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Open Access 2021 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Studien(fach)wahlen und ihre Ursachen: an der Schnittstelle von Geschlechterforschung und Bildungsforschung

verfasst von : Lena Loge

Erschienen in: Von Bauingenieurinnen und Sozialarbeitern

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Was berufs- und arbeitsbezogene Orientierungsmuster von Frauen angeht, lohnt sich der Rückblick auf die frühe Frauen- und Geschlechterforschung: In den 1980er-Jahren standen insbesondere die strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Fokus und es wurde ein differenzbetonender Blick auf den „weiblichen Lebenszusammenhang“ gelegt, also auf die von Frauen ausgeübte unbezahlte Arbeit und schlecht bezahlte Lohnarbeit, ihre alleinige Sorge für Kinder und die fehlende Repräsentation in Politik und Gesellschaft. Die „doppelte Vergesellschaftung“ von Frauen hinsichtlich Erwerbs- und Familienarbeit, das Konzept des „weiblichen Arbeitsvermögens“ und das empirische Infragestellen der „weiblichen Familienorientierung“ waren Kernelemente der berufsbezogenen Frauenforschung zu dieser Zeit.

3.1 Studien(fach)wahlen aus Perspektiven der Geschlechterforschung

3.1.1 Strukturalistische Erkenntnisse: die doppelte Vergesellschaftung

Was berufs- und arbeitsbezogene Orientierungsmuster von Frauen angeht, lohnt sich der Rückblick auf die frühe Frauen- und Geschlechterforschung: In den 1980er-Jahren standen insbesondere die strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Fokus und es wurde ein differenzbetonender Blick auf den „weiblichen Lebenszusammenhang“ gelegt, also auf die von Frauen ausgeübte unbezahlte Arbeit und schlecht bezahlte Lohnarbeit, ihre alleinige Sorge für Kinder und die fehlende Repräsentation in Politik und Gesellschaft (Klann-Delius 2005: 69 f.). Die „doppelte Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt 1987) von Frauen hinsichtlich Erwerbs- und Familienarbeit, das Konzept des „weiblichen Arbeitsvermögens“ (Beer 1987) und das empirische Infragestellen der „weiblichen Familienorientierung“ (Born/Krüger/Lorenz-Mayer 1996) waren Kernelemente der berufsbezogenen Frauenforschung zu dieser Zeit.
Um den Ursachen von geschlechtsspezifischen Berufswahlen aus dieser Perspektive nachzugehen, eignet sich zum einen das Konzept des „weiblichen Arbeitsvermögens“ (Beer 1987; Beck-Gernsheim 1981), durch das in den 1980er-Jahren Abkehr genommen wird von der damals vorherrschenden fehlenden oder defizitären Betrachtung der weiblichen Lebensrealität und stattdessen ein positiv-differenzierender Ansatz gewählt wird. In dieser Perspektive wird davon ausgegangen, dass Frauen im Rahmen ihrer Sozialisation spezifisch ‚weibliche‘ Interessen und Fähigkeiten ausbilden, durch die sie besonders geeignet seien für fürsorgliche, personen- und bedürfnisorientierte Tätigkeiten. Positiv an diesem Ansatz anzumerken ist, dass er auf die sozialisatorische Ausbildung von geschlechtsspezifischen berufsbezogenen Interessen und damit auf deren Veränderbarkeit verweist. Zugleich ist er dahingehend begrenzt, dass er die Gefahr mit sich bringt, Geschlecht bzw. Weiblichkeit zu essentialisieren und dass (klassenspezifische) Differenzen innerhalb einer Genusgruppe dabei leicht aus dem Blick geraten.
Um diese Leerstellen zu füllen, eignet sich wiederum der Ansatz der „doppelten Vergesellschaftung“ nach Regina Becker-Schmidt (Becker-Schmidt 1987; ein aktualisierter Blick auch bei Becker-Schmidt 2008). In dieser Perspektive wird Geschlecht als sozialer Platzanweiser gefasst, durch den Männern und Frauen unterschiedliche soziale Positionen – etwa nach Status, Prestige und Macht – zugeteilt wird. Die Genusgruppen selbst wiederum werden von Becker-Schmidt als „die unter die Etiketten ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ subsumierten Einzelnen“ (Becker-Schmidt 2008: 65) verstanden, womit sie die soziale Dimension von ‚Geschlecht‘ betont und Frauen und Männer als verschieden vergesellschaftete soziale Gruppen fasst. Ursprung fanden ihre Betrachtungen in ihrer Kritik an der sozialwissenschaftlichen Forschung der 1970er-Jahre, die ‚Arbeit‘ primär als männlich konnotierte und marktvermittelte Tätigkeit fasste und so Hausarbeit – und damit den damaligen Großteil der weiblich-vergesellschafteten Lebensrealität – unberücksichtigt ließ (Becker-Schmidt 2008: 66). Becker-Schmidt weist wiederum in ihrer Studie zu Fabrikarbeiterinnen nach, dass bei erwerbstätigen Frauen eine Doppelorientierung vorherrscht: Die Arbeiterinnen orientieren sich sowohl an den Anerkennungsstrukturen ihrer Erwerbsarbeit wie auch jenen der Familien- und Hausarbeit – ein Phänomen, dass sich nicht auf den Zeitpunkt der Studie oder eine bestimmte soziale Schicht beschränkt, aber sich je nach Schicht spezifisch äußert (ebd.). Beide Sphären – Erwerbs- und Familienarbeit – sind aufgrund ihrer teils stark divergierenden Ansprüche zudem nur schwer miteinander vereinbar. Vor diesem Hintergrund führt die Autorin den Begriff der „doppelten Vergesellschaftung“ ein:
„Der Begriff ‚doppelte Vergesellschaftung‘ ist vielschichtig. Er besagt zum einen, dass Frauen über zwei unterschiedlich und in sich widersprüchlich strukturierte Praxisbereiche in soziale Zusammenhänge eingebunden sind. Er besagt zum zweiten, dass ihre Sozialisation, ohne die Vergesellschaftung nicht zu denken ist, durch zwei Kriterien sozialer Gliederung markiert ist: Geschlecht und soziale Herkunft. Und zum dritten ist mitgesetzt, dass Eingliederung in die Gesellschaft sowohl soziale Verortung als auch Eingriffe in die psychosoziale Entwicklung1 einschließt“ (Becker-Schmidt 2008: 68).
In dieser Funktion als sozialer Platzanweiser wirkt sich das Geschlecht in unterschiedlichen Dimensionen benachteiligend für den weiblichen Status aus: sei es in der Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, von hoch und niedrig vergüteter Arbeit, von Prestige oder von Macht. Die ‚Binnendifferenzierung‘, die es hier zwischen Frauen der gleichen Klasse gibt, widerspricht der übergeordneten binär-strukturierten Ungleichheit wiederum nicht. Nach diesem Konzept der „doppelten Vergesellschaftung“ und der Funktion von Geschlecht als sozialer Platzanweiser lassen sich Berufswahlen von Frauen gegen prestigeträchtige und hoch dotierte technische Berufe als strukturell bedingte und sozialisatorisch verursachte Selbst-Ausschlüsse greifen. Außerdem sind Berufswahlen nach diesem Verständnis nie isoliert von anderen Lebensbereichen, sondern sind eng verknüpft mit weiteren vergeschlechtlichten Praktiken der Lebensführung – insbesondere denen der Familiengründung, Familienorganisation und Familienarbeit, die die Lebensrealität von Frauen und ihre soziale Position maßgeblich mitbedingen.

3.1.2 Sozialkonstruktivistische Erkenntnisse: doing gender und Berufswahl

Während strukturtheoretische und differenzbetonende Ansätze wie der der doppelten Vergesellschaftung vor allem in den 1980er-Jahre der Geschlechterforschung vorherrschend waren, verlagerten sich in den 1990er-Jahren die dominanten Perspektiven hin zu einem sozialkonstruktivistischen Fokus2: Geschlecht wurde zunehmend nicht mehr als unhinterfragte Kategorie vorausgesetzt, sondern die sozialen Prozesse seiner Herstellung selbst wurden zum Gegenstand der Analysen gemacht.
Im Kontext der Berufswahl ist das sozialkonstruktivistische Konzept des doing gender ein damals wie heute sehr prominentes: Einen weiblich konnotierten Beruf zu wählen, ist demnach zugleich eine aktive Herstellung von Weiblichkeit – ebenso verhält es sich mit männlich konnotierten Berufen. Die Grundlagen des doing gender-Konzepts stammen von West/Zimmerman (1987), die sich mit ihrem Verständnis von Geschlecht als Ergebnis einer routinierten Leistung von der bis dahin herkömmlichen sex-gender-Trennung3 distanzieren: „Our purpose in this article is to propose an ethnomethodologically informed, and therefore distinctively sociological, understandig of gender as a routine, methodical, and recourring accomplishment“ (ebd.: 126).
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Berufswahl als ein Akt der Herstellung von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit deuten. Gleichzeitig sind Berufe selbst geprägt von spezifischen Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen. Was etwa die bereits angerissene biografische Phase der weiterführenden Schulzeit betrifft, beschreibt Budde (2007; 2005) doing gender als schulischen Aushandlungsprozess, in dem Lehrkräfte durch geschlechtsspezifische Zuschreibungen („fleißig“ und „brav“ vs. „lebhaft“ und „problematisch“) und Interaktionen (wie die komplizenhafte Frauenabwertung zwischen Lehrern und Schülern oder protektives Verhalten gegenüber Schülerinnen) Genderbezüge aktivieren und dadurch Geschlecht aktiv herstellen. Es werden Defizitzuschreibungen vorgenommen, die auf eine Unterscheidung zwischen ‚richtiger‘ und ‚falscher‘ Weiblichkeit und Männlichkeit schließen lassen und das eine befördern, das andere sanktionieren. Im Ergebnis tragen die Lehrkräfte normierend zu den doing gender-Prozessen ihrer Schüler*innen bei. In ähnlicher Weise lassen sich die sozialpsychologischen Erkenntnisse zu Interaktionen im MINT-Unterricht (Schmirl et al. 2012) als aktive Herstellung von Geschlecht deuten, die MINT männlich konnotiert und die Distanz von Mädchen zu naturwissenschaftlich-technischen Fächern bestärkt. Diese doing gender-Prozesse in der Schule werden in unterschiedlichen Studien nachgezeichnet (Jösting 2007; Budde/Scholand/Faulstich-Wieland 2008; Budde/Blasse 2014; Faulstich-Wieland 2001; Faulstich-Wieland/Scholand 2015; Kampshoff 2007).
Weiterführend sind doing gender-Prozesse auch im beruflichen MINT-Bereich zu finden und als eine Ursache für die Abdrängung von Frauen auszumachen: „Es ist (…) nicht die Differenz von Frauen gegenüber Männern, sondern es sind die Beschaffenheit der Männlichkeitskonstruktionen und Machtverhältnisse, die die marginale Position von Frauen im Technikbereich erklären“ (Solga/Pfahl 2009a: 2). In dieser Perspektive fehlen Frauen im technischen Bereich, weil dieser von spezifischen Männlichkeitskonstruktionen dominiert ist, die Frauen systematisch ausschließen – etwa durch die Bedeutung männlich dominierter Netzwerke oder die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf4. Beruflicher Erfolg in diesen Feldern ist demnach nur in Verbindung mit einem spezifischen doing gender – in der Regel einem spezifisch männlichen – möglich. Ebendiese Männlichkeitskonstruktionen und Machtverhältnisse in technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen werden von jungen Frauen wahrgenommen und führen zu einer ‚rationalen‘ Entscheidung gegen den MINT-Bereich, da sie weniger Aussichten auf Berufschancen und eine Einzelstellung als Frau fürchten (ebd.: 12).
Wie Berufswahl und ein spezifisches doing masculinity zusammenkommen, zeigen auch die Ergebnisse von Haffner (2014), die Studenten der Sozialen Arbeit und des Maschinenbaus befragt hat und fachspezifische Männlichkeitskonstruktionen feststellt: Die Maschinenbaustudenten orientieren sich stärker an ihrem Erfolg im Beruf, sie sehen die Hauptzuständigkeit für die Karriere tendenziell beim Mann und familiäre Aufgaben bei der Frau. Außerdem möchten sie mehr verdienen als ihre Partnerin. Die Studenten der Sozialen Arbeit dagegen würden ihre eigenen beruflichen Pläne eher zurückstellen und ihre Partnerin bei ihrer Karriere unterstützen. Zudem könnten sich 97 % der Studenten der Sozialen Arbeit vorstellen, Elternzeit zu nehmen – unter den Maschinenbaustudenten sind es nur 66 %. Haffner zieht hier eine Verbindung zur Fachkultur und stellt fest, dass die jeweils dominante Männlichkeitskonstruktion zur jeweiligen Fachkultur passt und die Berufswahl (auch) Ergebnis dieser antizipierten Passung ist (ebd.: 144).5 Eine mögliche Schlussfolgerung lautet: Die Soziale Arbeit mit ihrer spezifischen Fachkultur könnte ein Refugium für nicht-traditionelle und möglicherweise zukunftsträchtige Männlichkeitskonzepte und damit ein „Amerika für Männer“ sein (Thiessen 2014: 98) – also ein ‚Land unbegrenzter Möglichkeiten‘, in dem Männlichkeit neu erfunden werden könne.
Doing gender-Ansätze eignen sich, um ebendiese verschiedenen Konstruktionen von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit in ihrer Einbettung in eine spezifische Fach- oder Berufskultur zu beobachten. Durch die Betonung der interaktiven Hervorbringung von Geschlecht wird dieses als soziale Konstruktion begriffen und die Frage nach der biologischen Grundlage müßig. Ingenieur oder Ingenieurin zu werden bzw. Sozialarbeiterin oder Sozialarbeiter zu werden bedeutet demnach auch, ein spezifisches doing gender zu betreiben. Die von Geschlechtskonstruktionen geprägten Berufsfelder wiederum lassen für bestimmte Varianten des doing gender mehr Raum und schließen andere dagegen aus. Diese gleichzeitigen Konstruktionsprozesse von Geschlecht und Beruf begründen die besondere Erkenntnisse der doing gender-Perspektive. Begrenzt ist sie dahingehend, dass eine strukturelle Rückbindung der Bedeutung von Geschlecht (und Beruf) häufig ausbleibt. Geschlecht ausschließlich als Tun zu begreifen, greift an diesen Stellen zu kurz und eignet sich nicht als einzige theoretische Grundlage zur Betrachtung von geschlechtsspezifischen Berufswahlprozessen.6 Zugleich bietet der Ansatz des doing gender Anschlüsse, die seine Verknüpfung mit eher strukturellen Perspektiven ermöglichen.7

