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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

8. Die Unsichtbarkeit des Offensichtlichen– der Fall Chañaral

verfasst von : Anna Landherr

Erschienen in: Die unsichtbaren Folgen des Extraktivismus

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Chañaral ist eine Stadt im Nordwesten der Region Atacama, in der derzeit 13.543 Menschen leben. Die wichtigste Schnellstraße Chiles – die Ruta 5 –, welche das Land einmal von Norden bis Süden durchquert, führt mitten durch Chañaral. Von den durchreisenden Fahrzeugen hält allerdings, außer einigen LKW, kaum eines an.
Hinweise
Ohnmacht und Widerstand gegenüber einem der größten Umweltskandale Lateinamerikas
Schleichende Sichtbarwerdung – kollektive Problemwahrnehmung – manifester Konflikt – öffentliche Sichtbarkeit – symbolische Unsichtbarmachung

8.1 Einleitung

Chañaral ist eine Stadt im Nordwesten der Region Atacama, in der derzeit 13.543 Menschen leben.1 Die wichtigste Schnellstraße Chiles – die Ruta 5 –, welche das Land einmal von Norden bis Süden durchquert, führt mitten durch Chañaral. Von den durchreisenden Fahrzeugen hält allerdings, außer einigen LKW, kaum eines an. Eine Reihe von kleinen Restaurants am Straßenrand hat sich darauf spezialisiert, große Mittagsportionen für die vorbeifahrenden LKW-Fahrer anzubieten, da diese, egal aus welcher Richtung sie kommen, schon lange an keiner größeren Ortschaft mehr vorbeigekommen sind. Grund dafür ist, dass Chañaral inmitten einer der trockensten Wüste der Welt und mehrere Autostunden entfernt von der nächsten größeren Stadt (Copiapó) liegt.
Nähert man sich von Süden kommend der Stadt, erstreckt sich links das Meer, während auf der rechten Seite eine Reihe von Häusern erscheint, die auf merkwürdige Weise mit der Umgebung verschmelzen. Sie sind größtenteils mit Staub und teilweise sogar mit Schlamm bedeckt. Viele von ihnen stehen leer oder sind beschädigt (siehe Abbildungen 8.2 und 8.4). Alles sieht auf den ersten Blick improvisiert aus. Nur, wer die neuere Geschichte der Stadt kennt, weiß, warum Chañaral teilweise einen solch verlassenen Eindruck macht (siehe Abschnitt 8.4.4).
Das Einzige, was sich farblich deutlich von seiner Umgebung abhebt, ist der lange weiße Strand (siehe Abbildung 8.1). Doch was auf den ersten Blick aussieht wie ein kilometerlanger Sandstrand ist in Wirklichkeit nichts anderes als der Jahrzehnte lang akkumulierte Abfall der Bergwerke Potrerillos und El Salvador, die heute dem staatlichen Bergbauunternehmen Codelco gehören. Über 52 Jahre hinweg wurden insgesamt mehr als 350 Millionen Tonnen Industrieabfälle der beiden Bergwerke über den Fluss ins Meer abgeleitet (Cortés 2014: 19; Vergara 2011: 136). Der Fall Chañaral gilt schon seit den 1980er Jahren als einer der größten Umweltskandale der Welt und als eine der schlimmsten Umweltverschmutzungen des gesamten Pazifikraums (Cortés 2014: 22).
Die Geschichte dieser Tailings unterscheidet sich von denen Pabellóns und Tierra Amarillas vor allem dadurch, dass das Problem der in Chañaral lagernden Industrieabfälle längere Phasen der gesellschaftlichen Sichtbarkeit durchlaufen hat und die daraus resultierende Umweltkatastrophe deshalb keineswegs unbekannt für die AnwohnerInnen und die lokalen Behörden ist. In dieser Hinsicht stellt Chañaral einen Ausnahmefall unter den chilenischen Tailings dar. Anders als die vorherigen beiden Fälle, ist dieses Kapitel deshalb in drei Phasen in historischer Reihenfolge unterteilt, die jeweils einen Moment der Sichtbarwerdung des Problems als solches und eine darauffolgende Unsichtbarmachung beschreiben. Bei jeder Phase sind dabei unterschiedliche AkteurInnen beteiligt, die in mehr oder weniger intentionaler Weise zur (Un)sichtbarkeit der Tailings beitragen. Ziel dabei ist es, unterschiedliche Mechanismen, Faktoren und AkteurInnen, die zur (Un)sichtbarkeit führen, darzustellen und im Einzelnen zu beschreiben. Während die ersten beiden Phasen mehrheitlich auf Basis der bestehenden Sekundärliteratur rekonstruiert wurden, ist die Darstellung der dritten Phase Resultat der 2019 in einer mehrwöchigen Feldforschung vor Ort selbstständig erhobenen Daten.
Die gesellschaftliche Sichtbarkeit dieses Falles hat u. a. auch dazu geführt, dass ForscherInnen der Disziplin der Umweltgeschichte vereinzelt zu diesem Fall geschrieben haben, was die Aufarbeitung der geschichtlichen Daten für diese Forschung im Vergleich zu den anderen beiden Fällen wesentlich erleichtert. Außerdem kommt Chañaral auch heute noch hin und wieder in den nationalen öffentlichen Medien vor.2 Besonders im Jahr 2016, nachdem eine 2011 bis 2014 durchgeführte Studie zu Gesundheitsschäden bei Kindern unter der Leitung von Dr. Dante Cáceres erschien (Yohannessen 2014; Cáceres 2015; Cáceres & Yohannessen, 2018) sowie nach den schweren Überschwemmungen 2015 und 2017, durch die die Umweltverschmutzung vor Ort nachgewiesenermaßen verstärkt wurde.

8.2 Erste Phase – die schleichende Sichtbarwerdung der Tailings am Strand von Chañaral (1938 – 1971)

8.2.1 Der Ursprung und die frühen Folgen der Umweltverschmutzung von Chañaral

Zwischen 1938 und 1989 leiteten die Bergwerke Potrerillos und El Salvador über 350 Millionen Tonnen giftiger Tailings in den Fluss Río Salado, der in Chañaral in den pazifischen Ozean mündet, ab (Vergara 2011:137). „Während der chilenische Staat beschlossen hat, das Problem zu ignorieren, das wirtschaftliche Wachstum und die Bergbauindustrie zu priorisieren und – zumindest bis 1970 – die Interessen des ausländischen Kapitals zu begünstigen, sind diese Veränderungen für die BewohnerInnen Chañarals keineswegs unbemerkt geblieben“, schreibt die Historikerin Angela Vergara (2011:137). Auch wenn Umweltprobleme als solche vor Ende des 20. Jahrhunderts keinen Platz im öffentlichen Diskurs Chiles fanden, stellten sie schon weit früher eine ernsthafte Bedrohung für und Beunruhigung in der lokalen Bevölkerung dar. Davon zeugen die vielen Beschwerdebriefe, Fotografien und Erzählungen, in denen die BewohnerInnen der Bucht ihre Sorgen vermerkt haben (siehe etwa Vergara 2011:137 oder Monroy 1999). Der Inhalt der damaligen Forderungen der Bevölkerung verdeutlicht, dass es sich bei der Entsorgung der Tailings – auf die ich im Folgenden näher eingehe – um eine bewusste ökonomische und politische Entscheidung handelte und zeigt gleichzeitig die Macht und den Einfluss der Kupferunternehmen in der Region (Vergara 2011: 137).
Das Bergwerk Potrerillos, aus dem ein Großteil der Tailings stammt, befindet sich ungefähr 150 Kilometer von der Bucht von Chañaral entfernt. Dort versuchten Ende des 19. Jahrhunderts örtliche Kleinunternehmer erstmals – ohne viel Erfolg – Kupfer abzubauen (Vergara 2008). 1910 wurde das Vorkommen dann von dem Unternehmen Andes Copper Company aufgekauft, einer der drei in Chile aktiven Tochtergesellschaften der berühmten US-Amerikanischen Anaconda Copper Company3 (Danús 2007: 279 ff). Mit der Ankunft des ausländischen Unternehmens wurde das Bergwerk modernisiert und es entstand eine umfangreiche Infrastruktur (González 2013:16 ff). Die hohen Investitionen und die moderne Technologie ermöglichten den Abbau der Rohstoffe in großem Maßstab (ebd.: 280 f).4 Ende der 1930er Jahre stellte Potrerillos die größte Kupferproduktionsstätte der Region dar. Der jährliche Produktionsdurchschnitt lag zwischen 1935 und 1939 bei 44.000 Tonnen Kupfer (Vergara 2011: 139). Dieser verdoppelte sich während des Zweiten Weltkriegs auf 84.000 Tonnen im Jahr. Anfang der 1940er Jahre waren über 5000 Arbeiter in Potrerillos angestellt und insgesamt über 10000 Menschen lebten in den fünf Wohnkomplexen des Unternehmens (González 2013:44). Angelehnt an das Modell einer company-town stellte das Unternehmen eine geschlossene Welt dar, die mit der örtlichen Bevölkerung ein konfliktreiches Verhältnis pflegte (Vergara 2011:139).
Der rasante Anstieg der Produktion hatte erhebliche Konsequenzen für die lokale Umwelt. Mitte der 1930er Jahre begann das Unternehmen auch mit der ökologisch verheerendsten Praktik. Wie in vielen extraktiven Bereichen werden in Extraktion und Aufarbeitung der Erze die höchsten technischen Standards angewandt, während sich das industrielle Verfahren im Umgang mit den Abfällen auf das reine „Verschwindenlassen“ beschränkt. Nachdem 1938 die bestehende Tailingdeponie von Potrerillos die anfallenden Talings nicht mehr aufnehmen konnte, wurden diese ungesichert in der Umgebung entsorgt (González 2013:131). Anstatt, wie sonst üblich, die Tailings mit Hilfe von Dämmen oder in großen Staubecken relativ sicher zu lagern, wurde in diesem Fall auf die Errichtung einer weiteren Deponie verzichtet und die Abfälle wurden direkt in den Fluss El Salado abgeleitet (Cortés 2014, Vergara 2011, Castillo 2018).
Wie in Kapitel 5 dieser Arbeit bereits beschrieben, ist die Kupfergewinnung in großem Maßstab ein komplexer und anspruchsvoller industrieller Prozess, der neben großen Investitionen und neuester Technologie, vor allem vom Zugang zu natürlichen Ressourcen abhängt. Zentral ist auch hier die ausreichende Verfügung über Wasser. Je nach Art des Vorkommens der Metalle werden sehr unterschiedliche Aufarbeitungsmethoden5 angewandt, die wiederum in unterschiedlichem Maße von weiteren Ressourcen abhängen und jeweils spezifische Abfälle produzieren. Obwohl in Potrerillos und El Salvador jeweils im Laufe der Zeit unterschiedliche Methoden angewandt wurden, bestand die übliche Aufarbeitung der Metalle in deren Flotation. In den Flotationsanlagen werden die Erze dabei einem physisch-chemischen Prozess ausgesetzt, durch welchen das Kupferkonzentrat gewonnen wird. Hierfür werden große Mengen an Wasser und Chemikalien eingesetzt, die es ermöglichen, das Kupfer von den restlichen Materialien zu trennen.6 Den Zugang zu Wasser zu sichern, stellt somit schon immer eine zentrale Herausforderung für das Fortbestehen der Industrie dar. Dies gilt in Chile in besonderem Maße, da sich die meisten Vorkommen hier in Regionen mit Wassermangel befinden.7
Die Konkurrenz um Wasser hat landesweit zu starken Konflikten mit Kleinbauern, AnwohnerInnen und indigenen Gemeinschaften geführt.8 Wie in vielen anderen Bergwerken ist auch das Problem der Tailings von Potrerillos eng mit dem Wasserzugang und der Nutzung der Wasserkonzessionen verbunden. Das Bergwerk Potrerillos erhielt Wasserrechte vom Fluss La Ola, der im 35 Kilometer entfernten Salzsee Pedernales mündete (González 2013:6). Der Fluss La Ola befindet sich auf 4000 Meter Höhe, während Potrerillos auf 2.800 Meter über dem Meeresspiegel liegt (ebd.: 69). Ein ausgeklügeltes und für die zwanziger Jahre höchst innovatives Infrastrukturprojekt löste das Problem des knapp 550 Meter höher gelegenen Wasserzugangs und der zahlreichen zwischen dem Fluss und dem Bergwerk liegenden Tälern (ebd.:64 ff).9 Dafür wurde in Pedernales ein Staudamm errichtet, von dem aus ein komplexes Tunnelsystem das Wasser über 50 Kilometer bis zum Bergwerk transportierte.10 Hinzu kamen später noch Grundwasservorkommen des Flusses Agua Helada. Das gesamte im industriellen Prozess gebrauchte Wasser wurde dann abschließend in den Fluss Rio Salado geleitet, der auf seinem Weg bis Chañaral auch durch mehrere andere größere Ortschaften fließt (Vergara 2011:141).
Da das Wasser aus Pedernales schon vor dem Prozess einen sehr hohen Salzgehalt aufwies und demnach nicht für die landwirtschaftliche Nutzung oder als Trinkwasser geeignet war, hielt es das Unternehmen nicht für nötig, dieses Wasser zu reinigen oder die Tailings auf eine andere Form zu entsorgen, bevor sie es in einen komplett anderen Fluss und somit in komplett andere Ökosysteme und Bevölkerungsgruppen leitete, als sie sich in dem Ursprungsgebiet der Gewässer finden (Vergara 2011: 141). Das Abwasser und die Tailings, die ab 1938 in den Río Salado geleitet wurden, enthielten von Anfang an eine gefährliche und giftige Mischung aus Chemikalien und Mineralien sowohl fester als auch flüssiger Art. Schon damals enthielt die Mischung hohe Anteile an Kupfer, Molybdän, Stahl, Arsen, Mangan, Cadmium, Chrom, Blei und Zink (ebd.141). Die Entscheidung des Unternehmens, die industriellen Abfälle auf diese Art und Weise zu entsorgen, brach offen das damalige Recht, welches seit 1916 die Verschmutzung von Gewässern durch Industrieabfälle regulierte und verbot.11
Im Gegensatz zu Pabellón ist die Geschichte der Abfälle Chañarals den heute beteiligten AkteurInnen häufig noch bekannt. Der lokale Schriftsteller und Historiker Humberto Barra (CB09) und mehrere UmweltaktivistInnen wie Sergio Puebla (CB06) oder Marcela (CB11a) und Javiera (CB11b) erzählen lange und detailliert über den Ursprung der Umweltverschmutzung. Aber auch die BewohnerInnen von Chañaral wissen darüber Bescheid. Fast alle der heutigen BewohnerInnen Chañarals kennen auch den Ursprung des verschmutzten Strandes und können die daran beteiligten Unternehmen aufzählen (siehe Abschnitt 8.4.2).

8.2.2 Schleichende Sichtbarwerdung durch physikalische und chemische Veränderungen der Umgebung

Ein künstlicher Strand entsteht
Die ersten Auswirkungen der Tailings, die ab Ende der 1930er Jahre in den Fluss Río Salado abgeleitet wurden, waren in Chañaral schnell sichtbar. Nach wenigen Jahren entstand ein künstlicher, weißgelber Strand, der sich über einen Kilometer an der Küste entlang erstreckte und damit drohte, die natürliche Bucht und damit den Hafen zu zerstören, erzählt der lokale Historiker und Schriftsteller Humberto Barra (CB09). Durch die großen Mengen an „Sand“ stieg einerseits für Boote und Schiffe die Gefahr auf den entstehenden Sandbänken zu stranden und gleichzeitig wurde mit der Zeit auch die Hafeninfrastruktur durch das akkumulierte Material unbrauchbar gemacht. Dies führte zu einer rapiden und kompletten Versandung12 der Bucht (Cortés 2014:27 ff). Die insbesondere durch die im Aufarbeitungsprozess beigefügten Chemikalien hervorgerufene Toxizität der Tailings, hatte zudem innerhalb weniger Jahre das verletzliche Meeres- und Küstenökosystem zerstört (Monroy 1999).
Die schnelle Veränderung der Umgebung führte dazu, dass die BewohnerInnen von Chañaral diese von Anfang an bewusst wahrnahmen. Sie dokumentierten diese Veränderungen mit Hilfe von Fotografien, die heute bspw. im Museo de la Historia Natural Rudolfo Philippi in Chañaral zu besichtigen sind. Dies und die schriftliche, historische Aufzeichnung über die Akkumulation der Industrieabfälle stellen die größten Unterschiede zu den beiden Tailings von Tierra Amarilla und Pabellón dar. Aber die Bevölkerung nahm die Veränderungen nicht nur wahr, sondern begann auch, auf die daraus resultierenden Missstände aufmerksam zu machen. Nur drei Jahre nachdem das Unternehmen Andes Copper angefangen hatte, die Industrieabfälle über den Río Salado abzuleiten, zitierte die Zeitung El Progreso den damaligen Hafenmeister, der angab, es seien bei ihm in der letzten Zeit vermehrt Beschwerden seitens der Bevölkerung bezüglich der Tailings eingegangen (Vergara 2011:142). Zu den meistgenannten Vorwürfen gehörte, dass die Tailings die Gewässer der Bucht vergiftet hätten, wodurch die vorher reichlich vorhandenen Meeresfrüchte und -tiere ausgestorben sein. Dadurch würden auch die Fische die Bucht meiden, welche früher direkt am Strand gefischt werden konnten. Außerdem seien die Tailings gesundheitsschädlich für die Badegäste, bei denen immer häufiger Hautauschläge und rheumatische Schmerzen nach dem Baden auftreten würden, so der damalige Hafenmeister (ebd:142).
Nachdem eine Verschmutzung der Bucht durch einen staatlichen Wasserqualitätstest 1941 erstmals ausgeschlossen wurde, begannen 1951 mehrere WissenschaftlerInnen erneut ihre Bedenken über die Umweltbelastung in Chañaral zu äußern. Im selben Jahr erschien bspw. ein Leserbrief der Bergbauingenieurs Neftalí Fraga in der Tageszeitung El Mercurio aus Santiago, in dem der Autor auf ökologische Probleme hinwies. Fraga schilderte, es sei mittlerweile unmöglich, Machas und Locos (dort heimische Muschelarten), Seeigel oder Fische in Chañaral zu finden, seitdem sich das amerikanische Unternehmen dort niedergelassen habe (Vergara 2011:143). Andes Copper Co. sei eindeutig für diese Umweltschäden verantwortlich, vor ihrer Ankunft „war die Bucht von Chañaral eine der üppigsten und artenreichten Chiles, was ihre Fisch- und Meerestierbestände angeht. Aber mit den Bergarbeiten werden die Abwässer der Kupfergewinnung durch einen über 100 km langen Kanal bis zur Bucht von Chañaral geleitet“ erklärt er und führt fort „Diese Abwässer sind mit einer Vielzahl giftiger Substanzen, wie bspw. Sulfat, Arsen oder Antimon belastet, durch welche die Weichtiere getötet wurden und die Fische und Meeresfrüchte verschwunden sind“.13 Gleichzeitig beschuldigte er auch die lokalen staatlichen Behörden mitverantwortlich zu sein und rief diese dazu auf, in solchen Fällen stärker einzugreifen. Es handelt sich bei dem Leserbrief Neftalí Fragas um die erste mediale Thematisierung des Problems auf nationaler Ebene. Außerdem ist hervorzuheben, dass Fraga in seinem Schreiben den Zusammenhang zwischen der Umweltverschmutzung und ihrer Ursache herstellt und dieses Vorgehen keinesfalls für einen Ausnahme- oder einen Einzelfall hält. 1952 wiesen die BewohnerInnen erneut in der Zeitung El Progreso auf die physischen Veränderungen des Strandes hin. Die heute sechs kilometerlange Playa Grande (der große Strand) und die anliegenden Dünen existierten vor 1940 nicht (Cortés 2014:28). Die BewohnerInnen klagten öffentlich an, dass die Tailings die Stabilität und den Weiterbestand der Bucht als Hafen ernsthaft bedrohten und riefen die lokalen Behörden dazu auf, die Situation baldmöglichst zu untersuchen und einzugreifen. Besonders die Versandung und der Tiefenverlust im Hafenbereich stelle ein großes Problem dar (Monroy 1999, Castillo 2018). Stellen, an denen früher eine konstante Tiefe von 18 bis 20 Meter zu messen war, waren nun plötzlich nur noch 12–14 Meter tief. Bei einer ähnlichen Entwicklung würden in zehn Jahren keine Schiffe mehr in den Hafen einlaufen können. Außerdem hätte das Meer bei Flut früher fast das Rathaus erreicht, während es sich jetzt schon um mehr als einen Kilometer zurückgezogen hätte (Vergara 2011:144).
Wirtschaftliche Auswirkungen der Industrieabfälle in Chañaral
Die oben beschriebenen Veränderungen des Hafens und der Meeresökosysteme hatten schwere wirtschaftliche Konsequenzen für die BewohnerInnen von Chañaral. Sie zerstörten die wenigen ökonomischen Potenziale der Küstenstadt, beschreibt der Historiker Humberto Barra (CB09). Die großen Sandbänke drohten das Herzstück der lokalen Ökonomie und einen der wichtigsten Häfen –damals das Nadelöhr der regionalen Ökonomie– für große Schiffe unpassierbar zu machen. Diese konnten ihn aufgrund der mangelnden Tiefe nicht mehr ansteuern. Andererseits wurde das zweite Standbein, die Fischerei und das Muscheltauchen durch die Zerstörung der lokalen Ökosysteme bedroht. Neben dem Hafen und der Fischerei blieben den BewohnerInnen kaum Alternativen, da das raue Wüstenklima weder Land- noch Subsistenzwirtschaft ermöglichten und Handel und Dienstleistungen mit dem Hafenbetrieb eng zusammenhingen. Ohne den wichtigen Hafen geriet das abgelegene Chañaral wirtschaftlich in die Sackgasse. Als einzige Option blieb der Bergbau. Die großen Bergwerke waren damals zwar ungefähr 150 Kilometer entfernt, allerdings boten kleinere, nähergelegene Mienen für einige BewohnerInnen direkte oder indirekte Arbeitsplätze (Humberto Barra CB09; Vergara 2011).
Die schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen, die die Versandung und der damit einhergehende Verlust des Hafens mit sich zu bringen drohte, waren der Anstoß für die ersten technisch und wissenschaftlich fundierten Untersuchungen über die Auswirkungen der Tailings auf die Bucht von Chañaral. Während Andes Copper einen eigenen privaten Hafen (Puerto de Barquito) etwas weiter südlich besaß und nutzte, lief der gesamte lokale Handel sowie der Abtransport des kompletten kleinen Bergbaus der Region nach wie vor ausschließlich über den Hafen von Chañaral. So kam es dazu, dass 1962 die lokalen Hafenbehörden die Dienstleistungen des französischen Labors Laboratoire Central d`Hidraulique de France in Anspruch nahmen, um die physischen Veränderungen der Bucht von Chañaral zu untersuchen (Vergara 2011:145). Hinzu kamen später die Studien des Bauingenieurs Hernán Rubio, die von der Compañia Minera Santa Bárbara in Auftrag gegeben wurde, sowie eine weitere Untersuchung von dem Hydrographen Luis Corniquell. All diese Untersuchungen ergaben, dass die Befürchtungen der Bevölkerung berechtigt waren: die Tailings führten zu einer schnellen Versandung der Bucht, wodurch diese an Tiefe verlor und der Hafen bald seine Funktionsfähigkeit verlieren würde (Vergara 2011:145). Die oben beschriebenen Wahrnehmungen, Befürchtungen und das auf eigenen Erfahrungen und Beobachtungen basierende Wissen der Bevölkerung erlang erst durch diese wissenschaftlichen Belege seine Gültigkeit und wurde daraufhin von den Behörden als berechtigte Sorge anerkannt.

8.2.3 Die Tailings Chañarals werden erstmals wieder unsichtbar

Das Ergebnis der ersten staatlichen Untersuchung zur Schadstoffbelastung der Bucht 1941 lautete, wie schon erwähnt, dass keine Gefahr für die Badegäste bestünde.14 Dementsprechend wurden damals auch keine Maßnahmen zur Prävention oder zum Schutz der Bevölkerung ergriffen und noch weniger, um die Verschmutzung durch Andes Copper zu stoppen (Vergara 2011:142). Die lokale Bevölkerung begründete ihre Forderungen und Sorgen demgegenüber in den darauffolgenden Jahren auf ihrer eigenen Lebens- und Arbeitserfahrung sowie ihren beruflichen Kenntnissen über die Meerestier- und Fischbestände. Sie konnten diese allerdings nicht durch wissenschaftliche oder technische Studien über die Schadstoffbelastung der Bucht bestätigen, da die im letzten Abschnitt genannten Untersuchungen lediglich die physischen Veränderungen der Bucht konstatierten. Ihr Alltagswissen verlor deshalb seine Aussagekraft gegen die wissenschaftliche staatliche Untersuchung, die das Gegenteil besagte. Es zeigt sich deutlich, dass obwohl offensichtliche Veränderungen in der Umgebung stattfinden, diese erst als solche anerkannt werden, wenn sie auch wissenschaftlich belegt sind. Weiter noch, können sie wissenschaftlich widerlegt werden, werden sie automatisch für inexistent erklärt.
Ende der 1950er Jahre wurde ein großzügiges Modernisierungsprojekt des Produktionsprozesses von Andes Copper durchgeführt. Nachdem die Vorkommen von Potrerillos begonnen hatten, sich langsam zu erschöpfen und der Ertrag sank, ging das Unternehmen dazu über, Kupfer in dem soeben entdeckten und 30 Kilometer nördlich gelegenen Vorkommen von Indio Muerto (übersetzt: der tote Indianer, heute Bergwerk El Salvador) abzubauen (Danús 2005:283). So entstand in der Folge ein noch größeres Infrastrukturprojekt, das unter anderem auch eine Reihe an höchst modernen Anlagen und Werken zur Zerkleinerung und Weiterverarbeitung der Erze sowie große Wohnsiedlungen beinhaltete. Die Konzentrate wurden auf direktem Weg – teils durch eine Rohrleitung und teils mit dem Zug – vom Ursprungsort bis zur alten Gießerei in Potrerillos transportiert (Danús 2005:283 ff). In den 1970er Jahren wurde die Produktionskette noch durch eine Raffinerie ergänzt. Bei all diesen Erneuerungen wurde das Problem der Abfalls- und Abwasserentsorgung allerdings nicht gelöst. Die große Mehrheit der Tailings floss weiterhin entlang des natürlichen Flussbettes des Río Salado.
Unerwarteterweise brachten diese schadstoffbelasteten Abfälle in dieser Zeit neue Beschäftigungsmöglichkeiten für BewohnerInnen des Tals hervor. In einem Kontext, indem die traditionellen Aktivitäten durch eben die Schadstoffe aus der Kupferproduktion bedroht wurden, entstand das neue, lukrative Geschäft der Kupferwäscherei (Vergara 2011:145). Dabei gewannen die BewohnerInnen Chañarals und der umliegenden Ortschaften durch traditionelle Aufarbeitungsweisen selbst Kupfer aus den Überresten des Kupferbergbaus. Diese neue Einkommensmöglichkeit ließ plötzlich auch starken Gegenwind gegenüber dem Widerstand der BewohnerInnen von Chañaral aufkommen, die sich zuvor mehrheitlich gegen den Bergbau wehrten. Ehemalige Betroffene wurden auf einmal zu Nutznießern der Verschmutzung. Es handelte sich dabei anfangs vor allem um kleine Bergarbeiter, die sich in den 1950er Jahren entlang des Flusses Río Salado niederließen, um die in ihm vorhandenen Tailings weiterzubearbeiten und die in ihnen noch enthaltenen Metallreste zu extrahieren (ebd.:145 f; Danús 2005). Manche besaßen offizielle Rechte, um das Material im Fluss aufzuarbeiten, andere arbeiteten informell und „besetzten“ den Fluss (tomeros). „Den Fluss zu bearbeiten“, wurde somit zu einer wichtigen Tätigkeit und ließ die neue soziale Gruppe der Kupferwäscher entstehen.15 In Kleinstädten wie Pueblo Hundido wurde diese Tätigkeit bald zur wichtigsten Einkommensquelle (Vergara 2011:145 f).
Die Arbeitsbedingungen in der Kupferwäscherei waren allerdings extrem prekär, aufopfernd und teilweise illegal. Nach einem langen Kampf erhielten die Kupferwäscher 1972 dann títulos de dominio (Eigentumsrechte), was die Entstehung mehrerer Kooperativen begünstigte (Vergara 2011:146). Im Rahmen dieser neuen wirtschaftlichen Tätigkeit änderte sich die Wahrnehmung der Bevölkerung bezüglich der Tailings von einer Kontaminations- zu einer Beschäftigungsquelle. Plötzlich wurde ein Teil der Betroffenen in der Folge zu Verfechtern der umweltschädlichen Praktiken des Unternehmens. Diese Tatsache bremste zusammen mit der oben genannten „Widerlegung“ einer möglichen Kontamination im Rahmen der ersten staatlichen Untersuchung zur Schadstoffbelastung der Bucht, den anfänglich vorhandenen Widerstand der Bevölkerung gegen die Unternehmenspraktiken und ließ das Problem für eine Zeit lang aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden.
Am 11. Juli 1971 wurde dann vom Nationalen Kongress das Gesetz zur Nationalisierung der Großen Bergbauindustrie (Gran Minería del Cobre) verabschiedet.16 Auch die Bergwerke rund um Chañaral wurden verstaatlicht. Dadurch veränderte sich die Beziehung zwischen dem Kupferabbau, dem Staat und der nationalen Wirtschaft in Chile radikal. Gleichzeitig blieb die Organisation des Produktionsprozesses relativ unverändert. Unter der Regierung der sozialistischen Unidad Popular (1970–1973) lagen die größten Veränderungen in der Einbeziehung der ArbeiterInnen in die Entscheidungsprozesse des Unternehmens, die Umgestaltung der Lager (campamentos) sowie der steigenden Mitbestimmung und Beteiligung in den lokalen Gewerkschaften (Danús 2005). Auf diese Weise verbesserte sich auch teilweise die Beziehung der Unternehmen zu den umliegenden Gemeinden – unter anderem durch die oben genannten Programas Comunitarios. Durch die anschließende Militärdiktatur wurde dieser intern demokratisierende Prozess allerdings abrupt unterbrochen. Codelco wurde aber weiterhin als staatliches Unternehmen geführt, wodurch sich eine Art „autoritäres staatliches Unternehmen“ herausbildete (Vergara 2011:147). Die folgende starke Repression der Gewerkschaften trug erheblich zu dieser Entwicklung bei und führte auch zur vorübergehenden Zergliederung der politischen, sozialen und beruflichen Organisationsformen innerhalb der campamentos. Die ersten Jahre der Militärdiktatur hindurch war auch jeglicher Druck oder Widerstand von außen gegen das staatliche Unternehmen undenkbar. Trotz aller Veränderungen und der staatlichen Übernahme des Unternehmens – bis heute gehört Divisón Salvador dem staatlichen Unternehmen Codelco – zeigt die Geschichte der Umweltverschmutzung der Bergwerke von Potrerillos und El Salvador mehr Kontinuitäten als Brüche auf.

