachweise anerkannt. Diese Tatsache führt u. a. – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wissenschaft – zu einem großen Wissensverlust in Bezug auf ökologische Kreisläufe und Zusammenhänge (Worster 2003; Leff 1986; Alimonda 2011).
Dieses Naturverständnis, die Kolonialität der chilenischen Natur und das hegemoniale Wissensparadigma haben direkten Einfluss auf die Sichtbarkeit der Tailings. Durch das beschriebene Naturverständnis werden Tailings – auch von der Mehrheit der in dieser Arbeit interviewten MitarbeiterInnen der Unternehmen und staatlicher Behörden sowie einigen WissenschaftlerInnen – als durch moderne Technologien kontrollier- und durch sichere Lagerungsformen vom Menschen abgrenzbarer Output des ersten Produktionsschrittes globaler Güterketten verstanden, die sobald das Bergwerk seine Aktivitäten niederlegt aus der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung verschwinden (Ureta 2022). In diesem Verständnis lagern sie weit entfernt und sicher an einem subalternen Raum, also einem frei verfügbaren und ausbeutbaren Gebiet (ebd.). Die Tailings liegen auf der anderen Seite des Abgrundes des abyssalen Denkens. Sie werden nicht nur materiell als Müll „im Verborgenen“ verklappt und global-räumlich externalisiert, sondern auch aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeschlossen. Die „Kolonialität der chilenischen Natur“ und der mit ihr einhergehende Extraktivismus wird durch den hegemonialen Fortschrittsdiskurs wiederum als notwendig und alternativlos dargestellt und legitimiert.
Das beschriebene, modern-westliche Naturverständnis berücksichtigt die zentralen Charakteristika der slow violence von Tailings nicht. Weder die räumliche noch die zeitliche Ausbreitung der Schadstoffe der Tailings und ihre Möglichkeit, unbemerkt und ungebremst in andere Organismen einzudringen – darunter auch den menschlichen Körper –, finden in ihm Beachtung. Chemikalien und Schwermetalle, wie sie in Tailings beinhaltet sind, überwinden in der Realität allerdings die künstliche Trennung zwischen Mensch und Natur (Allen 2008). Doch das (wissenschaftliche) Verständnis ihrer Ausbreitungsformen und Auswirkungen wird durch das hegemoniale Weltbild behindert. Die Schadstoffe gehen ungehindert und unbeachtet Symbiosen ein (Ureta & Flores 2022), durch die die Elemente der in der „Umwelt“ entsorgten Abfälle Teil des menschlichen Organismus werden. Der ökologische Kollaps, der aus der hegemonialen westlichen Sicht in naher Zukunft verortet wird, ist in dieser Hinsicht an Orten wie Pabellón, Tierra Amarilla oder Chañaral längst eingetroffen (Ureta & Flores 2022). Sie sind so etwas wie erste Versionen der Zukunft des Anthropozäns und sie zeigen deutlich die Untrennbarkeit von Mensch und Natur, schon allein durch die Entstehung von „Geosymbiosen“ zwischen der Natur und ihren Ökosystemen, den Körpern ihrer menschlichen und tierischen BewohnerInnen und den Schadstoffen. Der Mensch und seine toxische Umwelt sind auf diese Weise untrennbar miteinander verstrickt und die Herstellung dieser toxischen Geosymbiosen, stellt sich oftmals als einzige und alternativlose Überlebenschance für dort lebende Lebewesen dar (Ureta & Flores 2022). Doch wer sich in räumlicher Distanz in Sicherheit wiegt, vergisst, dass Tailings Kontaminationsquellen darstellen, die nie gänzlich kontrollierbar und auf diese Weise weder zeitlich und räumlich begrenzbar sind und in ihrer Summe den subalternen Raum, in dem sie entsorgt wurden, über kurz oder lang verlassen werden (Ureta & Flores 2022).
Das geschilderte dualistische Wissensparadigma, das Gesellschaft und Umwelt sauber trennt, ist auch in den Naturwissenschaften tief verankert, die die Wissensproduktion über Tailings übernehmen. Wie die vorliegende Forschung deutlich zeigen konnte, kommt ihr in dieser Rolle gleichzeitig allerdings der alleinige gesellschaftliche Gültigkeitsanspruch zu. Ihr begrenztes Naturbild und die Spezialisierung der Wissenschaftsbereiche verhindert ein ökologisches Verständnis der Welt, indem „alles mit allem zusammenhängt“ (Merchant 1987:113) und reihen sich in die Ursachen des – auch in der vorliegenden Forschung konstatierten –wissenschaftlich inhärenten Nichtwissens (Wynne 1992:115) und der wissenschaftlichen Produktion von Unbestimmtheit gegenüber Tailings ein. Darüber hinaus führt die Ungültigmachung anderer Wissensformen über diese Schadstoffe zu ungewusstem Nichtwissen über Chemikalien, Schwermetalle und ihren Auswirkungen innerhalb der Wissenschaft (ebd.; Wehling 2006:113). Das diesen Ideen zudem zugrundeliegende Fortschrittsparadigma und das produktivistische und mechanistische Verhältnis zur Natur (Merchant 1987, Mies & Shiva 2016) ist nicht nur in der derzeitigen chilenischen Verfassung und den bestehenden (Umwelt-)Regulierungen verankert, sondern prägt auch staatliche Institutionen, die Wissenschaft und die öffentliche Meinung. Das daraus resultierende abyssale Denken (de Sousa Santos 2010), in dem slow violence-Phänomene – wie sie durch Tailings verursacht werden – nicht vorkommen bzw. als Problem inexistent sind, durchzieht sowohl Institutionen und Strukturen als auch das hegemonial gültige wissenschaftliche Wissen. In der vorliegenden Forschung konnte bestätigt werden, dass die Tailings des chilenischen Bergbaus von allen in Kapitel 3 dargestellten Logiken des abyssalen Denkens und der monokulturellen Rationalität (de Sousa Santos 2010:22ff) betroffen sind.