3.1.3 Sozialpsychologische Erkenntnisse: zur geschlechtlichen Codierung von Technik und Naturwissenschaft

3.1.3.1 Wirksame Geschlechterstereotype

Durch Berufswahlen wird Geschlecht nicht nur hergestellt im Sinne des doing gender-Ansatzes, sondern Berufswahlen sind auch maßgeblich beeinflusst durch bestehende Geschlechterstereotype und geschlechtsspezifische Interessen und Fähigkeiten von Schüler*innen. Diese Zusammenhänge werden vor allem in sozialpsychologischen Studien der Geschlechter- und Berufswahlforschung betrachtet. Durch diese Perspektive kann nachvollzogen werden, wie die bereits dargestellten vergeschlechtlichen Zweifel an der Aufnahme eines Ingenieurstudiums entstehen und wieso Schülerinnen den technisch-naturwissenschaftlichen Unterricht häufiger als ‚abschreckend‘ erleben.
So stellt etwa die PISA-Untersuchung 2015 mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaften im Kontext von „Exzellenz und Chancengerechtigkeit“ kontinuierliche Geschlechterdifferenzen in der ‚Kompetenzentwicklung‘ in der Schule fest (Reiss/Sälzer 2016: 378; vgl. auch Stanat/Kunter 2001): In allen Erhebungen wurden bei Mädchen höhere ‚Kompetenzwerte‘ beim Lesen festgestellt, niedrigere dagegen in der Mathematik. In den naturwissenschaftlichen Fächern zeigen sich diese Differenzen nur in Teilbereichen, allerdings wurden 2015 bei den Jungen erstmals signifikant höhere naturwissenschaftliche Kompetenzen festgestellt als bei den Mädchen. Damit verknüpft sind die motivationalen Erwartungen an diese Fächergruppe: Das von den Schüler*innen berichtete Interesse und ihre Freude an einem Fach, ihre Motivation und ihre Kompetenzen hängen eng zusammen8. Dabei schreiben Jungen naturwissenschaftlichen Inhalten eine größere Bedeutung für ihr zukünftiges Leben zu und trauen sich diese fachlichen Fähigkeiten stärker zu als Mädchen (Schiepe-Tiska/Simm/Schmidtner 2016: 127), womit die Wahl entsprechender Leistungskurse und damit auch der Weg in ein entsprechendes Studium entscheidend geebnet werden (Heine et al. 2006: 14).
Um tiefergehend zu verstehen, wie diese geschlechtsspezifische Selbsteinschätzungen in naturwissenschaftlichen Schulfächern entstehen, ziehen sozialpsychologische Studien als Erklärungsvariablen Geschlechterstereotype im Unterricht und die Selbstkonzepte der Schüler*innen heran: So wird Geschlecht in Unterrichtsmaterialien überwiegend stereotyp gezeichnet, nämlich entlang androzentrischer und binärer Muster. Männer üben in diesen Darstellungen vorwiegend ‚männertypische‘ Berufe aus und sie werden eher mit komplexen Geräten und Fortbewegungsmitteln abgebildet als Frauen9. Eine Stereotypisierung dieser Fächer, insbesondere der Mathematik und der Physik, als ‚nicht-weiblich‘ gehe damit einher – sowohl aus Sicht der Schüler*innen wie auch teilweise der Lehrkräfte (Makarova/Aeschlimann/Herzog 2016: 43 ff.). Die geschlechterstereotypen Annahmen vom Technikbereich unter Schüler*innen sind von der 7. bis zur 12. Jahrgangsstufe durchgängig wirksam, allerdings nehmen sie bei Jungen zum Ende der Schulzeit hin ab, bei Mädchen dagegen nehmen sie zu (Wensierski 2015: 456 ff.). Es lässt sich daher eine „sukzessive geschlechtsspezifische Codierung“ (Wensierski 2015: 463) von Technik vermuten. Die wirksamen Technikstereotype reichen bis hin zu den Vorstellungen vom Ingenieurberuf, mit dem Schüler wie Schülerinnen von Gymnasien wie Gesamtschulen Ähnliches assoziieren: hohe Aufstiegsmöglichkeiten, benötigte Kompetenzen zum Konstruieren, Führungspositionen, ein hohes Einkommen, hohe Verantwortung und hohe Leistungsanforderungen (Wensierski 2015: 463).
Zusätzlich beeinflussen Geschlechterstereotype auch die Interaktionen im Unterricht (Schmirl et al. 2012): Das Verhalten von Lehrkräften unterscheidet sich gegenüber Mädchen und Jungen. Sie geben Mädchen seltener Raum für einen Beitrag, geben ihnen andere Rückmeldungen und nehmen unterschiedliche Bewertungen vor. Im MINT-Bereich treten Lehrkräfte allgemein seltener in Interaktion mit den Mädchen einer Klasse und sie warten unterschiedlich lange auf eine Antwort, wenn sie männlichen oder weiblichen Schüler*innen eine Aufgabe gestellt haben und geben unterschiedliches Feedback, das sich bei Jungen eher an Inhalten, bei Mädchen dagegen an nicht-fachlichen Aspekten (wie ordentlicher Heftführung) orientiert. Dieses Verhalten von Lehrkräften entlang von Geschlechterstereotypen wiederum wirkt sich ebenso auf die Selbstwahrnehmung der Schüler*innen aus.

3.1.3.2 Auswirkungen auf das (fähigkeitsbezogene) Selbstkonzept

Ebendiese Selbstwahrnehmung lässt sich differenzierter unter dem der Psychologie entstammenden Begriff des Selbstkonzepts greifen, das einen entscheidenden Beitrag zur Erklärung geschlechtsspezifischer Fachpräferenzen leistet. Unterschieden werden kann hier zwischen einem engeren Verständnis im Sinne eines fähigkeitsbezogenen Selbstkonzepts und einem breiteren Verständnis, das über die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten hinausgeht (Kessels 2012). Was das fähigkeitsbezogene Selbstkonzept angeht, schätzen Schülerinnen ihre Fähigkeiten im naturwissenschaftlich-technischen Bereich wie bereits angedeutet auch bei gleicher oder besserer Leistung schlechter ein als Jungen – Jungen haben in diesem Bereich also häufiger ein stärkeres fähigkeitsbezogenes Selbstkonzept (ebd.; Schiepe-Tiska/Simm/Schmidtner 2016). Nicht nur das: Das technikbezogene Selbstkonzept von Jungen ist von der 7. bis zur 12. Klasse stabil, während es bei den Mädchen starken Schwankungen unterworfen ist (Wensierski 2015: 456–465). Die bereits erwähnte sukzessive geschlechtsspezifische Codierung von Technik, die abdrängend gegenüber Mädchen wirkt und bis zum Ende der Schulzeit in ihrer Wirkkraft zunimmt, kann auch durch Einflüsse, die das Selbstkonzept der Schülerinnen stärken – wie den intensiven Kontakt zu einer technikaffinen Mutter – nicht ausgeglichen werden und das technikbezogene Selbstkonzept von Schülerinnen hat beim Abitur so weniger als die Hälfte des Wertes ihrer Mitschüler (ebd.).
Darüber hinaus ermöglicht das breitere Verständnis des Selbstkonzepts, die Wahl eines MINT-Studienfachs als Ausdruck einer Passung des eigenen Selbstkonzepts und des MINT-Bereichs zu fassen: Im Sinne einer „identitätskongruenten Nutzung des schulischen Angebots“ (Kessels 2012: 174) hängt die Entwicklung einer (Geschlechts-)Identität mit der Entwicklung von schulischen Interessen zusammen. Somit ist die Wahl von Schulfächern – und damit eng verbunden das individuelle Interessenprofil – ein funktionaler Baustein in der Entwicklung des Selbst. Zusammengenommen mit der bereits dargestellten geschlechtsgeprägten Stereotypisierung von technisch-naturwissenschaftlichen Fächern kommt es so zu einer geringen Passung zwischen dem Selbstkonzept von Mädchen und einer entsprechenden Fachwahl. Das Engagement in einem MINT-Fach kann demnach eine Bedrohung für die Identität als Mädchen oder Frau sein (ebd.: 174–179).
Die meisten Studien, die mit dem erweiterten Verständnis des Selbstkonzepts arbeiten, beziehen sich auf die Berufswahltheorie von Eingrenzung und Kompromissbildung nach Lisa Gottfredson (1981), nach dem Kinder und Jugendliche entsprechend ihrer Entwicklungsstufe und der damit verbundenen Entwicklung eines Selbstkonzepts eine „kognitive Karte“ von Berufen haben, anhand der sie die Geschlechtstypik und das Prestige von Berufen und ihrer Passung zu den eigenen Interessen, dem eigenen Geschlecht und der eigenen sozialen Schicht bewerten (vgl. auch Ratschinski 2009; Steinritz/Kayser/Ziegler 2012). Bereits in der siebten Klasse haben Schüler*innen differenzierte Vorstellungen über die Geschlechtstypik und das Prestige vieler Berufe und ihre Einschätzungen nähern sich mit zunehmendem Alter der Einschätzung von Erwachsenen an. Gleichzeitig ist der Bereich akzeptabler Berufe bei Jungen grundsätzlich kleiner – sie sind also weniger bereit, Berufe zu ergreifen, die weiblich konnotiert sind (Ratschinski 2009: 177 ff.). Mit zunehmendem Alter kommt es so zu einem Eingrenzungsprozess, bei dem den Faktoren Geschlecht und soziale Schicht eine stärkere Bedeutung zukommt als den berufsbezogenen Interessen10.
Auf einer ähnlichen Grundlage betrachten Karin Schwiter, Andrea Maihofer, Karin Wehner und andere (Wehner et al. 2016; Schwiter et al. 2014; Schwiter et al. 2011) den Berufswahlprozess bei schweizerischen Schüler*innen in Antizipation einer Ausbildung und legen dabei den Fokus auf den Einfluss von Geschlecht. Den geschlechtsgeprägten Berufswahlprozess bezeichnen die Autor*innen – ähnlich wie Gottfredson – als einen Selbstsortierungsmechanismus und stellen auf Grundlage der TREE-Studie11 fest, dass schweizerische Jugendliche allgemein kaum mit der Möglichkeit in Kontakt kommen, einen ‚geschlechtsuntypischen‘ Beruf zu ergreifen – dass sie entsprechende Wege also weder in der Schulzeit noch in Praktika überhaupt in Betracht ziehen. Stattdessen lassen sich bei denjenigen Jugendlichen, die in einen ‚geschlechtsuntypischen‘ Beruf einmünden, besonders hohe familiäre Ressourcen – etwa ökonomischer und kultureller Art – feststellen12. Der Weg in einen ‚gegengeschlechtlich dominierten‘ Beruf scheint damit ein hochgradig voraussetzungsvoller zu sein (Wehner et al. 2016: 28–30). Als einen Schlüsselmechanismus für die Erklärung weiterführender geschlechtsspezifischer Ausbildungs- und Berufsverläufe stellen die Autor*innen den Zusammenhang zwischen antizipierter Familiengründung und Berufswahl fest: So sehen sich 16-jährige Frauen mit starkem Kinderwunsch signifikant häufiger in einem ‚frauentypischen‘ Beruf, während Männer mit ausgeprägtem Kinderwunsch meist die Hauptverantwortung für das Einkommen antizipieren und deshalb die Verdienstmöglichkeiten bei der Berufswahl stärker in ihre Entscheidung mit einbeziehen13.
Was die Entwicklung von Fachinteressen und die Studien(fach)wahl angeht, lässt sich im Hinblick auf die Bedeutung von Stereotypen und des (fachlichen) Selbstkonzepts zusammenfassen (Budde 2009: 5–9): Mädchen schätzen sich auch bei gleichen oder besseren Leistungen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern schlechter ein als Jungen, die ein positiveres fachliches Selbstkonzept haben. Mädchen lassen sich außerdem von äußeren Faktoren wie Noten stärker verunsichern, während Jungen eher mit Rückschlägen umgehen können. Und es sind Geschlechterstereotype bei Lehrkräften und Familien wirksam, die Jungen eine höhere mathematische Kompetenz zuschreiben. In der Konsequenz ist bei gleicher Leistung bei Gymnasiastinnen die Chance, ein MINT-Studium aufzunehmen, um 33 % geringer als bei ihren männlichen Peers (Aeschlimann/Herzog/Makarova 2015: 294 f.). Die Ursachen, die zu einem systematischen (Selbst-)Ausschluss von Mädchen aus den mathematisch-naturwissenschaftlichen Schulfächern führen und eine ähnlich gelagerte Studienfachwahl eher unwahrscheinlich machen, gehen also weit über Fragen der Schulnoten hinaus und reichen bis hin zur Fachwahl als Frage der Passung von vergeschlechtlichtem Selbstkonzept und Schulfächern.
Leerstellen finden sich in diesen sozialpsychologisch geprägten Ansätzen zur geschlechtsspezifischen Berufs- und Fachwahl erstens darin, dass viele von ihnen ausschließlich danach fragen, welche Bedeutung das Geschlecht für Fächer- und Berufspräferenzen hat14. Welche Rolle dabei etwa die soziale Herkunft spielen könnte, bleibt in den entsprechenden Studien häufig unbeantwortet. Dieser Kritikpunkt steht für die grundsätzliche Tendenz der Geschlechterforschung, das Geschlecht zur „Leitdifferenz“ (Heintz/Nadai 1998: 78) zu erheben, die in den letzten Jahren der paradigmatischen Entwicklung hin zur Intersektionalität zwar abgenommen hat, aber offensichtlich in Studien zur Berufs- und Studienfachwahl immer noch reaktiviert wird. Dass die soziale Herkunft entscheidend zur Entstehung von Bildungsentscheidungen beiträgt, ist zwar unumstritten, wird aber trotzdem nicht oder ungenügend berücksichtigt. Im Ansatz von Gottfredson (1981) dagegen rücken Geschlecht und soziale Schicht – wenn auch jeweils nur als binäre bzw. vertikale Einteilung – in den Blick und weisen auf das Erkenntnispotential dieser Verknüpfung hin.
Zweitens fragen sozialpsychologische Studien zur Fach- und Berufswahl häufig nur nach der handlungskanalisierenden Wirkung von Geschlecht, nicht jedoch nach der anderen Seite der Medaille, nämlich der gleichzeitigen aktiven Herstellung von Geschlecht. Was in der doing gender-Perspektive im Vordergrund steht, bleibt hier also unterbeleuchtet und umgekehrt. Eine Verknüpfung der beiden Ansätze wäre lohnend.
Und drittens ist damit auf ein grundlegendes Problem der Geschlechterforschung verwiesen, das in sozialpsychologischen Studien besonders hervortritt: Indem von vornerein auf die Kategorien von ‚Mädchen‘ und ‚Jungen‘ geblickt wird, ohne den gleichzeitigen Konstruktionsprozessen von Geschlecht Rechnung zu tragen, wird die Binarität von Geschlecht vorausgesetzt und damit unhinterfragt reproduziert. So führt auch die Bezeichnung von Berufswahlen als ‚untypisch‘ zu einer erneuten geschlechtlichen Konnotation. Es gilt daher, das Konstrukt der sozial vergeschlechtlichten Gruppen von ‚Mädchen‘ und ‚Jungen‘ bzw. ‚Frauen‘ und ‚Männern‘ anzuerkennen, aber gleichzeitig seine Herstellungsprozesse zu berücksichtigen. Nur durch diese doppelte Perspektive kann versucht werden, einer Reifizierung von Geschlecht entgegenzuwirken.