8.3 Zweite Phase – von der juristischen Anerkennung bis hin zur allgemeinen Unsichtbarkeit der Tailings (1970er bis Anfang der 2010er): die aktive Unsichtbarmachung

8.3.1 Die Sichtbarwerdung der Schadstoffe durch wissenschaftliches Wissen in den 1970er und 1980er Jahren

Ab Ende der 1970er Jahre führte die zunehmende lokale Sichtbarkeit der Umweltverschmutzung in Chañaral zur Durchführung mehrerer wissenschaftlicher Studien. Erstmalig stand jedoch weniger die physikalische Stabilität der Bucht und des Hafens im Mittelpunkt als vielmehr die Zerstörung der Lebensräume und Ökosysteme. Die Debatte verschob sich somit von den rein (makro)ökonomischen Konsequenzen einer Versandung des Hafens hin zur Meeresverschmutzung (Vergara 2011:148). WissenschaftlerInnen wie bspw. Juan Carlos Castilla konnten in dieser Zeit anhand zahlreicher Studien das Verschwinden vieler Arten nachweisen und somit die von der Bevölkerung geäußerten Befürchtungen bestätigen (Castilla 1983). Die Mine División Salvador17 der staatlichen Firma Codelco, die das nordamerikanische Unternehmen übernommen hatte, gab gleichzeitig eigene Untersuchungen in Auftrag, die beweisen sollten, dass es keine Notwendigkeit für das Erbauen eines Staudamms oder -beckens zur sicheren Lagerung der Tailings gebe, da diese kein erhöhtes Risiko für die Umwelt darstellen würden.18 Dennoch wurde aufgrund der immer sichtbarer werdenden enormen Verschmutzungen des Strandes von Chañaral 1975 die mit Tailings verseuchten Gewässer umgeleitet. Sie führten nun nicht mehr nach Chañaral, sondern wurden in die 12 Kilometer nördlich liegende Bucht Caleta Palitos umgeleitet. Der dafür notwendige Kanal wurde mit öffentlichen Geldern der Dirección General de Obras del Ministerio de Obras Públicas (MOP) errichtet (González 2018). Anstatt das Problem zu lösen, wurde der Bau eines kostspieligen Kanals öffentlich finanziert, um es an einen anderen Ort zu verlagern. Dorthin wurden in den nächsten 15 Jahren weiterhin täglich 25 bis 30 tausend Tonnen Tailings entsorgt (Vergara 2011:147).
Anfang der 1980er Jahre bezeichnete dann sogar das Umweltprogramm der Vereinten Nationen die Bucht von Chañaral als eine der schlimmsten Umweltverseuchungen des Pazifischen Ozeans (Vergara 2011:142, Cortés 2010: 18). Auch der Biologe Juan Castilla kam 1983 zu dem Schluss, dass der Grad der lokalen physischen und biologischen Umweltbelastung der Bergbauvorkommen von El Salvador, „extrem hoch“ sei (Castilla 1983:464). Die durch die Verseuchung verursachten Schäden schätzte er schon damals als irreversibel ein (Castilla 1983:463 f). Der Toxikologe Dr. Mario Cuevas erzählt rückblickend in einem Interview: „In dieser Zeit wurden viele, viele Studien gemacht. Die ersten waren über die Mirkofauna im Meer. Dabei kam raus, dass die Tailings in Chañaral all dieses Leben getötet haben. Sogar die Vereinten Nationen haben es zu einem der größten Umweltskandale der Welt und des Pazifikraums erklärt“ (CE02). Dasselbe erzählen auch der lokale Umweltaktivist der NGO Chadenatur – Sergio Puebla (CB06) – und der Historiker Humberto Barra (CB09). Nachdem der Konflikt jahrelang latent geblieben war, lieferten die langen Listen an im Strand vorhandenen Schadstoffen, Schwermetallen und chemischen Elementen, die die Studien anfertigten, nun Gewissheit über die schon lange von der Bevölkerung geahnte Kontamination und machten das Problem der Tailings erneut öffentlich als ebensolches sichtbar.
Diese öffentliche und wissenschaftliche Anerkennung der Umweltschäden trug auch dazu bei, dass Proteste zunahmen. Das Ausmaß der Umweltschäden, die Ablehnung von Seiten Codelcos Verantwortung dafür zu übernehmen und die Untätigkeit der Behörden führten zu Widerstand und steigendem Druck der Protestbewegung. Diese Entwicklung kulminierte darin, dass die BewohnerInnen und AktivistInnen Codelco-Chile División Salvador für die jahrelange Ableitung ihres Industriemülls und ihrer Bergbaurückstände in die Bucht vor dem Berufungsgericht in Copiapó und letztendlich dem Obersten Gerichtshof verklagten (Monroy 1999, Cortés 2014).
Die BewohnerInnen Chañarals organisierten sich in dem Ausschuss „Comité Cuidado por la Defensa del Medio Ambiente y el Desarrollo de Chañaral“, (Toro Araos 2017:27 f) welchem die Unterstützung einer Vielzahl lokaler und gemeinschaftlicher Organisationen zukam (Vergara 2011:149). Außerdem konnten über 1200 Unterschriften aus unterschiedlichen sozialen Bereichen gesammelt werden. Die Bewegung berief sich zudem auf die Verfassung von 1980, welche in Artikel 19, Nr. 8 „das Recht in einer unverschmutzten Umwelt zu leben“ festlegte (ebd.). Gemeinsam mit der Anklage gegen Codelco, verklagten sie den Staat als Mitverantwortlichen. Nicht nur, weil dieser seit Anfang der 1970er Jahre im Besitz des Unternehmens war, sondern gleichzeitig wegen seiner Tatenlosigkeit gegenüber dieser Umweltverschmutzung sowie der Tatsache, das oben genannte Recht der Bevölkerung auf eine saubere Umwelt nicht gewährleistet zu haben. In der Anklage wird auf die Paradoxie des staatlichen Handelns hingewiesen. Der Staat ließ einerseits kurz vorher nur wenige Kilometer nördlich von Chañaral den Nationalpark Pan de Azucar errichten, um den „großen Reichtum an unersetzlicher Flora und Fauna zu schützen“, während er gleichzeitig die Lebensräume und Ökosysteme im Meer und an den Küsten durch die giftigen Abwässer des Bergbaus zerstört“19. Die politische Bewegung in Chañaral, die unter anderem den genannten Rechtsstreit einleitete, entstand in einem Moment einer langsamen politischen Öffnung inmitten der Militärdiktatur. Ende der 1980er Jahre gab es zwar noch kein Umweltministerium in Chile, ökologische Themen und die Bekämpfung der Umweltverschmutzung erlangten allerdings schon eine gewisse Relevanz in den öffentlichen Debatten.
1988 urteilte der Oberste Gerichtshof gegen das staatliche Unternehmen und verordnete Codelco dazu, die Ableitung ihrer Abwässer und Tailings in den Río Salado zu stoppen und eine sichere Tailingdeponie zu errichten (Cortés 2010; Toro Araos 2017: 28). Dieses Gerichtsurteil stellte in vielerlei Hinsicht ein absolutes Novum in Chile dar, insbesondere was rechtliche Klagen gegen staatliche Unternehmen sowie den Themenbereich der Umweltverschmutzung anbelangt,20 erklärt der Historiker Humberto Barra (CB09). Durch das Urteil wurden die BewohnerInnen von Chañaral nicht nur in ihren Beobachtungen und Warnungen der letzten 50 Jahre bestätigt, sondern gleichzeitig zu einem zentralen Bezugspunkt späterer sozial-ökologischer Konflikte in Chile. In der Folge des Urteils baute Codelco das neue Auffangbecken Pampa Austral21 zur Lagerung seiner Tailings. Trotz des neuen Tailingdammes des Bergwerks blieben die Probleme in Chañaral allerdings weiterhin bestehen, da vom Gericht keine Entschädigungsleistungen zur Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen vorgesehen wurden (Corte Suprema 1988). Das Unternehmen wurde weder für die bestehende Umweltverschmutzung in Chañaral direkt verantwortlich gemacht noch zu einer Reparatur der Schäden verpflichtet (Toro Araos 2017:28). Vor allem die Luftverschmutzung durch den Feinstaub der Überreste der Tailings, stellen auch heute noch eine starke Belastung für die Gesundheit der BewohnerInnen dar (Cortés 2011:127 ff). Der juristische Stopp der Umweltverschmutzung durch die Tailings war gleichzeitig der Anfang eines langen Kampfes für die Dekontaminierung der Bucht, der Stadt Chañaral sowie der Wiederherstellung des Hafens und der Lebensräume innerhalb der Bucht.
Die heutige Bevölkerung sieht das damalige Gerichtsurteil als einen großen symbolischen Sieg, der allerdings über einen rein symbolischen Charakter nicht hinausgegangen sei, da die bestehende Umweltbelastung nie behoben wurde. Für viele BewohnerInnen wie etwa Raquel, die als Köchin in einem kleinen Wagen an der Strandpromenade arbeitet, ist dies auch der Beweis dafür, dass sie als Betroffene niemals gegen das Unternehmen ankommen würden:
„Vor 50 Jahren haben wir gegen Codelco gewonnen. Glaubst du sie hätten seitdem irgendetwas gemacht? Wenn wir einen Gerichtsstreit gegen ein so großes Unternehmen wie Codelco gewonnen haben, sollten wir heute gute Ärzte, gute Krankenhäuser hier in Chañaral haben. Weil wir die Kollateralschäden für Chile ertragen mussten […] Was soll man machen? Kann man gegen den Staat vorgehen? Wann wird man sowas wirklich gewinnen? Wir haben gegen ein großes Unternehmen gewonnen und was hat es uns gebracht? […] wir hatten gute Anwälte. Aber sag mir, was hat es uns gebracht, wenn wir heute genauso dastehen wie vorher? Wir sind genauso verseucht wie vorher, jetzt eigentlich noch mehr“ (Raquel Interview CB16).

8.3.2 Staatliche und unternehmerische actions zur symbolischen Unsichtbarmachung der Umweltbelastung

Die kosmetischen unternehmerischen und staatlichen Maßnahmen zur „Lösung“ des Tailingproblems
Seit der Niederlage Codelcos vor Gericht führte das Unternehmen unterschiedliche Maßnahmen zur Eindämmung und Abschwächung der bestehenden Umweltverseuchung durch. Sie erwiesen sich – wie im Folgenden deutlich wird – im Nachhinein allerdings allesamt als unwirksam. Auch die verschiedenen Versuche, die lokale Wirtschaft anzukurbeln und aus Chañaral bspw. einen attraktiven Tourismusort oder zumindest ein Vorzeigemodell einer gelungenen Dekontaminierung und wirtschaftlichen Neuorientierung zu machen, scheiterten. Dass die positive Wirkung all dieser Verfahren ausblieb, führte teilweise noch zur Verschlimmerung der Gesundheitsschäden, weil sich die Bevölkerung – in dem Glauben das Problem sei behoben – den giftigen Chemikalien zeitweise stärker aussetzte (Gonzalez 2018:3).
Eine der Maßnahmen, um die Verseuchung der Bucht von Chañaral einzudämmen, bestand in der Aufforstung des verseuchten Gebietes der Bucht (González 2018:4). Die ständige Bewegung der Überreste der Tailings durch die Wellen und die Gezeiten (Ebbe und Flut) einerseits sowie die Verbreitung der giftigen Partikel durch die Luft (das extrem trockene Klima und die Küstenluftströmungen begünstigen das Aufkommen von Staub), stellen bis heute ein besonderes Gesundheitsrisiko für die BewohnerInnen dar (Dr. Mario Cuevas, Interview CE02). Besonders der nördliche Stadtteil Aeropuerto ist davon betroffen (Santos, J. 1995:11). Die BewohnerInnen hatten zum Schutz vor diesem giftigen Staub in den 1990er Jahren – genau wie im Fall Pabellón (siehe Kapitel 6) – Netze vor den bewohnten Gebieten aufgespannt (Gonzalez 2018:4). 2001 wurde von Codelco ein Bewässerungssystem installiert, das zum Ziel hatte, durch die Befeuchtung des „Strandes“, die Verbreitung des Feinstaubs zu verhindern.22 Im gleichen Jahr vereinbarten Codelco División Salvador und die nationale Forstbehörde Corporación Nacional Forestal (CONAF) ein Abkommen zur Aufforstung des verseuchten Gebiets mit dem Namen „Experiencia de forestación y control de dunas de relave en la bahía de Chañaral“ (González 2018:5). Das Ziel war es demnach, eine pflanzliche Abdeckung der Dünen herzustellen. Nachdem anfänglich in der Zeitung La Nación vom 18. Dezember 2003 von einem Erfolg und einer Ausweitung der bepflanzten Fläche auf 12.000 Quadratmeter die Rede war, wurde das Abkommen zwischen der Forstbehörde und dem Unternehmen verlängert. In einem Bericht von CONAF zu diesem Projekt, der noch im gleichen Jahr erschien, ist allerdings eine starke Kritik am Projektpartner Codelco formuliert. Das Projekt sei vom Unternehmen wegen seiner medialen Wirkung ausgenutzt worden. Die mehrmals von CONAF formulierten Bedenken gegenüber der Effektivität einer Aufforstung in diesem Gebiet wurden konsequent ignoriert. Auf diese Weise seien große Mengen an menschlichen und materiellen Ressourcen in ein Projekt investiert worden, das zum Scheitern verurteilt gewesen sei (CONAF 2006: 40). Obwohl das Projekt schließlich nur aus einem dünnen „Vorhang“ durch die Pflanzung von 1.200 Bäumen bestand, wurde es auch in den lokalen Medien bis 2009 als großer Erfolg gefeiert (Gonzalez 2018:5). Heute ist kein einziger dieser Bäume übrig.23 Entgegen seines offensichtlichen Scheiterns wurde dieses „erfolgreiche Projekt“ allerdings noch im gleichen Jahr 2003 vom damaligen Präsidenten Ricardo Lagos für seinen Beitrag zur Strategie, Chañaral zu dekontaminieren, hoch gelobt. 2012 folgte später ein weiteres Aufforstungsprojekt, das von Codelco zusammen mit der Universidad Austral de Chile (USACH) mit dem Ziel durchgeführt wurde, den Strand zu stabilisieren. Auch dieses Projekt existiert heute nicht mehr (Gonzalez 2018; eigene Feldforschung 2019).
Ein weiteres Projekt, das der sozialen und wirtschaftlichen Entschädigung dienen sollte, war der sogenannte Balneario Bicentenario para Chañaral. Dabei handelte es sich um ein ambitioniertes städtebauliches Projekt, das zum Ziel hatte, Chañaral wieder in einen attraktiven Badeort zu verwandeln (González 2018:6). Auf diese Weise sollte auch der Ruf der Stadt aufgewertet werden. 2007 wurde das umstrittene Projekt von der zentralen Regierung genehmigt und seine Finanzierung – besonders mit dem Ziel, den Tourismus anzukurbeln – gesichert. Wie die Tageszeitung El Mercurio am 21. April 2007 vermerkte, handelte es sich um eine Finanzierung im Umfang von 7,8 Millionen US-Dollar, mit denen insgesamt 23 Hektar mit Vergnügungsparks, einer Strandpromenade, Grünflächen, Museen, Monumenten und Kulturzentren bebaut werden sollten (ebd. 7 f). Da all dies direkt auf dem kontaminierten Areal des Strandes errichtet werden sollte, handele es sich dabei auch um eine Milderung der Umweltverschmutzung, da ein Teil des Feinstaubs durch die geplanten Bauten gefestigt werde und nicht weiter in die Luft aufsteigen könne, betonte der damalige Bürgermeister Héctor Volta (González 2018:7). Diese „touristische und ökologische Initiative“ wurde allerdings von Anfang an von lokalen und nationalen NGO kritisiert. Da es sich nicht um einen Strand, sondern rein materiell um Tailings handele, auf denen das Projekt erbaut werden sollte, sei der ausgewählte Ort nicht als Freizeitort geeignet und würde ein gesundheitliches Risiko für die lokale Bevölkerung sowie für die geplanten TouristInnen darstellen (Gonzales 2018:7). Die Stiftung Terram etwa wies erneut darauf hin, dass es sich hierbei um die größte Umweltkatastrophe im Pazifikraum handele, weshalb darauf auf keinen Fall öffentliche Freibäder errichtet werden dürften.24 Während alle vorherigen Projektevaluierungen seitens staatlicher Behörden eine positive Bilanz gegenüber dem Projekt gezogen hatten, beschloss die regionale Umweltkommission von Atacama 2007 nach langen Verhandlungen dem Projekt aufgrund einer Reihe von Unregelmäßigkeiten die Zulassung zu entziehen. Zu diesem Zeitpunkt waren allerdings schon drei Schwimmbäder erbaut worden, die dann 2007 vom Regionalbüro des Gesundheitsministeriums (Seremi de Salud Atacama) aufgrund der gesundheitsschädlichen Umgebung wieder geschlossen werden mussten. Dennoch baute die Gemeinde mit eigenen lokalen öffentlichen Geldern im Juli 2007 eine Strandpromenade, welche erneut Wasserbecken zum Baden beinhaltete. Nachdem Beschwerden von BewohnerInnen eingegangen waren, wiesen das Gesundheitsamt und das regionale Gesundheitsministerium im Jahre 2010 erneut auf die gesundheitsschädliche Umgebung hin und stellten Warnschilder mit der Aufschrift „Dieser Ort ist nicht als Erholungs-/Freizeitort geeignet, da es sich dabei um einen massiven Lagerplatz für Tailings aus dem Bergbau handelt“ (Cortés 2014:89) auf (Seremi de Salud Atacama 2010). Der damalige Bürgermeister Héctor Volta äußerte sich daraufhin verärgert in der Zeitung Diario Atacama und stellte die Berechtigung der Behörde, kommunale Schilder zu errichten, in Frage. Demgegenüber begrüßten lokale Initiativen die Warnungen des Ministeriums und stellten selbstständig weitere Schilder auf. Diese wurden allerdings innerhalb von kürzester Zeit von der Gemeinde entfernt, so Cortés (2010).
Das Unternehmen Codelco hat in all den Jahren außer der oben erwähnten vorwiegend kosmetischen Maßnahmen nichts zur Eindämmung der Risiken für Umwelt und Bevölkerung, die von den Tailings in Chañaral ausgehen, unternommen. Die genannten Projekte bearbeiten die gesundheitlichen und ökologischen Probleme, die die Tailings in Chañaral verursachen, auf rein oberflächliche Weise und die strategischen Allianzen zwischen Codelco und der Gemeinde sowie der lokalen und regionalen Regierung gehören zur Marketingstrategie des Unternehmens. Auf diese Weise wird die Kontinuität der Bergbauarbeiten in der Mine División Salvador gewährleistet, das Schweigen der lokalen Behörden gesichert und der Widerstand der Bevölkerung eingedämmt.
Nach der Berechnung von ExpertInnen sind die Kosten einer Dekontaminierung Chañarals in etwa drei Mal so hoch wie die Kosten für einen kompletten Wiederaufbau der Stadt an einem anderen Ort (Cortes 2014:79).25 Trotzdem kündigte Codelco im Jahr 2000 an, 300 Millionen US-Dollar zur Dekontaminierung der Stadt zu investieren – etwa die Hälfte der errechneten, notwendigen Summe. Allerdings sei dieses Geld nie in der Gemeinde von Chañaral angekommen, genauso wenig wie die vielen versprochenen Infrastrukturprojekte. Das Engagement des Unternehmens beschränkt sich auf eine „Política del Buen Vecino“ (Politik des Guten Nachbars) und „Politicas de responsabilidad social empresarial“ (CSR-Politik), schreibt der lokale Aktivist Manuel Cortes (2014:79). Anders als in Tierra Amarilla liegt das Unternehmen zudem ca. 150 Kilometer entfernt von der verseuchten Kleinstadt, weshalb letztere weder durch die Einbindung der Bevölkerung als Arbeitskraft im Unternehmen profitiert, noch indirekte Arbeitsplätze durch die örtliche Präsenz des Unternehmens geschaffen werden. Die räumliche Distanz und die Tatsache, dass Codelco ein staatliches Unternehmen ist, führen dazu, dass trotz großzügiger Finanzierungen von Projekten durch das Unternehmen sowie einer phasenweise starken CSR-Politik, keine direkte territoriale Macht (Landherr & Graf 2017, 2021) des Unternehmens in Chañaral besteht. Dafür kann eine viel stärkere Intervention staatlicher Behörden zu Gunsten des Unternehmens beobachtet werden als in den anderen beiden Fällen sowie gleichzeitig der schon beschriebene wiederholte Einsatz von Symbolpolitik durch das Unternehmen, durch die scheinbare Lösungen inszeniert werden.
In diesem Sinne organisiert Codelco bspw. regelmäßig die sogenannten „Caminatas Vida Sana“ (Spaziergänge für gesundes Leben), die direkt auf dem verseuchten Strand stattfinden. An einem Ort, an dem niemand den giftigen Chemikalien entkommen kann, „die sich dort auf Grund der Verantwortungslosigkeit des Unternehmens befinden, klingt eine solche Kampagne, die die Menschen zu einem gesunden Lebensstil auffordert, schon fast zynisch“, so Sergio Puebla, der in Chañaral wohnt (CB06). Dass die Spaziergänge zu allem Überfluss direkt auf den Tailings stattfinden, was dazu führt, dass BewohnerInnen sich den Schadstoffen direkt exponieren, sei zudem verantwortungslos, meint der Umweltaktivist Manuel Cortés (2014). Gleichzeitig ignoriert Codelco erstens die Studien, die nachweisen, dass die hohen Schwermetallwerte bei Schulkindern durch die Tailings am Strand verursacht werden (siehe Abschnitt 8.4.2) und versucht zweitens die Ergebnisse dieser Studien aktiv zu vertuschen oder diese zu widerlegen (Cortés 2014:79). Genau wie in Tierra Amarilla können hier eine aktive Unsichtbarmachung des bestehenden Umweltproblems sowie die Herstellung von Ungewissheit unter der Bevölkerung (doubt producing) durch das vor Ort dominante Bergbauunternehmen konstatiert werden.
Die aktive Unsichtbarmachung durch Codelco beschreibt auch Manuel Cortés – Mitglied der lokalen Umwelt-NGO Chadenatur – in seinem erstmals 2010 erschienen Buch zum Umweltskandal von Chañaral. Eines der größten Hindernisse im Kampf der Bevölkerung und der Zivilgesellschaft zur Säuberung und Dekontaminierung von Chañaral sei bisher die enge Verknüpfung zwischen der besitzenden Klasse und der Politik und in dem Fall von Codelco zwischen dem Unternehmen und dem Staat gewesen (Cortés 2014: 85 ff). Politische und wirtschaftliche Interessen seien im Fall von Codelco gleichzeitig Staatsinteressen (ebd.:77). Zur Imageaufwertung des großen staatlichen Unternehmens schrecke der Staat auch nicht vor der Manipulation und der Zurückhaltung wichtiger Informationen für die Gesundheit der Bevölkerung zurück (ebd.:87). Cortés nennt dafür unzählige – teilweise in dieser Arbeit schon beschriebene – Beispiele. Selbst das Umweltministerium war daran beteiligt. So veröffentlichte etwa die damalige Umweltbehörde CONAMA 1996 Studien mit falschen Zahlen über die Umweltverschmutzung in Chañaral. Auch das Gesundheitsamt ignorierte laut Cortés gleich mehrmals beunruhigende Ergebnisse bezüglich der gesundheitlichen Folgen der Tailings für die Bevölkerung. Im Jahr 2000 wurden im Zuge der hohen Risikowahrnehmung der Bevölkerung die Urinwerte der BewohnerInnen von den Gesundheitsbehörden gemessen und als normal eingestuft, um die Sorgen als unberechtigt darzustellen (Cortés 2009). Kurz darauf wurden mehrere wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt, die diesen behördlichen Informationen widersprachen und ausnahmslos die gesundheitlichen Risiken der Bevölkerung als hoch einstufen (ebd. und Abschnitt 8.4.1).
Die Gemeinde wiederum ignorierte nicht nur die Beschwerden der Bevölkerung, sondern zudem mehrfach auch Gesetze wie den Código Sanitario und die Ley Orgánica Constitucional de Municipalidades sowie die Richtlinien mehrerer Ministerien. Die Gemeinde habe, laut Cortés, zudem die rechtliche Verpflichtung, die Bevölkerung vor Gericht im Falle einer Umweltverschmutzung dieser Art zu vertreten, in keinem Fall eingehalten. „Die Liste der kommunalen, regionalen und nationalen Behörden, die in diesem Fall weggeschaut haben, ist lang“ schlussfolgert Cortés (2014:89 ff). Zudem habe der lange Kampf und die ständige Enttäuschung durch die wiederholten neuen ungeeigneten Lösungsangebote zur „städtischen Lethargie“ geführt, beschreibt Pablo González (2018:9). Der leichtfertige Umgang der Behörden mit der Gesundheit der BewohnerInnen habe das Vertrauen in die staatlichen Behörden langfristig geschädigt. Auch die Verschmutzungsquellen sind bis heute noch nicht gänzlich behoben. So werden die aufbereiteten Abwässer des erbauten Tailingdammes weiterhin über den Rio Salado in das Meer geleitet und ebendieses Wasser als Gießwasser für die Landwirtschaft genutzt (Cortés 2014: 53).26
Die symbolische Unsichtbarmachung der Tailings
Während staatliche Behörden einerseits untätig blieben, was eine langfristige Lösung eines der größten Umweltskandale des Landes anbelangt, waren sie immer wieder äußerst aktiv an der symbolischen Unsichtbarmachung der Umweltbelastung in Chañaral beteiligt. Eine der ersten Maßnahmen dieser Art war die Errichtung des Nationalparks Pan de Azucar. Dieser hatte das Ziel, die besonders reiche Artenvielfalt und die einzigartige lokale Tier- und Pflanzenwelt zu schützen.27 Der am 7. Oktober 1985 gegründete Park liegt 30 Kilometer nördlich von Chañaral. Die TouristInnen, die er anzieht und die in Chañaral übernachten, sind bis heute die einzige touristische Einnahmequelle der Stadt. Auch das Gebiet des Nationalparks ist allerdings direkt von der Umweltverschmutzung durch den Bergbau betroffen. Die heutige Mündung des Río Salado, durch den immer noch Tailings abgeleitet werden, liegt nur fünf Kilometer von der südlichen Grenze des Parks entfernt. Der kleine blutrote, nachweislich mit Schadstoffen belastete28 Fluss fließt in die Bucht Caleta Palitos, in der heute so gut wie keine Fische und Meerestiere mehr vorzufinden sind. Die erhöhte Schadstoffkonzentration im Meer ist noch 70 Kilometer nördlich inmitten des Nationalparks nachweisbar.29 Diese Umweltverschmutzung im geschützten Gebiet des Nationalparks wurde schon 1987 im Rahmen des Gerichtsstreits vom damaligen Direktor von CONAF (Corporación Nacional Forestal), der auch für diesen Park verantwortlich ist, bestätigt. Er äußerte schon damals seine Sorgen bezüglich eines möglichen Schadens für die seltenen dort lebenden Humboldtpinguine. Auch andere Studien, die teilweise vom Gesundheitsministerium oder in dessen Auftrag angefertigt wurden, zeigen, dass sowohl der Fluss, die Fische, als auch die Küste und der Meeresboden des Nationalparks sehr stark verseucht sind (Monroy 1999). Derselbe Ort, der offiziell staatlich geschützt, als „Oase inmitten der Wüste“ beschrieben und für sein seltenes und einzigartiges Pflanzen- und Tierreich beworben wird,30 wird gleichzeitig wissentlich von einem staatlichen Unternehmen verseucht.
Diese widersprüchliche Konstellation durchzieht allerdings nicht nur staatliches Handeln, sondern auch die beschriebene unternehmerische Politik der guten Nachbarschaft und schließt mediale Kampagnen mit ein. Um die endgültige Lösung der Umweltprobleme in Chañaral und den Erfolg der staatlichen und unternehmerischen Dekontaminierungsprogramme ganz offiziell und demonstrativ zu bestätigen, badete der damalige chilenische Präsident Ricardo Lagos im Dezember 2003 am Strand in Chañaral und ließ sich dabei von der lokalen und nationalen Presse fotografieren. Das dabei entstandene Pressebild ging durch alle nationalen Fernsehsender und Tageszeitungen Chiles.
Das breit inszenierte Bad des damals amtierenden Präsidenten zielte darauf, das Bild zu vermitteln, die Verseuchung der Bucht sei für alle Male gelöst und das Betreten, Baden und Nutzen des Strandes gesundheitlich unbedenklich. Gleichzeitig sollte damit signalisiert werden, dass nach dem zusammen mit CONAF durchgeführten, angeblich erfolgreichen Bepflanzungsprojekt in der ganzen Stadt keine Umweltverseuchung mehr bestehe. Dazu eingeladen haben Ricardo Lagos die Gemeinde und das Unternehmen Codelco, um die „Erholung Chañarals“, zu feiern.31 Bei seiner Ankunft erwarteten ihn die damalige Intendantin der Region Atacama und spätere Präsidentschaftskandidatin Yasna Provoste, die Gouverneurin Clara Ossandon sowie der Bürgermeister Héctor Volta. Außerdem waren der Generaldirektor der División Salvador von Codelco, Julio Fuentes, der Kommunikationsleiter des Unternehmens, Eduardo Silva, sowie JournalistInnen und einige AnwohnerInnen anwesend. Gut inszeniert und nur mit einer blauen Badehose bekleidet, sprang der Präsident Lagos vor laufenden Kameras kopfüber ins Meer. Der Bürgermeister, Yasna Provoste, sowie andere der Anwesenden folgten ihm bekleidet in die Wellen. Sofía, eine Anwohnerin, erlebte die Situation folgendermaßen:
„Einmal kam hier ein chilenischer Präsident vorbei und hat sich dort am Strand gebadet […], wenn man da badet, juckt einen danach alles. In dieser Zeit kam er und hat eine riesige Kampagne gemacht, damit wir den Strand wieder benutzen und um das Thema der Schadstoffe ein bisschen zu vertuschen, er meinte also öffentlich, dieser Strand sei zum Baden geeignet und er hat sich tatsächlich dort gebadet, mit samt seinen Anhängern. Aber nein, das sollte man an diesem Strand nie […] Danach erlebte der Strand tatsächlich einen Aufschwung. Die Leute gingen wieder dort baden, spielten Fußball. Aber bald ist wieder das gleiche passiert. Weil man es doch weiß, die Menschen hier wissen das und sie haben die vielen vor allem an Krebs erkrankten Leute mit den Schadstoffen in Verbindung gebracht“ (Sofía CB10).
Das einmalige präsidentielle Bad entfaltete kurzweilig eine größere Wirkung als jede zuvor erstellte wissenschaftliche Studie oder das Urteil des Obersten Gerichtshofs und wurde jahrelang als Startpunkt eines Neuanfangs und Beweis für eine erfolgreiche Umweltrestaurierung herangezogen. In der Folge wurden auch die oben bereits beschriebenen und später stillgelegten Infrastruktur- und Tourismusprojekte initiiert. Damals wurde die Harmlosigkeit des Strandes inszeniert und sogar seine künstliche Schönheit hervorgehoben. Aus heutiger Sicht gilt dieser symbolische Akt allerdings auch in der nationalen Öffentlichkeit Chiles als „Verspottung der Betroffenen“32 und als Paradebeispiel der verantwortungslosen Vertuschung33 eines bis heute bestehenden und für die Betroffenen weiterhin höchst gesundheitsschädlichen34 Umweltproblems seitens des Staates.
Das Bad des Präsidenten ist folglich eine symbolische und aktive Unsichtbarmachung mit einer sehr starken medialen Wirkung. In dieser Aktion simulierte Ricardo Lagos, der verseuchte Strand sei ein dekontaminierter öffentlicher Badeort. Dabei ignorierte er allerdings nicht nur dessen tatsächliche chemische Zusammensetzung, sondern auch die mangelnde physische Stabilität. Die chilenische Küstenwache stufte diesen Strandabschnitt schon Jahrzehnten zuvor als „ungeeignet zum Schwimmen“ ein, da die starke Strömung zusammen mit den künstlichen „Sandmassen“ einen gefährlichen Sog erzeugen, der schon viele SchwimmerInnen das Leben gekostet habe. Das symbolische Bad sei, laut Manuel Cortés, also nicht nur Teil einer Medienkampagne, um Codelco reinzuwaschen, sondern zudem in mehrfacher Hinsicht ein sehr schlechtes Vorbild (Cortés 2014:80).
Auch die vom chilenischen Staat und Codelco finanzierten, oben beschriebenen (Infrastruktur-)Projekte in Chañaral trugen nicht zur grundsätzlichen Lösung der ökologischen Schäden und gesundheitlichen Risiken bei, sondern suggerierten der lokalen Bevölkerung eine trügerische Sicherheit. So erweckten auch die oben genannte Strandpromenade und der dazu gehörige geplante Vergnügungspark mit Schwimmbädern genauso wie das das große Krankenhaus, in dem sowohl medizinische Geräte als auch SpezialistInnen und medizinisches Personal im Allgemeinen fehlen, zwar den Anschein eines anwesenden und kümmernden Staates und einem um Wiedergutmachung bemühten Unternehmens, ohne allerdings eine Lösung für die grundlegenden sozial-ökologischen Probleme vor Ort zu bieten, die ich im folgenden Abschnitt ausführlich darlegen werden. Den Maßnahmen der Unsichtbarmachung gelang es allerdings, den Konflikt zwischen lokaler Bevölkerung und Staat bzw. staatlichem Bergbauunternehmen über einen längeren Zeitraum latent zu halten. Obwohl auch in dieser zweiten Phase erneut einige wissenschaftliche Untersuchungen die Verseuchung des Strandes nachwiesen und UmweltaktivistInnen – allen voran Mitglieder der lokalen NGO Chadenatur – sich langsam wieder dem Thema der Tailings widmeten, verschwand das Problem in dieser Zeit für einige Jahre komplett aus der öffentlichen Wahrnehmung und nach eigenen Angaben der Interviewten größtenteils auch aus dem Bewusstsein der Betroffenen.