9.5.4 Der Beitrag der Sozialwissenschaften zur Unsichtbarkeit der Tailings

Tailings werden nicht zuletzt wegen den im letzten Abschnitt aufgeführten Apekten so gut wie nie von sich aus Forschungsgegenstand der Soziologie. Obwohl in den Jahren zwischen 2010 und 2020 ein stetiger Anstieg der Publikationen zu Tailings beobachtet werden konnte (Ojeda-Pereira & Campos-Medina 2021), handelt es sich dabei fast ausschließlich um naturwissenschaftliche Forschungen, die gleichzeitig mehrheitlich aus Bergbaunationen der Zentren bzw. der Semiperipherie stammen (China und Canada allein stellen 66,7 Prozent davon dar). Ojeda-Pereira & Campos-Medina (2021) haben in dieser Hinsicht einerseits eine große Forschungslücke zu Tailings innerhalb der Sozial- und Politikwissenschaften aufgedeckt und andererseits entdeckt, dass nur ein sehr begrenzter Anteil der bestehenden Forschung aus den Peripherien und besonders aus extraktivistischen Ländern des globalen Südens – wie Chile – stammt. Wie in Kapitel 2 dieser Arbeit bereits beschrieben, gibt es lediglich eine Reihe an sozialwissenschaftlichen Forschungen aus dem Bereich der STS, der Umweltgeschichte und der Wissenssoziologie, die sich dem Thema der unsichtbaren Schadstoffe, wie den Chemikalien und Schwermetallen, die auch in Tailings vorhanden sind, widmen. Dabei erforschen sie sowohl die materiellen Eigenschaften der Tailings als auch die Probleme der Wissensgenerierung über sie und den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit ihnen, die sich aus diesen Eigenschaften ergeben (siehe Abschnitte 2.​4.​2 und 2.​4.​3 des Theoriekapitels). Ihre Ergebnisse wurden in der Analyse dieser Forschung in hohem Maße berücksichtigt und leisten einen großen Beitrag zum Verständnis der slow violence, die von Tailings ausgeht. Sie stellen somit einen ersten Schritt in Richtung einer Soziologie der Emergenzen (de Sousa Santos 2010) dar. Machtverhältnisse und Strukturen werden in ihnen allerdings höchstens am Rande thematisiert. Wie in dieser Forschung dargestellt wurde, sind die materiellen Gegebenheiten und die Probleme der Wissensgenerierung zwar wesentlicher Bestandteil der Unsichtbarkeit der Tailings, können diese allerdings nicht gänzlich und allein erklären. Je höher sich Tailings in der (Un-)Sichtbarkeitspyramide befinden, desto wichtiger werden Machtverhältnisse und -strukturen, um ihre gesellschaftliche Unsichtbarkeit zu verstehen und desto wichtiger wird deshalb auch ihre sozialwissenschaftliche Untersuchung.
In der Revision der bestehenden Literatur (siehe Kapitel 2) konnte darüber hinaus festgehalten werden, dass im Rahmen der Politischen Ökologie, die sich sonst kritisch mit der ungleichen Verteilung von Ressourcen und der ökologischen Kosten des Extraktivismus innerhalb der Länder wie Chile und den aus der internationalen Arbeitsteilung des kapitalistischen Weltsystems resultierenden globalen ökologischen Ungleichheiten auseinandersetzt, Tailings kaum berücksichtigt werden (siehe Abschnitt 2.​3.​6 des Kapitels 2). Grund dafür ist, dass auch die Politische Ökologie weitestgehend im abyssalen Denken (de Sousa Santos 2010) gefangen ist, das auf der Grundlage des westlichen Verständnisses von Wissenschaft und Recht und ihrer Deutungshoheit beruht. Deshalb berücksichtigt sie vorwiegend jene sozial-ökologischen Probleme, die (natur-)wissenschaftlich als solche nachgewiesen sind oder sich durch die Entstehung eines manifesten Konflikts oder einer „katastrophalen“ Erscheinungsform in den Medien auf der sichtbaren Seite der abyssalen Linie befinden.61