3.1.4 Biografietheoretische Erkenntnisse: Geschlecht als narrative biografische Konstruktion

3.1.4.1 Vergeschlechtlichte Techniksozialisation

Ein weiterer gewichtiger Forschungsstrang der Geschlechterforschung, der sich mit Fragen der geschlechtsspezifischen Berufswahl befasst – auch hier mit dem Fokus von Frauen in technischen Studiengängen und Berufen –, lässt sich der biografietheoretischen Perspektive zuordnen. Hier wird zwar nicht in erster Linie danach gefragt, wie durch die Berufswahl Geschlecht aktiv hergestellt wird oder welche Rolle das sozialpsychologische Selbstkonzept für eine technische Berufswahl hat, gleichzeitig gibt es breite Schnittstellen zu diesen bereits vorgestellten Ansätzen.
So geht die gendersensible Biografieforschung davon aus, dass die soziale Konstruktion von Geschlecht auch eine biografische Dimension besitzt. Auf dieser Grundlage werden erzählte Lebensgeschichten analysiert, um Prozesse der Geschlechterkonstruktion empirisch zu untersuchen und dabei Geschlecht als „narrative biographische Konstruktion“ (Dausien 2012: 158) zu greifen. Es geht also darum, Bedingungen, Wirkungsweisen und Logiken sozialer Konstruktionsprozesse zu rekonstruieren (ebd.: 160 f.) und – im Fall der Berufswahl – nachzuvollziehen, wie der Weg in ein spezifisches Studium oder einen spezifischen Beruf vor diesem Hintergrund zustande gekommen ist. Studien, die den biografischen Weg von Frauen in Ingenieurstudiengänge und -berufe rekonstruieren, gehören zu den aktuell dominantesten in der gendersensiblen Betrachtung von Berufsentscheidungen.
Wie die Entscheidung für ein technisches Studienfach in der Biografie von Ingenieurstudentinnen entsteht, rekonstruieren etwa Schüller/Braukmann/Göttert (2016) mit ihrer Studie über Studentinnen des Maschinenbaus und der Elektrotechnik an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften. Anhand von 33 problemzentrierten Interviews gehen sie dieser Frage in einer ressourcenorientierten Perspektive nach und arbeiten so heraus, welche personalen, strukturellen und sozialen Ressourcen den Ingenieurstudentinnen bei ihrer Studienfachwahl zur Verfügung standen. Die Autorinnen stellen mehrere zentrale Ressourcen fest, die den Weg hin zu einem Technikstudium begünstigen:
Als personale Ressourcen, die in den Befragten selbst ‚angelegt‘ sind, stellen Schüller/Braukmann/Göttert so eine hohe Technikaffinität unter den befragten Studentinnen fest, die sich in einer positiven Einstellung zu Technik und im Interesse an Themen wie Heimwerken und Basteln und/oder Fächern wie Mathematik und Physik äußert (ebd.: 168 ff.). Außerdem haben die meisten Interviewpartnerinnen eine hohe technische Selbstkompetenz – also ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, ein fachliches Selbstbewusstsein aufgrund von Leistungen und sie nehmen Widerstände als Herausforderungen wahr. Diese technische Selbstkompetenz kann also ähnlich verstanden werden wie ein positives technikbezogenes Selbstkonzept. Zusätzlich zeigen die Studentinnen einen kompetenten Umgang mit der Mehrheit ihrer männlichen Kommilitonen, da sie durch ihre Kindheit und Jugend schon Erfahrungen mit männlichen Gruppen gemacht, sich eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit angeeignet und gegebenenfalls für sich alternative Weiblichkeitsentwürfe entwickelt haben. Was die spätere Berufstätigkeit angeht, zeichnet die Ingenieurstudentinnen eine hohe Interessensvielfalt aus sowie eine starke Bereitschaft zur Weiterbildung, eine ausgeprägte Berufsorientierung und eine hohe Bereitschaft zur flexiblen Lebensgestaltung.
Im Zusammenspiel mit den personalen Ressourcen begünstigen auch mehrere strukturelle Ressourcen die Entscheidung für ein Ingenieurstudium – also Ressourcen, die ‚von außen‘ zur Verfügung gestellt werden und die auch teilweise die personalen Ressourcen bedingen. Ein zentrales Element davon fassen die Autorinnen unter dem Begriff der „Techniksozialisation“ zusammen, was sie verstehen als „das frühe Erfahren erster individueller Talente und Fähigkeiten im spielerischen Umgang mit Technik, wobei externe Bezugspersonen insbesondere aus dem familiären Kontext durch Vorbildverhalten nachhaltig das Technikinteresse fördern können“ (Schüller/Braukmann/Göttert 2016: 16). Durch gemeinsames Werkeln, Basteln, Reparieren etc. mit Bezugspersonen wie Vätern, Brüdern und Müttern entstehen vielfältige techniknahe Spielbezüge, die von der Familie zugelassen und sogar gefördert werden. Außerdem haben viele der Befragten den Mathematik- oder Physikunterricht positiv in Erinnerung. Zusätzlich haben die Befragten einen adäquaten Zugang zu Informationen über Ingenieurstudiengänge und -Berufe wie Beratungs- und Informationsangebote, ihnen sind Anlaufstellen bei Diskriminierung und für Frauenförderung bekannt und sie profitieren von der Struktur der Hochschule selbst – etwa, indem Professor*innen als Role Models für sie fungieren. Zudem stellen die Befragten spezifische Erwartungen an ihren künftigen Arbeitgeber wie gute Arbeitsplatzchancen, ein genügend hohes Einkommen für finanzielle Unabhängigkeit, eine interessante Tätigkeit sowie eine gute work-life-balance und eine mögliche Vereinbarkeit mit der Familie durch Kinderbetreuung oder Home Office.
Schließlich wirken auch die sozialen Ressourcen der Befragten als entscheidende Unterstützung, wie sich bereits abgezeichnet hat (Schüller/Braukmann/Göttert 2016: 168–174). Von ihren Eltern und ihrem sozialen Umfeld wurden sie etwa in Bastelarbeiten einbezogen, es wurde auf ihre Interessen eingegangen – unabhängig von kulturellen Geschlechtergrenzen –, sie wurden aktiv bei ihrer Studienfachwahl und im Studium selbst unterstützt und haben persönliche Kontakte, die sie als Informationsquelle für das Studium nutzen können. Hier spielen neben den Eltern und dem direkten Umfeld auch Lehrkräfte, Berater*innen, Lehrende der Hochschule und Kommiliton*innen eine tragende Rolle.
Dabei stehen nicht alle Ressourcen allen Befragten gleichermaßen zur Verfügung, sondern geringer ausgeprägte Ressourcen können durch andere ‚kompensiert‘ werden. Gleichzeitig müssen die Ressourcen nicht der ‚Realität‘ entsprechen, sondern es ist entscheidend, dass sie von den Befragten so empfunden und als Unterstützung erinnert werden (Schüller/Braukmann/Göttert 2016: 16 ff.). Die Autorinnen weisen außerdem darauf hin, dass sogar die Studentinnen mit besonders ausgeprägten und vielen Ressourcen an der Hochschule durch verschiedene Ausschlussmechanismen an ihre Grenzen stoßen und das Ziel nicht die ‚ressourcenoptimierte‘ Studentin sein darf, sondern eine Änderung der Fach- und Arbeitskulturen an der Hochschule angestrebt werden muss (ebd.: 174).
Der aktuellen gendersensiblen Biografieforschung zu techniknahen Studienfachwahlen lassen sich des Weiteren die Studienergebnisse von Hans-Jürgen Wensierski und anderen zuordnen15 (Wensierski 2015; Wensierski/Langfeld/Puchert 2015; Puchert 2017)16. Wensierski/Langfeld/Puchert (2015) zeichnen ebenfalls anhand der Biografie von Ingenieurstudentinnen nach, wie sich das Interesse und die Entscheidung für Technik während der Lebensgeschichte herausgebildet haben. Sie haben dazu 42 narrative Interviews geführt und anhand von 14 Fallstudien eine Typologie entwickelt mit drei zentralen Typen von Biografieverläufen:
Unter den ersten Typen fassen die Autor*innen Frauen mit einer frühen technikkulturellen Bildung im familiären Herkunftsmilieu (Wensierski/Langfeld/Puchert 2015: 63 ff.): Hier liegt in der Familie bereits eine Nähe zu technischen Tätigkeiten vor, die sich beispielsweise in den Berufen der Eltern (Mutter Bauzeichnerin, Vater Mechatroniker o. ä.) oder in der familiären Technikaffinität (Vater bindet seine Tochter in Technikthemen ein, kindliche Spielerfahrungen mit Geschwistern im handwerklich-bastlerischen Bereich o. ä.) zeigt. Technik ist bei diesem Typ in verschiedene sozialisatorische Prozesse eingebunden und wird von unterschiedlichen – teils mehreren – Sozialisationsinstanzen orientierungsleitend verkörpert und die entsprechenden jungen Frauen entwickeln so eine ingenieurwissenschaftliche Studienorientierung. Dieser Prozess kann durchaus mit Widersprüchen und Kämpfen verbunden sein, etwa was Geschlechtsrollendenken angeht oder den Weg in ein Studium aus einer Familie ohne Hochschulerfahrung heraus.
Beim zweiten Typ nach Wensierski/Langfeld/Puchert lässt sich eine familiäre naturwissenschaftliche Bildung, ergänzt durch ein technikaffines pädagogisches Anregungsmilieu feststellen (ebd.: 187 ff.). Diesen Typ zeichnet aus, dass weniger der familiäre Technikbezug, sondern die Nähe zum naturwissenschaftlichen Tätigkeitsbereich stark ausgeprägt ist. So entsteht bspw. eine Studienentscheidung hin zu einem interdisziplinären Technikstudiengang, in dem primär naturwissenschaftliche, aber ebenso technische und sozialethische Fragen behandelt werden.
Der dritte Typ schließlich unterscheidet sich vor allem vom ersten Typ durch die Herausbildung einer technischen Studienorientierung im Kontext bildungsbiografischer Selbstbehauptungsprozesse (ebd.). Technik ist hier nicht unbedingt als relevantes Thema in der Familie angelegt, nimmt aber eine entscheidende Funktion in der Entwicklung der jungen Frauen ein: Das Technikstudium kann so die familiär angelegten Aufstiegsambitionen erfüllen, einen jugendbiografischen Verselbstständigungsprozess flankieren oder Ressource im Rahmen einer konflikthaften Identitätsbildung sein.
Im gemeinsamen Ergebnis aller Typen stellen die Autor*innen fest, dass die Ausbildung eines technikkulturellen Habitus als sozialisatorische und bildungstheoretische Voraussetzung gesehen werden kann für die Entscheidung von Frauen, ein Ingenieurstudium aufzunehmen. Durch den Begriff des „technikkulturellen Habitus“ wollen die Autor*innen betonen, dass es sich hier nicht um ein isoliertes technisches Interesse handelt, sondern dass in den Familien häufig ein vielschichtiges technisches Handeln zu beobachten ist, „das sich jeweils auf die ganze Alltagskultur und eine gemeinsam geteilte technische Wissenskultur erstreckt“ (ebd.: 335).
In einer methodengleichen Folgeuntersuchung analysiert Puchert (2017) die Biographien von männlichen Studenten des Maschinenbaus und der Elektrotechnik und entwickelt auf der Grundlage von 16 narrativen Interviews ebenfalls drei Typen, mit denen sie die spezifische Herausbildung einer technischen Studienwahl nachzeichnet:
Der erste Typ gleicht dem der Erstuntersuchung unter Ingenieurinnen und fasst unter der Benennung der frühen technikkulturellen Bildung im familiären Herkunftsmilieu etwa die Hälfte der männlichen Fälle (Puchert 2017: 264 ff.): Sie haben eine frühe technikkulturelle Primärsozialisation erfahren, in der alle Väter und teilweise auch andere männliche Familienmitglieder technikaffine Berufe innehaben, während den Müttern überwiegend die Zuständigkeit für Haushalt und Erziehung obliegt. Ein ausgeprägter technikkultureller Habitus ist hier bei keiner Mutter erkennbar. Die Nähe zu MINT-Themen wird bei diesem Typ früh vermittelt und von der gesamten Familie unterstützt.
Der zweite Typus bildet zwischen den anderen beiden kontrastiven Typen ein Intermedium. Er umfasst die Herausbildung einer technischen Studienorientierung im Kontext von Selbstsozialisation und technikaffinem Peermilieu, zu dem nur zwei Fälle gehören (Puchert 2017: 286 ff.). Im Gegensatz zum ersten Typus ist hier kein technikkulturelles Anregungsmilieu vorhanden und die Familien weisen keine technikbezogenen Berufstraditionen auf. Stattdessen gehen die jungen Männer ihren Weg Richtung Technik vor allem angeregt durch technikaffine Peers und den Schulunterricht, wobei Puchert durch den Begriff der „Selbstsozialisation“ den Eigensinn dieser Verläufe betonen will.
Der dritte Typ wiederum gleicht erneut dem dritten Typus der Ingenieurinnenstudie und umfasst die Herausbildung einer technischen Studienorientierung im Kontext bildungsbiografischer Selbstbehauptungsprozesse (Puchert 2017: 296 ff.). Er steht in Kontrast zum ersten Typus, es ist also keine technikkulturelle Primärsozialisation zu beobachten und der Einfluss der Herkunftsfamilie auf den Berufswahlprozess der jungen Männer ist eher gering. Diese Fälle nähern sich der Technik durch Selbstbehauptungsprozesse in der Adoleszenz an.
Im Vergleich der Typen an Studentinnenbiografien und der Typen an Studentenbiografien umfasst kommt neben den breiten Gemeinsamkeiten auch eine geschlechtsspezifische Dimension zum Tragen (Puchert 2017: 355 ff.). Die Techniktradition im Kontext eines Familienbetriebs weiterzuführen oder die Selbsterzählung als ‚Computer-Nerd‘ sind Verlaufsmerkmale, die sich ausschließlich bei den männlichen Fällen finden, die zentrale Bedeutung der technikaffinen Mutter oder das adoleszente technikdistanzierte Bildungsmoratorium dagegen nur bei den weiblichen Fällen. Im Ergebnis betont Puchert die zentrale Gemeinsamkeit beider vergeschlechtlichter Biografieverläufe, dass die Entwicklung eines technikkulturellen Habitus eine strukturelle Voraussetzung für die spätere ingenieurale Studienfachwahl ist. Dabei werden nicht ‚einfach‘ herkunftsfamiliäre Fachtraditionen reproduziert, sondern die Studienorientierung speist sich aus komplexen und vielschichten Interaktions- und Beziehungsprozessen (ebd.). Die Herkunftsmilieus der Studierenden sind äußerst heterogen.
Das Erkenntnispotential dieser biografietheoretischen Analysen zu Wegen von Frauen und Männern in ein Technikstudium ist offensichtlich: Die Fallstudien zeichnen ein komplexes Bild darüber, wie die Orientierung hin zu einem Ingenieurstudium unter dem Einfluss unterschiedlicher Sozialisationsinstanzen und damit auch unter Berücksichtigung der sozialen Herkunft entstehen kann. Kritisch angemerkt werden kann hier, dass die soziale Herkunft teilweise verkürzt behandelt wird, indem etwa der Habitusbegriff unterkomplex verwendet und als „technikkultureller Habitus“ auf eine fachliche Dimension reduziert wird. Im Bourdieuschen Sinne könnte durch diese selektive Anwendung des Begriffs die Ganzheitlichkeit des Konzepts und die Bedeutung der herkunftsspezifischen Habitusmuster – in die fachlich-kulturelle Elemente eingebettet sind – in den Hintergrund treten.17
Dies führt zum zweiten Kritikpunkt an den genannten biografieorientierten Studien: Sie berücksichtigen zwar die Bedeutung der sozialen Herkunft für die Studienorientierung, allerdings mit geringer struktureller Rückbindung. So werden die von Schüller/Braukmann/Göttert (2016) herausgearbeiteten Ressourcen nicht systematisch mit der sozialen Herkunft in Verbindung gebracht und Wensierski/Langfeld/Puchert (2015) nehmen eine ausschließlich vertikale Unterteilung ihrer Fälle in „Arbeiterfamilien“, „Mittelschichtfamilien“ und „akademische Familien“ (ebd.: 73, 88, 112) vor, ohne etwaige horizontale Unterschiede auf der Ebene der (kulturellen) Alltagspraxis zu betrachten.