8.4 Dritte Phase – Die letzten zehn Jahre in Chañaral (2013–2022): Ein Schwanken zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

Nach einer längeren Phase der Unsichtbarkeit der Tailings in Chañaral sind diese in den letzten Jahren hauptsächlich durch zwei Faktoren wieder öffentlich als schwerwiegendes sozial-ökologisches Problem thematisiert worden. Die erneute Sichtbarkeit wurde einerseits durch eine Reihe neuer medizinischer Untersuchungen ab dem Jahr 2013 hervorgerufen, die erstmals landesweit gesundheitliche Folgen direkt mit den Tailings in Verbindung bringen konnte (siehe Abschnitt 8.4.1). Andererseits ist sie auch durch die zwei schweren Überschwemmungen in den Jahren 2015 und 2017 verstärkt worden (siehe Abschnitt 8.4.4). Durch sie wurde ein großer Bereich der Stadt, inklusive die gesamte Innenstadt und der Bereich des verseuchten Strandes überflutet und teilweise ins Meer gespült (siehe Abbildungen 8.2 und 8.4). Nachweislich hat die Flutwelle auch Teile entfernter gelegener Tailingdeponien auf ihrem Weg durch das Tal mitgerissen, in die Stadt Chañaral getragen und auf diese Weise noch mehr Schadstoffe in das Gebiet befördert. Die Spuren der Verwüstung sind auch Anfang 2019 – vier Jahre nach der besonders starken Überschwemmung von 2015 – noch deutlich sichtbar. Die schockierenden Bilder, die tragischen Erinnerungen, und die schweren Verluste, die diese Überschwemmung verursachte, sitzen bei vielen AnwohnerInnen noch tief, weshalb auch die Interviews mit den BewohnerInnen stark von diesem Ereignis geprägt sind.
Im Folgenden werden zunächst die bestehenden wissenschaftlichen Studien zur Schadstoffbelastung der Bucht dargestellt (Abschnitt 8.4.1), um dann die anhand der Feldforschung und besonders der geführten Interviews konstatierte Risikowahrnehmung und lokale Sichtbarkeit der Tailings (Abschnitt 8.4.2) sowie das unter der Bevölkerung bestehende Wissen über ihre Auswirkungen (Abschnitt 8.4.3) darzustellen. Darauffolgend wird die Rolle der Überschwemmungen in der Sichtbarkeit der Schadstoffbelastung Chañarals wegen ihrer besonderen Relevanz in den Erzählungen der Betroffenen gesondert beschrieben (Abschnitt 8.4.4). Anschließend werden die ökonomischen Interessen dargelegt, die die Problemlösung der Tailings behindern (Abschnitt 8.4.5), sowie die beobachtete staatliche inaction (Abschnitt 8.4.6) und der derzeitige Umgang der Betroffenen mit der Umweltverschmutzung (Abschnitt 8.4.7) beschrieben.

8.4.1 Wissenschaftliche Untersuchungen und erste Studien zu gesundheitlichen Folgen der Tailings

Der steinige Weg der wissenschaftlichen Wissensgenerierung über die Schadstoffbelastung durch die Tailings von Chañaral
Nach dem 1988 gewonnenen Gerichtsstreit wurden über 36 wissenschaftliche Studien zum Fall Chañaral erstellt (Cortés 2014:36–40, 45 ff).35 Dabei wurden bspw. Luft-, Wasser- und Bodenqualität und deren Belastung durch unterschiedliche Chemikalien und Schwermetalle geprüft sowie die Geomorphologie der Bucht untersucht. Teilweise wurden auf diese Weise extrem hohe Konzentrationen von etwa Kupfer, Eisen, Arsen, Zink, Zyanid, Blei, Quecksilber, Molybdän usw. nachgewiesen (für eine genaue Übersicht der Werte siehe Cortés 2014: 29–30). Die Kupferwerte im Meereswasser lagen dabei bspw. 3000-mal über den international erlaubten Richtwerten (ebd.: 31). Untersucht wurde außerdem die Präsenz der genannten Elemente in Fischen und Meeresfrüchten. Es bestätigten sich dabei auch die Ergebnisse vorherige Studien. Erneut konnte einerseits das Verschwinden der meisten Pflanzen und Tierarten in einer Bucht, die für ihre Artenvielfalt bekannt war, nachgewiesen werden (Cortés 2014: 29–32). Andererseits konnte in den weiterhin dort existierenden Lebewesen extrem hohe Werte all der oben genannten Substanzen festgestellt werden.36 Besonders interessant an den Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchungen ist allerdings, dass die Schadstoffbelastung vor Ort seit der Umleitung der Tailings keineswegs abnimmt, sondern sich weiterhin „leise und schleichend ausbreitet“ (ebd.: 45). Es ist also bisher keineswegs eine langsame Erholung der Umwelt zu beobachten.
Außerdem wurden erste wissenschaftliche Ergebnisse veröffentlicht, die darauf hinweisen, dass die in den Tailings enthaltenen Chemikalien und Schwermetalle auch in die Körper der anliegenden Bevölkerung gelangen können37. Daraus lassen sich folgende Risikofaktoren für die Gesundheit der BewohnerInnen ableiten, die von dem Aktivisten Manuel Cortés in seinem Buch La Muerte Gris de Chañaral zusammengetragen wurden (Cortés 2014: 21 ff). Erstens sei die Verseuchung der Wasserquellen problematisch, da bspw. durch das Baden im Meer oder Fluss die chemischen Substanzen direkten Kontakt mit der Haut hätten. Schlimmer noch sei es, wenn die Verschmutzung zweitens das für den Konsum bestimmte Trinkwasser betreffe, da die Substanzen hierdurch direkt in den Organismus gelangen könnten. Ein weiterer Kontaminierungsfaktor sei drittens die Ernährung: die Verseuchung der lokal angebauten Lebensmittel (hauptsächlich Gemüse und Früchte) könne nicht ausgeschlossen werden, der hohe Gehalt an Schwermetallen und Chemikalien in Meerestieren und Fischen wurde durch mehrere Studien belegt. Der Feinstaub könne sich viertens an dem bereits zubereiteten Essen festsetzen und dadurch in den Verdauungstrakt gelangen, wo er besonders schädlich ist. Fünftens gelangten die giftigen Substanzen in den allermeisten Fällen direkt durch die Luft in die Körper der Menschen. Das trockene Klima begünstigt die Entstehung von (Fein)Staub, der durch die starken Winde an der Bucht aufgewirbelt wird. Das feine Mahlen der Erze im Produktionsprozess des Bergbaus führt zudem dazu, dass Tailings in ihrer späteren trockenen Lagerform als Feinstaub in die Lunge und somit in den Organismus von Lebewesen gelangen können (Cortés 2014: 26 ff).
Zu den oben genannten wissenschaftlichen Studien aus unterschiedlichen Fächern und mit diversen Forschungsinteressen, kommen außerdem eine Reihe medizinischer Studien, die versuchen, diese Substanzen auch in den Körpern der Betroffenen nachzuweisen.38 Dr. Andrei Tchernitchin, einer der renommiertesten Toxikologen Chiles und Präsident der Kommission für Umweltmedizin des Colegio Médico (des chilenischen Ärzteverbandes), wies erstmals Anfang der 2000er Jahre auf die hohe Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Konsequenzen der hohen Schadstoffbelastung für die Gesundheit der BewohnerInnen von Chañaral hin. In einem Interview in der Zeitung Diario Atacama am 31. Dezember 2003 beteuerte er die Notwendigkeit, so bald wie möglich weitere Untersuchungen zur Schadstoffbelastung der Bevölkerung anhand von Blut- und Urinproben durchzuführen: „In solch trockenen Gebieten, in denen es kaum Niederschläge gibt, dafür aber einen hohen Verdunstungsgrad […] steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der feine Staub die naheliegende Bevölkerung sehr leicht verseuchen kann.“ Bei einem einmaligen Kontakt, wie bspw. dem Bad des Präsidenten Lagos, sei das Risiko für eine spätere Erkrankung gering: „Ein einziges Bad kann höchstens zu Hautirritationen führen […] eine kontinuierliche Exposition birgt allerdings die Gefahr einer chronischen Aufnahme des Organismus von giftigen Substanzen, vor allem über die Atemwege oder die Ernährung, was wiederum zu späteren Krankheiten führen kann“39.
Im Jahr 2009 führte die Ärztin Dra. Sandra Cortés eine weitere Untersuchung in Chañaral durch, in der einerseits die Konzentration der Schwermetalle in den Körpern der BewohnerInnen gemessen und gleichzeitig ihr Gesundheitszustand festgehalten wurde. Alle gemessenen Substanzen (im Mittelpunkt standen Arsen, Kupfer, Blei und Nickel) wurden bei der gesamten Stichprobe in hohen Konzentrationen nachgewiesen (Cortés et. al 2016, Moya et al. 2019).40 Wobei sie bei fast 100 Prozent der untersuchten BewohnerInnen weit über den Richtwerten lagen (Cortés 2014:49). Außerdem waren bei Personen, die im Zentrum von Chañaral wohnen, die Arsen und Bleiwerte besonders hoch, während im Stadtgebiet Aeropuerto Nickel und Kupfer in hohen Konzentrationen vorzufinden waren (ebd.: 49). In einer gleichzeitig durchgeführten Umfrage bestätigte sich außerdem die schon von Dr. Tchernitchin formulierte Befürchtung, die Umweltverseuchung würde sich besonders negativ auf Ungeborene auswirken. So gaben 105 befragte Frauen an, bereits eine oder mehrere Frühgeburten erlitten zu haben (2,3-mal höher als bei der Vergleichsgruppe aus Arica). 46 von ihnen hatten zudem schon mindestens einmal eine Fehlgeburt (5,5-mal höher als bei der Vergleichsgruppe). Auch andere typische Erkrankungen wie etwa ein hoher Cholesterinspiegel oder Schilddrüsenüberfunktion kamen 1,5bis 2-mal häufiger vor. Bei 61,8 Prozent der untersuchten Schwangeren und Kinder wurden zudem erhöhte Bleiwerte im Blut nachgewiesen (ebd.).
Insgesamt unterscheidet sich Chañaral vor allem durch eine sehr hohe Krebs- und Sterberate an Krebs von vergleichbaren Städten in der Region.41 Krebs ist die Todesursache von über einem Drittel der BewohnerInnen Chañarals. Außerdem weist diese Zahl einen kontinuierlichen Anstieg von 28,5 Prozent im Jahr 1999 auf 36,9 Prozent im Jahr 2010 auf. Auch Atemwegs- und Lungenkrankheiten, Hautkrankheiten und Allergien sowie Augenprobleme sind unter der Bevölkerung weit verbreitet.42 Dies bestätigten nicht nur die Betroffenen vor Ort, sondern auch das Apothekenpersonal (CB03) und der Epidemiologe und Umweltgesundheitsexperte der Universidad de Chile, Dr. Mario Cuevas.
Bei all den bisher aufgeführten medizinischen Studien konnte zwar die Präsenz der Schwermetalle in Blut und Urin der Betroffenen nachgewiesen werden, die erhobenen Daten reichten allerdings nicht, um eine klare Verbindung zwischen dieser Tatsache und der Präsenz der Tailings herzustellen. Genau wie in Pabellón und Tierra Amarilla konnte bis dahin eine Kausalität zwischen Tailings und Gesundheitsrisiken nicht eindeutig bewiesen oder eine eindeutige Korrelation zwischen den beiden Faktoren anhand eines gezielt durchgeführten Vergleichs aufgezeigt werden. Während die Untersuchungen zwischen dem Gerichtsurteil von 1988 und 2013 kaum öffentliche Aufmerksamkeit erlangten bzw. deren Ergebnisse größtenteils auch nicht an die Betroffenen weitergeleitet wurden und erst durch das Buch von Manuel Cortés ein breiteres Publikum erreichten, haben die darauffolgenden medizinischen Untersuchungen, besonderes durch mehrere Publikationen ab 2013, für größeres Aufsehen innerhalb und außerhalb von Chañaral gesorgt, da sie einen direkten Zusammenhang zwischen den Krankheiten der Bevölkerung Chañarals und dem durch Tailings verseuchten Strand herstellen konnten.
Der erste wissenschaftliche Nachweis der Gesundheitsbelastung durch die Tailings
Für den bis dahin fehlenden Nachweis eines direkten Zusammenhangs zwischen den Tailings und gesundheitlichen Auswirkungen in der Bevölkerung überlegten sich die Epidemiologen der Universidad de Chile, unter Leitung von Dr. Dante Cáceres, eine finanzierbare Untersuchung43, die genau dies ermöglichen würde: Sie nahmen sich vor, die Feinstaubkonzentration in der Luft aufzuzeichnen und gleichzeitig die Atemfunktion von Schulkindern44 zu überwachen, um dadurch eine eindeutige Korrelation herstellen zu können. Dafür wurden zwei Gruppen von Kindern verglichen, von denen die eine dem Feinstaub der Tailings ausgesetzt war und die andere nicht. Studien zu zurückliegenden Zusammenhängen von Organschäden, den Spätfolgen von hohen Schwermetallkonzentrationen im Blut oder gar dem Zusammenhang von Krebserkrankungen und der Präsenz von Tailings seien zeitlich und finanziell nicht durchführbar, erzählt einer der Ärzte im Interview. Es brauche daher Beweise für akute gesundheitliche oder toxikologische Effekte (CE02). Besonders die NGO Chadenatur übte bei den Behörden Druck zur Durchführung einer Studie über den Zusammenhang der Gesundheit der Bevölkerung und der Umweltverschmutzung von Chañaral aus (Siehe Interviews CE02 und CB06). Alle bisherigen Studien konnten nur beweisen, dass die Bevölkerung hohen Schadstoffkonzentrationen ausgesetzt war, sie konnten aber nicht die Folgen quantifizieren: „Hätten wir diese Forschungsgelder nicht bewilligt bekommen, gäbe es bis heute keine Beweise dafür“ sagt der Epidemiologe Cuevas (CE02). Die Ergebnisse der Studie waren eindeutig: „Wir haben schnell gesehen, dass alle Kinder, die dem Feinstaub und somit den Schadstoffen ausgesetzt waren, anders als diejenigen der Vergleichsgruppe gleichen Alters und Geschlechts, eine eingeschränkte Funktionsfähigkeit der Atemwege aufwiesen“ erklärt Cuevas und führt aus: „Außerdem haben wir den Feinstaub gemessen und Staubproben45 in den Schulen und bei den Kindern zuhause genommen und untersucht […] wir haben dabei herausgefunden, dass vor allem in diesem Staub die Schwermetallkonzentrationen übermäßig hoch ausfallen“ (CE02). Dr. Cuevas berichtet zudem, dass aus dieser Untersuchung vier Artikel und ein Buchkapitel veröffentlicht wurden (für eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse siehe Cáceres & Yohannessen 2018; Yohannessen 2014 oder Cáceres 2015). Darin wird dargestellt, dass besonders das Einatmen der Staubpartikel der Tailings zu einer starken Entzündung der Atemwege sowie der Lunge und mit der Zeit zu weiteren starken gesundheitlichen Folgen führen kann. Die Effekte dauerten bei einmaligem Einatmen nur bis zu drei oder vier Tage an. Die Kinder in Chañaral atmen diesen Staub allerdings täglich ein und leiden dementsprechend unter einer chronischen Entzündung. Welche Effekte dies langfristig mit sich bringe, sei noch unklar (CE02).
Auf die Frage nach der Art der Krankheiten, die durch die langfristige Schadstoffbelastung entstehen können und ob manche reversibel seien, falls die Kinder von Chañaral ferngehalten würden, erklärt Dr. Cuevas, es käme vor allem auf den Stoff an. Während beispielsweise Quecksilber wieder ausgestoßen wird, wenn die Quelle entfernt ist, häufen sich andere Stoffe mit der Zeit an, wie bspw. das Blei, das sei dann irreversibel, weil es vom Körper nicht mehr ausgeschieden werden kann (CE02). „Andererseits kannst du teilweise den spezifischen Schadstoff entfernen und er verschwindet aus deinem Organismus und trotzdem hat sich die Zellveränderung, die später zu einem Krebs führen wird, schon vollzogen“ (CE02). Generell sei es schwierig, Effekte auszuschließen, da es kaum möglich sei, die theoretischen Modelle ins reale Leben umzusetzen. Der menschliche Organismus sei komplex und habe Funktionen und Elemente, die teilweise in diesen Modellen nicht mitgedacht werden. Genauso wenig könnten Faktoren wie das menschliche Verhalten, Langzeiteffekte, das Zusammenwirken vieler unterschiedlicher Schadstoffe oder eben die Exposition in einem bestimmten Entwicklungsmoment eines Kindes bei Studien klar voneinander differenziert werden (CE02).
Wie schon im vorherigen Kapitel zu Tierra Amarilla beschrieben, konnte Dr. Tchernitchin in seinen Untersuchungen außerdem die Relevanz des Zeitpunkts der Exposition nachweisen. Besonders in der frühen Entwicklungsphase, also den ersten fünf bis sechs Lebensjahren und während der Schwangerschaft bringe die Schadstoffexposition schwere Schäden mit sich. In solchen Fällen reiche manchmal sogar schon ein einmaliger Kontakt mit einer hohen Konzentration der Chemikalien oder Schwermetalle.46 Oft würden die Konsequenzen dieser Exposition allerdings erst Jahre später deutlich sichtbar. So könne bspw. die Bleibelastung zu einer starken Intelligenzminderung und aggressivem Verhalten im Schulalter führen. Aufgrund der beunruhigenden Ergebnisse empfiehlt Dr. Tchernitchin den BewohnerInnen sowohl in den öffentlichen Medien als auch in Vorträgen vor Ort, dringlichst die Stadt zu verlassen und einen anderen Wohnort zu suchen.
Dr. Cuevas erklärt, um die eindeutigen gesundheitlichen Effekte, die erst nach längeren Zeiträumen nachweisbar sind, aufzuzeigen, sei es eigentlich notwendig, eine Messstation in Chañaral aufzustellen, die eine Überwachung der Schadstoffwerte über längere Zeit ermöglicht. Diese müsse allerdings von einer unabhängigen Institution betreut werden, da die BewohnerInnen Chañarals der Station von Codelco keinen Glauben schenken würden. Diese Zweifel an der Glaubwürdigkeit Codelcos werden auch durch Sandra von der NGO Chadenatur bestätigt: „Vor einiger Zeit gab es eine Überwachungsstation, bei der wir erfahren haben, dass eine Person bezahlt wurde, um die Werte anzupassen“ (CB12). Dies habe das medizinische Projekt auch teurer gemacht als zwingend notwendig, erzählt Dr. Cuevas: „Wir mussten selbstständig die Langzeitmessung zahlen, das hat monatlich drei Millionen Pesos (umgerechnet etwa 3400 Euro) gekostet und das über sechs Monate hinweg. Die Hälfte des Projektgeldes ist dafür draufgegangen. Direkt daneben war die Messstation von Codelco und wir hätten Zugriff auf die Daten bekommen, aber die Leute glauben diesen Daten nicht, dann bringt es auch nichts“, erklärt der Arzt (CE02). Ohne Daten über längere Zeiträume könnten nur die langsamen Veränderungen der Statistiken herangezogen werden, aber diese seien in Chañaral stark verzerrt (CE02).
Der dargelegte Forschungsansatz, der unter der Leitung von Dr. Cáceres umgesetzt wurde, mag auf den ersten Blick einfach klingen und sich nicht maßgeblich von anderen Studien zu diesen und anderen Tailings in Chile unterscheiden. Die Forschung mitsamt ihren Ergebnissen ist allerdings bahnbrechend, da sie chileweit erstmalig eine direkte Korrelation zwischen Umwelt- und Gesundheitsschäden durch Tailings beweist. Das ist auch der Grund, warum die Studie in den öffentlichen nationalen Medien erschien und eine starke Resonanz erhielt. Das erzählt auch der an der Studie beteiligte Arzt Dr. Cuevas:
„Die Ergebnisse unserer Untersuchung waren für die öffentliche Wahrnehmung ziemlich skandalös […] in fast allen Medien kam etwas dazu, hier und dort, ich wurde ständig von irgendwelchen Radiosendern angerufen, von der BíoBío, von der Agricultura, von der Cooperativa, aber dabei ist es dann auch geblieben. Ich habe damals gesagt, dass es einen gesundheitlichen Effekt gibt und natürlich auch, dass es sich dabei um Atemprobleme handelt und die Funktionsfähigkeit der Lunge und der Atemwege beeinträchtigt werden und dass dies teilweise reversibel sein könnte. Außerdem handelt es sich um besonders verwundbare Bevölkerungsgruppen. Es gibt einen großen Unterschied, ob man neben einer solchen Schadstoffquelle in einem schicken, gut isolierten Haus wohnt, die beste Ernährung genießt und über ein gutes soziales Kapital verfügt oder ob du so lebst wie die Menschen dort. Das ist eben nicht das gleiche, sie sind viel verwundbarer gegenüber der Verseuchung. Aber wie gesagt, danach ist nichts weiter passiert. Wir haben ein Projekt für eine weiterführende medizinische Überwachung, aber dafür haben wir keine Finanzierung bekommen“ (CE02).
Probleme der Wissensgenerierung und Transformation wissenschaftlichen Wissens in verbreitetes öffentliches Wissen
In einem Land, das den Bergbau als „das Einkommen der ChilenInnen“47 darstellt und deren Exporte in den letzten drei Jahrzehnten konstant zwischen 50 und 60 Prozent aus Bergbauprodukten bestanden, ist es schwierig, Finanzierung und Erlaubnis für die oben dargelegten Studien zu bekommen. Besonders wenn es sich beim Verantwortlichen, um das staatliche Großunternehmen Codelco handelt. Aber auch die Bevölkerung, die in diesen Regionen größtenteils direkt oder indirekt vom Bergbau abhängt, muss teilweise erst davon überzeugt werden, bei einer solchen Studie teilzunehmen: „[…] viele Leute, deren Kinder an der Studie teilgenommen haben, sind Leute, die im Bergbau arbeiten. Wenn man also darüber heikle Information erheben will und ein bisschen am System rüttelt, werden viele erstmal misstrauisch. Ich musste sechs oder sieben Vorträge auf Infoveranstaltungen halten, bevor ich die Erlaubnis hatte, die Kinder zu untersuchen“, erzählt Mario Cuevas (CE02). Auch der damalige Bürgermeister erklärte dem Arzt persönlich, dass er von ihm keinen einzigen Cent und keine Unterstützung bekommen würde. „Er sagte zu mir, er glaube hier sei alles gut und dass er schon als Kind an dem Strand geschwommen sei. Er habe immer hier gelebt und den Staub eingeatmet und seine Enkelkinder hätten heute auch einen Heidenspaß an diesem Strand“ (CE02). Da kein anderer aus Chañaral vom „Strand“ auf derart verharmlosende Weise sprach, ging der Arzt von einem Interessenkonflikt beim Bürgermeister aus. Immerhin seien zu dieser Zeit mehrere Unternehmen an einer Wiederaufarbeitung der Tailings an diesem Strand interessiert gewesen (CE02).
Sich mit den gesundheitlichen Folgen von Schadstoffbelastungen zu beschäftigen, bedeute laut Cuevas auch „sich immer tiefer in die Höhle des Löwen zu begeben. […] Es fällt mir seitdem sehr schwer, an Gelder zu kommen“, erklärt der Epidemiologie im Interview. Er erzählt auch, es sei üblich Angebote oder sogar Bestechungsgelder von den Unternehmen angeboten zu bekommen. „Hier waren schon Leute vom Unternehmen X48 die mir hohe Geldsummen, ein neues Auto oder was immer ich will, angeboten haben“ (CE02). Anschließend erklärt er die gängigste Vorgehensweise der Unternehmen im Falle einer Kooperation: „Die Unternehmen machen Druck, indem sie dich eine Schweigepflicht unterschreiben lassen. Wenn die Ergebnisse nach ihren Interessen ausfallen, sagen sie: veröffentlichen Sie nur Herr Doktor, machen Sie, was Sie wollen. Wenn es allerdings nicht ihren Interessen entspricht, dann wird niemand davon erfahren“ (CE02). Dr. Cuevas erzählt, dass viele seiner KollegInnen solchen Deals verfallen sein, er sei froh doch immer genügend Aufträge zu bekommen, um finanziell unabhängig zu bleiben. „Ich kann immerhin morgens noch in den Spiegel schauen und habe die Freiheit zu sagen, was immer ich will.“ (CE02). Gute und staatliche Finanzierung hingegen würden WissenschaftlerInnen hauptsächlich für Umweltprobleme bekommen, deren Verschmutzungsquelle durch die erhobene Information anschließend auf einfache Weise beseitigt werden kann. Wenn dies im vornhinein nicht möglich erscheint, wie etwa in Chañaral, sei es sehr schwierig, an öffentliche Gelder zu gelangen (CE02).
Sowohl die Untersuchungen unter der Leitung von Dr. Tchernitchin, als auch die Studien unter der Leitung von Dr. Dante Cáceres erlangten überregionale mediale Aufmerksamkeit49. Dennoch gab es weder seitens des Unternehmens noch staatlicher Behörden eine direkte Antwort auf sie. In einem vom Pablo González geführten Interview mit dem Leiter des Regionalbüros des Gesundheitsministeriums der Regio Atacama erklärt dieser für die Behörde gebe es keine Beweise, dass die Sorgen und die Risikowahrnehmung der Bevölkerung berechtigt wären, da diese bisher nicht durch staatliche Untersuchungen nachgewiesen werden konnten (González 2021). Dass der Staat in den letzten zwanzig Jahren allerdings keine einzige repräsentative Untersuchung in Chañaral durchgeführt hat, erwähnt er nicht.
Sowohl zu den Ergebnissen der Untersuchung unter der Leitung von Dr. Cáceres als auch zu den u. a. von Dr. Tchernitchin erhobenen Daten nach den Überschwemmungen wurden mehrere Vorträge und Infoveranstaltungen in Chañaral organisiert, zu denen allerdings trotz mehrmaliger Einladung weder der Bürgermeister noch andere LokalpolitikerInnen anwesend waren. Von den lokalen staatlichen Behörden war kein/e einzige/r VertreterIn präsent: „das lag wahrscheinlich vor allem daran, dass ein Monat später Wahlen waren. Und unsere Ergebnisse waren ja durchaus skandalös“, meint Cuevas (CE02). Unter den anwesenden Betroffenen befanden sich vorwiegend Mitglieder der lokalen Umweltorganisation Chadenatur und andere AktivistInnen, die ohnehin schon eine enge Kommunikation zu den Ärzten pflegten, schildert sowohl Mario Cuevas (CE02), als auch Sergio Puebla (CB06), Javiera und Marcela (CB11). Die meisten anderen – im Rahmen der vorliegenden Forschung – interviewten BewohnerInnen Chañarals geben zwar an, trotzdem über die Durchführung der Untersuchungen und die Ergebnisse informiert zu sein, zweifeln allerdings mittlerweile an der Wirkung und Relevanz wissenschaftlicher Untersuchungen als Werkzeug zur Lösung des Problems. Juana (CB02) antwortet auf die Frage danach, ob Studien zur Umweltverseuchung oder deren gesundheitlichen Konsequenzen durchgeführt wurden: „Viele, viele! Viele haben hier schon Studien gemacht, aber danach gehen sie verloren und alles bleibt so wie es war“ (CB02). Auch Roberto, Pedro und Luis erwähnen die vielen Untersuchungen. „Viele haben hier geforscht, aber nie hat jemand eine Lösung gefunden“ sagt Carmen (CB14). Dasselbe erzählt auch María Teresa (CB15). Der Historiker und Mitglied des Gemeinderates Humberto Barra (CB09) berichtet, die Behörden hätten die Menschen durch widersprüchliche Informationen über die Jahre verunsichert: „Niemand hier kennt die genaue Wahrheit. Die Behörden haben uns zu oft gesagt, dass es keine Umweltverschmutzung gibt. Viele wissen deshalb heute nicht mehr, was sie glauben sollen“ (CB09). Einerseits gäbe es mittlerweile kaum noch etwas, was die BewohnerInnen wirklich überraschen oder beängstigen könne, andererseits sei es auch ein schwer zu begreifendes Problem: „es handelt sich um ein langsames Sterben, das erst im Laufe der Zeit seine Wirkung entfaltet“ (CB09). Damit beschreibt Humberto Barra direkt die Kernmerkmale von Slow Violence.