Für die chilenischen Tailings bedeutet dieses abyssale Denken in der Wissenschaft konkret, dass sie erst in der Literatur auftauchen, wenn sie die gesellschaftliche Sichtbarkeit der dritten oder vierten Stufe erlangt haben, das heißt, entweder weil ein sozial-ökologischer Konflikt oder ein Unfall ihre öffentliche Sichtbarkeit hervorgerufen hat, durch die offiziellen Anerkennung als Opferzone oder weil ein Gerichtsurteil zur öffentlichen Anerkennung des von den Tailings ausgehenden sozial-ökologischen Problems geführt hat. Dies geschieht bei Tailings aufgrund der in dieser Forschung dargelegten Umstände wiederum nur in den seltensten Fällen, weshalb Tailings so gut wie nie zum Forschungsgegenstand der Politischen Ökologie werden. In den seltenen Fällen, in denen sie sich dem Thema widmet, werden Tailings zwar als Ursache von ungleicher ökologischer Belastung wahrgenommen, allerdings stellen sie dabei eine von vielen Ursachen dar, deren Analyse rein deskriptiv bleibt. Die speziellen Charakteristika der unsichtbaren Schadstoffe, ihre Langzeitfolgen, ihre Irreversibilität, die Unmöglichkeit ihrer räumlichen Eingrenzung und somit die langfristige Zerstörung der Lebensräume und die gesundheitlichen Folgen als stetige Vertiefung der Ungleichheit, werden nicht gesondert berücksichtigt und deren Auswirkungen nicht erforscht. Deshalb bleiben sowohl die sozialen und materiellen Gegebenheiten, die die Entstehung eines Konflikts verhindern, die langfristigen Folgen und die dadurch schleichend eintretende Verschärfung der bestehenden Ungleichheiten bspw. durch die graduelle Zerstörung der Lebens- und Produktionsgrundlagen unerforscht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die große Mehrheit der Tailings, die sich auf der (Un-)Sichtbarkeitspyramide auf den Stufen I und II befinden, nicht als Ursachen von environmental injustice und sozial-ökologischer Ungleichheiten berücksichtigt werden, obwohl und gerade, weil sie oftmals besonders benachteiligte Bevölkerungen treffen, die sich selbst jenseits der abyssalen Linie befinden. Die Sozialwissenschaften tragen durch die ausbleibende Forschung auf diese Weise direkt zur Unsichtbarkeit der Tailings bei und reproduzieren gleichzeitig die Unsichtbarkeit der Betroffenen und ihrer Probleme. Die Nicht-Produktion von Wissen über Tailings führt zu ihrer Inexistenz als Ursache sozial-ökologischer Probleme und Ungleichheiten in sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen. Tailings und ihre Spezifika fallen somit auch aus Gesellschaftsanalysen heraus, die u. a. dabei helfen sollen, der ökologischen Krise zu begegnen, wodurch zu optimistische Problemdiagnosen und Lösungsansätze entstehen, die die langfristigen, irreversiblen und zukünftigen ökologischen Schäden und daraus resultierenden Ungleichheiten und schleichende Gewalt nicht berücksichtigen.
Die vorliegende Forschung versteht sich im Gegensatz dazu als Teil der Soziologie der Emergenzen (de Sousa Santos 2010). Sie will dem abyssalen Denken entgegenwirken, indem sie nicht nur das Thema die Tailings, die sich jenseits der abyssalen Linie befinden, in den Mittelpunkt stellt, sondern vor allem auch die sonst unsichtbaren Betroffenen und deren Probleme untersucht und den „Subalternen“ (Spivak 2008) und ihren Aussagen eine Stimme in der Wissensproduktion gibt. Deshalb wurde ihnen sowie insbesondere auch den Bedingungen, die die Entstehung eines Konfliktes behindern oder ermöglichen, ein umfangreicher Platz in den Kapiteln 6, 7 und 8 gegeben.
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Fußnoten
1
Der Begriff Faktoren wird in diesem Analysekapitel als Sammelbegriff verwendet, unter den sowohl soziale und materielle Gegebenheiten, soziale Mechanismen, institutionelle Rahmenbedingungen und Strukturen, als auch die actions bestimmter Akteure fallen. Er wird verwendet, um die wiederholte Aufzählung aller Elemente, die zur (Un-)Sichtbarkeit beitragen können (etwa bei Fragestellungen oder einleitenden Abschnitten) zu vermeiden.
 