3.1.4.2 Arbeitertöchter an der Hochschule

Eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Herkunft findet sich in einigen älteren biografietheoretischen Studien von Anne Schlüter (1992; 1993; 1999)18, die die Wege von ‚Arbeitertöchtern‘19 an die Hochschule beforscht: Sie fragt danach, wie in biografischen Interviews mit Studentinnen verschiedener Fachkulturen20 die soziale Herkunft und das Geschlecht thematisiert werden und wie der Bildungsaufstieg vor diesem Hintergrund rekonstruiert werden kann. Dabei fasst Schlüter das „Produkt Biografie“ als „strukturiertes Selbstkonzept“ (Schlüter 1999: 299), das die soziale Herkunft wie das Geschlecht umfasst. Im Gegensatz zu sozialpsychologischen Studien wird hier das Selbstkonzept also strukturell rückgebunden. Mit diesem Vorgehen stellt Schlüter verschiedene „Mechanismen für Mobilität“ fest, die bei den Befragten auf dem Weg in das Studium wirken – etwa die Bedeutung von „sozialer Anerkennung“, die „Suche nach Geborgenheit“ oder eine ausgeprägte „Leistungsfähigkeit“ (Schlüter 1999: 299).
Was die Bedeutung des Vaters für Ingenieurstudentinnen angeht, kommt Schlüter zu einem ähnlichen Ergebnis wie die oben vorgestellten biografieorientierten Untersuchungen, konkretisiert dies allerdings mit Blick auf die soziale Herkunft, etwa indem „Töchter aus Mittelschichten mit einer Techniktradition der Väter (…) sich als ‚Pionierinnen‘ ein Technik-Studium zu[trauen] und (…) damit den Status der Herkunftsfamilie bestätigen“ (Schlüter 1992: 206). Im Zuge eines Bildungsaufstiegs wird das Technikstudium so zum Mittel, um den familiären Status zu sichern. Gleichzeitig stellt Schlüter heraus, dass Arbeiter*innentöchter auf dem Weg in ein Technikstudium im Gegensatz zu Akademiker*innentöchtern gleich mit zwei spezifischen Barrieren konfrontiert werden können: Für beide kann die „sozio-kulturelle Barriere“ (Schlüter 1999: 338) im Sinne des doing gender zutreffen, sodass sie sich entgegen gesellschaftliche bzw. familiäre Geschlechtsrollenzuweisungen positionieren müssen. Die Arbeiter*innentöchter nehmen allerdings in der Regel noch eine zweite Hürde, indem sie sich in ihrer akademischen Ausbildung nicht mit ihrem sozialen Herkunftsumfeld identifizieren können, sondern sich sogar hier gegen die Erwartungen und Normen ihrer Herkunftskultur durchsetzen müssen (ebd.: 338).
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Rauch (1993), die vor dem theoretischen Hintergrund von Bourdieus Kapitaltheorie (Bourdieu 1983) Arbeiter- und Akademiker*innentöchter21 in geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen interviewt hat. Diese beiden sozialen Gruppen kommen nach Rauch mit unterschiedlichem „Gepäck“ (Rauch 1993: 149 ff.) an die Hochschule – also mit unterschiedlicher Ausstattung an ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital. Rauch stellt immense Unterschiede zwischen den beiden Gruppen fest: Nicht nur der Bildungsabschluss der Eltern unterscheidet sich, sondern auch die Bildungserfahrungen im Elternhaus selbst. Bei den Akademiker*innentöchtern wurden Bildung und Leistung sehr geschätzt und gefördert, es waren Bereiche wie Literatur, Kultur und Kunst im Familienalltag präsent, es wurde viel gelesen und Theater oder Oper besucht. Bei den Arbeiter*innentöchtern dagegen war die Beschäftigung mit Kunst, Kultur und Bildung kein zentraler Bestandteil des Familienlebens, Theater- und Museumsbesuche eher die Ausnahme. Was den Verlauf der Schulbildung angeht, erlebten die Akademiker*innentöchter den Wechsel zum Gymnasium nicht als Entscheidung und auch das Abitur war selbstverständlich und wurde von den Eltern erwartet. Bei den Arbeiter*innentöchtern war die Schulwahl weniger eindeutig und der Gymnasialbesuch war häufig mit einem intensiven Entscheidungsprozess verbunden. Auf dem Gymnasium waren die Arbeiter*innentöchter überwiegend auf sich allein gestellt und sie behandelten die Kontexte Schule und Elternhaus getrennt. Teilweise lehnten die Eltern sogar neue Fähigkeiten und Verhaltensweisen ihrer Töchter ab. Bei den Akademiker*innentöchtern dagegen war der Gymnasialbesuch durch elterliche Erwartungen geprägt – der Schulverlauf wurde beobachtet und teilweise kontrolliert. Nach dem Abitur setzte sich bei den Akademiker*innentöchtern die Selbstverständlichkeit ihrer Bildungslaufbahn fort, es fand also keine grundsätzliche Entscheidung statt, sondern das Studium stand bereits fest. Die Eltern nahmen hier Einfluss in Richtung familiärer Statusreproduktion. Die Arbeiter*innentöchter dagegen entschieden sich mit dem Studium gegen das ‚Normale‘, gegen die Arbeitswelt und gegen den ihnen bekannten Lebensentwurf. Auch in der Hochschule lassen sich unterschiedliche Verläufe beobachten: Die Akademiker*innentöchter haben zwar nicht von vornerein eine größere Vertrautheit der Universität gegenüber, aber eine andere Haltung und soziale Ressourcen, auf die sie selbstverständlich zurückgreifen. Während die Akademiker*innentöchter auf Hürden mit Aktivität, Konfrontation und Ehrgeiz reagieren, ziehen sich die Arbeiter*innentöchter tendenziell zurück und suchen sich Bezugspunkte außerhalb der Universität. Was die Berufsperspektiven angeht, kommt für die Arbeiter*innentöchter ein Verbleib in der Hochschulwelt nicht in Frage, sondern sie betrachten ihren Abschluss als ‚qualifizierenden Ausbildungsabschluss‘, der für sie ein nützlicher Einstieg in das Arbeitsleben ist. Die Akademiker*innentöchter dagegen schätzen die Hochschule wert und fühlen sich von der intellektuellen ‚Kopfarbeit‘ dort angezogen (Rauch 1993: 152 ff.).
Was die Bedeutung dieser Ergebnisse angeht, müsste ein aktualisierter Blick auf die sozialen Gruppen der ‚Arbeiter- und Akademiker*innentöchter‘ geworfen werden. Zugleich bestätigen sich hier Unterschiede, die auch in anderen bildungssoziologischen quantitativen wie qualitativen Studien bereits herausgearbeitet wurden: Studentinnen beginnen ihre Hochschulausbildung unter unterschiedlichen Voraussetzungen je nach sozialer Herkunft, sie haben unterschiedliche Wege und Entscheidungsprozesse hinter sich und verbinden mit dem Studium einen spezifischen Zweck und spezifische – mehr oder weniger ausgeprägte – Hürden.
Was bei Schlüter anklingt, bei Rauch allerdings nicht ersichtlich wird, ist das spezifische Zusammenspiel des Einflusses von sozialer Herkunft und Geschlecht: Während bei Schlüter so doppelte soziokulturelle Barrieren herausgearbeitet werden, bleibt bei Rauch die Analyse dabei stehen, die Wirkung der sozialen Herkunft bei Frauen zu betrachten, ohne die Wirkungsweisen von Geschlecht ebenso in die Analyse einzubeziehen. An diesem Punkt könnten weitere Untersuchungen ansetzen und beide Ungleichheitsdimensionen berücksichtigen.