8.4.2 Risikowahrnehmung und Sichtbarkeit der Tailings unter der Bevölkerung

Im Gegensatz zu den anderen beiden Untersuchungsfällen – Pabellón und Tierra Amarilla – berichten die BewohnerInnen Chañarals in den geführten Interviews ausnahmslos und ausführlich über Umweltverschmutzungen und Gesundheitsrisiken durch die Tailings vor Ort. Während in Tierra Amarilla Tailings als ein Problem unter vielen beschrieben wurden und von den meisten – mehrheitlich ohne genauere Kenntnisse über deren tatsächliche Wirkung auf Umwelt und Körper – als potenziell schädlich wahrgenommen werden, wussten in Chañaral alle Interviewten über den verseuchten Strand und seine Konsequenzen Bescheid. Trotzdem scheint das Thema im Alltag nur eine marginale Rolle zu spielen und von vielen normalisiert zu werden.
Cecilia, eine Köchin, die aus einem Wagen heraus Hamburger verkauft, sagt auf die Frage nach Umweltproblemen vor Ort sofort: „Die Umwelt ist hier stark verschmutzt! Daran sind viele Leute hier in Chañaral gestorben […] alles hier ist verseucht.“(CB01). Auch Sofia benennt das Problem auf Anhieb: „Dieser Strand ist stark kontaminiert, schon seit Jahren ist er kontaminiert. Das ist sehr schlecht für uns, stellen Sie sich vor, wie wir hier leben müssen, mit den Schadstoffen direkt nebenan“ (CB10). Dabei kennen die meisten auch den genauen Ursprung der Verseuchung, wie in der folgenden Interviewpassage deutlich wird. Roberto, ein Angestellter der örtlichen Apotheke, antwortet ausführlich:
„Das größte Problem hier ist die Verschmutzung am Strand. Viele Jahre lang hat Codelco […] die ganzen Abfälle auf diesem Strand abgeleitet. Ungefähr 60 oder 70 Jahre lang haben sie ihren Müll so entsorgt und das hat die starke Verschmutzung, die wir hier jetzt haben verursacht […]. Meistens breitet sich der (Fein)staub im ganzen Dorf aus, weil der Wind so stark ist. Vor allem der Bereich des Flughafens, also auf der anderen Seite von Chañaral. Da geht die Stadt im Sand fast unter. Ja, das wissen hier alle“ (Roberto, CB03).
Sofía beschreibt diese Luftverschmutzung, wie die meisten BewohnerInnen, als eines der größten Probleme: „Wenn es windet, dann wird alles […] mit Staub bedeckt, der ganze Bereich des Flughafens, aber dort lebt ein Großteil der Bevölkerung“ (CB10). „Und dieser Staub, der kein Sand ist, der bedeckt die ganze Stadt, wenn Wind aufkommt […] manchmal ist der Wind so stark, dass eine riesige Wolke entsteht. Wir, die wir hier leben, sehen sie nicht mehr. Aber die Leute von außerhalb sehen sie. Dann schaue ich nach dort und kann diesen Berg nicht sehen, vor lauter Staub“ erklärt Gladys (CB05). Der feine Staub wird in allen geführten Interviews als zentrales Problem dargestellt, da über ihn die Schadstoffe vom Stand an andere Orte gelangen und sie diesem tagtäglich direkt ausgesetzt sind. „Hier sieht es manchmal aus, wie in einem Westernfilm, weil bei Wind so viel Staub aufgewirbelt wird. Die durchfahrenden Lastwagenfahrer nennen uns deshalb die Geisterstadt“, erzählt Marcela (CB11a). María Teresa, die in einem Spielzeuggeschäft als Verkäuferin arbeitet, ergänzt diese Aussage: „[…] sehr viele Menschen dort im Bereich des Flughafens sind krank. Wissen Sie, hier sterben sehr viele Menschen für einen so kleinen Ort, die meisten an Krebs. Und stellen Sie sich vor, es gibt dazu Untersuchungen, aber niemand macht etwas dagegen, nichts“ (CB15). Der Bergarbeiter Samuel beschreibt deutlich wie sich die Gefahren und deren Konsequenzen in Chañaral normalisiert haben: „Die Krebsrate hier ist mittlerweile so hoch, dass die Krankheit schon ganz normal zum Leben dazu gehört. Jeder der hier krank wird, wird an Krebs sterben“ (CB08).
Auch das Meer und der Strand selbst werden von den meisten als höchst verschmutzt beschrieben. Der Maurer Pedro antwortet auf die Frage, ob er sich im Meer baden würde: „Nein, dort nicht. Nie und nimmer würde ich da baden. Niemand, niemand badet dort seit Ewigkeiten. Seit sehr vielen Jahren geht da doch keiner mehr rein. Dieses Wasser ist verschmutzt“ (CB13). Auch Juana weist darauf hin und fügt hinzu, dass es keine Ausweichmöglichkeiten mehr gibt: „Dieser Sand macht uns alle krank, seitdem Salvador dort seine Rückstände deponiert hat, ist der Strand komplett verseucht. Und jetzt haben sie weiter – nach dort – verschmutzt (zeigt Richtung Norden), die ganzen Strände dort, weil sie den Fluss nach oben abgeleitet haben, das ist jetzt alles seit Jahren kontaminiert“ (CB02).
Im Allgemeinen decken sich die Beschreibungen der BewohnerInnen ziemlich genau mit der historischen Forschung über den Ursprung der Umweltverseuchung, wie sie etwa von der Historikerin Vergara (2011) durchgeführt und weiter oben dargestellt wurden. Größtenteils wissen die BewohnerInnen nicht nur, dass es sich bei dem Strand um Tailings handelt, sondern auch, wer dafür verantwortlich ist. Teilweise kennen sie sogar die genauen Komponenten, die der verseuchte Strand enthält“. Raquel (CB16) erklärt im Interview: „vor etwa 50 Jahren hat die Verseuchung hier stark zugenommen. Nach den Überschwemmungen, die es hier gab, wurde es dann immer schlimmer. Wissen Sie warum? Weil das dort Tailings sind. Tailings von den Bergbauunternehmen von weiter oben“. Auf die Frage welches Unternehmen hinter den Tailings steckt, antwortet Juana (CB02) sofort: „CODELCO“. Auch der Maurer Luis (CB13) und der Bergarbeiter Samuel (CB08) nennen das staatliche Unternehmen und die dazu gehörigen Minen El Salvador und Potrerillos. Genauso wie einige andere der BewohnerInnen, kennt Samuel die gesamte oben dargestellte Geschichte dieser Tailings. Im Fall von Chañaral kann also keineswegs von kollektivem Vergessen, wie im Fall von Pabellón gesprochen werden. Auch María Teresa erzählt im Interview die Herkunftsgeschichte der Industrieabfälle und erwähnt dabei auch die neueren Studien zur Gesundheit der Bevölkerung. „Die Kinder wurden getestet und ihre Körper haben das alles aufgesaugt […] vor allem diejenigen, die im Bereich des Flughafens wohnen, sind stark kontaminiert, u. a. mit Arsen und das ist ein Material, das sehr schädlich für uns ist“ (CB15). Sie sieht die Verantwortung für diese Situation beim Staat und sagt in Bezug auf das Unternehmen: „Sie konnten in Ruhe arbeiten, ihr Geld verdienen und niemand hat ihnen je etwas gesagt“ (CB15).
Die BewohnerInnen erklären in den Interviews die genauen Unterschiede des Strandes in Chañaral im Vergleich zu einem „normalen“ Strand. Samuel (CB08) erklärt der Strand sei zu verseucht, um dort zu baden und jegliches Leben sei dort wie ausgelöscht: „Es ist ein riesiger Strand, ein sehr schöner Strand, aber er ist eben verschmutzt. Dort springt kein einziges Insekt, wie an anderen Stränden, wo man die ein oder andere Muschel an den Klippen kleben sieht, oder Möwen…hier gibt es nichts davon.“. Vor der Überschwemmung sei der ganze Strand außerdem leicht grün gewesen, erklärt Gladys (CB05), diese Verfärbung sei Produkt seines hohen Kupfergehalts. Und Sofia (CB10) meint: „Wenn man näher hingeht, sieht man den Unterschied [zu einem normalen Strand] genauer, dort sind Steinreste mit so etwas wie Konzentraten, kleine Steinchen und viele tote Tiere. Möwen, Seelöwen, kommt drauf an wann man hingeht. Wir gehen immer hin, weil wir dort mit dem Hund spazieren gehen.“ Auch sie erklärt, die toten Tiere seien Produkt der Tailings, die bis vor einigen Jahren von Codelco dort hingeleitet worden sein. Besonders im heute trockengelegten Flussbett, durch das jahrzehntelang die Tailings abgeleitet wurden, sei die Umweltverschmutzung mit bloßen Augen zu erkennen, erklärt Gladys: „drum rum ist alles grün als hätte es Kupfer, Kupferkonzentrat. Ich weiß nicht, was es ist, aber man sieht es“, und sie führt aus: „Dieses Wasser kam mit verschiedenen Mineralien. Es gibt eine Reportage […] aus den Jahren, als das Unternehmen noch seine Tailings hier in Chañaral entsorgt hat. Ich rede hier von vor über sechzig Jahren! Über Jahrzehnte haben sich hier die Tailings angehäuft, an dem Strand da […]. Da gibt es kein Insekt, keine Möve, keine Fische und keine Meeresfrüchte. Da gibt es nichts“ (CB05). Gladys verweist außerdem auf die Tatsache, dass sich dieser Strand physikalisch anders verhält, als ein Sandstrand und das eine zusätzliche Gefahr darstelle. „An diesem Strand sind viele Menschen gestorben, junge Menschen […], wenn du da rein gehst, gehst du unter“ (CB05). Von diesem Problem erzählen auch viele andere der Interviewten, wie etwa Sofia (CB10) „Wenn man da baden geht, gibt es unten drunter eine Art Schlamm und da bleibt man stecken. Die Leute, die da baden gehen sterben, es sind bisher wirklich viele dort gestorben […] vor allem Touristen, oder Leute aus Chañaral, die sich hier früher gebadet haben.“ María Teresa erzählt, dies habe auch Auswirkungen auf die Fischerei, die immer noch einen wichtigen Bestandteil der lokalen Wirtschaft darstelle. Durch die Umweltverschmutzungen gäbe es auch keine Fische mehr in der Bucht: „Die Fischer müssen weit ins Meer raus, um Fische zu fangen. Aber auch die sind dann verseucht, dennoch essen sie die Leute hier und nehmen die Gefahr nicht ernst. Ich versuche das zu vermeiden“ (CB15).
Sofía beschreibt, dass das Wissen über die Verschmutzung allerdings unter den Betroffenen heutzutage nicht zum Handeln in Bezug auf das Problem der Tailings führt:
„Das weiß man einfach, wir alle wissen über die Verhältnisse dieses Strandes Bescheid. Außer diejenigen, die durchreisen, bei denen erregt es Aufmerksamkeit, weil der Sand weiß ist und ein so großer schöner Strand ist, aber eben leer und tot, da gibt es nichts […]. Wir wissen alle, was hier los ist, aber wir handeln nicht. […] Ich denke das ist schlimmer als anderswo, weil hier wissen wir davon und trotzdem [lacht], trotzdem werden wir nicht Teil der Lösung“ (CB10).
Danach gefragt, woher und seit wann sie über die Problematik der Tailings Bescheid wissen, antworten viele, sie seien in Chañaral aufgewachsen und hier habe man das schon immer gewusst. Man kann in Bezug auf das Wissen über die Tailings in Chañaral also von einer Art kollektivem Gedächtnis sprechen. Juana (CB02), Gladys (CB05), Sofia (CB10), María Teresa (CB15), Carmen (CB14) und Raquel (CB16) erzählen alle, dass sie seit ihrer Kindheit von den Gefahren der Tailings gewusst haben. Sie erzählen allerdings auch, dass früher sehr unterschiedlich damit umgegangen wurde. Manche behaupten, früher seien die Leute einfach am Strand baden gegangen, während wiederum andere behaupten, der Strand sei schon immer (sowohl chemisch als auch physisch) sehr gefährlich zum Schwimmen gewesen und viele Menschen hätten dort ihr Leben verloren, weshalb sie diesen Strand noch nie für freizeitliche Aktivitäten genützt hätten. Neben dem historisch übermittelten Wissen wird auch die visuelle Sichtbarkeit der Verseuchung als häufiger Grund für das Wissen über die Umweltverschmutzung genannt. Juana (CB02) antwortet entrüstet auf die Frage, woher sie von der Verschmutzung wisse: „Aber das sieht man doch auf den ersten Blick“. Raquel (CB16) und Carmen (CB14) geben die grünliche Verfärbung des Strandes als klaren Hinweis auf einen hohen Kupfergehalt an und sagen, dass seit den Überschwemmungen auch viele andere Elemente mit bloßem Auge sichtbar geworden sein. María Teresa (CB15) begründete die Offensichtlichkeit auch mit dem Staub, der innerhalb weniger Stunden nach dem Putzen wieder ihre ganzen Möbel bedeckt.
Viele der BewohnerInnen erzählen allerdings auch in der Phase nach dem Präsidentenbad daran geglaubt zu haben, dass die Verseuchung behoben wurde. Auch heutige UmweltaktivistInnen von der lokalen NGO Chadenatur, wie Marcela, Javiera oder Sergio Puebla geben an, anfangs nicht gewusst zu haben, dass der Strand noch verseucht war. Javiera (CB11) erzählt davon, wie sie zusammen mit allen Nachbarskindern auf den Tailings gespielt habe und sogar ihre eigenen Söhne anfangs noch dasselbe gemacht hätten. Wirklich bewusst geworden sei ihnen das Problem erst durch die vielen wissenschaftlichen Untersuchungen und Unterhaltungen mit den forschenden Ärzten, die damals ein enges Verhältnis zur Bevölkerung pflegten. Marcela, Javiera (CB11), Sandra (CB12) und Sergio Puebla (CB06) hatten alle Zugang zu den Ergebnissen der wissenschaftlichen Studien und stehen in engem Kontakt und Wissensaustausch zu anderen zivilgesellschaftlichen AkteurInnen und ExpertInnen zu dieser Art von Umweltverschmutzung. Sie versuchen, aktiv dieses Wissen unter der Bevölkerung zu verbreiten. Viele hätten allerdings kein großes Interesse sich aktiv dagegen einzusetzen, da sie oft andere Sorgen hätten, besonders ökonomischer Art.
Während so gut wie alle BewohnerInnen angeben, dass die Tailings von den Überschwemmungen stark verändert und verschoben wurden, erklären einige von ihnen, dass dadurch auch die bestehenden Schadstoffe vermehrt freigesetzt würden. Beispielswiese nennt Gladys die Überschwemmungen von 2015 und 2017 als zentrale Ursache der heutigen Umweltprobleme:
„Also vordergründig der Strand und all der Schlamm, der dort nach der Überschwemmung geblieben ist […] hier gab es zwei Überschwemmungen, eine sehr große und eine kleinere. Danach war hier alles voller Schlamm, alles dort Schlamm und mehr Schlamm. Zum Beispiel jetzt windet es und alles was Sie hier anfassen, ist mit diesem Staub bedeckt, der verseucht ist und hierher weht. Sehr viel Umweltverschmutzung gibt es hier, man kann es nicht auf den ersten Blick erkennen, aber sie ist trotzdem da. Das Wasser hier ist sehr schlecht. Ich zum Beispiel verkaufe Tee und Kaffee, dafür muss ich abgefülltes, gekauftes Wasser verwenden. Wenn ich Leitungswasser benutzen würde, würden sie krank werden“ (Gladys, CB05)
Für viele, wie etwa Sofía, hat sich die Umweltverschmutzung seit den Überschwemmungen verstärkt: „[…] Und als dann die Überschwemmungen kamen […] und das da vor uns hinterlassen haben, die großen Löcher dort […] vor den Überschwemmungen hat sich der Staub nur nach dort ausgebreitet, jetzt bedeckt er alles“ (CB10).
Der Aktivist Sergio Puebla (CB06), der mich direkt auf die Tailings begleitet hat, zeigte mir den Bereich, der durch die Überschwemmung aufgewühlt wurde. Dort, wo sich früher auch nur scheinbar weißer Sand befand, sind heute riesige tiefe Löcher, in denen sich kleine Seen gebildet haben, wodurch die unterschiedlichen Schichten des angehäuften Materials von weiß, über gelb und grün bis dunkelbraun an den Rändern gut sichtbar geworden sind. In ihnen schwimmt eine schäumende Flüssigkeit, in der sich unterschiedliche Materialien abgesetzt haben, wodurch braune und grüne Flächen auf der Oberfläche entstanden sind (siehe Abbildung 8.3). Hin und wieder sind auch heute noch Teile von Häusern und Autowracks zu erkennen. In dem größten dieser Löcher seien außerdem 2015 mehrere mit Säure beladene LKW untergegangen, die von den Fluten von der Hauptstraße mitgerissen worden waren. Sergio Puebla erzählt, dieses Gebiet sei heute noch viel stärker verseucht als vorher, da die alten Schadstoffe freigesetzt wurden und durch die Überschwemmungen neue hinzugekommen sein. Diese Einschätzungen teilen auch viele andere Interviewten, unter ihnen auch die beiden Ärzte Dr. Cuevas und Dr. Jedamczik. Insgesamt haben die katastrophalen Folgen der Überschwemmungen das Problem der Tailings unter der Bevölkerung allerdings überschattet. Die Möglichkeit erneuter Überschwemmungen wird als viel größere und dringlichere Gefahr beschrieben als die Existenz von Tailings in der direkten Nachbarschaft (siehe Abschnitt 8.4.4).
Obwohl alle BewohnerInnen – wie beschrieben – gut über die Tailings informiert sind, gestehen die meisten ein, ihnen im Alltag wenig Beachtung zu schenken. Viele geben an, mit ihnen aufgewachsen zu sein, lange Zeit kaum etwas darüber gewusst zu haben oder – wie schon erwähnt – zeitweise gedacht zu haben, das Problem sei bereits behoben worden. Die aktive Unsichtbarmachung des Problems am Ende der zweiten Phase wird von den meisten als durchaus wirkungsvoll dargestellt. Eine Reihe wissenschaftlicher Studien, die auch die gesundheitlichen Folgen der Tailings nachweisen konnten, haben das Thema wieder für den Großteil der Bevölkerung relevant werden lassen. Allerdings beklagen vor allem die AktivistInnen unter ihnen, eine geringe Bereitschaft der anderen BewohnerInnen in Bezug auf die Tailings zu handeln und gegen diese Verseuchung und die staatliche Untätigkeit vorzugehen (CB11).