2
Dabei ist erstens zu beachten, dass je nach spezifischem Kontext der zu untersuchenden Tailings das von mir erstellte Modell angepasst werden muss. Außerdem ist zu beachten, dass die in dieser Arbeit untersuchten Fälle untereinander aus vielerlei Gründen nicht direkt vergleichbar sind und zudem die Ergebnisse mit Blick auf die Gesamtsituation der Tailings in Chile in vielerlei Hinsicht nicht ohne Weiteres verallgemeinerbar ist. So sind beispielsweise die inaktiven und historischen Tailings unterrepräsentiert, während der Fall Chañaral einen der wenigen sichtbaren Fälle Chiles darstellt und die Ergebnisse in der (Un-)Sichtbarkeitspyramide nach oben verzerrt. Dieser Fall war allerdings besonders wichtig, um die oberen beiden Sichtbarkeitsstufen, die Tailings fast nie erreichen, analysieren zu können. Im Allgemeinen wird in Chile eine Unsichtbarkeit bezüglich der Tailings konstatiert (Ureta 2022; Ureta, Mondaca & Landherr 2018).
 
3
Dieses Stufenmodell basiert auf der Untersuchung der drei Fälle und der bestehenden Sekundärliteratur zu Tailings in Chile. Die Überlegungen wurden auch unter der Berücksichtigung ähnlicher Umweltprobleme, die sich in Form einer slow violence darstellen – besonders die Verseuchung und Verschmutzung von Böden, Gewässern und Luft durch unsichtbare Schadstoffe – geführt. Das Modell könnte durch Modifizierungen auf andere slow violence-Phänomene angewandt werden. Bei materiell sichtbaren Umweltproblemen mit unmittelbaren und starken sozialökonomischen Auswirkungen, wie sie bspw. bei Wassermangel oder großen Infrastrukturprojekten in Chile häufig der Fall sind, werden allerdings teilweise grundsätzlich andere Stufen durchlaufen.
 
4
Pabellón stellt in dieser Hinsicht – zusammen mit Totoralillo – eine Ausnahme dar.
 
5
In manchen Fällen gibt es keine direkt Betroffenen, wobei die Betroffenheit bei dieser Art von slow violence- Phänomenen schwer zu definieren ist. Durch die sehr unterschiedliche chemische Zusammensetzung der Tailings und die schleichende, unbemerkte Ausbreitung der in ihnen bestehenden Schadstoffen auf die Umwelt durch Wasser, Luft und Boden kann allerdings auch kein bestimmter Radius für die Definition der direkten Betroffenheit festgelegt werden. Dies wurde u. a. auch bei den in den vorherigen Kapiteln beschriebenen Überschwemmungen deutlich. Zudem besteht die Möglichkeit trotz großer räumlicher Distanz, etwa durch den Verzehr von Nahrungsmitteln, die in einem verseuchten Gebiet angebaut wurden, unwissentlich direkt betroffen zu sein. Aufgrund der fehlenden Kriterien für diese Formen der Betroffenheit, wird hier vordergründig die Bevölkerung berücksichtigt, die in unmittelbarer räumlicher Nähe zu den Tailings wohnt.
 
6
In Pabellón gibt es bspw. weder Kanalisation, Zugang zum Stromnetz oder Wasserleitungen noch Handyempfang, Telefon- oder Internetanschluss. Es findet weder eine Instandhaltung der Wege und Brücken statt noch gibt es ein regelmäßiges und zuverlässiges Transportsystem, um in die Gemeindehauptstadt zu gelangen, in der es Gesundheits- und Bildungseinrichtungen gibt.
 
7
Sogar Mitglieder derselben Familie haben sehr unterschiedliches Wissen und Gefahrenwahrnehmungen und geben mehrheitlich an, sich nie über die Tailings zu unterhalten.
 
8
Mit Ausnahme jener, die keine Kenntnis über die Präsenz der Tailings vor Ort haben. Niemand von ihnen hat eine Gefahrenwahrnehmung. Dies verdeutlicht, dass ein Mindestmaß an Wissen zur Erkennung der Möglichkeit eines Problems wegen der materiellen Unsichtbarkeit von Tailings notwendig ist.
 
9
Die wenigen staatlichen actions, die sich in diesem Fall auf die reine Wissensgenerierung beschränken, erfolgten alle nach einem emblematischen sozial-ökologischen Konflikt oder einem schwerwiegenden Unfall durch Tailings.
 
10
„Guía Metodológica para la Gestión de Suelos con Potencial Presencia de Contaminantes (aprobada por la Resolución Exenta No 406/2013)”.
 
