Was bzw. wie müssen Organisationen heute lernen, um erfolgreich handeln zu können? Seit den 90er-Jahren hat Wissen und Lernen in seiner steilen Karriere als Wettbewerbsfaktor immer wieder Wandlung im Verständnis erfahren. In den frühen Versuchen, Wissen zu „managen“, ging es zunächst darum, Informationssysteme einzuführen und Informationen abzuspeichern (z. B. Probst et al.
1997), als nächstes darum, Wissen durch Austausch zu sichern und zu mehren (z. B. Nonaka und Takeuchi
1995). Seit den frühen Jahren des neuen Jahrtausends spricht man von wissensbasiertem Management, das auf der Suche nach Innovationen die Subjektivität des Wissens erkannt und anerkannt hat und sich auf den Menschen und seine Fähigkeit zur Wissensgenerierung, d. h. seine Wahrnehmung und Kognition konzentriert (Nonaka und Toyama
2005; Nonaka et al.
2008). Es reklamiert die Subjektivität des Menschen wieder in die Gleichung unternehmerischen Denkens hinein. Nicht nur, weil sie nicht herauszukürzen ist, sondern weil sie exakt das ist, was es für ein zuverlässiges Unternehmensmodell braucht (Nonaka et al.
2008, S. 7–8). Die Grenzen zwischen Wissensmanagement und der Disziplin des organisationalen Lernens, das sein Augenmerk nicht auf technische Systeme, sondern auf soziale Systeme legt, sind längst verschwommen. Erkenntnisse aus beiden Disziplinen werden im Lichte der Kognitionswissenschaft zu einer größeren Idee von Organisationalen Wissens und Lernens integriert und ergänzt (McElroy
2000, S. 196). Diese versteht Wissen als subjektive „capacity to act“ (Churchman
1971; Argyris
1993; Stehr
1996), die in einem
subjektiven Mind, dem Ort aller individuellen kognitiven Prozesse, entsteht. Analog wird organisationales Wissen verstanden als Handlungsfähigkeit einer Organisation, die in einem
kollektiven Mind entsteht, dem Ort von Interaktions- und Aushandlungsprozessen von Teams oder Organisationen (Weick und Roberts
1993; Tsoukas
2000; Stehr
2001).
2.1 Individuelles Lernen und Handlungsfähigkeit: Subjektivität von Wissen
In Wissensmanagement, Organisationalem Lernen und Wissenssoziologie wird Wissen heute als „
capacity to act“, als
Handlungsfähigkeit verstanden (z. B. Churchman
1971; Argyris
1993; Stehr
1996). Werden grundlegende Aussagen aus Epistemologie (Krippendorff
1984), Lerntheorie (Bateson
1983; Kolb
1984), Wissensmanagement (North
1998; Nonaka und Toyama
2005), Organizational Learning (Argyris und Schön
1978), Organizational Behavior (Weick und Roberts
1993; Tsoukas
2000), Wissenssoziologie (Stehr
2001) und Psychologie (Seligman et al.
2013) zusammengeführt, so ist das Wissen oder die Handlungsfähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt das Ergebnis aller vorangegangenen neuen Erfahrungen, die über Sinnbildung köhärent verbunden wurden.
„Making sense is a
circular cognitive process that may start with some initially incomprehensible sensation, which then proceeds to imaging hypothetical contexts for it and goes around a
hermeneutic circle during which features are distinguished – in both contexts and what is to be made sense of – and
meanings are constructed until this process has converged to a
sufficiently coherent understanding“ (Krippendorff
1989, S. 13) „At that point observers are in harmony with what they believe they observe. The nervous system is organized or organizes itself such that it computes a stable reality. This reality is located neither inside nor outside the observing organism but resides in the ongoing process of drawing distinctions and formulating relations“ (Krippendorff
1984, S. 27–28).
Dieser Prozess eines kognitiven hermeneutischen Zirkels „organisiert“ die Erfahrungswelt anhand von
Sinn, d. h. von ausreichend kohärenter Bedeutungsvergabe, laufend neu, und erschafft so Handlungsmöglichkeiten, die für das Individuum funktionieren. Sie spannen einen gewissen Handlungsraum auf, in dem aktuelle Werte, Erfahrungen und Handlungsergebnisse übereinstimmen, also „Sinn machen“. Werden unfreiwillig (
Lernimperativ, Argyris und Schön
1978, S. 2) oder freiwillig (
Generatives Lernen, Senge
1990, S. 14) davon abweichende Erfahrungen gemacht und diese über neue Sinngebung mit dem altem Wissensbestand verbunden, wird der Wissensraum- ergo Handlungsspielraum erweitert. Das Individuum lernt (
Erfahrungslernen, Kolb
1984, S. 31–34). Wissen ist so gleichzeitig Basis und Resultat von Wissensprozessen und unterliegt aufgrund der Kontinuität neuer Erfahrungen einer permanenten Dynamik. Streng genommen kann Wissen somit nicht übertragen, geteilt oder in Datenbanken gespeichert werden, sondern ist
dem Wissenden immanent. In einem exakteren Sinn muss von einem kontinuierlichen Wissensakt oder -prozess (‚knowing‘) gesprochen werden. Wissen als statisches Produkt (‚knowledge‘) existiert lediglich zu bestimmten, gedanklich eingefrorenen Zeitpunkten innerhalb des Wissensprozesses.