8.4.3 Wissen und Wahrnehmung der Gesundheitsrisiken

Während die Tailings selbst – laut der Mehrzahl der Interviewten – keine besondere Rolle im alltäglichen Leben der BewohnerInnen spielen, sind die Krankheiten allgegenwärtig und eine ständige Sorge in Chañaral. Cecilia, die im Moment des Interviews wegen Schilddrüsen- und Brustkrebs in Behandlung ist, steht exemplarisch dafür, wie präsent Krankheiten wie Krebs im Leben der BewohnerInnen sind:
„Die Belastung ist sehr stark. Viele Leute hier sind an Krebs gestorben. Alle hier werden krank, manche haben Diabetes, andere Krebs. Sie werden hier nicht alt, sie sterben einfach. Ich weiß nicht, wie ich das bisher überstanden habe, denn hier sind so viele an Krebs gestorben, ich hingegen, bei mir liefs gut. […] Viele Kinder sind krank. Hier werden ständig Solidaritätsveranstaltungen deswegen gemacht. Gerade gibt es einen zweijährigen Jungen mit Leukämie. […] Alle kleinen Kinder sind krank und was es hier einfach nicht gibt, sind Ärzte. Die sind in Copiapó und dort braucht es ewig, bis man behandelt wird.50 […] Wenn im September die starken Winde aufkommen, müssen wir mit Atemmasken rausgehen, weil wir sonst den ganzen Staub einatmen und alle Gifte, die darin lagern, denn viele hier sind auch lungenkrank, manche können gar nicht mehr atmen. Ich habe eine Freundin, die daran erkrankt ist, an der Lunge. Sie läuft mit ihrem Rohr [Sauerstofftank] rum, mit einem riesigen Rohr, weil sie sonst so erschöpft ist. Dann kann sie nicht mal sprechen, sie läuft ein bisschen und schon ist sie müde. Die wird jeder Zeit, jederzeit von uns gehen. Alle sind hier am Sterben“ (CB01).
Der örtliche Apotheker Roberto (CB03) schildert, eine der häufigsten Konsequenzen, die sich aus der Exposition mit den in Chañaral vorzufindenden Schadstoffen ergäben, seien Allergien, die besonders durch das Einatmen und den Kontakt der Haut mit dem aufgewirbelten Staub entstünden. An windigen Tagen würden sich die Symptome vieler BewohnerInnen verschlechtern. Die meisten würden unter Allergien der Atemwege leiden: „Es ist wie feiner Staub, es ist nicht mal Sand, es ist wie fein pulverisierter Staub. Und das Atmen die Personen dauernd ein, alle hier. Die meisten nehmen dagegen Antiallergika, aber die wirken rein palliativ, sie lösen nicht das Problem an sich“ (CB03), erklärt er. Obwohl es wissenschaftlich schwer ist, einen direkten kausalen Zusammenhang herzustellen und es bisher vor Ort noch keine ausreichenden Studien darüber gab, sei es für die meisten WissenschaftlerInnen und ÄrztInnen klar, dass auch die hohen Krebsraten in direktem Zusammenhang mit dem verseuchten Strand stünden, führt Roberto fort und fügt hinzu, dass auch die BewohnerInnen diesen Zusammenhang herstellen würden. Sofia (CB10) ist eine dieser BewohnerInnen, die die hohen Krebsraten vor Ort hervorhebt: „Es gibt hier wirklich sehr viele Leute, die an Krebs sterben, sie sterben alle immer an Krebs, jeden Tag. Es sind einfach zu viele, also, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, es ist einfach krass“. Auch María Teresa (CB15) betont die vielen Krankheitsfälle, darunter auch immer wieder „unglaublich traurige Fälle“, wie derjenige eines zweijährigen Jungen, von dem sie erzählt. Besonders für diejenigen, die unter Atemwegserkrankungen oder allergischem Asthma leiden, sei es im Alltag besonders schlimm: „sie können hier nicht leben, sie müssen wegziehen, weil es hier so kontaminiert ist“, erklärt María Teresa (CB15). Besonders betroffen von den Krankheiten seien die Kinder, ergänzt sie.
Seit der Veröffentlichung der letzten wissenschaftlichen Untersuchungen ist die Verseuchung in Chañaral besonders unter medizinischem Personal in Chile relativ bekannt: „Wenn du einen Spezialisten von außerhalb mit deinen Kindern aufsuchst und erzählst, dass du aus Chañaral kommst, sagen sie sofort, man solle den Ort so schnell wie möglich verlassen. Sie wissen genau, dass die Umweltverschmutzung hier ihre Bronchien und ihre Haut kaputt macht und sie womöglich langfristig Krebs kriegen werden“, erzählt Marcela (CB11a). Sie weist auch darauf hin, dass die Sterberaten in Chañaral äußerst hoch seien, obwohl die meisten Leute außerhalb sterben würden, weil sie in Copiapó oder Antofagasta behandelt werden müssen. Bei weitem nicht alle Todesfälle kämen also in den offiziellen lokalen Statistiken vor. Javiera (CB11b) fügt hinzu, dass auf dem Totenschein meistens auch nicht die Krankheit steht, unter der sie litten und die zu ihrem Tod geführt hat, sondern einzig und allein die konkrete Ursache wie bspw. ein Atemstillstand. Dabei wäre ein Register dieser Krankheiten für AktivistInnen ein besonders tauglicher Beweis für die schlechten Umwelt- und Lebensbedingungen vor Ort, so Javiera.
Cecilia (CB01) etwa erzählt ausführlich über ihren Brustkrebs, den sie vor fünf Jahren in Antofagasta behandeln lassen musste, sowie ihren Schilddrüsenkrebs, der vor einem Jahr operativ entfernt wurde. In beiden Fällen war eine längere Radio- und Chemotherapie nötig. Raquel wiederum schildert: „Wirklich alle hier haben eine Allergie“, sie sei nicht die Ausnahme, „[…] Ich bin Allergikerin, Asthmatikerin, also eigentlich habe ich allergisches Asthma. Aber wenn der Wind anfängt, ist da nicht nur die Atemnot. Meine Augen fangen dann an zu tränen und ich bekomme Juckreiz am ganzen Körper“ (CB16). Auch Carmen, Gladys, Pedro und Trinidad bestätigen, dass sich ihre Allergien besonders durch aufkommenden Wind verschlimmern. In einem weiteren Interview zeigt mir Juana ihre roten und geschwollenen Augen „Sehen Sie? Wir alle hier leiden unter Augenkrankheiten, außerdem sterben wir früher oder später alle an Krebs. Krebs ist hier ein verallgemeinertes Leiden“ (CB02). Auch María Teresa erzählt im Interview lange über ihre Krankheitsgeschichte. Besonders die chronischen Augenentzündungen durch die Allergie machen ihr zu schaffen. „Oft muss ich zweimal drüber nachdenken, ob ich rausgehe, denn wenn es windet, wird es für mich fürchterlich, ich sehe nichts, kann hinfallen, ich bin wie blind. In diesem Alter sieht man eh nicht mehr so gut, stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn Ihnen dazu noch ständig Tränen und alles Mögliche aus der Nase und den Augen laufen. Das belastet mich emotional und macht mich ganz nervös und dann wird es nur noch schlimmer“, beschreibt María Teresa (CB15).
Besonders heikel wird das Thema für die meisten, wenn es um die Gesundheit ihrer Kinder geht. „Meine Tochter leidet unter Allergien“ erzählt Trinidad (CB07) „Früher tat sie das nicht. Das hat ganz stark mit den Überschwemmungen angefangen. Seitdem pellt sich ihre Haut rund um die Augen, besonders in den windigsten Monaten September, Oktober und November. Das hatten wir so vorher nicht erlebt. Dann müssen wir den Arzt rufen und sie bekommt von ihm Salben, damit es besser wird“. Javiera (CB11b), Bewohnerin, Aktivistin und Mitglied der NGO Chadenatur sowie der lokalen ökologischen Partei erzählt, dass Atemwegs- und Lungenkrankheiten sowie Krebs bei den Kindern in Chañaral besonders häufig vorkommen würden. „Meine Söhne, mein Sohn der José, der gerade gegangen ist, und der Bastián […] sie beide weisen stark erhöhte Blei- und Arsenwerte im Blut auf. Wir alle hier haben Blei im Blut, das ist klar. Aber sie waren damals vier Jahre alt, der José, und sechs der Bastián und so jung schon weit über dem Richtwert. Und wahrscheinlich ist das mit den Jahren nur schlimmer geworden“ (CB11b). Sie mache sich große Sorgen um ihre Gesundheit, besonders wenn sie von anderen Kindern in der Nachbarschaft hört, die schwer erkranken.
Wie es für slow violence Phänomene üblich ist, sind Ursache und Wirkung oftmals zeitlich stark voneinander entfernt und die Auswirkungen zeigen sich erst nach langer Zeit. In Chañaral sind die meisten Interviewten schon ihr ganzes Leben lang den Tailings ausgesetzt. Die Tailings selbst haben deshalb keinen besonders dringlichen Stellenwert in der Gefahrenwahrnehmung der Betroffenen, ihre Auswirkungen auf die Gesundheit hingegen, die sich alltäglich äußern, bereiten ihnen große Sorgen. Eine lange Auseinandersetzung mit einer slow violence Quelle führt in diesem Fall dazu, dass in dem Moment, in dem sich die Folgen häufen und deshalb besonders sichtbar werden, die Ursache schon größtenteils normalisiert ist.
Wie oben deutlich wurde, beschreiben die BewohnerInnen Chañarals nicht nur die allgemeine gesundheitliche Situation der Bevölkerung, sondern geben an, die Konsequenzen der Tailings an ihrem eigenen Körper zu spüren. Alle Interviewten sind entweder selbst betroffen oder haben eine/n nahe/n Verwandte/n, der/die erkrankt ist. Da die Verschmutzung Chañarals landesweit bekannt ist, werden die Erkrankten von den behandelnden Ärzten (meist außerhalb von Chañaral) – wie schon erwähnt – auf die Verbindung ihrer Erkrankungen mit den Tailings angesprochen. Die Existenz eines anerkannten kausalen Zusammenhangs zwischen den Tailings und gesundheitlichen Problemen im Bewusstsein der lokalen Bevölkerung ist ein großer Unterschied zu den anderen beiden Fallstudien, besonders zu Pabellón.

8.4.4 Die Überschwemmungen: „Über uns die Sintflut“

Am 23. März 2015 kam es in der Region Atacama inmitten der trockensten Wüste der Welt zu starken Regenfällen. Die fehlende Vegetation und die Beschaffenheit der Wüstenböden führten zur Ansammlung großer Wassermassen und zu schwerwiegenden Überschwemmungen in vielen Städten und Ortschaften im Norden Chiles. 31 Menschen konnten in der Folge nur noch tot geborgen werden, weitere 49 sind bis heute vermisst und knapp 30.000 Menschen verloren ihre Häuser. Besonders Chañaral wurde von den Fluten stark getroffen, da die großen Wassermassen, die sich entlang des Tals sammelten, die Stadt an der Mündung ins Meer in Form einer enormen Flutwelle trafen. Diese hatte auf ihrem Weg in die Hafenstadt schon in weiter oben gelegenen Städten und Dörfern Autos, Häuser und Schlammmassen mitgerissen. Als die Schlamm- und Wassermassen schließlich Chañaral erreichten, rissen sie ganze Stadtteile mit sich (siehe Abbildungen 8.2 und 8.4).51
Diese Überschwemmungskatastrophe hatte allerdings nicht nur den Verlust von Infrastruktur wie etwa Schulen, Busbahnhöfen oder der wichtigen Autobahn Ruta 5 sowie eine breite Schneise mitten durch die Stadt zur Folge, durch die unzählige Privathäuser und Geschäfte zerstört wurden. Zudem hatte sie auch erhebliche Konsequenzen für die Schadstoffbelastung der Stadt. Einerseits wurden die vorhandenen Tailings durch die Überschwemmung aufgewühlt und somit vorher gebundene Schadstoffe freigesetzt, andererseits wurden in Chañaral mehrere Chemietransporter von den Flutwellen mitgerissen, wodurch sich ihr Inhalt in der ganzen Stadt verteilte. In den darauffolgenden Wochen wurden mehrere Studien von unabhängigen Forschungsinstituten und dem Colegio Médico mit der Unterstützung der Zivilgesellschaft entlang der betroffenen Täler durchgeführt, die aufzeigen konnten, dass die Materialien, die die Flutwellen hinterließen, stark mit Chemikalien und Schwermetallen belastet waren.52 Diese Messungen erfolgten nach mehreren Hinweisen der Bevölkerung darüber, dass mehrere aktive Tailings durch die Niederschläge übergelaufen seien bzw. historische Tailings durch die Fluten mitgerissen worden waren. Auf die besorgniserregenden Ergebnisse der Studien, die auch schwere Belastungen in Großstädten wie Copiapó aufwiesen, antwortete der Staat mit einer einmaligen staatlichen Untersuchung, die hauptsächlich in der Regionalhauptstadt Copiapó durchgeführt wurde. Darin wurden zwar erhöhte Belastungswerte nachgewiesen, diese seien allerdings nicht bedenklich für die Gesundheit der Bevölkerung (siehe hierzu auch Kapitel 7). Insgesamt sei die Schadstoffbelastung der Böden nach den Überschwemmungen – laut den staatlichen Daten – sogar niedriger als vorher, so die staatliche Behörde für Geologie und Bergbau Sernageomin.53 Damit schienen auch die unabhängigen wissenschaftlichen Studien „widerlegt“, die eine verstärkte Belastung nach den Überschwemmungen nachwiesen. Da der Staat in diesen Fällen über die Deutungshoheit des generierten Wissens verfügt, sodass Untersuchungen von staatlichen Behörden in ihrer Legitimität und Unabhängigkeit glaubwürdiger erscheinen als diejenigen von privaten Instituten, fällt es den Behörden leicht, die Ergebnisse anderer Studien zu entkräftigen oder zumindest zu relativieren.
Dabei seien die offiziellen Daten jedoch stets mit Vorsicht zu genießen, so einige der interviewten AktivistInnen, BewohnerInnen und Ärzte. Sandra (CB12) von der NGO Chadenatur und der lokalen ökologischen Partei, erzählt, dass sie als Organisation die Ergebnisse einer staatlichen Studie zugesendet bekommen hätten, die aufzeigt, dass sich alle Schadstoffwerte in Chañaral unter der allgemeinen Norm befänden: „das ist sehr ermüdend, es heißt für uns, dass dieser Ort als frei von Schadstoffen eingestuft wurde, obwohl wir selbst etwas anderes gemessen haben und obwohl alle wissen, dass die Schadstoffwerte stark erhöht sind. Wie kämpft man gegen so etwas an?“ (CB12). Viele BewohnerInnen wie Trinidad erzählen, die Verseuchung sei seit den Überschwemmungen viel stärker geworden. „Natürlich war das hier vorher schon verseucht […]. Wir wussten auch früher schon, dass die Tailings durch den Staub bis hierherkommen. Aber jetzt ist es viel deutlicher, seit den Überschwemmungen. Es war so schwer, den Schlamm und den Dreck von den Straßen und aus den Häusern zu kriegen. Die Schadstoffe sind überall, die aus den Tailings von hier und auch die, die mit dem Wasser dazu gekommen sind“ (CB07). UmweltaktivistInnen wie Javiera (CB11) erzählen, es sei zudem vorgekommen, dass Unternehmen die Überschwemmung genutzt hätten, um absichtlich Abwasser aus den Tailings abzulassen, dies sei angeblich auch bei der División Salvador von Codelco der Fall gewesen, an anderen Orten gäbe es Beweise für dieses Vorgehen.
Auch die renommierten und oben schon erwähnten ÄrztInnen Dr. Andrei Tchernitchin54 und Dra. Sandra Cortés55 erhoben unabhängig voneinander nach der Überschwemmung 2015 erneut Daten und kamen zu dem Schluss, dass einerseits die Schlammlawine schon vor dem Eintreffen in Chañaral hochgradig verseucht war, da sie entlang des Tals mehrere Tailings mitgerissen hatte. Andererseits lassen die Daten erkennen, dass auch die schon vorhandenen giftigen Elemente größtenteils durch die Erd- und Wasserbewegungen wieder freigesetzt wurden. Sie bestätigen also die Ergebnisse der Proben der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Dr. Mario Cuevas berichtet im Interview:
„Ich weiß, dass ein Forschungsteam Proben genommen hat und es besorgniserregende Werte im Bereich der Schwermetalle gab. Allerdings sind sie damals nur von einer Expositionszeit von maximal einem Jahr ausgegangen und haben dafür ihre Richtwerte berechnet. Ich sehe das allerdings kritischer. Ich denke, dass neue Schadstoffe hinzugekommen sind, alte freigesetzt wurden und die Leute diesen über viel längere Zeit ausgesetzt sein werden, aber das ist kein einfaches Thema. […] Bei den Messungen muss auch bedacht werden, dass oft beispielsweise Metalle gefunden werden, diese aber nicht bioverfügbar sind, also sich derzeit nicht ausbreiten. Mit der Überschwemmung sind u.a. auch mit Schwefelsäure beladene LKWs mitgerissen worden und ausgelaufen. Dadurch wurde der pH-Wert der Böden verändert und das hat wiederum höchst wahrscheinlich die schon vorhandenen giftigen Stoffe freigesetzt.“, so Dr. Cuevas (CE02)
Dr. Andrei Tchernitchin, der die Untersuchungen des Colegio Médico leitete, sieht als einzige Lösung für das Problem der Gesundheitsrisiken die schnelle Umsiedlung der Bevölkerung. Seiner Einschätzung nach sei das Risiko für die Bevölkerung nicht mehr zu verantworten. Dies betonte er auch bei einer Veranstaltung vor Ort im Juni desselben Jahres, bei der er zusammen mit Manuel Cortés der NGO Chadenatur und Lucio Cuenca der NGO OLCA56 über die Folgen der Überschwemmung und des Lebens in der Nachbarschaft eines Tailings informierte. Im Nachrichtendienst des Fernsehkanals CNN Chile widerspricht er zudem den Aussagen des Umweltministeriums, die die Gefahren, die von den Rückständen der Überschwemmung ausgehen, herunterspielen würden.57
Die Bevölkerung – so wird in den geführten Interviews deutlich – teilt größtenteils die Einschätzung der beiden Ärzte. Sofia erläutert die von den Überschwemmungen ausgelösten Veränderungen in Bezug auf den Strand wie folgt: „Das war früher alles gerade und kompakt, es gab sogar eine Motorradbahn darauf […] damals war es wie gestampft, jetzt ist alles ganz locker und staubig. Dort vorne gab es vorher eine Schutzmauer [für Tsunamis] und das wurde alles mitgerissen, sogar die Autobahn ist verschwunden, alles ist verschwunden“ (CB10). Gladys erklärt:
„[Der Staub] enthält alle möglichen Säuren, hier gab es viele Fahrzeuge, die mit den Gewässern mitgerissen wurden, all das kam zusammen mit den Tailings die von oben von El Salvador, von all den Bergwerken, die ihre ganzen Abfälle hier entsorgen. All das wurde mit dem Wasser hier her gespült. Das waren tausende Liter Wasser, die mit der Überschwemmung hier ankamen und alles Mögliche mitgebracht haben. Große mit Säure beladene LKW sind umgekippt, ich weiß nicht, ob Sie sich mal die Videos, die es von Chañaral im Internet gibt, angeschaut haben“ (CB05).
Cecilia (CB01) berichtet von den vielen Wohnhäusern und Geschäften, die durch die Flutwelle zerstört wurden. Sie zeigt auf die Brachfläche vor ihrem Kiosk und erklärt, die Fläche sei früher bewohnt gewesen, aber der ganze Häuserblock sei mit der ersten Überschwemmung „verschwunden“. Auch ein zentraler Busbahnhof, der Supermarkt Zamora und eine Reihe weiterer Läden seien eingestürzt oder weggespült worden (CB01). Viele der BewohnerInnen haben auf diese Weise nicht nur ihre Wohnhäuser, sondern auch ihre Geschäfte verloren. „In meinem Geschäft hier ist nichts stehen geblieben […] ich hab damals alles verloren, wirklich alles“, erzählt Gladys (CB05). Die staatliche Hilfe sei damals sehr beschränkt gewesen, erklärt sie. Die Betroffenen hätten lediglich Essen, Wasser und mit etwas Glück eine vorübergehende Unterkunft bekommen. Sie habe ihr neues Geschäft dank eines Coca-Cola Lieferanten erhalten, der sich dafür einsetzte, dass Coca-Cola ihr eine Blechhütte zum Verkauf und eine Startration an Getränken zur Verfügung stellte. Auch Sandra musste ihre Existenzgrundlage komplett wiederaufbauen: „Ich habe alles verloren, alles, alles […] der Schlamm ist überall durchgedrungen […] ich habe fünf Monate lang auf der Straße gearbeitet und dort meine Zeitungen verkauft“ (CB12). Auch sie bekam kaum staatlichen Hilfen dafür. Freunde aus Copiapó und Santiago hätten eine Spendenaktion gestartet und Geld gesammelt. Trotz der Gefahr einer erneuten Überschwemmung baute sie ihren Laden an der gleichen Stelle wieder auf, da sie sich weiter oben die Miete nicht leisten könne und das Geschäft eben nur dort laufen würde, wo auch viele Menschen vorbeikämen.
Am Strand wurden mehrere improvisierte Läden für diejenigen aufgestellt, die ihr Geschäft in den Fluten verloren hatten. Sofia (CB10) äußerst sich kritisch über diese Geschäfte: „Das da unten sind verrückte Menschen [lacht]. Diese Container haben sie den Leuten gegeben, die ihre Geschäfte verloren haben, aber wenn Sie mal hinschauen, da kommt doch niemand vorbei. Ich habe das Gefühl es ist wie ein Teufelskreis, sie machen ihr Geschäft nicht auf, weil niemand vorbeikommt und es kommt niemand vorbei, weil niemand mehr aufmacht. Also sind viele, denen diese Läden geschenkt wurden, wieder zurück an ihre alten Orte gegangen, dort unten zur Hauptstraße“ (CB10). Eine der wenigen staatlichen Maßnahmen zum Wiederaufbau des lokalen Handels scheint ihr Ziel folglich verfehlt zu haben. Die Aufräumarbeiten der durch die Flutwellen angespülten Gegenstände und Schlammmassen sind bis zum Moment der Feldforschung im Jahr 2019 – also vier Jahre nach der ersten Überschwemmung – noch nicht vollständig fertiggestellt und der Wiederaufbau der Häuser und Geschäfte geht sehr langsam voran. Überall in der Stadt sind „Gespensterhäuser“ – wie die BewohnerInnen sie nennen – vorzufinden. In ihnen lagert teilweise bis heute noch Schlamm bis unter die Decke. Besonders der Bereich rund um das alte Flussbett, wo die Flutwelle entlangkam, besteht hauptsächlich aus Ruinen.
Die Umweltaktivistin Javiera (CB11b) versucht auch etwas Positives aus den Überschwemmungen zu ziehen. Durch sie sei das Umweltthema wieder etwas präsenter unter den AnwohnerInnen geworden. Es sei nach jahrelanger Ruhe wieder zu neuen Protesten gekommen, allerdings seien die Sichtbarkeit und die kollektiven Handlungen nur von kurzer Dauer gewesen. Gleichzeitig habe das Thema der Überschwemmungen den noch stärker verseuchten Strand etwas überschattet. Die unmittelbare kraftvolle Zerstörung der Überschwemmungen sei viel präsenter in den Köpfen der Menschen als der sonst statische Strand. Sie schildert auch, dass diese Extremwetterphänomene, die anschließend zu den Überschwemmungen führen, durch den Klimawandel immer häufiger vorkommen würden, was für einen Ort wie Chañaral, an dem die Wassermassen ankommen und im Meer münden, besonders besorgniserregend sei. Die große Überschwemmung 2015 und die beiden etwas kleineren in den Jahren 2017 und 2019 haben das heutige Stadtbild wesentlich geprägt und auch später noch zu einigen unabhängigen Untersuchungen aus unterschiedlichen Fachgebieten geführt (siehe etwa Bonnail et. al 2020; Saffie et. al 2017; González 2018; Tapia Zamora 2016; Vargas Easton et. al 2018 sowie Cáceres & Yohannessen 2018). Sie alle heben die hohe Schadstoffbelastung vor Ort, die Freisetzung der Schadstoffe der Tailings am Strand sowie die hohe Wahrscheinlichkeit erneuter Überschwemmungen hervor und verweisen auf die schwerwiegenden gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen für die Bevölkerung.

8.4.5 Codelco: Der Schützling des Staates und die ökonomischen Interessen an den Tailings von Chañaral

Codelcos Schweigen
Alle interviewten MitarbeiterInnen größerer Umwelt-NGO, die chileweit zu Tailings arbeiten – wie etwa RELAVES (FZ07, FZ05) –, heben die Umweltkatastrophe in Chañaral als eine der emblematischsten und dramatischsten der chilenischen Geschichte hervor. Dies gilt auch für jene, die sich sonst eher selten direkt mit Tailings befassen – wie etwa die NGO OLCA (FZ06, PZ05) oder Terram (PZ04). Die NGO Chile Sustentable arbeitete darüber hinaus schon mehrmals direkt mit der lokalen NGO Chadenatur zusammen, um das Problem sichtbar zu machen. Das Unternehmen Codelco hingegen schweigt zu dem Vorfall und beruft sich öffentlich immer wieder auf die vermeintlich erfolgreichen Restaurierungs- und Sanierungsarbeiten.
Der heutige Beauftragte für nachhaltige Entwicklung von Codelco, Sergio Rojas (FU06), erzählt im Interview lange von den Verbesserungen des Unternehmens bezüglich ihres Umgangs mit Tailings und der Vorbeugung von Umweltschäden und sozialen Auswirkungen. Während den insgesamt über drei Stunden Interview umgeht er den Fall Chañaral allerdings konsequent. Auch der ehemalige Mitarbeiter Bernardo Seiffert (FU08), der im Interview durchaus auch Kritik am Vorgehen von Codelco andernorts äußert, spricht nicht über diesen Fall. Drei weitere Mitarbeiter des Unternehmens, die im technischen Bereich bei der Errichtung und Wartung von Tailings tätig sind, verweigern von Anfang an ein Interview. Alle drei erzählen, sie hätten vertraglich unterschrieben, keine internen Informationen zu den Tätigkeiten von Codelco und den Produktions- und Lagerungsprozessen der Abfälle preiszugeben und verglichen ein Interview zu diesem Thema mit beruflichem Selbstmord, der sie nicht nur diesen Arbeitsplatz, sondern auch alle zukünftigen Beschäftigungsmöglichkeiten in dieser Branche kosten würde. Bei mehreren späteren Interviewanfragen an MitarbeiterInnen und ManagerInnen des Unternehmens bekam ich zuerst eine positive Rückmeldung – bis klar wurde, dass es sich thematisch um die Tailings in Chañaral handeln würde. Daraufhin wurden alle Interviews ausnahmslos abgesagt. Einer der Mitarbeiter, ein Beauftragter für die physische und chemische Stabilität und Sicherheit der Tailings der División Salvador von Codelco, der ebenfalls ein vertragliches Verbot über seine Tätigkeiten zu sprechen aufwies, erklärte, die einzigen, die darüber sprechen dürften, seien die dafür ausgebildeten und trainierten MitarbeiterInnen in den Chefetagen der Kommunikations- oder der Umweltabteilung.58
Das Schweigen scheint für das Unternehmen folglich den besten Umgang mit einem so großen, jahrzehntelang ungelösten Umweltskandal darzustellen. Codelco verweist auch heute noch auf den „erfolgreichen“ Dekontaminierungsplan der 2000er Jahre sowie auf eine Reihe von Dialogen, Zuschüssen und Sozialprogrammen in der Vergangenheit. Während das Unternehmen einerseits internationale Zertifizierungen für „nachhaltigen Bergbau“ anstrebt, gab es bisher keine Antwort auf die Forderungen einer grundlegenden Lösung des Umweltproblems der Tailings sowie der ökonomischen Wiedergutmachung der zerstörten Lebensgrundlagen und der lokalen Wirtschaft. Wie wir gesehen haben, betrifft dies in Chañaral – durch die Zerstörung einer der artenreichsten Buchten Chiles – insbesondere die Fischerei. Dass Codelco den zeitweise starken Druck der Öffentlichkeit immer wieder ignoriert, liegt zudem nicht zuletzt an den hohen Kosten, die mit einer grundsätzlichen und langfristigen Lösung einhergingen. Laut konservativen Schätzungen würde eine vollständige Entfernung der Tailings vom Strand in Chañaral das Unternehmen mindestens 500 Millionen US-Dollar kosten.59 Auch die zweite mögliche Lösung einer kompletten Umsiedlung der ganzen Stadt ist höchst kostspielig und wird zudem von den meisten AnwohnerInnen nicht gewünscht.
Profitable Abfälle
Auf der anderen Seite ist der aus Tailings, Sand, Wrackteilen, Müll und Schlammmassen zusammengesetzte „Strand“ Chañarals mittlerweile selbst zu einer ökonomischen Ressource geworden. So wurden immer wieder Bergbaukonzessionen zur Wiederaufarbeitung des verseuchten Strands vergeben, obwohl rein rechtlich Buchten dieser Art gar nicht für den Abbau geeignet sind. So besitzen seit 1993 Unternehmen wie Souther Cross, Punta del Cobre (PuCobre), Copper Bay Ltda, SLM UNO DE BAHIA, CODELCO oder Minera Lejanooeste S.A. Konzessionen zum Abbau der im Strand enthaltenen Metalle und Mineralien. Immer wieder wurden in den letzten Jahrzehnten neue Projekte zur Wiederaufbereitung der Tailings vorgestellt, die allerdings allesamt lange vor ihrer Umsetzung scheiterten. Seit 2014 kam ein neues Projekt des Unternehmens Playa Verde hinzu – ein Ableger des britischen Copper Bay Ltda. Dabei handelt es sich um ein Projekt zur Rückgewinnung des noch in den Tailings enthaltenen Kupfers. Das Unternehmen wirbt in Chañaral damit, dadurch auch zur Säuberung des Strandes beizutragen (Cortés 2014:65). Die große mediale Kampagne vor Ort hat unter manchen BewohnerInnen auch die Hoffnung einer Lösung des Umweltproblems erweckt. Viele regionale Behörden und ExpertInnen aus Santiago äußern sich zudem positiv und zuversichtlich gegenüber diesem Versprechen. Die große Mehrzahl der AnwohnerInnen bleibt allerdings skeptisch. Der Epidemiologe Mario Cuevas (CE02) und AktivistInnen wie etwa Sergio Puebla (CB06) gehen sogar davon aus, dass das Projekt die Umweltverschmutzung noch verschlimmern könnte. Die Bewegung großer Mengen an verseuchtem Material und die Zufuhr weiterer Chemikalien zur Trennung des Kupfers von den Erzen würden die Wahrscheinlichkeit der Freisetzung weiterer Schadstoffe und einer verstärkten Schadstoffbelastung des Strandes erhöhen. Die neuen Technologien zur Wiederaufarbeitung der Tailings könnten, laut Cuevas (CB02), neue Verschmutzungen verursachen. Außerdem seien Bergbaukonzessionen am Strand illegal da es sich hierbei eigentlich um Meeresgebiet (territorio marítimo) handle, erklärt Puebla (CB06). Letztendlich gehören auch Teile des konzessionierten Strandes zum Nationalpark Pan de Azucar, einem Ort, der wegen seiner reichen Artenvielfalt rechtlich geschützt ist (Cortés 2014:65 ff).
Die Behebung der Kontaminationsquelle ist bei Tailings im Allgemeinen und insbesondere in diesem Fall wegen des Ausmaßes und der Tatsache, dass sich diese teilweise im Meer befinden, extrem teuer. Hinzu kommen noch die hohen Entschädigungskosten, die bei einer öffentlichen Anerkennung der Verseuchung gegenüber den Betroffenen anfallen würden. Den zuständigen staatlichen Behörden fehlen die notwendigen ökonomischen Mittel für derart kostspielige Sanierungsprojekte (siehe etwa Isabel Contreras, PS01). Unternehmen wie Codelco wiederum, die seit langer Zeit im ganzen Land Tailings produzieren und ungesichert in die Umwelt zurückgeleitet haben, könnten die Reparatur dieser Schäden nicht stemmen, ohne dadurch ihre Rentabilität und Existenz zu gefährden. Dies ist einer der Gründe, warum die oben genannte Wiederaufarbeitung der Tailings unter ExpertInnen wie auch den Geologen und Tailingexperten des BRG Werner Zimmerman (PW02) und Jens Müller (PW02) als ökonomisch einzig rentable, aber in ihrer Effektivität höchst umstrittene Lösung dargestellt wird. Die lokale Umweltaktivistin Marcela formuliert ihre Sorgen gegenüber Playa Verde wie folgt: „Was denken Sie, was sie da hinterlassen werden? Um das Kupfer zu extrahieren, werden sie neue Chemikalien und andere Dinge einsetzten müssen. Da stellt sich schon die Frage, wo diese dann landen werden und welche Bodenqualität der Strand danach hat. Vielleicht verbessern sie ja nichts und hinterlassen es sogar schlimmer“ (CB11a).
Da es sich im Falle von Chañaral um Tailings eines staatlichen Unternehmens handelt, hat der Staat ein doppeltes Interesse daran, dieses besonders sichtbare Problem zu entschärfen, da er weder von offizieller Seite eine Lösung anbieten kann, noch das Wohlergehen eines staatlichen Unternehmens aufs Spiel setzen will. Gleichzeitig kann die Wiederaufarbeitung der Tailings ein sehr lukratives Geschäft für private Unternehmen sein, was zusammen mit dem Erwerb der Konzessionen des Strandes durch diese, die staatliche Intervention teilweise direkt behindert. Ein weiteres Problem sei das fehlende Bewusstsein der Behörden und politischen Führungspersonen, besonders unter der damaligen Regierung von Sebastián Piñera, erklärt Marcela von der NGO Chadenatur und ergänzt: „Im Grunde hat uns noch nie eine Behörde, egal von welchem politischen Lager, wirklich bei den Umweltthemen geholfen“ (CB11a). „Und noch weniger werden die Behörden hier gegen Codelco vorgehen“, fügt Javiera hinzu (CB11b).
Codelcos staatliche Schützenhilfe
Codelco operiert zwar als eigenständiges Unternehmen und ist Teil der Gran Minería del Cobre und des Consejo Minero, allerdings besteht bei Codelco nicht nur eine Interessenkonvergenz mit den anderen großen in Chile operierenden Bergbauunternehmen und der nationalen besitzenden Klasse, sondern auch teilweise eine Interessenverschmelzung mit Behörden des chilenischen Staates. Dies wird besonders durch die staatlichen Zuschüsse an das Unternehmen nach dem Verfall der Rohstoffpreise ab 2014 deutlich. Sogar noch vor dem Ende des Rohstoffbooms waren Codelcos Erträge rückläufig. In der Folge wurde das Unternehmen unter der Regierung von Michelle Bachelet zwischen 2014 und 2018 in der Höhe von vier Milliarden US-Dollar60 staatlich bezuschusst. Ein Jahr nach der ersten Überschwemmung und im Rahmen von anhaltenden Streiks der größten Gewerkschaften des Unternehmens im Jahr 2016 äußerste sich der damalige Direktor von Codelco, Nelson Pizarro mit dem Satz „no hay un puto peso“ (umgangssprachlich: Wir haben keinen verdammten Peso mehr). Dieser Satz wurde daraufhin wochenlang in allen Medien wiederholt, was erneut zu staatlichen Zuschüssen für Codelco führte. Das staatliche Unternehmen machte im ersten Semester des Jahres 2016 Rekordverluste von über 97 Millionen US-Dollar.61 Sowohl die heikle wirtschaftliche Lage62 als auch die Art und Höhe der staatlichen Zuschüsse63 waren allerdings höchst umstritten und in den darauffolgenden Jahren wurde eine Reihe von Skandalen aufgedeckt, die aufzeigten, wo das fehlende Geld des Unternehmens tatsächlich hingeflossen war. Zudem wurde das Unternehmen auch nach der Erholung der Rohstoffpreise unter der Regierung von Sebastián Piñera weiterhin großzügig finanziert.64
Während der Staat also angibt, keine finanziellen Mittel zur Lösung der durch das staatliche Unternehmen (mit)produzierten Umweltprobleme zu besitzen, finanziert er eben dieses Unternehmen, das in diesem Moment weder einen positiven Umsatz macht noch Steuern abgibt, mit wesentlich höheren jährlichen Summen, als für die Lösung eines mittlerweile fast seit einem Jahrhundert bestehenden Problems in Chañaral. Der vermeintliche Wirtschaftsmotor Chiles – dessen Grundlage die Ausbeutung der Bodenschätze des Landes darstellt – wurde in diesen Jahren durch den Staat künstlich am Leben gehalten. Die wirtschaftlichen Interessen Codelcos wurden dabei über diejenigen der Bevölkerung und vor allem der Betroffenen in Chañaral gestellt. Ein weiteres Mal wurde so deutlich, dass es sich beim Bergbau um eines der zentralen Standbeine der Legitimation des bestehenden chilenischen Wirtschaftsmodells handelt.
Codelco genießt dabei eine besondere Position unter den Bergbauunternehmen. Dies hat auch einen erheblichen Einfluss auf den Umgang mit den von Codelco verursachten Umweltproblemen sowie mit der von diesen betroffenen Bevölkerung: „Codelco agiert in den meisten Fällen wie ein privater Akteur, aber wenn es dann plötzlich besser passt, stellt es sich als öffentliches Unternehmen dar. Auf diese Weise verunsichern und verwirren sie auch die Leute“, so der Aktivist Puebla (CB06). Das staatliche Unternehmen muss in Fällen von Protest zudem nicht denselben Umweg wie bspw. das Unternehmen Candelaria in Tierra Amarilla machen, das zur Durchsetzung seiner Interessen eine starke CSR-Politik anwendet und seine territoriale Macht sowie auf seine anderen, bereits dargestellten Machtressourcen und Instrumente zurückgreifen muss, um seine Aktivitäten zu legitimieren und fortzuführen. Codelco kann sich in der Regel auf die direkte Unterstützung des Staates und seiner Behörden verlassen, sowohl was finanzielle Mittel als auch was die Unsichtbarmachung der vom Unternehmen verursachten Probleme sowie der ausbleibenden Kontrolle der Einhaltung der Regulierungen und beim Umgang mit den Betroffenen angeht.
Das bedeutet allerdings nicht, dass die oben als territoriale Macht beschriebenen Praktiken im Falle von Codelco vollkommen ausbleiben. Die direkte Intervention vor Ort wird durch das Unternehmen beispielsweise meistens durch kleinere Zuschüsse oder die Finanzierung kleinerer Projekte durchgeführt. Marcela und Javiera (CB11) schildern, dass besonders die Nachbarschaftsorganisationen, in denen sich der Widerstand früher organisiert hat, regelmäßig kleinere Beträge von Codelco bekommen. „Chañaral ist so arm, dass die Menschen und kleinere Institutionen regelmäßig beim Unternehmen anklopfen, wenn jemand krank wird, ein Weihnachtsfest anfällt oder etwa ein Sportevent organisiert wird und das Geld dafür fehlt […] für Codelco ist das eine sehr billige Lösung und die Leute konfrontieren sie nicht […]. Alle wollen ein Stück vom Kuchen“ (Javiera CB11b). Auch die Gemeinde nehme immer wieder Finanzierung von Codelco entgegen und nutze sie für kleinere Infrastrukturprojekte und Sportplätze, erzählen die beiden.
Es sei allerdings auch schon vorgekommen, dass Codelco direkt interveniert hätte, um einen Konflikt zu verhindern, so Javiera (CB11b). Sie erzählt davon, wie die NGO Chadenatur vorhatte, das staatliche Unternehmen durch eine Sammelklage für die nachgewiesenen gesundheitlichen Folgen der Kinder durch die Tailings zur Verantwortung zu ziehen. Von einem Tag auf den anderen seien die Anwälte, die sie beim Rechtsstreit begleiten wollten, verschwunden. Da sie aus ihrem Bekanntenkreis stammten, kamen schnell Gerüchte auf, die Anwälte hätten nun Grundstücke und neue Autos erworben und „ihre ökonomische Situation endgültig geregelt“. Einer der Anwälte habe ihr später persönlich gestanden, dass Codelco sie „gekauft“ hätte. „Und warum haben sie die gekauft? Weil sie wussten, dass es gute Anwälte waren und dass sie etwas zu verlieren gehabt hätten, wenn diese Klage eingereicht worden wäre. Die Klage war gut gemacht und mit wissenschaftlichen Studien belegt, es gab viele Daten, das war dann plötzlich doch riskant für das Unternehmen“, so Javiera (CB11b). In dieser Beschreibung wird ein ähnliches Vorgehen sichtbar, wie wir es beim Unternehmen Candelaria in Tierra Amarilla bereits beobachtet haben. Auch Codelco versucht, jeglichen Widerstand durch kleinere Zuschüsse und ökonomische Zuwendungen beizulegen. Sobald allerdings ein Konflikt oder gar ein Rechtsstreit droht, der den Fortbestand des Abbauprozesses als ganzen bedrohen oder dem Unternehmen ökonomisch oder symbolisch einen größeren Schaden zufügen könnte, wenden sie auch ernstere Mittel – wie beispielsweise Korruption – an, um die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen einzuschränken.