11
Dies hat sich erst Ende 2014 geändert, als Florencia Mondaca und ich eingeladen wurden, um die Ergebnisse unserer Feldforschung im Rahmen des Fondecyt-Projekts „El desecho en Chile: Un análisis sociotécnico de las prácticas y políticas respecto del manejo de relaves mineros en el país“ unter der Leitung von Sebastián Ureta im Umweltministerium vorzustellen. Daraufhin wurde die Anwesenheit der Betroffenen in Pabellón und Totoralillo, ihre Lebenssituation sowie ihr Umgang mit den Tailings als wichtige Variable möglicher gesundheitlicher Folgen der Tailings in das Programm aufgenommen. Wie sich in späteren Feldforschungen zeigte, hat diese Information allerdings keinen Einfluss auf zukünftige actions der Behörden gehabt.
 
12
In Einzelfällen – wie etwa auch in Pabellón und Totoralillo – führen private Unternehmen Studien über die Zusammensetzung von inaktiven oder verlassenen Tailings durch, um die Möglichkeit der Extraktion von Metallen durch die Wiederaufarbeitung der Rückstände zu untersuchen. Zu diesem Wissen gibt es allerdings keinen öffentlichen Zugang.
 
13
Die Schätzungen der ExpertInnen über die Gesamtzahl der Tailingdeponien reichen von 2000 bis 4000.
 
14
Auch die zuständige Behörde zur Kontrolle der Einhaltung der Umweltauflagen (das Sernageomin) verfügt nicht über ausreichend Personal, um diese durchzuführen.
 
15
Obwohl anhand historischer Aufzeichnungen auch für Chañaral eine Zeitspanne identifiziert werden kann, in der sich die dortigen Tailings auf der zweiten (Un-)Sichtbarkeitsstufe befanden, reichen die bestehenden Daten zu diesem Fall nicht aus, um eine tiefere Analyse der Kernkategorien dieser Stufe durchzuführen. Deswegen beruhen die im Folgenden zusammengetragenen Erkenntnisse vorwiegend auf den Forschungsergebnissen zu Tierra Amarilla.
 
16
Dies hat sich geändert als der Bestechungsfalls öffentlich wurde, der amtierende (Parlaments-) Mitglieder und regionale Politiker usw. betrifft. Sowie als später unterschiedliche Umweltverstoße des Unternehmens bekannt wurden.
 
17
Aus diesen geht hervor, dass Bestechung keine seltene Praxis unter extraktivistischen Großunternehmen ist, um Umwelt- und Arbeitsregulierungen, sozial-ökologische Konflikte oder juristische Verfahren zu umgehen.
 
18
Zu den Machtressourcen der besitzenden Klasse Chiles siehe Fischer 2011; Matamala 2015 und Landherr & Graf 2017.
 
19
Dies kann sowohl an den in bekannten Plattformen wie dem Mapa de conflictos Medioambientales des INDH (https://​mapaconflictos.​indh.​cl/​#/), dem Observatorio de Latinoamericano de Conflictos Ambientales – OLCA (https://​olca.​cl/​oca/​index.​php) und dem Observatorio de Conflictos Mineros de América Latina – OCMAL (https://​www.​ocmal.​org/​) gelisteten sozial-ökologischen Konflikten, sowie in den Pressemitteilungen zu Umweltskandalen und Problemen Chiles abgelesen werden. Dabei kommen Tailings als Ursache von Konflikten oder medial sichtbaren Umweltproblemen kaum vor.
 
20
In vereinzelten Fällen wird die öffentliche Sichtbarkeit auch durch einen katastrophalen Unfall – wie in Las Palmas–, Naturkatastrophen, die Tailings betreffen, wie in Chañaral oder indirekt durch die Aufdeckung eines Korruptions- oder Umweltskandals erreicht.
 
21
In diesem Fall war der Staat besonders involviert, weil es sich bei dem verursachenden Unternehmen Codelco um ein staatliches Unternehmen handelt.
 
22
Codelco erfüllte nach dem Gerichtsstreit die Auflagen des Urteils, indem sie den schadstoffbelasteten Fluss umleiteten und ein Auffangbecken zur sicheren Lagerung ihrer Rückstände bauten. In den Auflagen war eine Dekontaminierung der Bucht von Chañaral allerdings nicht vorgesehen.
 
23
Im Fall von Chañaral kommt es zu einer Interessenkonvergenz zwischen dem Staat und den verursachenden Unternehmen. Bei anderen Fällen, in denen es sich nicht um ein staatliches Unternehmen handelt, ist allerdings eine ähnliche Überschneidung grundlegender Interessen zwischen Staat und besitzender Klasse beobachtbar.
 
24
Wie schon erwähnt ist Pabellón in dieser Hinsicht zwar eine Ausnahme, die erhobenen Daten sind in diesem Fall allerdings auch immer wieder die gleichen und beschränken sich auf Schadstoffkonzentrationen.
 