Nur in dem Maße, in dem ein Individuum Unterschiede wahrnehmen und neue Verbindungen herstellen kann, kann es zu einem neuen bzw. erweiterten Wissensbestand kommen, also lernen. Ob Unterschiede über neue Erfahrungen wahrgenommen werden und wie sie transformiert werden, ist dabei abhängig von dem bestehenden Wissen und seiner Durchlässigkeit (d. h. einer gewissen Bereitschaft zum Revidieren) zum betreffenden Zeitpunkt, was wiederum von vorangegangenen Erfahrungen geprägt wurde. Das bestehende Wissen zu jedem Zeitpunkt ist teils bewusst aber größtenteils unbewusst und bildet einen vielschichtigen Eigenkontext, eine Art Brille, mit der wir in die Welt schauen.
Lernen verändert Wissen und somit den Lernenden selbst: es nutzt den Rahmen bestehender Denk- und Handlungssmöglichkeiten (Wissen), transzendiert diese aber gleichzeitig. Somit ist ein erster Aspekt im Hinblick auf Agilität eine gewisse „intellektuelle Bescheidenheit“ (Wüthrich
2022) und Fähigkeit zu Multiperspektivität, die anerkennt, dass Realität keine absolute Größe sondern immer ein Eigenkonstrukt ist, die eigene Perspektive und Wahrheit nur eine von vielen Gerechtfertigten ist und erst im Dialog mit anderen Perspektiven weitsichtigere Perspektiven entstehen können.
2.2 Kollektives Lernen und Handlungsfähigkeit: Sinnbildung im Collective Mind
Analog zum Verständnis von Wissen als durch Sinn organisierte, individuelle Handlungsfähigkeit können wir kollektive Handlungsfähigkeit als durch Sinngebung organisiertes kollektives Wissen verstehen: Organisationswissenschaftler Tsoukas beschreibt Kollektives Wissen als individuelles Wissen, das durch ein geteiltes Verständnis über bestimmte Regeln und kognitive Kategorien kohärent verbunden, also organisiert ist (Tsoukas
2000, S. 108–109). Bleiben wir im Bild des hermeneutischen Zirkels der Kognition, treten demnach in einer Organisation Individuen und ihre sinnbildenden Zirkel in Interaktion.
Jede als Unterschied wahrgenommene Äußerung oder Geste eines Gegenübers bildet für den je eigenen Wissensprozess eine Erfahrung, die je nach Vorwissen bzw. Eigenkontext über Sinnbildung mit diesem eigenen Wissenstand verbunden wird und ihn entsprechend erweitert. Gelingt es, die Summe der Erfahrungen und Sinnbildungen in einer Form von
Verhandlung kohärent zu verbinden und ein geteiltes ausreichendes Verständnis des gemeinsamen Erfahrungsraumes zu generieren, findet ein
kollektiver Sinnbildungszirkel statt und es werden abgestimmte kollektive Handlungen möglich. Organisationsforscher Weick prägte den Begriff des
Collective Mind und beschreibt dies folgendermaßen: „Organizations […] are talked into existence. […] Organization emerges through sensemaking […] In sensemaking, action and talk are treated as cycles rather than as a linear sequence.“ (Weick et al.
2005, S. 409, 410, 412).
Die Erkenntnis, dass kognitive Prozesse auch ‚Organismus-externe‘, soziale Interaktion umfassen, spiegelt sich in unterschiedlichsten Ansätzen zu kollektiver Kognition wider: Extended Mind (Clark und Chalmers
1998), Group Cognition (Theiner et al.
2010), Enculturated Mind (Hutchins
2011), Collaborative Cognition (Kirchhoff und Newsome
2012). Sie begründen den Ansatz der
4E Kognition (embodied, embedded, extended, enactive), der davon ausgeht, dass Kognition, also auch Wissen und Lernen, immer aus Interaktionen zwischen Gehirn, Körper, physischer und sozialer Umwelt emergiert. Mind, egal ob individuell oder kollektiv, stellt sich also nicht als Entität sondern als Raum von Aktivität dar, als permanenter Prozess zur Bewältigung der Erfahrungswelt.