8.4.6 Staatliche inaction bezüglich der bestehenden Umweltverschmutzung

Staatliche Akteure zogen sich in der dritten Phase größtenteils aus dem Thema der Tailings in Chañaral zurück. Zu den öffentlichen Veranstaltungen, auf denen die Ergebnisse der Untersuchungen zu gesundheitlichen Folgen bei Kindern vorgestellt wurden, erschienen – wie oben beschrieben – weder LokalpolitikerInnen, staatliche RepräsentantInnen oder MitarbeiterInnen von Behörden. Es wurden auch weder anschließende staatliche Untersuchungen durchgeführt noch weiterführende Untersuchungen finanziert (Cuevas CE02). Dr. Mario Cuevas bestätigt im Interview, dass das Thema besonders heikel sei: „Ich wurde mal von einem Journalisten gefragt und habe etwas unbedacht geantwortet, dass ich meine Kinder hier nicht aufwachsen lassen würde. Das kam dann natürlich gleich auf der Titelseite: „Arzt sagt, er würde seine Kinder niemals in Chañaral aufwachsen lassen“. Ich wurde daraufhin sofort ermahnt. Sogar jemand vom Gesundheitsministerium hat angerufen. Die waren empört“, so Cuevas (CE02). Derzeit besteht ein allgemeines Schweigen unter staatlichen Behörden zu den Ergebnissen der Untersuchungen.
Marcela und Javiera (CB11), die beide Mitglieder der lokalen Umweltorganisation Chadenatur sind, erklären, sie hätten kein Vertrauen mehr in die staatliche Wissensgenerierung: „Gerade möchten wir, dass eine Untersuchung über den Feinstaub durchgeführt wird, aber das Problem ist, dass wir dem Gesundheitsministerium nicht vertrauen“, so Javiera (CB11b). Marcela erzählt, die staatlichen Untersuchungen würden immer wieder zu Ergebnissen kommen, die die staatlichen Behörden und Codelco aus der Verantwortung ziehen. So wie bisher das Gesundheitsministerium würde nun auch das Umweltministerium im Rahmen der bereits mehrfach erwähnten Guía Metodológica para la Gestión de Suelo con Potencial Presencia de Contaminantes vorgehen, durch die eine Bestandsaufnahme der kritischen Tailings und deren nähere Untersuchung durchgeführt werden sollte. Meistens sei auch hier das Argument, es gebe nicht genügen Geld für eine ausführlichere Untersuchung, aber das glaube sie nicht, erklärt Marcela (CB11a). „Hier wurde noch nie die Wahrheit erzählt. Es heißt immer es gäbe zwar Umweltverschmutzung, aber man könne hier gut leben“, so Trinidad (CB07). Die lokale Zivilgesellschaft fordert deshalb Untersuchungen von einem externen Akteur, so wie sie etwa vor und nach den Überschwemmungen vom Colegio Médico unter der Leitung von Dr. Tchernitchin durchgeführt wurden. Offizielle Stellen würde diese unabhängigen Studien hingegen ignorieren. Für sie müssten die Daten von den nationalen Gesundheitsbehörden stammen, sonst würden sie von staatlichen Akteuren nicht als gültig anerkannt, berichtet Javiera (CB11b).
Aber nicht nur im Bereich der Wissenschaft, sondern insbesondere, was die Anerkennung der Verschmutzung durch die Tailings und der Behebung der Kontamination angeht, blieb der Staat in den letzten fünfzehn Jahren größtenteils tatenlos. Während nach dem Gerichtsurteil von Seiten Codelcos zumindest teilweise der Versuch unternommen wurde, einen Dialog mit der Bevölkerung herzustellen und auf dringende Probleme – wie beispielsweise die Erosion der Dächer durch die Schadstoffe – mit direkter finanzieller Unterstützung eingegangen wurde sowie die oben beschriebenen gescheiterten Sanierungsmaßnahmen durchgeführt wurden, ist das Unternehmen heute nur noch beschränkt in der Finanzierung vereinzelter Gemeindeprojekte beteiligt. Auch der Staat hat bisher davon abgesehen, dass Unternehmen zu weiteren Maßnahmen zu drängen. Staatliche Behörden haben sich in all der Zeit sowohl was die Kontrolle der Unternehmenstätigkeiten als auch die direkte Hilfe vor Ort anbelangt, weitestgehend zurückgehalten.
Wie viele andere BewohnerInnen beklagt auch Juana (CB02), nie einen Lösungsversuch seitens staatlicher Behörden in Bezug auf das Problem der Tailings miterlebt zu haben. „Nicht einmal Brillen für all diejenigen von uns, die deshalb augenkrank geworden sind“, würde es geben. Auch Cecilia antwortet sofort: „Niemand hat hier je etwas gemacht […] Wir haben schon alles versucht, aber nein, nein, nein ohne Erfolg […] auch [die Gemeinde] hat es mehrfach versucht, aber nein“, bestätigt Roberto (CB03) und schildert eine ähnliche Situation wie in Tierra Amarilla: „Sie [der Staat und CODELCO] richten vor allem die Stadt her, errichten Parks und Fußballstadien. Sie helfen irgendwie der Gemeinschaft, aber lösen das Problem nicht“ (CB03). Dasselbe erzählen auch Gladys (CB05) und Sofia (CB10) und schildern etwas genauer:
„Es gibt dort [am Strand] nichts, nicht einmal ein Schild zur Warnung. Dieser Strand ist einfach für immer dortgeblieben, niemand nimmt ihn wirklich mehr war, weil alles andere rausgeschmissenes Geld wäre. Sie haben mal versucht, dort verschiedene Projekte zu starten. Das hat aber nicht geklappt, weil es einfach keinen Sinn macht. Eine Zeit lang zum Beispiel gab es da sowas wie eine Bühne, ein Restaurant. Nichts davon existiert mehr, weil dieser Strand alles auffrisst […]. Nein, nein derzeit wird da [seitens der Gemeinde] nichts gemacht.“ (Sofia CB10)
Was die Infrastruktur sowie staatliche Dienstleistungen anbelangt ist die Situation in Chañaral zwar eindeutig besser als in Pabellón, dennoch ist sie ähnlich prekär wie in Tierra Amarilla. Zu diesem Fall lässt sich jedoch der Unterschied ausmachen, dass Tierra Amarilla nur 20 Kilometer von der regionalen Hauptstadt Copiapó entfernt ist, während sich in der Nähe von Chañaral keine größere Stadt befindet, auf dessen Infrastruktur seitens der AnwohnerInnen zurückgegriffen werden könnte. Besonders häufig wird in den Interviews die fehlende Infrastruktur im Gesundheitswesen thematisiert. Dem staatlichen Krankenhaus würden sowohl SpezialistInnen als auch insgesamt Gesundheitspersonal fehlen. Die teilweise neu angeschafften medizinischen Geräte und Maschinen seien größtenteils an andere Krankenhäuser vergeben oder verkauft worden, da sie vor Ort niemand bedienen konnte, erzählen etwa Marcela und Javiera (CB11). Cecilia macht das in folgenden Interviewausschnitt deutlich:
„Hier gibt es ein riesiges Krankenhaus, aber keine behandelnden Ärzte. Wenn Leute schwer krank sind, müssen sie nach Copiapó gebracht werden und sterben auf dem Weg, weil sie es nicht schaffen, weil es so weit weg ist und weil es hier eben keine Ärzte gibt. Zu jeder Operation muss man nach Copiapó oder Antofagasta. […] Die Krebskranken werden auch nach Antofagasta geschickt. Ich selbst muss alle drei und alle sechs Monate zur Kontrolle. […] Dort [in Copiapó und Antofagasta] sind die Krankenhäuser voll, deswegen müssen die Leute dann privat zahlen, wenn sie behandelt werden wollen. Und das, obwohl auch da der Service teilweise sehr schlecht ist“ (CB01).
Die wenigen Ärzte in Chañaral seien zudem sehr schlecht für gesundheitliche Probleme ausgebildet, die Folge einer Schadstoffbelastung sind, erläutert Juana. „Generell sind die Ärzte auf die Symptome fokussiert und fragen nie nach dem Kontext, der Arbeit oder dem Wohnort der PatientInnen, deshalb kommen sie meistens gar nicht auf andere Ursachen als die Standartkrankheiten“, erklärt Dr. Cuevas (CB02). Auch Geburten würden in dem örtlichen Krankenhaus nicht mehr durchgeführt: „meine kleinste Tochter ist heute 13 und war eine der letzten, die hier in Chañaral zur Welt gekommen ist. Alle meine Enkel sind danach in Copiapó geboren“, erzählt Trinidad (CB07). Dabei liegt Copiapó über zwei Autostunden entfernt. Insgesamt fühlen sich die meisten Interviewten vom Staat und den staatlichen Behörden im Stich gelassen: „Wir wurden hier von den Behörden einfach verlassen und weil wir eine kleine Stadt sind, schert sich niemand um uns“, beklagt sich María Teresa (CB15). Viele erkennen zwar an, dass sich die Gemeinde in der Vergangenheit immer wieder für eine Lösung eingesetzt habe, derzeit sei allerdings keine Hilfe seitens der Gemeinde zu erwarten, so etwa Pedro (CB13) und Juana (CB02). Genau wie in Tierra Amarilla beschuldigen außerdem fast alle Interviewten den aktuellen Bürgermeister, korrupt zu sein. Sie geben in diesem Fall allerdings keine genauen Angaben, worin sich dies äußere. Die Gewerkschaftsführerin und Angestellte eines Subunternehmens bei Mantos Cooper – auf das ich unten genauer zurückkomme – erzählt, der neue Amtsinhaber würde eine sehr enge Beziehung zu den Bergbauunternehmen pflegen, während er – anders als der vorherige – ein Treffen mit den ArbeiterInnen konsequent ablehnen würde (Trinidad CB07).
Der einzige Bereich, in dem der Staat immer wieder aktiv wird, ist in der Durchführung unterschiedlicher, größtenteils oben bereits aufgeführter, Infrastruktur- und Tourismusprojekte. Diese werden mit der Begründung und dem Versprechen initiiert, dadurch einen wirtschaftlichen Aufschwung für die Kleinstadt herbeiführen zu können. Derzeit wird auch ein neues Strandprojekt bzw. die Errichtung eines künstlichen Strandes und Badeortes in Caleuche – einige Kilometer südlich von Chañaral – diskutiert, sowie ein groß angelegtes Hafenprojekt namens Corredor bioceanico alimenticio y ferroviario, so der Historiker und Lokalpolitiker Barra (CB09). In einer Stadt, in der fast alle Wirtschaftsbereiche – allen voran die Fischerei – stark unter den Tailings gelitten haben, stoßen diese Projekte anfangs meistens auf Zustimmung unter der Bevölkerung. Dabei wird die Tatsache, dass vor Ort eine der schwerwiegendsten Umweltkatastrophen Chiles weiterhin unbehandelt fortbesteht, allerdings grundsätzlich verschwiegen und ignoriert. Dass Tourismusprojekte an einem solchen Ort eine unnötige und stärkere Exposition der Bevölkerung und der potenziellen TouristInnen bedeuten könnten, wird ebenso nicht thematisiert. Deshalb sind die meisten der Tourismusprojekte – wie auch oben schon dargestellt – mit großer Wahrscheinlichkeit langfristig zum Scheitern verurteilt, was auch die bisher umgesetzten und allesamt gescheiterten Projekte bestätigen: Ein gutes Beispiel sind die immer noch existierenden Schwimmbecken der ehemals geplanten Strandpromenade mit Vergnügungspark (siehe González 2018:6) oder die später errichteten Wasserspiegel65 in denen sich bis vor kurzem die Kinder der Stadt badeten, ohne dass eine Behörde eingegriffen hätte. Über diese Becken äußerst sich Sofia empört: „Die Wasserbecken, die werden mit dem kontaminierten Meereswasser befüllt, die sind nicht zum Baden“. Da die Bereitstellung der Becken jedoch von der Gemeinde durchgeführt wurde, hätten viele BewohnerInnen anfangs geglaubt das Wasser sei sauber: „Die Leute glauben das und schicken ihre Kinder da hin, damit sie da baden und sich nass machen. Aber die mussten sie jetzt trockenlegen wegen einer Beschwerde. Die Leute haben sich selbst beschwert, dass das nicht sein darf“ (CB10). Abgesehen von dem kontaminierten Wasser würden die Becken auch nicht den Hygienebedingungen entsprechen, da sie weder Filter noch einen anderen Reinigungsmechanismus besitzen würden, erklärt Javiera (CB11b). Als das Regionalbüro des Gesundheitsministeriums Proben des Wassers nahm, hätten sie nicht nur Schwermetalle darin gefunden, schildert Marcela (CB11a), sondern auch Verunreinigungen durch das Abwasser der Stadt, das teilweise ins Meer geleitet wird. Sie werfen der Gemeinde vor, die Kinder wissentlich in kontaminiertem Wasser baden gelassen zu haben. Dies sei nur möglich gewesen, weil der Zentralstaat diese Projekte überhaupt zugelassen habe. „Solange hier alles verseucht ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht, was man hier machen kann. Der Tourismus ist nicht möglich, das Fischen ist schwierig…“ erklärt Marcela (CB11a), als Javiera (CB11b) sie unterbricht: „Aber die Leute glauben das alles, sie glauben an das Projekt Playa Verde, weil sie denken, dass dadurch später der Tourismus möglich wird, weil sie denken, dass sie im Projekt einen Job bekommen werden und dass hier danach dann ein Resort und viele Restaurants stehen werden, die Leute glauben das alles“. Viele Interviewte beklagen sich darüber, dass der Staat Projekte zur angeblichen Lösung des Problems der Tailings an private Unternehmen mit Profitinteresse vergebe, ohne diese anschließend zu kontrollieren. Die meisten der Interviewten gehen nicht davon aus, dass sich das Problem auf diese Weise lösen lässt. Staatliche action richtet sich – wenn sie auftritt – in Chañaral folglich nicht auf die Lösung der grundlegenden Probleme, die sich aus den Tailings ergeben, sondern auf das Initiieren von Projekten, deren wesentliches Ziel darin besteht, staatliche Präsenz und Fürsorge zu zeigen, während die Behörden genauso wie Codelco an der nachhaltigen Umsetzung der Projekte langfristig kein Interesse zeigen.
Sogar nach den großen Überschwemmungen 2015 und 2017, die für große mediale Aufmerksamkeit gesorgt haben, kam die Katastrophenhilfe hauptsächlich von privaten Akteuren. Der damalige Bürgermeister Salas äußerte sich nach der Überschwemmung von 2017 öffentlich mit den Worten: „der Staat hat uns komplett vergessen.“66 Während bei Überschwemmungen an anderen Orten für die BewohnerInnen sogar staatliche Grundstücke zur Verfügung gestellt wurden, um neue Häuser für Betroffene zu errichten,67 blieb dies in Chañaral aus, obwohl die Stadt besonders stark betroffen war, 150 Häuser komplett zerstört wurden und die ganze Stadt inklusive Straßen, Strom- und Wasserversorgung, Busbahnhof und sonstige Infrastruktur durch die Fluten buchstäblich in zwei geteilt wurde.68 Die finanzielle Unterstützung kam damals hauptsächlich vom international operierenden Großunternehmen Anglo American, das zu dieser Zeit das Bergwerk Mantoverde in der Nähe von Chañaral betrieb und in dem auch viele BewohnerInnen der Stadt arbeiten.69 Im Gegensatz zu Codelco, das heutzutage im Rahmen seiner CSR-Politik vorwiegend kleine Projekte und Festlichkeiten der Bevölkerung und besonders Nachbarschaftsorganisationen finanziert, ging dieses Unternehmen, das ebenfalls für Tailings in unmittelbarer Nähe von Chañaral verantwortlich ist, ähnlich vor, wie das Unternehmen Candelaria in Tierra Amarilla. Das transnationale Unternehmen Anglo American mit Sitz in London schloss mehrere Abkommen mit der Gemeinde von Chañaral zur Förderung des lokalen Handels, der Fischerei und der lokalen Wirtschaft im Allgemeinen.70 Anglo American unterstütze kleine Unternehmen vor Ort direkt,71 errichtete Infrastruktur für kleinere Bergbauunternehmen in der Region72 und baute eine moderne Meerwasserentsalzungsanlage, um den neuen Nachhaltigkeitsstandards zu entsprechen. Bei diesen CSR-Politiken band das Unternehmen, medial begleitet, vor allem auch die lokalen Fischer ein.73 Mittlerweile hat Anglo American das Vorkommen und das zugehörige Bergwerk Mantoverde an Mantos Copper, des global operierenden Konzerns Orion Mine Finance und Audley Mining Advisors Ltd. Orion verkauft, welches den Abbau vor Ort stark expandieren möchte.74
Wie im Fall von Tierra Amarilla zieht sich der Zentralstaat auch in Chañaral aus vielen Bereichen zurück und überlässt die Finanzierung von Gemeindeprojekten in der Regel den privaten Großunternehmen, wodurch eine starke Abhängigkeit der Gemeinde von diesen Unternehmen entsteht. Nicht zuletzt deshalb wird von der Bevölkerung kaum Widerstand gegen die Umweltverschmutzung durch Mantos Verde geleistet. Dass dieses direkt an der Stadt anliegende Privatunternehmen schließlich Arbeitsplätze vor Ort generiert, wo es sonst nur wenige Anstellungsperspektiven gibt, erzählen Marcela und Javiera (CB11). Dabei würden vorwiegend die Subunternehmen, in denen schlechtere Arbeitsbedingungen herrschen, die lokale Bevölkerung einstellen, erzählt die Gewerkschafterin Trinidad (CB07).75