3.1.5 Poststrukturalistische Erkenntnisse: der Diskurs um Technik und Geschlecht

Einen anderen Zugang zur Frage, wie die Vergeschlechtlichung von Studien(fach)wahlen nachzuvollziehen ist, wählen poststrukturalistische und diskursanalytische Ansätze im Anschluss an Foucault (etwa 1981) und Butler (insbesondere 1991). Im Butlerschen Sinne ist Geschlecht das Produkt von Diskursen als „geschichtlich spezifische Organisationsformen der Sprache“ und (geschlechtliche) Identität lässt sich als „Bezeichnungspraxis“ fassen (ebd.: 212). Mit diesem um die Bedeutung von Sprache zentrierten Geschlechterverständnis hebt sich dieser theoretische Ansatz von den bisher vorgestellten – etwa sozialpsychologischen und biografietheoretischen Zugängen – ab.
In poststrukturalistischen Untersuchungen zu Studien- und Berufswahlen wird danach gefragt, welche „normativen Orientierungsmuster“ in den Prozessen von Berufswahl und Lebensplanung und in den damit verknüpften „geschlechtlich-beruflichen Identitätskonstruktionen“ der Subjekte bedeutsam sind (Micus-Loos et al. 2016: 1). Zu nennen sind hier insbesondere die Erkenntnisse aus dem Projekt „AN[N]O 2015“ (ebd.; Schmeck 2019), in dem technische Berufswahlen von jungen Frauen beforscht wurden. Dazu wurden 23 Gruppendiskussionen mit je 5–9 Gymnasialschüler*innen zwischen 14 und 16 und zwischen 17 und 19 Jahren geführt und mit der Dokumentarischen Methode (etwa Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2013) ausgewertet. Die Gruppen waren teilweise geschlechtshomogen und teilweise geschlechtsheterogen besetzt. Im Gegensatz zu Untersuchungen mit bspw. biografisch-narrativen Interviews geht es hier also nicht um „unbewusste Strukturen oder individuelle Lebensgeschichten“, sondern um die „kollektiven Sinn- und Orientierungsmuster“ der Schüler*innen (Micus-Loos et al. 2016: 72). Die Autor*innen interessieren dabei die „Prozesse der Hervorbringung von Geschlecht als binär codierte Identitätskategorie, wobei Technik bzw. Technikkompetenz als Moment der Differenzierung in den Fokus gerückt wird“ (Schmeck 2019: 121). Sie fragen danach, wie die „Kategorie Geschlecht“ (ebd.: 122) von den Schüler*innen vor dem Hintergrund der kulturellen Geschlechterdichotomie22 relevant gemacht wird und welche (geschlechtlich codierten) Vorstellungen die Befragten von Technikberufen haben. Dem poststrukturalistischen Verständnis folgend greift etwa Schmeck „geschlechtliche Positionierungen als Ausdruck der Verhandlung anerkennbarer Subjektivitäten im Schnittfeld kultureller Geschlechternormen und hegemonialer Technikbilder, die sich in den alltagsweltlichen Erzählungen und (Selbst-)Darstellungen der beforschten jungen Frauen (und Männer) im Rahmen der Gruppendiskussionen dokumentieren und mit der Produktion von Ein- und Ausschlüssen einhergehen“ (Schmeck 2019: 377).
Allgemein stellt Schmeck so fest, dass die beruflichen Orientierungen der Schüler*innen vor der Deutungsfolie normativer Vorstellungen von Technik und Geschlecht erfolgen: Diese gehen den Entwicklungen beruflicher Interessen und des fachbezogenen Selbstkonzeptes voraus und müssen von jungen Frauen in ihr Selbstbild integriert bzw. mit diesem in Einklang gebracht werden (Schmeck 2019: 369 ff.).
Dabei gebe es jedoch kein einheitliches Berufsbild von ‚Technik‘ und die Wahrnehmungsweisen der Schüler*innen unterscheiden sich je nach Kontext, Kenntnisständen, Bezugshintergründen usw. von stark vereinfachten bis zu sehr differenzierten Ansichten. Es herrscht bei einigen Befragten erstens ein „reduktionistisches Berufsverständnis“ (Schmeck 2019: 370) vor, innerhalb dessen technische Berufstätigkeit mit monotoner Computerarbeit gleichgesetzt werde. In anderen Fällen wiederum finden sich zweitens „diskursive Distinktionspraktiken entlang der Differenzmarkierung technischer Kompetenz“, die in dieser Wahrnehmungsweise mit der Konstruktion autodidaktischer (i. d. R. männlicher, weißer) „Technik-Freaks“ und der Abgrenzung von denselben einhergeht (ebd.: 370 f.). Des Weiteren verorten die Schüler*innen drittens Technikberufe jenseits des Sozialen und im Kontrast zu Berufen, die ‚mit Menschen‘ zu tun haben. In dieser Deutung bildet sich außerdem eine Verknüpfung von Technik mit Männlichkeit ab sowie eine weibliche Konnotation des Sozialen. Der kulturell geformte Ausschluss des Sozialen aus dem technischen Berufsfeld lässt sich damit als „implizite Vergeschlechtlichung des Feldes“ (ebd.: 373) fassen. Und schließlich nehmen die Schüler*innen viertens Technikberufe als Symbol von Innovation und Fortschritt wahr, schreiben ihnen Schöpfungskraft zu und schätzen ein technisches Studium als besonders anspruchsvoll ein (ebd.: 370–376).
In diesem Verhandlungsgeschehen im ‚Diskursfeld Technik‘ werden Mädchen verletzende Adressierungen zugemutet, in denen sie – einer dem Feld23 inhärenten androzentrischen Anerkennungslogik folgend – etwa als technisch-defizitär angerufen werden, was beispielsweise vom Schulunterricht berichtet wird. Zudem seien die Mädchen mit unterschiedlichen, sich teils widersprechenden Anforderungen an ihre Identitätsentwürfe konfrontiert. Besonders das sozialisatorische Erfahren von Geschlechterwissen im Elternhaus gibt hier einen entscheidenden Rahmen für das implizite Orientierungswissen über ‚legitime Weiblichkeit‘. Allerdings stellt Schmeck auch Möglichkeitsräume für alternative Identitätsentwürfe fest: So beobachtet sie ein „diskursives Ringen um Anerkennung“, das beispielsweise mit der Aneignung von männlich codierten Symbolen (wie einem Motorrad) oder der Identifikation mit männlichen Bezugspersonen einhergehen und so zur Inszenierung einer „exklusiven Weiblichkeit“ führen kann, die den Mädchen „Statusvorteile gegenüber klassischen Weiblichkeitskonzepten verspricht“ (Schmeck 2019: 377 ff.). In diesem Szenario wird Technik zum Distinktionsmittel gegenüber anderen weiblich-vergeschlechtlichten sozialen Positionen.
Nach Schmeck wird durch diese Analysen zum einen die „Beharrlichkeit der Vergeschlechtlichung von Technik als Effekt diskursiver Performativität verstehbar“ (ebd.: 376) und gleichzeitig werden Möglichkeitsräume zur Veränderung in diesen diskursiven Aushandlungsprozessen offengelegt. Die Autorin positioniert sich dahingehend, dass es sich bei den beschriebenen Wahrnehmungsweisen und Subjektpositionierungen nicht um bewusste, frei gewählte Prozesse der Berufswahl handelt, sondern betont die Verstrickung der Orientierungen in die gesellschaftlichen Machtverhältnisse im Diskursfeld Technik und Geschlecht. Und schließlich weist Schmeck auf die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive auf Studien- und Berufswahlen hin und verweist hier explizit auf die Dimensionen von Ethnie und Nationalität (Schmeck 2019: 408). Die soziale Herkunft wird an dieser Stelle zwar nicht erwähnt, aber spielt in der gesamten Arbeit wiederkehrend eine Rolle, indem Schmeck auf die „Momente der Erzeugung sozialer Differenz (‚doing difference‘) entlang der Trennlinie Geschlecht (‚doing gender‘) und sozialer Klasse (‚doing class‘)“ (ebd.: 360) blickt und etwa herausarbeitet, dass die Vorstellung vom Berufsfeld der KfZ-Technik sowohl dem hegemonialen Weiblichkeitsideal wie auch den Erwartungen der Schülerinnen an ihren künftigen Berufsstatus widerspricht.
Dass Schmeck ‚Klasse‘ vorrangig im vertikalen Sinne als soziale Schicht greift (etwa Schmeck 2019: 353) und damit die horizontale Ebene kultureller und klassenspezifischer Alltagspraxis aus dem Blick gerät, kann als erster Kritikpunkt an dieser Studie festgehalten werden: Offen bleibt, wie Berufsvorstellungen der Schüler*innen jenseits des erwarteten ‚Berufsstatus‘ klassenspezifisch gefärbt und so durch die soziale Herkunft mit-strukturiert sind. Als zweiter Kritikpunkt soll die Frage nach der Bedeutung von Sprache in der Herausbildung von Subjektpositionen hinsichtlich der Berufswahl aufgeworfen werden: So stellt Schmeck zwar im Anschluss an Butler heraus, dass ein diskurstheoretisches Vorgehen nicht jegliche Materialität außerhalb von Diskursen negiere (ebd.: 83), zugleich ist die sprachliche Hervorbringung von Sinn und Bedeutung in dieser Perspektive der zentrale Modus der Konstruktion sozialer Ungleichheit. Aus einem eher strukturalistischen Blick bzw. einem Blick, der strukturalistische und konstruktivistische Perspektiven vereint (wie dem von Bourdieu), ist diese herausragende Bedeutung von Sprache in Frage zu stellen24.

3.1.6 Professionssoziologische Erkenntnisse: zur Gleichzeitigkeit der Professionalisierung und Vergeschlechtlichung von Berufen