25
Siehe offizielle Webseite des Consejo Minero: consejominero.cl [07.02.2022].
 
26
In seltenen Fällen werden besonders emblematische lokale Umweltprobleme von den nationalen Umweltbewegungen aufgenommen und ihre Anliegen, zumindest in Protestaktionen, von städtischen AktivistInnen mitunterstützt. Bei durch Tailings verursachte Umweltprobleme kam dies bisher allerdings kaum vor.
 
27
Die Erkenntnisse auf dieser Stufe stammen einerseits aus den Forschungsergebnissen der empirischen Untersuchung des Falls Chañaral und andererseits aus der bestehenden Sekundärliteratur und vorherigen Forschungen zum extraktivistisch neoliberalen chilenischen Modell, die bereits im Kontextkapitel 5 aufgeführt wurden.
 
28
Siehe etwa für Tierra Amarilla: Tierramarillano Chile (2021, 21. Juli): Tierra Amarilla, la zona de sacrificio olvidada, [online] ( https://​tierramarillano.​cl/​2021/​07/​21/​tierra-amarilla-la-zona-de-sacrificio-olvidada/​ [19.04.22].
 
29
INDH (2022): Mapa de conflictos socioambientales en Chile, [online] https://​mapaconflictos.​indh.​cl [8.6.2020].
 
30
Terram (2019): Las cinco zonas de sacrificio de Chile, [online] https://​www.​terram.​cl/​carbon/​2019/​06/​las-cinco-zonas-de-sacrificio-de-chile/​ [15.04.2022].
 
31
Für eine detaillierte Darstellung der institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen sowie die einzelnen Verweise, die zu den unten aufgeführten Ergebnissen führen, siehe Kontextkapitel 5.
 
32
In Bezug auf die nach 2012 errichteten Tailingdeponien konnte rechtlich nun auch die Verpflichtung zur Behebung von Sicherheitsmängeln durchgesetzt werden.
 
33
Auf rund 20 Unternehmensgruppen fallen zwei Drittel der chilenischen Umsätze und 95 Prozent der Exporte (Fischer 2011:150).
 
34
Neben den hohen Kosten der Dekontaminierung selbst und den bisher technologisch aufwendigen und in ihrer Wirkung eingeschränkten Verfahren um dies zu tun, müsste der Staat oftmals hohe Entschädigungen an die Unternehmen für die Tailings zahlen, da auf eine technologische Innovation spekuliert wird, mit der aus diesen zukünftig noch große Mengen an Metallen und Mineralien extrahiert werden könnten. Der Anschaffungspreis und die darauffolgende Dekontaminierung ist für den chilenischen Staat schlichtweg nicht finanzierbar.
 
35
Siehe etwa das seltene Vorkommen von slow violence-Phänomenen als Ursache unter den bekannten sozial-ökologischen Konflikten Chiles in dem Mapa de conflictos Medioambientales des INDH (https://​mapaconflictos.​indh.​cl/​#/), dem Observatorio de Latinoamericano de Conflictos Ambientales – OLCA (https://​olca.​cl/​oca/​index.​php) und dem Observatorio de Conflictos Mineros de América Latina – OCMAL (https://​www.​ocmal.​org/​).
 
36
Siehe etwa der Fall von HidroAysén, der in ganz Chile das Problem der großen Staudämme sichtbar gemacht hat; der Fall von Petorca, der sogar über die nationalen Grenzen hinaus für den durch den Avocadoanbau verursachten Wassermangel steht oder der Fall von Quinto und Puchuncavi, der die Entstehung von Opferzonen durch Kohlekraftwerke aufgezeigt hat.
 
38
Minería Chilena (2021, 23. Juli): Los beneficios que trae para Chile avanzar en la minería verde, [online] https://​www.​mch.​cl/​2021/​07/​23/​los-beneficios-que-trae-para-chile-avanzar-en-la-mineria-verde/​# [07.07.22] und Reporte Minero (2021, 8. November): Minería Verde: sueño y realidad en marcha, [online] https://​www.​reporteminero.​cl/​noticia/​columnistas/​2021/​11/​mineria-verde-sueno-y-realidad-en-marcha [09.05.2022].
 
39
Deutsch-Chilenische Industrie- und Handelskammer (2018, 10. April): Chile stellt Weichen für Green Mining, [online] https://​www.​lateinamerikaver​ein.​de/​fileadmin/​LAV/​2018/​Chile_​stellt_​Weichen_​f%C3%BCr_​Green_​Mining.​pdf [07.07.22].
 
40
Dies kann unter anderem aus den staatlichen Kupfer- und Lithiumabbauprojektionen für die nächsten Jahrzehnte abgelesen werden (siehe Kontextkapitel 5).
 