8.4.7 Die (in)action der Bevölkerung

Zwischen Migration und Standortgebundenheit
Während nach den Überschwemmungen im Jahr 2015 einige BewohnerInnen von Chañaral – insbesondere diejenigen, die dabei ihr Haus verloren haben – an die Strände einige Kilometer südlich von Chañaral gezogen sind, weist die Mehrheit der Interviewten eine sehr starke Ortsgebundenheit auf. Das Gros der BewohnerInnen möchte bleiben, obwohl sie sowohl über die Umweltverschmutzung und die permanenten Gesundheitsrisiken als auch über die Gefahr einer erneuten Überschwemmung informiert sind. Erstaunlich ist dabei die starke Polarisierung der Aussagen. Während Chañaral für einige ein hoffnungsloser Ort ohne Zukunft ist, können sich die anderen um nichts in der Welt vorstellen, diesen Ort zu verlassen. Zwischenpositionen fanden sich in den geführten Interviews nicht.76 Cecilia (CB01) erzählt von der Migrationswelle nach den Überschwemmungen: „Viele Menschen verlassen Chañaral. Sie gehen nach La Serena oder Copiapó […], viele haben ihre Häuser [durch die Überschwemmung] verloren“, und fügt hinzu: „Viele leben jetzt an den Stränden in der Nähe, in Puerto Fino, Flamenco oder las Piscinas und la Hippie“ (CB01). Sie hätten sich an diesen Stränden neue Häuser gebaut, führt sie fort: „Alle ziehen dorthin, was sollen sie auch hier machen? Es ist ja alles verseucht“ (ebd.), schildert sie weiter, betont aber gleichzeitig, dass sie selbst den Ort nicht verlassen möchte. Raquel (CB16) erzählt, es sei vor allem die Jugend, die wegziehen würde:
„Hier sollte es eigentlich gute Bildungseinrichtungen für die Kinder und Jugendlichen geben, von dem Geld, das wir aus dem Gerichtsstreit mit Codelco rausgeholt haben, gute Fachhochschulen oder wenigstens eine gute Universität. Alle jungen Menschen ziehen weg. Ich habe fünf Kinder und alle fünf Kinder sind wegen dem Studium weggezogen und dortgeblieben […] hier bleiben nur die älteren“, und sie fügt hinzu: „wir hätten gerne dafür gekämpft, dass unsere Kinder hierbleiben können. Aber wir mussten einsehen, dass die Realität anders aussieht. Wir müssen jetzt dafür kämpfen, dass sie wo anders sein können, wo es ihnen besser geht, wo sie einen Job und eine gute Ausbildung haben. Das ist das einzige. was wir für sie tun können, mehr nicht“ (CB16).
Juana (CB02) gesteht, sie würde gerne wegziehen, wisse aber nicht wohin und wäre jetzt einfach auch schon zu alt dafür. Sofía (CB10) erzählt, sie selbst sei nach der Überschwemmung weggezogen:
„Ich, also wir als Familie, mit meinen beiden Kindern, wir haben jetzt ein Haus an einem der anderen Strände. Wir sind genau deswegen von hier weg, weil man hier nicht leben kann […]. Chañaral wird vom Wind komplett vom Staub bedeckt, mit den Überresten der Schadstoffe und der Tailings […]. Wir sind gegangen und haben jetzt ein Haus in Caleuche, das ist ein bisschen weiter, ungefähr zehn Minuten von hier […]es passiert immer häufiger, dass die Leute ihre Sachen packen und an einem der Strände ein Haus bauen. Es gibt in den letzten zwei Jahren einen regelrechten Boom […] Vor allem ist die Luft da ganz anders, sauber und es liegt direkt am Meer […]. Dort gibt es noch eine Fischerbucht und es wird gefischt.“ (CB10).
Die meisten der Interviewten antworteten auf die Frage, ob sie persönlich aufgrund der Überschwemmungen oder der Umweltverschmutzung Chañaral verlassen würden allerdings wie Pedro (CB13a): „Neeein, neeein, ich niemals. Die Leute bleiben einfach hier, sie bleiben trotzdem hier“, oder wie María Teresa (CB15): „Ich würde hier nicht weggehen, es gefällt mir hier.“ Und obwohl sie selbst im Interview ausgiebig beschreibt, wie verschmutzt Chañaral sei, fügt sie hinzu: „Ich müsste einen sehr, sehr starken Grund haben, um zu gehen, z. B. dass rauskommt, wie stark wir wirklich verseucht sind. Dann müsste ich ja quasi gehen. Wer würde schon bleiben, bei einer so starken Verseuchung?“ (CB15). Fast alle geben an, es gebe einen sehr starken Zusammenhalt unter den BewohnerInnen Chañarals und trotz allem eine starke Verbundenheit mit dieser Stadt. Trinidad beschreibt die Empfindung der Mehrheit – wie sie sich aus den Interviews ergibt – exemplarisch: „Ich wohne jetzt wieder seit zwanzig Jahren in Chañaral und ich denke ich werde jetzt auch nicht mehr gehen. Ich habe hier mein Häuschen, meine Arbeit. Sobald ich wegfahre, vermisse ich mein Chañaral. Ich bin zurückgekommen, um zu bleiben“ (CB07). „Auch ich gehöre zu denen, die lieber geblieben sind“, erzählt die Umweltaktivistin Javiera (CB11b): „Nach der Überschwemmung hatte ich die Möglichkeit nach Santiago zu gehen, aber ich habe mich gegen meinen Mann durchgesetzt. Ich wollte bleiben. Vielleicht baue ich mir langfristig ein Haus an einem der Strände, da kann man sich die Grundstücke einfach nehmen, das Land besetzen und dann vielleicht überschreiben lassen. Das ist nah genug, um regelmäßig herzukommen“ (CB11b). Javiera ist eine der BewohnerInnen, die am besten über die Schadstoffbelastung informiert ist und sogar von den Schwermetallwerten in den Körpern ihrer Kinder weiß und dennoch bleibt. Was sie hier hält, sei die Familie und der gemeinsame Kampf gegen die Kontaminierung. Wie schon beschrieben, raten ExpertInnen den BewohnerInnen allerdings explizit und öffentlich aus Chañaral wegzuziehen. Dr. Tchernitchin geht sogar so weit zu sagen, die ganze Stadt müsse einige Kilometer in den Süden verlegt werden, alles andere sei verantwortungslos gegenüber den BewohnerInnen.77
Im Gegensatz zu Pabellón und Tierra Amarilla ist Chañaral nicht durch den Bergbau entstanden, sondern war einst eine schön angelegte Küstenstadt, die sogar trotz der sichtbaren Zerstörung durch die Überschwemmungen bis heute einen hohen ästhetischen Wert für die BewohnerInnen besitzt (siehe Abbildung 8.5). Viele sprechen in Bezug auf den weißen „Sandstrand“ gar von einer künstlichen „Schönheit“. Anders als die anderen beiden untersuchten Fälle besitzt Chañaral außerdem ein lebendiges Stadtleben, das mit einer starken kollektiven Identität als Chañaralinos einhergeht, die sich in den Schilderungen der BewohnerInnen widerspiegelt: „Wir Menschen hier empfinden eine Liebe und eine starke Verwurzelung mit unserer Gegend und es ist nur natürlich, dass viele Chañaral nicht verlassen wollen“, schildert der Historiker Humberto Barra (CB09). Ein weiterer Grund für die Verbundenheit mit der eigenen Stadt sei paradoxerweise die von Umwelt- und Naturkatastrophen geprägte Geschichte der Stadt (siehe hierfür Monroy 2017 und Monroy 2018) und eine mit dieser einhergehenden Selbstzuschreibung als besonders resiliente Bevölkerung. Die Menschen Chañarals hätten den Katastrophen immer wieder getrotzt, worauf die BewohnerInnen stolz seien, erklärt Barra (CB09).
Zwischen Resignation und Widerstand: Zivilgesellschaft und lokale Organisierung
Unter der Bevölkerung, die sich gegen die Abwanderung entschieden hat, ist die Akzeptanz und Normalisierung der Tailings im Alltag weit verbreitet. Trotz der Sichtbarkeit der Tailings und des weit verbreiteten Wissens über ihre möglichen Konsequenzen sowie der permanenten Möglichkeit einer erneuten Überschwemmung, gibt es heute wenig Widerstand unter der Bevölkerung in Bezug auf die Tailings des Bergbaus. Resignation und Ohnmacht werden immer wieder als Hauptgründe dafür geschildert. Die Ohnmachtsgefühle werden auch teilweise durch die vielen wissenschaftlichen Untersuchungen ausgelöst, die zwar einerseits die Existenz eines schwerwiegenden Risikos suggerieren, andererseits aber selten oder kaum klare Ergebnisse über ihren persönlichen Gesundheitszustand oder die Risiken und Zusammenhänge an die untersuchte Bevölkerung weitergeben (González 2021): „Wir fühlen uns manchmal wie Labormäuse. Sie kommen und entnehmen uns Proben, geben uns Information und lassen uns erwartungsvoll zurück. Wir wollen unsere Ergebnisse wissen und ob das Gesundheitsministerium dieses Mal Verantwortung übernimmt. Danach kommen sie ganz leise wieder zurück und sagen es sei alles doch nicht so schlimm gewesen“ (González 2021).78 Alle erzählen zudem, es sei in den letzten Jahren seitens des Staates oder des Unternehmens nie etwas gegen die Verseuchung gemacht worden. „Niemals, niemals …hier wurde niemals etwas gemacht. Hier gab es Proteste, es kam die Regierung, es kam ein Präsident, vor vielen Jahren kam ein Präsident. Aber das sind zu große Unternehmen gegen eine so kleine Ortschaft“, erzählt Glayds (CB05) und fügt hinzu „Vor sehr vielen Jahren gab es starke [Proteste], alle Leute gingen protestieren und das über viele, viele Jahre. Das hier ist ja der zweitverseuchteste Strand der Welt. Heute ist das nicht mehr so“ (CB05). Raquel wird noch deutlicher: „Das läuft nach dem Motto: ich kauf dir das hier ab, aber du schweigst danach für immer. Das ist hier mit vielen passiert, viele Umweltaktivisten wurden so zum Schweigen gebracht, oft haben sie einfach ein gutes Jobangebot bekommen. Es kommen große Unternehmen und sofort geht das Geld um“ (CB16). Die fehlende Gewissheit und die ausbleibenden staatlichen Handlungen führen unter der Bevölkerung zur Verunsicherung und zur Resignation, wie sie auch Auyero und Swinstun (2008a, 2008b) beobachtet haben und sie Singer (2011) treffend als toxische Frustration beschreibt (siehe Fall Pabellón und González 2021).
Auch die Umweltaktivistin Javiera schildert eine ähnliche Situation. Mit Blick auf die Beziehung zwischen dem Unternehmen Mantos Cooper und den lokalen Fischern und Tauchern, die am meisten von den Tailings und der Entsalzungsanlage von Mantos Cooper betroffen sind, erläutert sie:
„Wir [die Umweltbewegung] haben heute trotzdem nicht die Unterstützung der Fischer. Sie wurden von dem Unternehmen durch viele Projekte und Gelder unterstützt. Sie haben die Fischer eingekauft, wie man so sagt. Die müssen für den Fischfang allerdings mittlerweile sehr weit rausfahren, weil es hier nichts mehr gibt und wenn, dann ist es stark verseucht. Auch die Gemeinde und die staatlichen Behörden wie Sernapesca geben ihnen immer wieder Gelder und Projekte“ (Javiera, CB11b).
Diese Gelder seien dafür verantwortlich, dass die Fischer und Taucher – einer der früheren Hauptakteure des Widerstands – der Verseuchung heute tatenlos gegenüberstehen würden. Javiera und Marcela (CB11) sind zudem besonders verärgert über die Tatenlosigkeit der Frauen und Mütter vor Ort. Vor allem, nachdem die wissenschaftlichen Untersuchungen stark eingeschränkte Lungenfunktionen und so hohe Schwermetallwerte im Blut vieler Kinder nachgewiesen haben, hätten sie einen größeren Widerstand unter ihnen erwartet: „Ich bin sehr verärgert darüber, dass die Frauen hier nicht aufwachen, wir haben oft mehr Sinn für die Umwelt […], aber hier sind sie regungslos und ziehen es vor zu schweigen“ (CB11a). Javiera, die selbst zwei Kinder hat, teilt diese Meinung. Eine von diesen Frauen, die untätig bleiben, ist María Teresa. Sie freut sich über das Handeln der AktivistInnen, gibt aber zu, selbst resigniert zu sein:
„Schauen Sie, ich bin sehr passiv, ich fordere nichts, ich gehöre zu diesen Leuten, die sich nie beschweren, in meinem ganzen Leben habe ich das noch nicht gemacht. Ich bewundere diese Leute, die ihre Schilder schreiben und auf die Demonstrationen gehen. Ich selbst bin einfach passiv […]. Wären meine Kinder noch klein und jetzt in Gefahr, dann wäre das vielleicht anders“ (María Teresa, CB15).
Dennoch gibt es auch heute noch vereinzelten Widerstand und eine Reihe von Organisationen, die sich dem Thema der Tailings widmen und immer wieder kleine Teile der Bevölkerung mobilisieren können (Cortés 2014:28). Allen voran handelt es sich dabei um die lokale Organisation Chadenatur und die lokale ökologische Partei, die beide in enger Beziehung zu nationalen NGO und Umweltbewegungen stehen. Nach einer längeren Ruhepause, insbesondere nach dem Gerichtsstreit und den vermeintlichen Lösungen des Unternehmens in der zweiten Phase von den 1970er bis in die 2010er Jahre, die dazu geführt haben, dass die Bevölkerung eine Zeit lang geglaubt hat, die Verseuchung sei behoben worden, war es die NGO Chadenatur und vor allem ihr Gründer Manuel Cortés79, die ab 2001 durch Recherchearbeiten zur Wiedergewinnung des Wissens über die Belastung des Strandes durch Tailings und deren Geschichte in Chañaral beigetragen haben. Dabei sammelten sie zudem die bestehenden Studien, die die heute noch bestehenden Schadstoffe nachweisen. Die Gründungsmitglieder der lokalen NGO hatten von den Schadstoffen selbst zuvor keine oder kaum Kenntnisse und sind durch ihre eigene Betroffenheit auf Spurensuche nach den Ursachen ihrer Leiden gegangen (CB11a).80 Egal, wen wir in Chañaral nach Personen fragten, die sich dem Thema der Tailings widmeten, Manuel Cortés sowie die NGO Chadenatur und die ökologische Partei, in denen er aktiv ist, wurden stets genannt. Spätestens nachdem sein Buch „La Muerte Gris de Chañaral“ (Der graue Tod von Chañaral) erschien, ist Cortés zum Gesicht der lokalen Umweltbewegung geworden. Damit stieß er allerdings nicht nur auf Unterstützung, sondern teilweise auch auf Hass unter der lokalen Bevölkerung, so eine andere Aktivistin (CB11a): „Einige werfen uns vor, problematisch und polemisch zu sein. Sie wollen das Problem einfach nicht sehen. Deswegen fangen wir jetzt mit Infoveranstaltungen in den Schulen an, als neutrale Personen, damit wenigstens die Kinder darüber erfahren“, führt sie fort. Für die Gemeinde seien NGO wie Chadenatur ein „nerviger Floh im Ohr. Sie hindern uns immer wieder an unserer Arbeit, weil sie nicht wollen, dass die Umweltprobleme wieder zum Thema werden“, so Javiera (CB11b).
Die NGO Chadenatur ist allerdings nicht die einzige lokale Organisation, die sich dem Thema der Tailings und Umweltthemen im Allgemeinen widmet. Außer ihr finden sich noch Red Ecovida, Colectivo Ciudadano, Animal Dignity, Ina Panqara und Chañaral Despierta (siehe auch Cortés 2014:153 f). Chadenatur ist zudem auf nationaler Ebene gut vernetzt und bspw. Teil der Red Nacional de Acción Ecológica (RENACE), dem Institut für Politische Ökologie (Instituto Ecología Política-IEP), dem Observatorio Latinoamericano de Conflictos Ambientales (OLCA) und dem Programa Chile Sustentable (Cortés 2014:153 ff). Aber auch viele andere nationale NGO wie Fundación Chile und Terram haben ein Auge auf die Geschehnisse in Chañaral. Im Gegensatz zum Fall von Pabellón, der für diese nationalen NGO nicht bekannt ist und Tierra Amarilla, der einen eher umstrittenen Fall darstellt, ist Chañaral zu einem emblematischen Konflikt unter den chileweiten Umweltproblemen durch Tailings geworden. Allerdings steht den kritischen Stimmen vor Ort sowie den NGO, die sich damit befassen, kaum staatliche oder anderweitige Finanzierung zur Verfügung. Eine Mitarbeiterin von Terram erklärt, die Gelder müssten oftmals im Ausland angeworben werden und seien dann jeweils für ein spezifisches Thema bestimmt. Für Tailings hätten sie noch nie eine Finanzierung bekommen, dieses Thema würde deshalb auch nur am Rande bearbeitet (Fabiola Contreras PZ04).
Nach einem kurzen Aufleben der Proteste direkt nach den Überschwemmungen ließen die Kämpfe und Proteste unter der Bevölkerung stark nach. Früher sei das anders gewesen, erzählt Marcela: „es gab Zeiten, da waren die territorialen Organisationen sehr stark, vor allem die Nachbarschaftsorganisationen (Juntas de Vecinos). Damals kam es zu einer großen Bewegung. Das ging mit der Zeit verloren. Heute gibt es neue Führungsfiguren in diesen Organisationen, die sehr obrigkeitstreu sind, dann stirbt sowas mit der Zeit“ (CB11a). Diese Problematik kann auch daran erkannt werden, dass die bahnbrechenden Untersuchungsergebnisse von Dr. Cáceres, die es ermöglichen würden, Codelco für einige der Gesundheitsprobleme vor Ort verantwortlich zu machen, auf kein besonderes Interesse unter den Betroffenen stießen. Ein an der Studie beteiligter Arzt beschreibt die Situation wie folgt:
„Außer von Chadenatur gab es kaum Interesse an den erhobenen Daten. Große Umwelt-NGO widmen sich kaum dem Thema. Erstens haben sie keine Gelder dafür, gleichzeitig ist es aber vor allem ein heikles Thema, weil das Kupfer immer noch „das Einkommen Chiles“ ist. Diejenigen bei denen kaum etwas von diesem Einkommen ankommt, die kaum davon profitieren, also die Bewohner und Arbeiter schweigen wiederum, weil sie oft selbst im Bergbau arbeiten“ (CE02).
Der harte Kern der Bewegung ist allerdings weiterhin aktiv. Manche der Frauen – wie etwa Sandra, Marcela und Javiera – sind Teil der Organisation Mujeres en Zonas de Sacrificio (Frauen aus den Opferzonen), die in den letzten Jahren – besonders durch deren Bedeutung für den emblematischen Konflikt in Quintero und Puchincavi81 – stark an Bedeutung gewonnen haben. Sie beteiligen sich weiterhin an (inter)nationalen Treffen unter Umweltorganisationen und -aktivistInnen – wie etwa den Encuentro Nacional de Mujeres Ecologistas – oder nehmen mit großen Schildern, die auf die Missstände in Chañaral hinweisen, an den großen Demonstrationsmärschen in der Hauptstadt Santiago teil. Trotz des Abflauens der lokalen Protestbewegungen bleiben die AktivistInnen folglich weiterhin Teil der nationalen zivilgesellschaftlichen Vernetzung. Der Aktivist Sergio Puebla wirkt im Interview müde und resigniert und erklärt, er würde weiterkämpfen, aber vor allem, weil er stur sei, er glaube persönlich nicht mehr an eine baldige Lösung. Die Menschen vor Ort seien zu passiv, zu wenig vereint: „Manchmal denke ich sogar es könnten vielleicht die Wirkungen der Schadstoffe selbst sein. Hohe Bleiwerte etwa führen zur Verlangsamung der Hirnaktivitäten und einem niedrigeren Intelligenzquotienten. Manche hier sind wie taub“ (CB06). Vor allem aber sei es die Resignation und die Hoffnungslosigkeit, nachdem so lange Zeit keine einzige Behörde etwas gegen die Tailings unternommen habe. Besondere Angst habe er immer, wenn von Entschädigungen die Rede sei, da werde meistens nichts gelöst, aber die Menschen mit attraktiven Geldsummen geblendet, die aber keinen wesentlichen Unterschied in ihrem Leben machen könnten. Wenn sie später wegen der Verseuchung wieder unzufrieden sind, dann könne sich der Staat oder das Unternehmen auf diese Entschädigungen als Lösungen berufen, so Puebla (CB06).
Im Moment des Interviews hat Sergio Puebla gerade eine Beschwerde gegen die Genehmigung der Wiederaufarbeitungsprojekts der Tailings Playa Verde eingereicht, da der Verdacht auf eine noch größere Umweltverschmutzung durch die Wiederaufarbeitung und die Bewegung der am Strand lagernden Tailings bestünde: „Viele ärgern sich, wenn wir sowas sagen“ erzählt Marcela (CB11), „sie sagen, wir Umweltaktivisten würden nur Probleme machen. Dabei sind wir ja gar nicht unbedingt gegen den Fortschritt. Aber eben einen richtigen Fortschritt, einen der verantwortungsvoll und nachhaltig für die Gemeinschaft ist“ (CB11a). Genau wie in Tierra Amarilla kämpft auch die Zivilgesellschaft von Chañaral für eine öffentliche staatliche Anerkennung als Opferzone (zona de sacrificio). Dieser Status würde den Staat zur Verantwortung ziehen, wodurch tiefergreifende Maßnahmen erst möglich gemacht würden, so Puebla (CB06).

8.5 Viertes Zwischenfazit

Im Unterschied zu Pabellón und Tierra Amarilla ist im Fall von Chañaral in der Vergangenheit ein manifester sozial-ökologischer Konflikt entstanden, der nicht nur öffentliche Aufmerksamkeit für das Problem der Tailings in Chile geschaffen hat, sondern durch den gewonnenen Rechtsstreit auch einen emblematischen Sieg im Bereich der sozial-ökologischen Kämpfe Chiles darstellt. Trotzdem bleibt das grundlegende Problem mit den Tailings in Chañaral – wie ausführlich dargelegt wurde – bis heute bestehen. Ein wesentlicher Grund für das Entstehen der sozial-ökologischen Konflikte in Chañaral besteht in der Tatsache, dass im Gegensatz zu den meisten anderen Fällen von Umweltverschmutzung durch Tailings, die Tailings in Chañaral von Anfang an physisch und materiell sichtbar und ihre Konsequenzen bezüglich der Artenvielfalt in der Bucht deutlich beobachtbar waren. In diesem Fall war es nicht zuletzt ihre materielle Sichtbarkeit und ihre daraus entstehende Wirkungskraft, die zur Problemwahrnehmung und der Wissensgenerierung seitens der Betroffenen führte. Wie aus den historischen Aufzeichnungen zu entnehmen ist (siehe etwa Vergara 2011, Monroy 1999 oder Cortés 2014), hatten die BewohnerInnen und besonders die Fischer und Taucher durch ihre Beobachtungen, ihre Erfahrungen und ihr praktisches Wissen bereits Gewissheit über die physischen Veränderungen und die Verseuchung der Bucht von Chañaral. Trotzdem fehlten den BewohnerInnen lange Zeit die wissenschaftlichen Beweise, um dem Problem auch rechtlich Anerkennung zu schaffen, da das Wissen der Betroffenen nicht als solches anerkannt wurde.
Beim Thema der Tailings spielt generell wissenschaftliches Wissen als einzige gesellschaftlich valide Wissensform eine zentrale Rolle. Das Wissen der traditionellen Fischer und Muscheltaucher über die Fischbestände oder die Artenvielfalt in der Bucht sowie das Wissen der Bevölkerung, das sie aus ihren Beobachtungen und Erfahrungen und ihrer eigenen Betroffenheit ziehen, ist dementsprechend ungültig, wenn es um die Problemdefinition geht. Anhand der Geschichte von Chañaral wird die Abwertung anderer Wissensformen (De Sousa Santos 2010, Wehling, 2006) besonders deutlich. Der jahrzehntelange Kampf der Bevölkerung und die reichhaltigen Beweise, die die Fischer und AnwohnerInnen gesammelt und dokumentiert hatten, konnten anfangs durch eine einzige staatliche Untersuchung, die die Verschmutzung und Risiken negierte, widerlegt werden. Zwei Jahrzehnte später wurde dieses widerlegte Wissen allerdings auch wissenschaftlich bestätigt und konnte dann sogar als Grundlage für eine rechtliche Klage fungieren. Unter den AkteurInnen, die zur Generierung wissenschaftlichen Wissens anerkannt sind, gibt es zudem eine klare „Gültigkeitshierarchie“ der Ergebnisse. Staatliche Institutionen haben hier – wie am Falle Chañarals deutlich wurde – das letzte Wort.
Die hegemonial anerkannte Wissensform des „wissenschaftlichen Wissens“ ist – wie sich an diesem Fall zeigt – einerseits also essenziell, um legale Aktionen oder „berechtigten Widerstand“ leisten zu können. „Wissenschaftliches Wissen“ ist aber gleichzeitig kein Garant für darauffolgende Handlungen, weder seitens des Staates, des Unternehmens noch seitens der Bevölkerung – wie besonders in der letzten Phase der Geschichte des verschmutzten Strandes in Chañaral deutlich wurde. Die neueren Untersuchungen ab 2013 haben erstmalig einen direkten Zusammenhang zwischen den Tailings und den gesundheitlichen Folgen bei den Betroffenen nachweisen können. Dabei handelt es sich um Daten, die in den meisten ökologischen slow violence-Phänomenen fehlen, um den Verursacher zur Verantwortung ziehen zu können. Dennoch hatten gerade diese Untersuchungen bisher kaum actions seitens der Betroffenen zur Folge. Trotz der in diesem Kapitel dargelegten erdrückenden Datenlage, die sich aus den unzähligen bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen ergibt, erklären staatliche Autoritäten diese Ergebnisse ohne die Überprüfung durch die zuständigen offiziellen Behörden als ungültig. Gleichzeitig werden aber seitens des Staates keine Maßnahmen eingeleitet, um die Untersuchungsergebnisse der anderen wissenschaftlichen Institutionen zu überprüfen. Diese gezielten staatlichen inactions und die passive Komplizenschaft mit dem staatlichen Unternehmen schränken auch die Handlungsmöglichkeiten der anderen beteiligten AkteurInnen erheblich ein. Weiterführende Studien könnten staatliche Behörden zwar zu weiteren actions zwingen, die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft, die diese durchführen könnten, hängen in Chile allerdings stark von der Finanzierung durch staatliche und private Akteure ab (siehe Kapitel 5). Dass die voraussichtlichen Ergebnisse solcher Untersuchungen allerdings weder im Interesse des staatlichen Unternehmens Codelco noch anderer Bergbaukonzerne und eben so wenig des Zentralstaates und der besitzenden Klassen, die viele der Forschungs- und Meinungsinstitute kontrollieren, wären (siehe Kapitel 5), erschwert die weitere Wissensgenerierung zu den Tailings. Die derzeit bestehende Sichtbarkeit innerhalb der nationalen Öffentlichkeit oder die Beteiligung der großen chilenischem Umwelt-NGO hat bisher nicht zu weiteren actions seitens des Staates oder Codelcos geführt.
Während die physische materielle Sichtbarkeit des künstlichen „Strandes“ schon in der ersten geschichtlichen Phase von 1938 bis 1971 zur kollektiven Problemwahrnehmung unter den BewohnerInnen geführt hat, trug die materielle Unsichtbarkeit der chemischen Substanzen, die in ihm enthalten sind, im Fall von Chañaral wiederum dazu bei, dass die vermeintliche Dekontaminierung rein symbolisch und kosmetisch stattfinden konnte. Der Strand blieb in der Folge weiterhin gleichermaßen belastet. Die angebliche Lösung des Problems und die Schwierigkeit für die Bevölkerung dies ohne wissenschaftliche Untersuchungen zu überprüfen, ermöglichte es in der zweiten geschichtlichen Phase von den 1970er bis in die 2010er Jahre durch eine Reihe symbolischer Aktionen, die Harmlosigkeit des Strandes „zu beweisen“ und auf diese Weise ein weiterhin bestehendes Umweltproblem über einen längeren Zeitraum wieder unsichtbar zu machen. Der Konflikt ist in dieser Zeit nicht nur latent geworden, sondern gänzlich verschwunden. Laut Angaben der Interviewten hatte die symbolische Unsichtbarmachung ihre beabsichtigte Wirkung erzielt und für die meisten das Problem als gelöst dargestellt. Die Geschichte des Strandes und der vorhergehenden sozial-ökologischen Kämpfe schien nicht mehr relevant und geriet in Vergessenheit. Auch wenn das kollektive Vergessen in Chañaral nie vollständig und nur von kurzer Dauer war, musste die Geschichte der Umweltverschmutzung und der Herkunft und Zusammensetzung der Industrieabfälle danach erst wieder neu zusammengetragen und aufgearbeitet werden. Die Geschichte und der gewonnene Gerichtsstreit wurden – vor allem von HistorikerInnen und zivilgesellschaftlichen AkteurInnen – erst im Nachhinein wieder öffentlich bekannt gemacht. Die zweite historische Phase zeigt, wie stark sich die actions bestimmter anerkannter – in diesem Fall staatlicher – AkteurInnen auch auf die Gefahrenwahrnehmung und das Wissen anderer AkteurInnen auswirken kann und vor allem auch, wie Wissen und Nichtwissen genauso wie Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit kein permanenter und – einmal erreicht – relativ konstanter Zustand, sondern ein Prozess sind. Vielmehr wird in der zweiten und dritten Phase deutlich, dass es – gerade bei slow violence-Phänomenen – zu häufigem und schnellem Fluktuieren zwischen den gegensätzlichen, sich scheinbar ausschließenden Ausprägungen dieser Variablen kommen kann. Auch die actions und der Widerstand seitens der Betroffenen folgen dieser Tendenz. Während sich der anfängliche diffuse Widerstand mit den Jahren zu einem manifesten Konflikt formiert hat, ist dieser Konflikt Anfang der 2000er Jahre gänzlich niedergelegt worden und besteht heute – nach erneuerter Sichtbarwerdung der Umweltverschmutzung – in Form eines latenten Konflikts fort. Bei slow violence-Phänomenen, wie sie die Tailings am Strand von Chañaral darstellen, kann das Wissen über ihre Existenz und über ihre Auswirkungen – wie sich in diesem Fall gezeigt hat – durch die Produktion von Ungewissheit besonders gut manipuliert werden. Auf diese Weise kann ein vorher allgemein wahrgenommenes Problem trotz seines Fortbestandes innerhalb von kurzer Zeit sowohl für die Betroffenen als auch für die Öffentlichkeit verschwinden.
Der Staat ist in Chañaral, genau wie in den anderen beiden Fällen, auf lokaler Ebene weitestgehend abwesend und im Umgang mit Tailings durch eine toxische Institutionalität gekennzeichnet. Außer bei Maßnahmen, die in direkter Verbindung mit der (symbolischen) Unsichtbarmachung des Umweltproblems der Tailings stehen, traten staatliche Behörden kaum als aktiv handelnder Akteur auf, sondern führten eine passive Komplizenschaft mit dem staatlichen Unternehmen. Zu diesen Praktiken der Unsichtbarmachung gehören auch die groß angelegten Infrastruktur- und Tourismusprojekte, die den verseuchten künstlichen Strand als Erholungsort umfunktionieren sollen, die Errichtung von Nationalparks in unmittelbarer Nähe der kontaminierten Bucht sowie medial inszenierte Besuche von hochrangigen PolitikerInnen und der Einweihung des „zurückgewonnenen Badestrandes“ durch das Erscheinen des Präsidenten höchst persönlich und seinem anschließenden Bad inmitten der Tailings. Staatliche Behörden fungieren in diesem Fall als aktiver Treiber der symbolischen Unsichtbarmachung. Gleichzeitig werden grundlegende Dienstleistungen, Infrastruktur sowie Sozial- und Katastrophenhilfe hauptsächlich von privaten Bergbauunternehmen im Rahmen ihrer CSR-Politik unterstützt. Ökonomisch besonders durch die Tailings benachteiligte Gruppen, wie etwa die Fischer und Taucher, werden dabei vorrangig begünstigt. Neben dem lokal praktisch abwesenden Staat spielen in der Folge daher Formen der territorialen Macht eine Rolle, die von den Bergbauunternehmen ausgehen, teilwiese staatliche Funktionen ersetzen und zu einer Untergrabung kollektiven Protestpotentials führen.
Dass Ende der 1980er ein Gerichtstreit gegen ein Bergbauunternehmen von der Größe von Codelco eingeleitet wurde und die Beweislage, bei damaliger Rechtslage ausreichend war, um diese Klage zu gewinnen, war in doppelter Hinsicht eine Premiere in Chile. Der Erfolg der Klage kam für viele BeobachterInnen, die Betroffenen und vermutlich auch für das Unternehmen unerwartet. Allerdings wurde Codelco damals lediglich dazu verpflichtet, die Abwässer und Tailings nicht weiterhin durch den Río Salado bis an die Bucht von Chañaral abzuleiten. Von einer Wiedergutmachung, Restaurierung oder gar endgültigen Lösung der Umweltverseuchung war nicht die Rede. Das Unternehmen wurde bis heute nie von staatlichen Behörden zu einer Lösung des Problems der Tailings verpflichtet, obwohl die Verseuchung später sogar von den Vereinten Nationen als eine der schwerwiegendsten Umweltskandale des Pazifikraums anerkannt wurde. In Chañaral wird deutlich, dass sogar ein manifester, erfolgreicher, sozial-ökologischer Konflikt, dem es gelingt, ein Unternehmen mit einer internationalen Relevanz im Kupferabbau wie es Codelco ist, erfolgreich zu verklagen, an die institutionell gefestigten Strukturen des chilenischen Wirtschaftsmodells stößt. Auch heute noch fehlt jegliche Regulierung „historischer“ Tailings, die es den Betroffenen ermöglichen würde, das Unternehmen auch rechtlich zur Verantwortung zu ziehen (siehe Kapitel 5).
An den ausbleibenden Folgen des Gerichtsprozesses aus dem Jahr 1988 und der dargelegten staatlichen inaction bezüglich der Tailings in Chañaral zeigt sich zudem die Nähe der Bergbauindustrie zu den staatlichen Behörden. Diese Interessenkonvergenz einer Industrie sowie eines Staates, dessen wirtschaftliche Grundlage auf den Umsätzen dieses Wirtschaftsbereiches basiert, führt zu einer starken Machtkonzentration. Im Falle von Chañaral wird hier die Hegemonie von Codelco sowohl über die Betroffenen als auch über die Problemdefinition an sich deutlich. Die Handlungsmöglichkeiten der Bevölkerung, sich gegen ein staatliches Unternehmen durchzusetzen, das unter der Obhut der staatlichen Behörden und Kontrollinstanzen operiert, sind in der Folge gering. Diese Interessenkonvergenz ist neben der auch im Falle von Chañaral – besonders nach den katastrophalen Überschwemmungen der letzten Jahre – vorzufindenden environmental injustice (Pulido 1996), einer der Hauptgründe für die Ohnmacht, Resignation und alltäglichen Normalisierung der Tailings, wie in den Interviews deutlich wird.
Der Fall Chañaral ermöglicht es anhand eines der wenigen öffentlich sichtbar gewordenen, durch Tailings verursachten Umweltprobleme, nicht nur zu analysieren, welche Faktoren und Mechanismen die Sichtbarkeit von Umweltproblemen und Gesundheitsrisiken be- oder verhindern, sondern auch jene Mechanismen, Strukturen und actions aufzuspüren, die wieder zur Unsichtbarkeit des bereits sichtbar gewordenen Problems führen können und welche AkteurInnen aktiv daran beteiligt sind. Der Fall zeigt zudem auf, dass die Gefahrenwahrnehmung und die Gewissheit der Bevölkerung sowie deren Zugang zu offiziell anerkanntem „wissenschaftlichem Wissen“ alleine nicht ausreichen, damit ein manifester sozial-ökologischer Konflikt entsteht oder Maßnahmen zur Lösung seitens anderer, beteiligter AkteurInnen eingeleitet werden. Sie sind zwar eine Grundvoraussetzung für die Sichtbarkeit dieser Schadstoffbelastung durch die Tailings, konnten aber im Laufe der Geschichte von Chañaral nur ein einziges Mal eingesetzt werden, um gegen die weitere Kontaminierung des Strandes vorzugehen. Besonders seitens des Unternehmens und des Staates waren sie vorwiegend ausschlaggebend für actions, die zum Ziel hatten, die Gefahrenwahrnehmung der Betroffenen und der Öffentlichkeit zu beeinflussen und die belastenden Befunde zu widerlegen.
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Fußnoten
1
La Municipalidad (2021, 8. April): Chañaral, [online] https://​www.​la-municipalidad.​cl/​municipalidad-chanaral.​html [08.03.22].
 