Die bisher dargestellten Erkenntnisse der Geschlechterforschung zu Studien(fach)wahlen ermöglichen bereits einen umfassenden Einblick in die Wege von Frauen und Männern in unterschiedliche Studienfächer, wobei der bereits erwähnte Fokus auf Frauen in technischen Fächern und Berufen den größten Platz einnimmt. Was allerdings gerade in sozialpsychologischen und sozialkonstruktivistischen Studien in den Hintergrund gerät und mit einer poststrukturalistischen Perspektive grundsätzlich nur schwer vereinbar scheint, ist die Rückbindung der Analysen an strukturelle Prozesse der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit: So wurde zwar von Wehner und anderen (2016) festgestellt, dass die antizipierte Familiengründung die Berufswahl von Jugendlichen maßgeblich beeinflusst, aber nicht auf die weiteren Folgen geblickt – dass dies nämlich zu einer geschlechtsspezifischen sozialen Positionierung führt und Frauen strukturell benachteiligt. Ebenso bedarf es eines erweiterten Blicks auf doing gender-Prozesse, die die Wahl eines Berufs oder Studienfachs zwar als aktive Herstellung von Geschlecht begreifen, diese in der Regel aber nicht als vorstrukturiert begreifen.
An diesem Punkt setzen die professionssoziologischen Studien von Angelika Wetterer (Wetterer 1995; Wetterer 2002) an, die Schnittstellen mit strukturtheoretischen Ansätzen wie dem der „doppelten Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt 1987) haben und sowohl die Herstellung von Geschlecht durch Berufswahlen wie auch die strukturelle Eingebundenheit der Berufswahlen in den Blick nehmen. Wetterers Analysen zeichnen nach, dass das zweigeschlechtliche Klassifikationsverfahren auf zwei Arten in Professionalisierungsprozesse eingebunden ist: Zum einen, indem Professionalisierungsprozesse das vorgefundene zweigeschlechtliche Klassifikationsverfahren als Ressource der Organisation sozialer Ungleichheit legitimieren, zum anderen, indem sie ebendiese Klassifikationen wieder selbst hervorbringen und sie bestätigen. In ihrer Untersuchung über das Berufsfeld der Medizin (Wetterer 2002) zeigt sie auf, dass „Prozesse der Berufskonstruktion und die mit ihnen verbundenen Prozesse der Geschlechterkonstruktion (…) sich zusammenfassend als Prozesse der Strukturbildung begreifen“ (Wetterer 2002: 101) lassen, die zu einer strukturell verankerten Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen führen und die Differenz und Hierarchie im Verhältnis der Geschlechter institutionalisieren und festigen.
Dem folgend ist auch die Bezeichnung der ‚horizontalen‘ Arbeitsmarktsegregation eine irreführende, verschleiert sie die enthaltene vertikale Hierarchie, denn: „Im Falle der horizontalen Geschlechtersegregation sind Arbeitsinhalt und gesellschaftliche Bewertung dieser Arbeit auf das Engste miteinander verquickt“ (Wetterer 2002: 82). Je höher der Frauenanteil in einer Tätigkeit ist, desto geringer ist die Bezahlung in diesem Feld – dieser Effekt schlägt sich durchgängig in allen Berufen, Firmen und Branchen nieder (Trappe 2006: 54). Die horizontale Segregation erweist sich damit als „subkutane Form einer geschlechtshierarchischen (‚vertikalen‘) Statusdistribution“ (Wetterer 1995: 11 f.): Die weiblich dominierten Bereiche – auch in hochqualifizierten Berufen – sind zugleich die statusniedrigeren mit weniger Prestige und Zugangschancen zu materiellen, sozialen und symbolischen Ressourcen. Diese Verknüpfung vom Geschlechterverhältnis innerhalb eines Berufsfeldes und seinem Status bestätigt sich nach Wetterer auch in den historisch häufigen ‚Geschlechtswechsel‘ von Berufen: Mit der zahlenmäßigen Feminisierung von Berufen wie dem des Kellners, Friseurs, Apothekers, (Grundschul-)Lehrers oder von Büroberufen wie im Fall des Sekretärs ist zugleich ein deutlicher Statusverlust einhergegangen. Im Zuge der Professionalisierung von Berufen dagegen findet zumeist eine zahlenmäßige Maskulinisierung statt – mit dem Statuszuwachs erhöhen sich die Ausbildungsstandards, Aufstiegsmöglichkeiten, die Bezahlung und die soziale Absicherung (Wetterer 2002: 79 f.). Die Konnotation von ‚Technik‘ mit ‚Männlichkeit‘ ist in diesen Prozessen der Vergeschlechtlichung dagegen eine willkürliche – so kann die gleiche Tätigkeit völlig unterschiedlich geschlechtlich codiert sein: Wie Wetterer anhand des Berufs der Röntgenassistentin in England zeigt, wurde dieser im gleichen Zuge zu einem frauendominierten Beruf wie seine technische Seite in den Hintergrund und stattdessen medizinische Kenntnisse, die Orientierung an den Patient*innen und das untergeordnete, zuarbeitende Verhältnis zum Arzt in den Vordergrund rückte. Die „Analogiebildung zwischen Männlichkeit und Technik“ (ebd.: 88 ff.) blieb damit unbeschadet gewahrt. Das heißt, das Geschlecht ist zum einen kreativ, was die Vergeschlechtlichung von Arbeitsinhalten angeht, und zum anderen monoton, sobald es um die Reproduktion der Geschlechterhierarchie geht (Wetterer 1995: 22)25.
Dieser Rückgriff und die Re-Konstitution des binären Geschlechtersystems in der Entwicklungs- und Professionalisierungshistorie von Berufen wird so zum Strukturmoment, durch den Frauen und Männern unterschiedliche soziale Status zugewiesen werden. Diese Gleichzeitigkeit der Konstruktion von Geschlecht und von Beruf als Hierarchisierung zwischen und innerhalb der Berufsfelder und als entsprechende Zuschreibung von Fähigkeiten und Tätigkeiten fasst Wetterer resümierend unter dem Stichwort doing gender while doing work zusammen (Wetterer 2002).
In der Folge der Vergeschlechtlichung von Berufen sind „[s]owohl Männer als auch Frauen (…) darum bemüht, ihre Berufstätigkeit so zu interpretieren und für andere darzustellen, dass sie kongruent zu ihrem Geschlecht erscheint“ (Ganß 2011: 77 ff.). Das lässt sich auch bei ‚geschlechtsneutralen‘ Berufen beobachten, in denen zwar keine Genusgruppe zahlenmäßig dominiert, die aber trotzdem mit Vergeschlechtlichungsprozessen verbunden sind – etwa im Versicherungswesen, in dem der männliche Kampfinstinkt zum Verkauf und die weibliche Kommunikationskompetenz als geschlechtliche Codierungen der gleichen Tätigkeit fungieren (ebd.). Professionalität und Weiblichkeit werden im gleichen Zuge als Gegensätze konstruiert, was sich in männerdominierten Berufen besonders stark zeigt (Heintz/Nadai 1998: 85). Davon bedingt lässt sich das Phänomen der Differenzminimierung (Wetterer 2002) bei Frauen in männerdominierten Berufen feststellen: Sie inszenieren Weiblichkeit nur bis zu einem gewissen Maß, um der Koppelung von Weiblichkeit und Unprofessionalität zu entgehen. Männer in weiblich dominierten Berufen dagegen verfolgen Strategien der Differenzverstärkung, um ihre Männlichkeit auch in weiblich dominierten Bereichen zu erhalten und zu inszenieren.
Diese geschlechtsspezifischen Strategien des doing gender im Beruf und die damit verbundenen sozialen Prozesse der Ab- und Aufwertung führen wiederum zur intraberuflichen Segregation: Männer sind innerhalb ihres Berufsfeldes häufig in ‚männlichen‘ Nischen zu finden bzw. wählen Tätigkeitsfelder, die mit ‚Männlichkeit‘ assoziiert werden (Ganß 2011: 77 ff.)26. So teilen sich viele Berufe auch in einen größeren ‚weiblichen‘ Bereich und einen kleinen ‚männlichen‘ Bereich für „Spitzenkönner“ – wie etwa bei Starköchen (Wetterer 2002: 79–80). Diese Segregationsprozesse sind eingewoben in spezifische Mechanismen innerhalb von männlich und weiblich dominierten Berufen und jeweils zum Nachteil der sozialen Positionierung von Frauen: Während Frauen in männerdominierten Berufen an eine glass ceiling stoßen und ohne sichtbare Hürden nicht in der Hierarchie aufsteigen – sich teilweise sogar aktiv gegen Ausgrenzung einsetzen müssen – tritt bei Männern in frauendominierten Berufen der gegenteilige Effekt des glass escalators ein, durch den sie fast automatisch in höhere und Führungspositionen aufsteigen – sie „[müssen] sich anstrengen, wenn sie keine Karriere machen wollen“ (Wetterer 2002: 142). Auch in ‚Mischberufen‘ mit paritätischem Geschlechterverhältnis lässt sich dieser Effekt feststellen. Frauen sind zusätzlich vom sogenannten „Drehtüreffekt“ (Teubner 2008: 494) betroffen: Finden sie in einen männerdominierten Beruf, bleiben sie dort häufig nur zeitlich begrenzt. Dieses Phänomen zeigt sich auch darin, dass Frauen häufiger als Männer einen andersgeschlechtlich dominierten Beruf antizipieren, sich aber deutlich seltener in diesen Berufsfeldern etablieren (Wehner et al. 2016: 27). So schlagen sich etwa in den Berufslaufbahnen von Maschinenbauingenieurinnen, Informatikerinnen und Elektroingenieurinnen vielfältige Benachteiligungen nieder wie ihre im Vergleich zu den männlichen Kollegen doppelt so hohe Arbeitslosenquote (Schreyer 2008). Darüber hinaus wirkt sich neben der intraberuflichen auch die bereits erwähnte interberufliche Segregation nachteilig für die soziale Positionierung von Frauen aus: Die Bezahlung und das Prestige in mehrheitlich von Männern besetzten Berufen ist höher als in den von Frauen dominierten Berufen (Wehner et al. 2016: 27).
Diesen komplexen Mechanismen der ständigen beruflichen Reproduktion der Geschlechterdifferenz und -hierarchie wurde in unterschiedlichen Studien und mehreren Berufsfeldern nachgespürt. So ging mit der Professionalisierung der Medizin in England etwa die hierarchisierende Konstruktion von weiblichem Pflegepersonal und männlichem Arztpersonal einher (Wetterer 2002) und die medizinischen Positionen an der Spitze sind nicht vereinbar mit der weiblich konnotierten Ausübung von Familienarbeit (Beaufaÿs 1999). Im juristischen Berufsfeld wiederum werden Frauen in die prestige- und statusärmeren Bereiche der Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit abgedrängt, während die höher gestellten Felder von Verfassungs- und Finanzgerichtsbarkeit den Männern vorbehalten sind – Prestige und Frauenanteil hängen auch hier unmittelbar zusammen (Böge 1995), ebenso im Berufsfeld der Architektur (Martwich 1995). Und auch das breite Feld der Wissenschaft offenbart sich als vergeschlechtlichtes, in dem Leistung und Kompetenz stärker männlichen Studenten zugeschrieben werden (Münst 2008) und aus dem Frauen durch seine inhärenten männlich-dominierten Spielregeln27 ausgeschlossen werden (Beaufaÿs 2003; auch Vogel/Hinz 2004). Ausschlüsse und Abdrängungen von Frauen lassen sich besonders augenscheinlich in den technischen und naturwissenschaftlichen Fachgebieten nachweisen: So wirken etwa in der Chemie und der Informatik Professionalisierungsprozesse als soziale Prozesse der Gestaltung von Fach und Beruf mit der Wirkung der partiellen und marginalisierenden Einbindung von Frauen (Roloff 1999: 70). Dabei ist die Vorstellung von Männlichkeit auch in Ingenieurberufen keinesfalls einheitlich, sondern vorhandene Männlichkeitskonzepte in den Ingenieurwissenschaften sind vielfältig und Ingenieur*innen können auf unterschiedliche Berufs- und Männlichkeitskonzeptionen zurückgreifen (Paulitz/Prietl 2013: 307). Der Vielfalt zum Trotz wirken ebendiese Männlichkeitskonstruktionen und die damit zusammenhängenden Machtverhältnisse abdrängend und marginalisierend auf die Einmündung und die Positionen von Frauen (Solga/Pfahl 2009a; Solga/Pfahl 2009b; Driesel-Lange 2011).
Und auch in zahlenmäßig weiblich dominierten Disziplinen und Berufsfeldern wirken sich die intraberuflichen Segregationsprozesse nachteilig für Frauen aus: So zeigt sich etwa für das Feld der Erziehungswissenschaften, dass zwar die Studierendenschaft zahlenmäßig weiblich dominiert ist, die Professuren und der Mittelbau dagegen nicht (Klinger 2015: 115 f.). ‚Feminisiert‘ sind die Erziehungswissenschaften damit nicht, fasst man unter diesen Begriff außer der teilweisen quantitativen Dominanz noch die Ebenen der kulturellen Feminisierung, also die Höherschätzung weiblich konnotierter Eigenschaften, und der politischen Feminisierung, also die Verbreitung feministischer Positionen. Stattdessen offenbaren sich auch hier zum einen Vergeschlechtlichungsprozesse, die Frauen auf statusmäßig niedrigere Positionen verweisen, sowie Mechanismen der Abdrängung, die sich neben dem Geschlecht besonders entlang der Differenzen nach dem Migrationshintergrund auftun (Rieske 2011: 45).
Vergleichbare Segregations- und Abdrängungsprozesse finden sich ebenfalls in der Sozialen Arbeit: Sie ist seit ihren ersten Professionalisierungsschritten durch hierarchische Geschlechterverhältnisse gekennzeichnet (Sabla 2014: 53 f.). Und auch wenn Studenten der Sozialen Arbeit ein im Vergleich zu anderen Studenten plurales, modernes Rollenbild von Männlichkeit haben mögen (Haffner 2014), finden sie sich später vermehrt in den Feldern der Sozialen Arbeit wieder, in denen ihre Arbeitskraft als Ganzes benötigt wird. So lässt sich sagen: „Die sozialen Praktiken, die geschlechtstypische Erwartungen an die Person adressieren und die offensichtlich auch in der Fachkultur der Sozialen Arbeit existieren, machen so aus einem ‚modernen Mann‘ einen scheinbar ‚richtigen Mann‘“ (ebd.: 146). Im Ergebnis weichen Männer in der Sozialen Arbeit dichotome und hierarchische Zuschreibungen und Verteilungen nicht auf, sondern stabilisieren sie, indem sie teilweise schon früh entsprechende höhergestellte Positionen im Beruf antizipieren oder qua Geschlecht fast automatisch in berufliche Aufstiegsprozesse einmünden (Ganß 2011: 353 ff.; vgl. auch Lepperhoff 2014).
Das verdeutlichen die Erkenntnisse von Ganß, die mit Rückgriff auf Wetterer und Bourdieu 18 Interviews mit Studenten der Sozialen Arbeit geführt und im Ergebnis drei Typen von Studenten festhält: Die Einsteiger münden nach ihrer Schulzeit in die Soziale Arbeit ein. Diesen Typus kennzeichnet, dass sie die Geschlechterdifferenz nicht aktualisieren – es steht also eine „individuelle Irrelevanzsetzung von Geschlecht gesellschaftliche[n] Relevanzsetzungen gegenüber“, innerhalb der „der ‚berufliche Weg nach oben‘ einen Weg des geringsten Widerstands“ darstellt (Ganß 2011: 353). Die Aufsteiger in die Soziale Arbeit entscheiden sich nach Ausbildungen – etwa im erzieherischen oder pflegerischen Bereich28 – für ein Studium. Sie minimieren die Geschlechterdifferenz, aktualisieren sie aber zugleich: So ist für sie die eigene Geschlechtszugehörigkeit eine Ressource für die Arbeit mit männlicher Klientel und sie reproduzieren sozialarbeiterische „Männernischen“. Und schließlich wechseln die Umsteiger von einem anderen Berufsfeld in die Soziale Arbeit: Im Gegensatz zu den anderen beiden Typen betonen sie das „Männliche“ und konstruieren einen rationalen und disziplinierenden Gegenpol zur Emotionalität und Einfühlsamkeit von Frauen – sie aktualisieren die Geschlechterdifferenz also am stärksten, wobei sie sich eine übergeordnete Position gegenüber Frauen zuschreiben (ebd.: 353 ff.).
Gemeinsam haben die drei Typen, dass sich kein Vordringen in weiblich dominierte Bereiche der Sozialen Arbeit feststellen lässt, sondern sich erste intraberufliche Segregationsprozesse abzeichnen und dabei für alle Gruppen statusorientierte Aspekte der Berufswahl und -gestaltung durchaus eine Rolle spielen (Ganß 2011: 313). Die gleichen Prozesse lassen sich bei Grundschullehrern und Grundschulleitungen finden, in deren Fall Bobeth-Neumann (2014) die Mechanismen des glass escalators passend pointiert mit: „Man(n) wird da so hineingelobt“.
Die Vorteile dieser professionssoziologischen und zugleich geschlechtertheoretischen Perspektive auf Berufe sind offensichtlich: Prozesse des doing gender bei der Berufswahl und im Berufsalltag selbst werden nicht als freie Akte der Herstellung von Geschlecht verstanden, sondern als strukturierte und strukturierende Momente der (Selbst-)Zuweisung von sozialen Positionen. Im Resultat münden Männer zum einen häufiger in die mit mehr Ressourcen verbundenen technischen Berufe ein, Frauen dagegen in die weniger prestigeträchtigen und weniger aussichtsreichen sozialen Berufe – und die jeweilige zahlenmäßige Dominanz eines Geschlechts beeinflusst wiederum Status und Prestige des Berufs selbst. Zum anderen besetzen Frauen in allen Berufen die niedrigeren sozialen Positionen. An diesem Verständnis von Geschlecht als Strukturmoment in der Konstitution von Berufen sollte weitergedacht werden, denn es ist zu vermuten, dass in den Berufswahlprozessen von Frauen und Männern das Geschlecht als sozialer Platzanweiser gemeinsam mit der sozialen Herkunft wirkt.
Abgesehen von der Untersuchung von Ganß (2011) wurde die Perspektive von Wetterer bisher nicht auf Studien(fach)wahlen hin zu einem sozialen bzw. technischen Studium angewendet. Außerdem fehlt eine Verknüpfung der Wetterschen Perspektive mit einer theoretischen und empirischen Berücksichtigung von Klassenverhältnissen. Eine derartige Verbindung, durch die ‚Geschlecht‘ in seiner herstellenden wie strukturierenden Funktion gemeinsam der sozialen Herkunft betrachtet wird, hat besonderes Potential, um eine differenzierte Einbettung von Studienfach- und Berufswahlen in Mechanismen sozialer Ungleichheit vorzunehmen.