41
Die andere, äußerst seltene Form der Sichtbarwerdung, betrifft jene Fälle, in denen die Tailings durch einmalige Ereignisse und Veränderungen – wie große Umweltkatastrophen oder Unfälle – eine derart hohe Wirkungskraft entwickeln, dass sie in ihrer Sichtbarkeit eine oder mehrere Stufen überspringen.
 
42
Siehe hierfür auch Abschnitt 9.3 zu (in)actions.
 
43
Dies wird besonders in jenen Fällen wie Pabellón deutlich, in denen kein aktives Unternehmen mehr vorhanden ist und die zuständigen staatlichen Behörden dennoch eine generelle Tatenlosigkeit im Umgang mit den Betroffenen oder bezüglich der Lösung des Problems äußern, obwohl ihnen die –in diesem Fall schwerwiegenden– Risiken bekannt sind. Für die genauen – von den MitarbeiterInnen der Behörden selbst genannten – Gründe für dieses Verhalten siehe Abschnitt 9.1.1 zur ersten Stufe der (Un-)Sichtbarkeitspyramide sowie Kapitel 6.
 
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Dies hat mit typischen Problemen der sozialen Medien zu tun: Die Veröffentlichungen der einzelnen Accounts werden in der Regel vorwiegend ihren Followern gezeigt und Personen vorgeschlagen, die Follower ähnlicher Accounts sind. Die Informationen breiten sich also vorwiegend unter Personengruppen aus, die einen Bezug zum Umweltschutz oder eine bereits kritische Einstellung gegenüber der extraktivistischen Form der Naturausbeutung aufweisen und erreichen selten andere Gruppen.
 
45
In ganz Chile gibt es lediglich 18 staatliche Hochschulen, von denen nur eine in der untersuchten Region Atacama liegt. Dazu kommen landesweit 141 private Hochschulen, die teilweise direkt vom extraktiven Sektor finanziert werden, wobei dies im Norden des Landes meist durch große Bergbauunternehmen geschieht. Sowohl die Studiengänge als auch der Lehrplan und das Forschungsprogramm sind in diesen Fällen größtenteils auf die wirtschaftlichen Aktivitäten der Branche ausgerichtet. Siehe: Superintendencia de Educación Superior(2020): Estados financieros 2020, [online] https://​www.​sesuperior.​cl/​estados-financieros-2020/​ [05.05.2022].
 
46
La Vanguardia (2021, 8. Januar): Examen a las ONG en Chile, [online] https://​www.​lavanguardia.​com/​participacion/​lectores-corresponsales/​20210108/​6171143/​examen-ong-chile.​html [05.05.2022]. Mitglieder wichtiger nationaler NGO, wie Antonio Peña (PZ05), Fabiola Contreras (PZ04) oder Ben Nickelsen (FZ07) haben zudem angegeben, dass sie keine Finanzierung für das Thema der Tailings bekommen konnten.
 
47
WWF hat etwa ein Kooperationsprojekt mit dem Unternehmen Marine Harvest, das in Chile das zweitgrößte Fischzuchtunternehmen darstellt oder mit dem Unternehmen Hydro, das in Brasilien Bauxit und Aluminium abbaut. In anderen Fällen werden NGO auch direkt von den privaten Großunternehmen ins Leben gerufen. Vgl. WWF (2018: Corporate Partnerships Report, [online] https://​media.​wwf.​no/​assets/​attachments/​WWF-Norway-Corporate-Report-2018.​pdf [05.05.2022].
 
48
Vgl. dazu auch die Kurve des Aktivitätsniveaus von Hirschauer (2016: 49) in Abschnitt 3.​2.​3 der Heuristik.
 
49
Der Fall wurde während der staatlichen Studien ab 2012 als einer der ersten untersucht, weil es über ihn bereits mehrere Untersuchungen im Vorfeld gab, die auf die ersten Studien von Eberle (1998a, 1998b) gefolgt waren und dort sehr hohe Schadstoffkonzentrationen nachgewiesen hatten. Auch in Chañaral ist die Wissensgenerierung überdurchschnittlich hoch im Vergleich zu vergleichbaren Fällen, weil bereits –auf unterschiedlichen Ebenen und andere Art– überdurchschnittlich viel (Vor-)Wissen über diesen bestand.
 
50
Wobei hier die Wissenschaft mit ihrem zentralen, anerkannten Wissensmonopol eine Ausnahme darstellt. Innerhalb der Wissenschaft kann die Vergrößerung der Wissensmenge durchaus mit einer unveränderten Menge an ungewusstem Nichtwissen korrelieren. Dies hat wiederum direkte Auswirkungen auf das Wissen der anderen Akteure (Wehling 2006:11).
 
51
Das Konzept wurde von den Überlegungen von Marc Rölli (2017) zur foucault’schen Machtanalyse übernommen, in denen er die Machtrelevanz von Wissensformen bei Foucault (1977, 1994, 2006) herausarbeitet.
 