2
Easton Vargas, Gabriel (2016, 4. November): Chañaral: El baño de Lagos y la espera de un diálogo ciudadano, [online] https://​ciperchile.​cl/​2016/​11/​04/​chanaral-el-bano-de-lagos-y-la-espera-de-un-dialogo-ciudadano/​ [13.06.22].
 
3
Es handelte sich damals um eines der drei größten Kupferunternehmen weltweit (Vergara 2011:138).
 
4
Trotzdem kam die Produktion nur langsam in Fahrt. Die Gießerei beispielsweise begann erst 1927 zu funktionieren und die Wirtschaftskrise von 1929 führte zu erheblichen Produktionseinschnitten. Erst 1934 begann sich das Bergwerk langsam zu erholen.
 
5
Genaue Beschreibung in Kapitel 5. Siehe auch Vergara 2011:140–141.
 
6
Anfang der 70er Jahre z. B. verschlang Potrerillos 8.000 Tonnen und El Salvador 25.000 Tonnen Wasser am Tag (Vergara 2011:140).
 
7
Siehe Kapitel 5 für die chilenische Regulierung der Wasserrechte und -konzessionen sowie dem Sonderstatus der Aguas de Minero (Wasserrechte für Bergbauunternehmen).
 
8
Die meisten sozial-ökologischen Konflikte der Industrie entstehen durch Übernutzung oder Verseuchung der Wasserquellen, siehe ebenfalls Kapitel 5.
 
9
Aufgrund der fehlenden Möglichkeit der industriellen Herstellung mussten die Rohre handwerklich hergestellt werden und mit Maultieren die steilen Berge zu den durch die Hilfe der indigenen Collas identifizierten besten Verlauf des Tunnelsystems transportiert werden.
 
10
Saunders, William, “The Construction of La Ola Pipe Line in Chile”, Transactions,
American Society of Civil Engineers, N° 1795 (1930).
 
11
Artículo 1°, „LEY 3. 133 Neutralización de los residuos provenientes de establecimientos industriales“, 7. September 1916.
 
12
Dieser Begriff wird aufgrund einer mangelnden Übersetzung für „embancar el puerto“ genutzt, was so viel bedeutet, wie ‚die Verstopfung des Hafens durch Schlamm, Erde oder Sand‘.
 
13
Fraga, Neftalí, „Disminución de mariscos“, in: El Mercurio, Santiago, 8 de marzo de 1951 zitiert in Vergara 2011.
 
14
Die ab 1941 formulierten Sorgen und der Druck der Bevölkerung veranlassten den Hafenmeister Ossa dazu, wie oben erwähnt, die Wasserqualität der Bucht von der Dirección General de Sanidad überprüfen zu lassen. Nach dem Ergebnis zweifelte er auch das von den BewohnerInnen beobachtete Fischsterben an.
 
15
Liceo Manuel Magalhaes Medling, „Planteros, relaveros, tomeros: Mineros del Río Sal (o Salado)“, November 2002.
 
16
Archivo Nacional de Chile: El cobre: el sueldo de Chile, para conquistar la independencia económica, [online] https://​www.​archivonacional.​gob.​cl/​616/​w3-article-8083.​html?​_​noredirect=​1 [09.03.22].
 
17
Ab der Verstaatlichung des Bergwerks ändert sich der Name zur División Salvador von Codelco, das Vorkommen heißt weiterhin El Salvador.
 
18
Diese Studien von Codelco wurden auch beim späteren Gerichtsstreit in den 1980er Jahren als Entlastungsbeweise aufgeführt, der später in diesem Abschnitt dargestellt wird. Siehe „Sentencia: Corte de Apelaciones de Copiapó, Corte Suprema de Justicia, Caso Chañaral“, 23 de junio de 1988.
 
19
„Sentencia: Corte de Apelaciones de Copiapó, Corte Suprema de Justicia, Caso Chañaral“, 23 Junio 1988.
 
20
Vor 1994, als das Gesetz Nr. 19300 erlassen wurde, gab es noch keine Umweltgesetzgebung in Chile. Später kam eine lückenhafte Gesetzgebung zur Entsorgung industrieller Abwässer und Tailings hinzu, die allerdings von Seitens Codelcos mehrfach missachtet wurde (Cortés 2014:43 ff).
 
21
Der Staudamm mit dem Namen Pampa Austral, der nach dem Gerichtsstreit von Codelco erbaut wurde, um die Tailings dort zu lagern, liegt 18 km nördlich von der Ortschaft Diego de Almagro. Im Jahr 2010 flossen 600 Liter/Sekunde Industrieabwässer durch einen 60 km langen Kanal vom Bergwerk bis zum Auffangbecken. Der gesamte Tailingdamm war im Jahre 2010 etwa 1300 Hektar groß, mit einem 200–300 Hektar großen „See“ aus Abwässern in der Mitte (Cortés 2014:57). Das Wasser des Tailings wird hin und wieder abgepumpt und bis heute über den Río Salado bis Caleta Palitos ins Meer abgeleitet (ebd. 58). Bei den Überschwemmungen 2015 wurden nachgewiesenermaßen Tailings durch die Wassermassen in die Ortschaft Diego de Almagro gespült (Cortés et. Al 2015).
 
23
Wie wir entlang der Forschung von mehreren ExpertInnen (PW01, PW03. PW05) erfahren haben, erweist sich die Bepflanzung von kontaminierten Zonen ab einer gewissen Belastungsgrenze als sehr schwierig. Hinzu kommen außerdem das Küstenklima sowie der sandige Dünenboden, die das Wachstum der Pflanzen zusätzlich erschweren, da der Standort inmitten einer der trockensten Wüsten der Welt liegt.
 
24
Fundación Terram (2008, 23. Januar): Ecologistas manifiestan su rechazo a balneario de relaves mineros en la Bahía de Chañaral, [online] https://​www.​terram.​cl/​2008/​01/​ecologistas_​manifiestan_​su_​rechazo_​a_​balneario_​de_​relaves_​mineros_​en_​la_​bahia_​de_​chanaral/​ [14.06.2020].
 
25
Siehe auch: Siehe Mapa de Conflictos Mineros, [online] https://​mapa.​conflictosminero​s.​net/​ocmal_​db-v2/​conflicto/​view/​109 [11.03.22].
 
26
Auch wenn die genannten Abwässer angeblich von den Chemikalien bereinigt sind, so enthalten sie dennoch hohe Konzentrationen an Mineralien und sind nicht für den Konsum geeignet (Cortés 2014: 53).
 
27
Die Gründung des Nationalparks fiel in die gleiche Zeit wie das Entstehen der –oben bereits genannten– großen sozial-ökologischen Bewegung in Chañaral, die später die Anklage gegen Codelco einreichte.
 
28
The Clinic (2012, 27. Januar): Los relaves mineros que están matando al parque Pan de Azúcar, [online] https://​www.​theclinic.​cl/​2012/​01/​27/​los-relaves-mineros-que-estan-matando-al-parque-pan-de-azucar/​ [09.03.22].
 
29
Chile Sustentable (2015, 22. Oktober): El derrame de concentrado de cobre de Codelco en Chañaral y sus contradicciones, [online] http://​www.​chilesustentable​.​net/​2015/​10/​el-derrame-de-concentrado-de-cobre-de-codelco-en-chanaral-y-sus-contradicciones/​ [09.03.22].
 
30
Parque Nacional Pan de Azúcar, offizielle Website https://​parquenacionalpa​ndeazucar.​org/​ [09.03.22].
 
31
Codelco (2003, 31. Dezember): División Salvador: Presidente Lagos se bañó en Chañaral, [online] https://​www.​codelco.​com/​divisionsalvador​-presidente-lagos%20​se-bano-en-chanaral/​prontus_​codelco/​2011-02-23/​194117.​html [09.03.22].
 
32
OLCA (2016, 29. Dezember): Baño de Ricardo Lagos en la contaminada bahía de Chañaral el 29 de diciembre de 2003. A 13 años de la injusticia ambiental cometida contra la ciudad de Chañaral, [online] https://​olca.​cl/​articulo/​nota.​php?​id=​106623 [09.03.22].
 
33
The Clinic (2010, 15. November): Chañaral: el baño de Ricardo lagos, [online] https://​www.​theclinic.​cl/​2010/​11/​15/​chanaral-el-bano-de-ricardo-lagos/​ [09.03.22].
 
34
CIPER (2016, 04. November): Chañaral: El baño de Lagos y la espera de un diálogo ciudadano, [online] https://​ciperchile.​cl/​2016/​11/​04/​chanaral-el-bano-de-lagos-y-la-espera-de-un-dialogo-ciudadano/​ [09.03.22].
 
35
Der Umweltaktivist Manuel Cortés von Chadenatur hat all diese Studien in den letzten Jahrzehnten in digitaler Form gesammelt. Er hat mir einige davon zum Zweck dieser Arbeit zur Verfügung gestellt. Zusammen mit den über das Transparenzgesetz des chilenischen Staates (Ley de Transparencia) erhaltenen und online publizierten Studien konnte ich somit 24 wissenschaftliche Studien zu den Tailings in Chañaral einsehen. Ich danke Manuel Cortés sehr für die Bereitstellung einer Großzahl der Publikationen, da die Mehrzahl der Studien nicht, nicht mehr oder nur durch offizielle Anfrage bei den verschiedenen Forschungsinstituten und Universitäten einsehbar sind.
 
36
Dabei konnte das Zusammenwirken unterschiedlicher Elemente gleichzeitig nicht berücksichtigt werden, allerdings reichten die Einzelwerte schon aus, um gesundheitsschädliche und teilweise tödliche Mengen für den Menschen nachzuweisen, falls diese in die menschliche Ernährungskette gelangten (Cortés: 30, 33).
 
37
Das neue an diesen Untersuchungen war, dass die Schadstoffbelastung nicht, wie in allen vorherigen Untersuchungen, im Boden, der Luft oder dem Wasser gemessen wurde, sondern auch in den Körpern der Betroffenen nachgewiesen werden konnte.
 
38
Von besonderer Relevanz sind hier die langjährigen Untersuchungen von Dr. Andrei Tchernitchin ab Anfang der 2000er bis heute, die Studien unter der Leitung von Dra. Sandra Cortés zwischen 2005 und heute, sowie die Forschung von Dr. Dante Cáceres zwischen 2011 und 2014.
 
39
Interview Andrei Tchernitchin in Diario Atacama am 31. Dezember 2003.
 
40
Hierbei handelt es sich um spätere Veröffentlichungen der damaligen Untersuchungen des Forschungsprojekts von Dra. Sandra Cortés.
 
41
Dabei sind diese Zahlen noch dadurch verfälscht, dass sich die Mehrheit der Krebserkrankten in Copiapó oder Antofagasta behandeln lassen müssen, da es in Chañaral dafür nicht die ausreichende Infrastruktur bzw. darauf spezialisierte Ärzte gibt, weshalb die meisten PatientInnen nicht in der Statistik von Chañaral vorkommen.
 
42
Für eine detaillierte Darstellung der genauen Gesundheitsauswirkungen der verschiedenen chemischen Komponenten und Substanzen und die einzelnen Nachweise siehe: Cortés 2014:132–143.
 
43
Das Studiendesign wurde ursprünglich bei Dr. Cáceres von staatlichen Behörden angefragt, um damit eine Ausschreibung zu initiieren. Diese offiziellen Bemühungen waren Folge davon, dass die damalige Präsidentin Michelle Bachelet bei einer Dienstreise vor Ort weitere Untersuchungen versprochen hatte. Nachdem der Staat das Projekt wieder verwarf und die Finanzierung verloren ging, bewarb sich Dr. Cáceres mit seiner Forschung auf öffentliche Forschungsgelder. Sein Anliegen wurde, nach Aussage eines beteiligten Kollegen, durch die Forderungen und Sorgen der Bevölkerung befeuert (Siehe Interview CE02).
 
44
Der Vorteil bei der Untersuchung von Kindern ist außerdem, dass viele andere Kontaminationsquellen ausgeschlossen werden können, da diese sich hauptsächlich in Chañaral zwischen Schule und zuhause aufhalten. Bei Studien zu Erwachsenen wird oftmals die Möglichkeit einer Kontamination am Arbeitsplatz dazu genützt, den Zusammenhang der Umweltverseuchung und der Krankheit zu relativieren.
 
45
„Dafür haben wir einfach den Staub vom Boden in den Häusern genommen. Ich weiß nicht, ob du es gesehen hast, aber in Chañaral ist es überall voll mir Staub in den Häusern“ (CE02).
 
46
CCN Chile (2015, 9. April): Andrei Tchernitchin por nivel de metales en Atacama: „La exposición de los niños sí es muy grave“[Video]. YouTube https://​www.​youtube.​com/​watch?​v=​b_​BVjz0Gzms [24.02.22]. Siehe auch: OLCA (2015, 8. Juni): La catástrofe social del extractivismo en Chile es tratada en foro de expertos en Chañaral, [online] http://​olca.​cl/​articulo/​nota.​php?​id=​105431 [13.06.22].
 
48
Er nennt eines der größten privaten Bergbauunternehmen Chiles, bittet aber explizit dieses nicht in dieser Arbeit zu nennen.
 
49
Universidad de Chile (2016, 15. Oktober): Estudio confirma efectos de relaves mineros en salud de escolares de Chañaral, [online] https://​www.​uchile.​cl/​noticias/​127810/​estudio-esp-confirma-efectos-de-relaves-mineros-en-salud-de-escolares [13.06.2022].
 
50
In Chile gibt es bei öffentlichen Krankenhäusern für staatliche Versicherte (FONASA) lange Wartelisten bis zur Behandlung. Jährlich sterben 26.000 Menschen, die auf diesen Listen stehen und auf eine Behandlung warten. Siehe Bío Bío Chile (2019, 1. August): 26 mil personas fallecieron en 2018 mientras se encontraban en listas de espera: mil estaban en AUGE, [online] https://​www.​biobiochile.​cl/​noticias/​nacional/​chile/​2019/​08/​01/​26-mil-personas-fallecieron-en-2018-mientras-se-encontraban-en-listas-de-espera-mil-estaban-en-auge.​shtml [20.06.2020].
 
51
Siehe bspw. El Mostrador (2015, 25. März): Chañaral, ícono del desastre por las inundaciones del norte, [online] https://​www.​elmostrador.​cl/​noticias/​pais/​2015/​03/​25/​chanaral-icono-del-desastre-de-las-inundaciones-del-norte/​ [13.06.22].
 
52
: No a la Mina (2015, 1. April): Confirman colapso de tranque de relaves minero en Copiapó, [online] https://​noalamina.​org/​latinoamerica/​chile/​item/​13972-confirman-colapso-de-tranque-de-relaves-minero-en-copiapo [13.06.22]. Siehe auch: Servindi: Chile: Alarma de contaminación por escurrimiento de relaves mineros, [online] https://​www.​servindi.​org/​actualidad/​126829 [13.06.22].
 
53
Sernageomin (2017): Analysis of the impact of the March 2015 flood on the tailings deposits in the Copiapo valley, [online] https://​www.​sernageomin.​cl/​wp-content/​uploads/​2018/​01/​CopiapoFlood_​Tailings2017_​Publish.​pdf [15.03.22].
 
54
Futuro Renovable (2015): Doctor Andrei Tchernitchin: Chañaral debe reconstruirse algunos kilómetros al sur, [online] https://​futurorenovable.​cl/​doctor-andrei-tchernitchin-chanaral-debe-reconstruirse-algunos-kilometros-al-sur/​ [23.06.20].
 
55
Diario U Chile (2017, 18. November): Dra. Sandra Cortés: “El tema de los relaves abandonados está a lo largo de todo Chile”, [online] https://​radio.​uchile.​cl/​2017/​11/​18/​dra-sandra-cortes-el-tema-de-los-relaves-abandonados-esta-a-lo-largo-de-todo-chile/​ [23.06.20].
 
56
OLCA (2015, 8. Juni): La catástrofe social del extractivismo en Chile es tratada en foro de expertos en Chañaral, [online] https://​olca.​cl/​articulo/​nota.​php?​id=​105431 [15.03.22].
 
57
CCN Chile (2015, 9. April): Andrei Tchernitchin por nivel de metales en Atacama: „La exposición de los niños sí es muy grave“[Video]. YouTube https://​www.​youtube.​com/​watch?​v=​b_​BVjz0Gzms [24.02.22].
 
58
Die beforschten Unternehmen und Unternehmensverbände beschäftigen eine Reihe an MitarbeiterInnen zu dem Zwecke, Interviews zu geben und so das Image des Unternehmens zu pflegen. Für diese Aufgabe sind sie in der Regel gut informiert und geschult, das heißt, sie kennen die Unternehmensziele und die öffentliche Darstellung des Unternehmens auswendig und halten sich in diese Vorgaben beim Interview. Die anderen MitarbeiterInnen – besonders jene des technischen Bereichs – sind vertraglich dazu angehalten, keine Interviews zu geben, vor allem nicht zu Umweltthemen oder gar Skandalen wie etwa der im Fall von Chañaral bzw. der Mine División Salvador. Auch Zulieferunternehmen oder Dienstleister sind mehrheitlich nicht dazu bereit, Interviews zu geben.
 
59
Siehe Mapa de Conflictos Mineros, [online] https://​mapa.​conflictosminero​s.​net/​ocmal_​db-v2/​conflicto/​view/​109 [11.03.22]. Heutzutage werden die Kosten allerdings weitaus höher geschätzt (Sergio Puebla, CB06).
 
60
Gobierno de Chile (2014, 19. Dezember): Ministro de Hacienda: “Avanzaremos con convicción para capitalizar en hasta US$ 4.000 millones Codelco”, [online] https://​www.​gob.​cl/​noticias/​ministro-de-hacienda-avanzaremos-con-conviccion-para-capitalizar-en-hasta-us-4-000-millones-codelco/​ [14.03.22].
 
61
El Economista (2016, 26. August): Codelco anota pérdidas por 97 millones de dólares en primer semestre, [online] https://​www.​eleconomista.​com.​mx/​empresas/​Codelco-anota-perdidas-por-97-millones-de-dolares-en-primer-semestre-20160826-0033.​html [14.03.22].
 
62
Alcayaga, Julián in Rebelión (2016, 3. September): Codelco: «No hay un puto peso», [online] https://​rebelion.​org/​codelco-no-hay-un-puto-peso/​ [14.03.22].
 
63
Novoa, Laura in CIPER (2014, 18. November): Las dudas que plantea la capitalización de Codelco, [online] https://​www.​ciperchile.​cl/​2014/​11/​18/​las-dudas-que-plantea-la-capitalizacion-de-codelco/​ [14.03.22].
 
64
CODELCO (2018, 29. Juni): Codelco agradece capitalización anunciada por el gobierno, [online] https://​www.​codelco.​com/​codelco-agradece-capitalizacion-anunciada-por-el-gobierno/​prontus_​codelco/​2018-06-29/​144524.​html [14.03.22].
 
65
Eine Art großflächiger Brunnen.
 
66
Atacama en Linea (2017, 16. Mai): ALCALDE RAÚL SALAS PIDE AL GOBIERNO DECRETAR ESTADO DE CATÁSTROFE EN CHAÑARAL, [online] http://​www.​atacamaenlinea.​cl/​alcalde-raul-salas-pide-al-gobierno-decretar-estado-de-catastrofe-en-chanaral/​chanaral/​ [15.03.22].
 
67
Atacama Noticias (2015, 18. Mai): Privincia de Chañaral: contundente respuesta de Gobierno para construcción de viviendas definitivas, [online] https://​www.​atacamanoticias.​cl/​2015/​05/​18/​provincia-de-chanaral-contundente-respuesta-de-gobierno-para-construccion-de-viviendas-definitivas/​ [15.03.22].
 
68
U Central (2015): Chañaral: la urgencia de salud tras la emergencia, [online] https://​www.​ucentral.​cl/​facultades-y-carreras/​carreras-tecnicas/​chanaral-la-urgencia-en-salud-tras-la-emergencia [15.03.22].
 
69
AngloAmerican (2015, 1. April): Anglo American reafirma su apoyo a Chañaral y compromete ayuda para reconstrucción de la ciudad, [online] https://​chile.​angloamerican.​com/​media/​press-releases/​pr-2015/​01-04-2015.​aspx [15.03.22].
 
70
AngloAmerican (2015, 16. Juni): Anglo American, Municipalidad de Chañaral y CORPROA firman importante convenio de colaboración, [online] https://​chile.​angloamerican.​com/​media/​press-releases/​pr-2015/​16-06-2015.​aspx [online] und AngloAmerican (2013, 16. Februar): Pescadores de Chañaral visitaron avances de Planta Desalinizadora de Anglo American, [online] https://​chile.​angloamerican.​com/​media/​press-releases/​pr-2013/​pescadores-de-chanaral-visitaron-avances-de-planta-desalinizadora-de-anglo-american.​aspx [15.03.22].
 
71
Minería Chilena (2013, 19. Dezember): Corfo y Anglo American inauguran centro de emprendimiento en Chañaral [online] https://​www.​mch.​cl/​2013/​12/​19/​corfo-y-anglo-american-inauguran-centro-de-emprendimiento-en-chanaral/​ [15.03.22].
 
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Atacama Noticias (2015, 15. Mai): Anglo American despeja caminos a pequeños mineros en El Salado, [online] https://​www.​atacamanoticias.​cl/​2015/​05/​05/​anglo-american-despeja-caminos-a-pequenos-mineros-de-el-salado/​ [15.03.22].
 
73
AngloAmerican (2013, 16. Februar): Pescadores de Chañaral visitaron avances de Planta Desalinizadora de Anglo American, [online] https://​chile.​angloamerican.​com/​media/​press-releases/​pr-2013/​pescadores-de-chanaral-visitaron-avances-de-planta-desalinizadora-de-anglo-american.​aspx [15.03.22].
 
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Portal Minero (2016, 1. Juni): Manots Copper prepara expansión de Mantoverde, [online] http://​www.​portalminero.​com/​pages/​viewpage.​action?​pageId=​112921470 [15.03.22] Seit 2021 ist dieses mit dem kanadischen Unternehmen Capstone fusioniert. Siehe: Diario Financiero (2021, 30. November): Mantos Copper y canadiense Capstone se fusionan para potencias operaciones en Norte y Sudamérica, [online] https://​www.​df.​cl/​noticias/​empresas/​mineria/​mantos-copper-y-canadiense-capstone-se-fusionan-para-potenciar/​2021-11-30/​123944.​html (15.03.22).
 
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Im Moment des Interviews ist Trinidad damit beschäftigt, in einem Internetcafé eine Beschwerde zu formulieren. Viele der Angestellten erhielten einen Lohn unter dem festgelegten Mindestlohn. Außerdem würde ihnen ab nächstem Monat das Frühstück gekürzt werden, obwohl der Bus sie zwischen 5:00 und 5:30 Uhr morgens abholen würde und sie dann frühestens um 14:00 Uhr und spätestens um 15:30 Uhr (je nach Staffelung) Mittagessen könnten. Die Mitnahme von eigenen Lebensmitteln sei im Unternehmen zudem streng verboten. Außerdem erzählt sie, das Unternehmen würde versuchen, die gewerkschaftliche Organisierung und die Neugründung von Gewerkschaften in den Subunternehmen zu verhindern. Deshalb hätten sie sich jetzt Hilfe bei der Confederación de Trabajadores de Cobre aus Santiago geholt (CB07).
 
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Dass unter den Interviewten vor allem diejenigen vertreten sind, die Chañaral nicht verlassen wollen oder wollten, ist auch dadurch zu erklären, dass spätestens nach den Überschwemmungen diejenigen, die wegziehen wollten, diesen damaligen Zeitpunkt gezwungenermaßen dafür nutzten.
 
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Futuro Renovable (2015): Doctor Andrei Tchernitchin: Chañaral debe reconstruirse algunos kilómetros al sur, [online] https://​futurorenovable.​cl/​doctor-andrei-tchernitchin-chanaral-debe-reconstruirse-algunos-kilometros-al-sur/​ [23.06.20].
 
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Dieses Zitat wurde aus dem Artikel von Pablo Gonzalez (2021) übernommen.
 
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Manuel Cortés arbeitet selbst in einem der umliegenden kleineren Bergwerke.
 
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Der Aktivist Sergio Puebla erzählt, sie hätten anfangs nur eine Lösung für die großen Mengen an aufgewirbeltem Staub gesucht und wurden daraufhin auf eine von unterschiedlichen nationalen Umwelt-NGOs organisierten Veranstaltung in Copiapó eingeladen, auf der sie erfuhren, dass es sich beim Strand von Chañaral um Industrieabfälle des Bergbaus handele. Bei derselben Veranstaltung wurden sie auch erstmals darüber informiert, was Tailings tatsächlich beinhalten und welche potenziellen Gefahren von ihnen ausgehen können, so Puebla (CB06).
 
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Dabei handelt es sich um einen medial und öffentlich bekannten Umweltskandal bzw. die derzeit bekannteste offiziell anerkannte zona de sacrificio Chiles.
 
Metadaten
Titel
Die Unsichtbarkeit des Offensichtlichen– der Fall Chañaral
verfasst von
Anna Landherr
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43288-1_8