3.2 Zwischenfazit: Erkenntnisse und Leerstellen geschlechtertheoretischer Perspektiven auf Studien(fach)wahlen

Die vorangehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die Perspektiven der Geschlechterforschung auf die Entstehung von Studien(fach)- und Berufswahlen mit spezifischen Erkenntnissen und Leerstellen einhergehen. An dieser Stelle soll die Bedeutung dieses Forschungsstandes für die vorliegende Arbeit herausgestellt werden.
Grundsätzlich ist das Zusammenspiel von Faktoren, das Studien(fach)wahlen bedingt, in der Geschlechterforschung gut beleuchtet: sei es die abdrängende Wirkung von technikbezogenen Stereotypen auf die ingenieurale Studien(fach)wahl von Frauen, die darauf aufbauende Entwicklung eines (fähigkeitsbezogenen) Selbstkonzepts, der Zusammenhang zwischen Vorstellungen von Familiengründung und Berufswahl, die Bedeutung von fachkulturellen Elementen in der Sozialisation, die „doppelte soziokulturelle Barriere“ (Schlüter 1999: 338 f.), die Arbeitertöchter den Weg in ein (technisches) Studium erschweren oder die vergeschlechtlichte Konstruktion von ‚Beruf‘ an sich, die zu einer statusmäßigen Benachteiligung von Frauen und dem ‚automatischen‘ Aufstieg von Männern führt. Geschlecht wird so durch die Berufswahl hergestellt und strukturiert diese zugleich vor. Diese umfangreichen Erkenntnisse sollen im Folgenden berücksichtigt werden, wenn es um die weitergehende Betrachtung von Studien(fach)wahlen geht.
Und diese weitergehende Betrachtung ist notwendig, denn der Stand der Geschlechterforschung zu Studien(fach)wahlen ist auch von unbeantworteten Fragen geprägt: Eine erste Leerstelle, die sich in sozialkonstruktivistischen, sozialpsychologischen, poststrukturalistischen und teilweise auch biografietheoretischen Studien auftut und die folgenden Ausführungen leiten soll, ist die Frage nach der Bedeutung der sozialen Herkunft für die Studien(fach)wahl. Sie wird entweder gar nicht berücksichtigt oder als relativ grobe oder vertikale Unterscheidung im Sinne einer sozialen Schicht behandelt. In strukturalistischen Ansätzen – etwa nach Becker-Schmidt (1987) – wird die soziale Klasse zwar systematisch mitgedacht, aber nicht explizit auf die Berufs- und Studien(fach)wahl angewandt. In Wetterers professionssoziologischem Konzept des doing gender while doing work (2002) wiederum findet eine strukturelle Rückbindung von Berufswahlen statt, aber keine konzeptionelle Berücksichtigung der sozialen Klasse. Offen ist also, inwiefern die soziale Herkunft vor dem Hintergrund einer Sozialisation in einer spezifischen sozialen Klasse und den damit verbundenen kulturellen Alltagspraktiken im Sinne einer horizontalen Unterscheidung die Studien(fach)wahl – zusammen mit dem sozialen Geschlecht – prägt. Diese Frage wird die folgenden Ausführungen leiten.
Eine zweite Leerstelle zeigt sich im beforschten Personenkreis der dargestellten Studien: So kann festgehalten werden, dass Studien(fach)wahlen von Männern ein vergleichsweiser unterbeleuchteter Gegenstand sind. Wie Männer zu Ingenieuren werden oder wie sie ihren Weg in die Soziale Arbeit finden, wurde nur vereinzelt analysiert. Und auch die Studien(fach)wahlen von Frauen bedürfen eines genaueren Blicks, nämlich auf Frauen, die sich nicht für technisch-naturwissenschaftliche Studienfächer entscheiden, sondern etwa für ein pädagogisches Studium. Indem auch diese Wege betrachtet werden, kann ein umfassenderes Gesamtbild gezeichnet werden zum Komplex von sozialem Geschlecht, sozialer Herkunft und Studien(fach)wahl, das die genannten Lücken schließt.
Darüber hinaus lässt sich als weitere bislang ungenügend beantwortete Frage festhalten, wie das soziale Geschlecht mit anderen Ungleichheitsdimensionen wie der ethnischen Herkunft in der Entstehung von Studien(fach)wahlen zusammenwirkt. Dieser Frage kann im Folgenden nicht weiter nachgegangen werden, um den Fokus dieser Arbeit auf dem Zusammenspiel von Klasse und Geschlecht im Kontext von Bildungsungleichheit zu legen. Auch weitere Erkenntnisinteressen müssen an dieser Stelle zugunsten der leitenden Forschungsfrage in den Hintergrund gerückt werden. Im Folgenden wird weder schwerpunktmäßig die sprachliche noch die symbolische Repräsentation von Geschlecht und deren Bedeutung für die Studien(fach)wahl näher betrachtet noch die Berufsverläufe von Frauen in Männern in unterschiedlichen beruflichen Feldern.