In den Wirtschaftswissenschaften findet sich die Idee von Organisation als emergentes Phänomen eines Collective Minds, der Träger von Wissen und Handlungsfähigkeit ist, z. B. im Wissensmanagement (Stacey
2000, S. 3, Erden et al.
2008) im Organisationalen Lernen (Argyris und Schön
2002), in der Organization Science (Tsoukas
2005) und im Organizational Behavior (Weick und Roberts
1993). Für den „Ort“ dieser Prozesse von kollektiver Sinnbildung und Wissensschaffung prägte Wissensmanager Nonaka den Begriff des
Ba (Nonaka et al.
2000, S. 14), ein japanisches Wort für Ort, Raum, Feld, welches nicht nur physische, sondern auch kognitive, mentale oder emotionale Räume einschließt. Ähnlich dem kollektiven Hermeneutischen Zirkel beschreibt er einen dynamischen, geteilten Kontext von Interaktion, Interpretation und Dialektik, einen Ort der „
Co-Transzendenz“ (Nonaka et al.
2008, S. 36), an dem sich Individuen in einer bestimmten Qualität begegnen und tief aufeinander einlassen, so dass sie ihre eigenen beschränkten Perspektiven überwinden und gemeinsam zu einem höheren Stand an Wissen gelangen (Nonaka et al.
2008, S. 27ff).
Nonaka bezieht sich dabei auf die Ausführungen des japanischen Philosophen Nishida, der „Basho“ als
Feld reflektierender Aufmerksamkeit beschreibt. Je nach Ausmaß an fokussierter Reflektion kann ein Basho drei unterschiedliche Ebenen an Qualität erlangen, von unreflektiertem Alltags-Basho über ein die Bedeutung und Rolle des Selbst reflektierenden Basho des Relativen Nichts bis hin zum Ultimativen Basho des Absoluten Nichts, einer das Ich überschreitenden gemeinsamen Bewusstseinsebene (Chia
2003, S. 970). Ähnlich haben Erden und Nonaka verschiedene Qualitäten eines Collective Minds – von loser Ansammlung von Menschen bis zur Collective Improvisation – in Abhängigkeit verschiedener ‚Sozialisierungsbeiträge‘ beschrieben (Erden et al.
2008, S. 13). Formen und Attribute von Interaktion (Ausmaß, Aufmerksamkeit, Qualität, Technologien, Neuheit u. a.) bestimmen somit die Qualität des kollektiven Wissens, d. h. der kollektiven Handlungsmöglichkeit. Verteilte und reflektierte Sinnbildung fördert einen
geistreichen Collective Mind (Weick und Roberts
1993), in dem durch Pluralität neues, zukunftsorientiertes Wissen und Wachstum entsteht. Unreflektierte Anpassung der einzelnen Kognitionen an eine Gruppenkognition lässt hingegen einen
geistlosen Group Think (Janis
1972) entstehen, der Kreativität, Einzigartigkeit und Unabhängigkeit blockiert.
Kollektive Handlungsfähigkeit liegt also in den Strukturen menschlicher Interaktion. Sie beruht auf kollektiven Prozessen, besitzt aber auch immer einen subjektiven Kontext.
Analog zur individuellen Sinnbildung, die im individuellen Mind stattfindet und Realität organisiert, können wir bei der kollektiven Sinnbildung also von einem Collective Mind sprechen, dessen Raum oder Ba durch Interaktion aufgespannt wird und die gemeinsame Realität organisiert. Neues kollektives Wissen kann nur in dem Maße emergieren, wie
Interaktionsmuster von einer gewissen Durchlässigkeit sind, was wiederum auf der Durchlässigkeit der beteiligten individuellen Wissensbestände beruht. „The degree and quality of learning within an organization can be regarded as a function of the different forms of reflection and of their interaction“ (Jordan et al.
2009, S. 470).
Neben der in Abschn. 2.1. abgeleiteten Multiperspektivität als Impuls für Reflektion ist ein zweiter im Hinblick auf Agilität relevanter Aspekt die gemeinsame Reflektion der Interaktionsmuster und deren zugrundeliegende Sinnbildung, d. h. des geteilten Verständnisses über Regeln und kognitive Kategorien, die das gemeinsame Handeln organisieren und einen entsprechenden Collective Mind oder Wissensraum Ba aufspannen. Hierzu gehört neben der Art und Weise WIE zusammengearbeitet wird auch das bedeutungsgebende WARUM zusammengearbeitet wird. Die von Jordan angesprochenen unterschiedlichen Formen dieser Reflektion bieten einen dritten Ansatzpunkt und werden im folgenden Kapitel aufgegriffen.