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Anhand der vorliegenden Sekundärliteratur und der medialen Berichterstattung wird deutlich, dass die untersuchten Fälle kaum Unterschiede bezüglich der Sichtbarkeit im Vergleich zu bestehenden Tailings in Chile aufweisen, in denen kein Zugang zu wissenschaftlichem Wissen besteht, solange das Wissen nur lokal verbreitet wurde. Dies bestätigt einmal mehr, dass das Wissen über ein Problem nicht unbedingt zu actions seitens der von diesem Problem betroffenen Bevölkerung (Wehling 2006:23) und anderen beteiligten Akteuren führt (vgl. Bickerstaff and Walker 2001; Irwin, Simmons, and Walker 1999).
 
53
In der medialen Berichterstattung kommen allerdings abstrakte und chronische Risiken, die bei Tailings eine große Bedeutung haben, kaum vor (Nerb et al. 2001).
 
54
Beispiele hierfür sind die staatliche Errichtung von Sozialbauten auf Tailings in Tierra Amarilla und Nantoco, die Deklaration der Bucht von Chañaral als Badestrand und die ausbleibende Informierung der betroffenen Bevölkerung in Pabellón über die dortige Umweltbelastung, aus mangelnder Kenntnis über deren Existenz. Dies geschah in den untersuchten Fällen oftmals, obwohl das Wissen über die Tailings oder die Betroffenen in anderen staatlichen Behörden bestand und ist Resultat mangelnder Kommunikation und geringer Zusammenarbeit unter ihnen.
 
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In der Regel berücksichtigen diese Grenz- und Richtwerte allerdings weder die Langzeitexposition noch die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Substanzen und spiegeln daher teilweise auch einen gewissen Grad an Willkür wider (siehe hierzu auch Nash 2008).
 
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Da in allen drei Fällen noch weitere Kontaminationsquellen bestehen – in Pabellón bspw. die Pestizide der Landwirtschaft, in Tierra Amarilla die Gießereianlage aus Paipote und in Chañaral etwa die durch die Überschwemmung angespülten Schadstoffe aus dem Tal – wurde dies zudem als Argument genutzt, weshalb keine Korrelation zwischen der Schadstoffbelastung und der Anwesenheit der Tailings hergestellt werden könne.
 
57
Campos-Medina & Ojeda-Pereira (2022, 5. Januar): Investigación plantea que en el país cada 30 horas se depositan relaves equivalentes al cerro Santa Lucía, [online] https://​www.​uchile.​cl/​noticias/​183124/​investigacion-u-de-chile-aborda-la-realidad-de-los-relaves-en-el-pais [08.02.22].
 
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Die Sanierung, Restaurierung oder gar Dekontaminierung von durch Tailings verseuchten Gebieten gestaltet sich derzeit sowohl wissenschaftlich-technologisch als auch ökonomisch-politisch schwierig und in Bezug zu einer endgültigen langfristigen Lösung als unzureichend oder gänzlich unmöglich. Dies gilt insbesondere aufgrund der hohen Menge an Tailings, die in Chile vorzufinden sind und stellt auch staatliche Akteure vor eine große Herausforderung, was – neben anderen äußeren Faktoren – zur Folge hat, dass unter ihnen wenig Interesse an der Sichtbarkeit des Problems besteht.
 
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Dies tun sie üblicherweise durch sogenannte Freihandelsabkommen und eine effiziente Rohstoffsicherungspolitik (u. a. durch Rohstoffpartnerschaften, technische Kooperation, internationale Zusammenarbeit und die Schaffung von Märkten), aber auch Wirtschaftssanktionen, Embargos und direkte politische Intervention (Graf et al. 2020: 25ff; Mahnkopf 2021, 2022).
 
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Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019, Dezember): Rohstoffstrategie der Bundesregierung. Sicherung einer nachhaltigen Rohstoffversorgung Deutschlands mit nichtenergetischen mineralischen Rohstoffen, [online] https://​www.​bmwk.​de/​Redaktion/​DE/​Publikationen/​Industrie/​rohstoffstrategi​e-der-bundesregierung.​pdf?​_​_​blob=​publicationFile&​v=​4 [23.05.2022].
 
61
Mit nur sehr wenigen Ausnahmen (Auyero, Singer, Ureta, Mondaca & Landherr 2019; Landherr & Graf 2021; Ureta & Flores 2022) gibt es kaum Forschungen zu slow violence-Phänomenen, die durch materiell unsichtbare Stoffe hervorgerufen wurden, in denen kein sozial-ökologischen Konflikt entstanden ist. Auch latente Konflikte bzw. Konflikte, die nur auf lokaler Ebene manifest werden, finden kaum Platz in der Literatur.
 
Metadaten
Titel
Zusammenfassung und Auswertung der Forschungsergebnisse
verfasst von
Anna Landherr
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43288-1_9