3.3 Studien(fach)wahlen aus Perspektiven der sozialwissenschaftlichen Bildungsforschung

3.3.1 Studien(fach)wahlen aus Rational-Choice-Perspektive: rationale Abwägungen

Um die Perspektiven der Geschlechterforschung auf Studien(fach)wahlen als Mechanismus der geschlechtlichen Arbeitsmarktsegmentierung zu ergänzen und die Dimension der sozialen Herkunft systematisch einzubeziehen, benötigt es einen Rückgriff auf die umfangreichen Erkenntnisse der Bildungsforschung, wie er zu Beginn dieser Arbeit begonnen wurde (vgl. Kapitel 2). Zur weiteren Erkundung der Entstehung von Studien(fach)wahlen sollen nun schwerpunktmäßig die Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Bildungsforschung hinzugezogen werden.29 Dazu wird zuerst der Bezug zu den zwei zentralen bildungssoziologischen Erklärungsmustern für die Entstehung von Bildungsentscheidungen im Rahmen des bereits erwähnten „Paradigmenstreit[s] zwischen Boudon und Bourdieu“ (Kramer/Helsper 2010: 103) hergestellt. Durch diese theoretische Fundierung und die damit verbundenen empirischen Erkenntnisse wird die Rolle von Studien(fach)wahlen in der Entstehung und Festigung sozialer Ungleichheit umfassend beleuchtet- Zugleich wird eine Abwägung der beiden Zugänge vorgenommen, die das weitere theoretische Vorgehen dieser Arbeit begründet.
Zentral zum Verständnis von Bildungsentscheidungen nach Raymond Boudon (1974) sind seine Begriffe der primären und sekundären Herkunftseffekte: Unter primären Herkunftseffekten versteht er die langfristigen Wirkungen von Anregung und Förderung im Sozialisationsprozess, die sich unter anderem in schichtspezifischen Unterschieden der schulischen Leistungen und Kompetenzen des Kindes niederschlagen. Sekundäre Herkunftseffekte dagegen bezeichnen die kurzfristigen und direkten Effekte für Bildungschancen. So unterscheidet sich die subjektive Bewertung von Nutzen und Kosten von Bildungswegen und die darauf aufbauende Auswahl eines bestimmten Bildungsweges je nach sozialer Schicht. Nutzen und Kosten eines angestrebten Bildungsabschlusses werden, so die Annahme, in Relation zur sozialen Position des Elternhauses betrachtet und Familien wählen den Bildungsweg aus, der aus ihrer Sicht am ehesten zum Statuserhalt beiträgt und der sich wiederum aus der beruflichen Verwertbarkeit von Bildung oder aus Bildungsrenditen in Form von Einkommen und Mobilitätschancen ergibt (Becker 2017: 108 ff.; vgl. auch Kracke/Buck/Middendorff 2018).
Bei seinen Betrachtungen verwendet Boudon den Begriff der sozialen Klassen im Sinne eines Modells von Berufsklassen (Erikson/Goldthorpe 1992). Nach diesem mehrdimensionalen Konzept wird die Klassenlage von Personen, Haushalten oder Familien als Resultat der jeweiligen Marktlage und der Arbeitssituation der Beschäftigten begriffen. In der empirischen Umsetzung bedeutet das, die soziale Lage vor allem durch sozioökonomische und erwerbsstatistische Daten zu bestimmen (Brauns/Steinmann/Haun 2000: 10 ff.). Dieses Klassenmodell beschränkt sich also auf eine vertikale Dimension.
Mit dem Boudonschen Ansatz lässt sich der Weg von Abiturient*innen in mehr oder weniger prestigeträchtige Fächer nachvollziehen (Becker/Haunberger/Schubert 2009: 296 f.): Schüler*innen aus höheren Sozialschichten haben demnach sowohl vergleichsweise bessere Schulnoten wie auch eine höhere Erwartung, ein Studium erfolgreich abzuschließen – dementsprechend lassen sie sich von prestigeträchtigen Fächern wie Medizin und Jura weniger abschrecken. Abiturient*innen aus unteren Sozialschichten haben geringere Erfolgserwartungen und lassen sich von Fächern, die als anspruchsvoll gelten, eher abschrecken. Zudem ist die Hürde des Numerus Clausus für sie höher, die etwa den Weg in die Medizin oder die Psychologie maßgeblich beschränkt. Hinzukommt, dass das Motiv des „Statuserhalts“ die Studien(fach)wahl entscheidend prägt und dazu führt, dass Kinder von „Professionellen“ wie Ärzt*innen und Jurist*innen „strukturell gezwungen“ (ebd.) sind, eine Studienrichtung zu wählen, die Statusverluste unwahrscheinlich macht. Die hochgradige Berufsvererbung in diesen Tätigkeitsfeldern wird so erklärbar.
Im Kontext von Studien(fach)wahlen verknüpft Rolf Becker diesen Boudonschen Ansatz mit weiteren Modellen aus dem Bereich der Rational-Choice-Theorien (Breen/Goldthorpe 1997; Erikson/Jonsson 1996; Esser 1999; Hillmert/Jacob 2003; Müller/Pollak 2007), die ebenso „davon aus[gehen], dass der Erhalt des sozialen Status in der Abfolge von Generationen ein instrumenteller Zweck von Bildung ist“ (Becker/Hecken 2008: 6) und beleuchtet vor diesem Hintergrund die Ergebnisse der sächsischen Abiturientenbefragung (Wolter/Lenz/Laskowski 2006) näher. Im Ergebnis bestätigen sich die von Becker vermuteten „Ablenkungsmechanismen“, durch die Studienberechtigte aus den Arbeiter*innenklassen von einem universitären Studium in nichttertiäre Berufsausbildungen und in Fachhochschulen ‚umgelenkt‘ werden und die ebenso die Fachwahl umfassen:
„In theoretisch sparsamer wie methodisch eleganter Weise kann empirisch nachgewiesen werden, dass die Studienfachwahl in Abhängigkeit von der Schichtzugehörigkeit das Ergebnis von Entscheidungen ist, die vor allem durch das Motiv des Statuserhalts, den für bestimmte Studienfächer erwarteten Renditen, den erwarteten Kosten für bestimmte Studienrichtungen sowie den individuellen Leistungspotenzialen und den erwarteten Studienerfolgen strukturiert werden“ (Becker/Haunberger/Schubert 2009: 307 f.).
Die Boudonsche Perspektive auf geschlechtsspezifische Ungleichheiten anzuwenden, bezeichnen ihre Vertreter*innen mitunter als schwieriges Unterfangen (Hadjar/Hupka-Brunner 2013: 14). Unter primären Geschlechtereffekten im Bildungserwerb30 werden sozialisatorisch erworbene geschlechtsspezifische Einstellungs- und Handlungsmuster von Jungen und Mädchen gefasst wie „die bei Mädchen stärker ausgeprägte intrinsische Motivation“, „die bei Jungen größere Schulentfremdung“, „die stärkere Ausprägung störender Verhaltensweisen bei den Jungen“ und „der größere Fleiß der Mädchen“ (Hadjar/Berger 2011: 25). Die sekundären Geschlechtereffekte wiederum basieren auf den geschlechtsspezifischen Bildungsentscheidungen der Lehrkräfte, Eltern und der Lernenden selbst mit dem dahinterstehenden Argument, dass dem Abschluss von jungen Menschen je nach Geschlecht ein spezifischer Nutzen zugewiesen würde – dass also „bei Frauen und Männern unterschiedlich kalkuliert wird“ (ebd.). Im Ergebnis weisen die Autor*innen u. a. für alle untersuchten europäischen Länder eine Benachteiligung von Frauen im Bildungssystem nach, die durch die Bildungsexpansion je nach Typ des Wohlfahrtsstaates in unterschiedlichem Maße zurückgegangen ist.
Auch die geschlechtsspezifisch strukturierten Entscheidungen für ein Studienfach lassen sich in der Boudonschen Perspektive auf die unterschiedlichen Einschätzung von Kosten, Erträgen und Erfolgswahrscheinlichkeiten zurückführen (Lörz/Schindler 2011). Demnach hätten Frauen etwa allgemein andere Einstellungen zum Beruf, ein größeres Interesse an Berufen mit einer „soziale[n] Komponente“ (ebd.: 104) und würden eher zu Berufen neigen, in denen sie eine hohe Vereinbarkeit von Beruf und Familie erwarten (ebd.: 103 f.). Anhand der HIS-Studienberechtigtenbefragung von 2008 arbeiten Markus Lörz und Steffen Schindler auf Grundlage dieser theoretischen Vorannahmen heraus, dass für Frauen die Kosten eines Studiums eine größere Rolle spielen als für Männer und dass sie die Berufsaussichten geringer einschätzen (ebd.: 119 f.). Was die Wahl des Studienfachs betrifft, zeigen sich „ähnliche Unterschiede, wenngleich die in die Modelle einbezogenen Variablen nur etwas mehr als die Hälfte der Geschlechterdifferenz erklären können“ (ebd.: 120). So sind es nach diesem Ansatz die geringeren Erfolgserwartungen, die geringere fachliche Selbsteinschätzung und die höhere fachliche Orientierung hin zu einem sozialen Fach, die die selteneren Wege von Frauen in ein naturwissenschaftlich-technisches Studium bedingen (ebd.). Vor diesem Hintergrund halten Lörz und Schindler letztendlich fest, dass die entscheidende Frage jene sei, wie ebendiese unterschiedlichen Einschätzungen entstehen und dass es hier eines Blicks auf die Kindheit und Schulzeit bedürfe (ebd.).
Eine konkrete Anwendung von Boudon auf die Frage nach Geschlechtereffekten in Studienfachwahlen nimmt auch Johanna Lojewski (2012) vor.31 Dabei operationalisiert auch sie die primären und sekundären Herkunftseffekte nach Boudon für die Bedeutung des Geschlechts. Demnach gehören zu den primären geschlechtsbezogenen Herkunftseffekten die Vorstellungen über die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, über geschlechtsspezifische ‚Begabungen‘, über geschlechtsspezifische Lebensstilorientierungen und geschlechtsspezifische Schulnoten selbst. Zu den sekundären geschlechtsbezogenen Herkunftseffekten zählt Lojewski jene Faktoren, die aus der eigenen Einschätzung resultieren, ein bestimmtes Fach erfolgreich absolvieren zu können. So werden männlich bzw. weiblich konnotierte Fächer im Abgleich mit dem eigenen Geschlecht wahrgenommen und die Nützlichkeit eines Fachs im gleichen Zuge subjektiv bewertet. Auf dieser theoretischen Grundlage vermutet Lojewski, dass in den unteren sozialen Schichten eine traditionelle Arbeitsteilung vorherrscht und diese dazu führen müsse, dass Frauen eher Fächer favorisieren, die eine hohe Vereinbarkeit von Familie und Beruf versprechen. Mittlere und höhere soziale Schichten seien dagegen geprägt von fortschrittlicheren Haltungen zur Arbeitsteilung und zielen eher auf Gleichberechtigung ab, weshalb hier Fächer stärker nach Einkommens- und Aufstiegschancen bewertet würden.32
Im Ergebnis ihrer Sekundäranalyse stellt Lojewski grundsätzlich keine gravierenden Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich ihrer Fachwahlmotive fest – stattdessen wirkt hier die soziale Herkunft als bestimmender Faktor. Allerdings zeigen sich Unterschiede auf den zweiten Blick, nämlich bei den extrinsischen Motivlagen von „Berufs- und Einkommenschancen“, „gesellschaftlichem Ansehen“ und der „Vereinbarkeit“ (Lojewski 2012: 314). Dementsprechend entscheiden sich Männer nach wie vor vornehmlich für Fächer mit hohen Berufs- und Einkommenschancen, Frauen dagegen für prestigeärmere Bereiche mit weniger Aufstiegsmöglichkeiten. Die Autorin schränkt allerdings die Aussagekraft dieser Erkenntnis ein, indem sie auf die hohen Standardabweichungen im Antwortverhalten der beiden Genusgruppen hinweist (ebd.). Das Geschlecht scheint also nur in einem gewissen Rahmen ein verbindendes Merkmal in der Berufs- und Studienfachwahl zu sein – gleichzeitig existiert innerhalb einer Geschlechtskategorie eine große Varianz, etwa nach sozialer Herkunft und/oder Fächergruppe (ebd.: 340 ff.). Resümierend appelliert Lojewski an Forschungen, nicht nach der Prädominanz von Geschlecht oder sozialer Herkunft zu fragen, sondern stattdessen ihr komplexes Zusammenspiel zu berücksichtigen und schlägt hierfür ebenfalls den Boudonschen Ansatz vor.
Zusammenfassend liegt der besondere Erkenntnisgewinn einer Boudonschen Perspektive vor allem darin, dass Bildungs- und Studien(fach)entscheidungen nicht nur in Abhängigkeit von ökonomischen Ressourcen oder der institutionellen Rahmung und dass sie nicht nur als eine Frage von ‚Motivlagen‘ betrachtet werden. Stattdessen macht der Boudonsche Ansatz die Verwobenheit von Bildungsentscheidungen mit der sozialen Herkunft und dem familiären Bildungshintergrund deutlich. Gleichzeitig werden auch einige Leerstellen dieser Perspektive offenbar: Gerade im Kontext der PISA-Erhebungen wird Kritik an Kosten-Nutzen-Modellen laut, die die deutsche Bildungsforschung zurzeit dominieren. Diese machen zwar erstens Ungleichheiten auf statistischer Ebene sichtbar, blicken aber nicht auf die möglicherweise dahinter liegenden Mechanismen (Kramer/Helsper 2010: 106). Indem Bildungsentscheidungen als überwiegend rational und durchdacht begriffen werden, geraten zudem eventuelle vorreflexive Anteile dieser Entscheidungsprozesse aus dem Blick. Zweitens liegt eine Stärke des Boudonschen Ansatzes durchaus im Erfassen vertikaler und institutioneller Bildungssegregation und der damit verbundenen Persistenz von Bildungsprivilegien, allerdings gerät dadurch die horizontale und damit die sozio-kulturelle Dimension in den Hintergrund (Vester 2006: 21). Drittens lässt sich die Konzeption der primären und sekundären Herkunftseffekte hinterfragen: So geht mit dieser Boudonschen Modellierung auch eine Gewichtung der beiden Effekte einher, die die sekundären Herkunftseffekte als entscheidende Kraft ausweist und den Blick auf ihr komplexes Zusammenwirken verwehrt (Kramer 2011: 137). Außerdem werde in entsprechenden Studien zwar darauf hingewiesen, dass eine klare Trennung zwischen beiden Dimensionen von Herkunftseffekten schwierig sei; jedoch ist dieses Problem nach wie vor ungelöst (ebd.). Vor diesem Hintergrund kritisiert Kramer zusammenfassend, dass man dem Boudonschen Modell folgend „…die Frage der Hervorbringung und dauerhaften Fortschreibung von Bildungsungleichheiten kausal auf das Bildungsentscheidungsverhalten (der Eltern) engführen und damit einer individuellen Verantwortung zurechnen kann“ (ebd.). Viertens lässt sich resümieren, dass Geschlecht etwa bei den zwei vorgestellten Studien zu Geschlechtereffekten im Bildungserwerb und in Bildungsentscheidungen verkürzt operationalisiert wird. Indem die primären und sekundären Geschlechtereffekte auf der Grundlage quantitativer Daten zu bspw. geschlechtsspezifischen Einstellungen und Motivlagen bestimmt werden, stoßen die Analysen an ähnliche Grenzen wie andere quantitative Studien der Bildungsforschung (vgl. Kapitel 2): Es ergibt sich zwar ein anregendes deskriptives Bild von geschlechtsspezifischen Effekten in Bildungsungleichheiten, eine tiefergehende Ursachenerkundung ist auf dieser Basis aus ungleichheitstheoretischer Sicht allerdings nicht möglich. Ebenso wenig wird ein analytischer Blick auf die vorreflexiven und durchaus vielfältigen Herstellungsprozesse von Geschlecht angelegt, denn ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ werden in den genannten Studien stets als binäre Folie vorgegeben33.
Für beide Ungleichheitsdimensionen – die soziale Herkunft wie das soziale Geschlecht – lassen sich mit Boudon also Ausdrucksformen von Bildungsungleichheit fassen, allerdings nicht ihr komplexes Zusammenwirken, ihre vorreflexiven Anteile und ebenso wenig die möglicherweise dahinter wirkenden sozialen Mechanismen, die diese erst hervorbringen.

3.3.2 Studien(fach)wahlen aus Habitusperspektive: antizipierte Passungen

3.3.2.1 Bildungsentscheidungen aus Habitusperspektive

Die Analyse der verschleierten sozialen Mechanismen von Bildungsentscheidungen ermöglichen Forschungsansätze, die dem Verständnis von (Bildungs-)Ungleichheit nach Pierre Bourdieu folgen (Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu 1982). Diese Perspektive unterscheidet sich schon durch ihr Klassenverständnis von dem Boudonschen Ansatz. Bourdieu beschränkt sich bei seinem Verständnis von sozialen Klassen nicht auf deren sozioökonomische und berufsbezogene Merkmale, sondern rückt ihre verbindende soziokulturelle Praxis – ihren gemeinsamen Habitus – in den Vordergrund34: Der Habitus ist eine „allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt“ und die maßgeblich vom Vorhandensein von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital geprägt ist (Bourdieu 1992a: 31).
Vor diesem Hintergrund konstruiert Bourdieu den sozialen Raum dreidimensional, beruhend auf Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und zeitlicher Entwicklung dieser beiden Größen (Bourdieu 1982: 195 f.), wobei die Kapitalien das Resultat von Praxis sind. Der soziale Raum umfasst zum einen die Ebene der sozialen Positionen, die horizontal zwischen den Polen von ökonomischem und kulturellem Kapital und vertikal aufgrund des Gesamtvolumens an Kapital verortet sind, und zum anderen die Ebene der Lebensstile (s. Abbildung 3.1).
Beide Ebenen liegen ‚übereinander‘, sind also eng miteinander verknüpft, und zwar durch den Habitus, der zwischen der sozialen Position und den Praktiken der Akteur*innen vermittelt.
Als zentrales Element seiner Theorie ist das Habituskonzept auch die Grundlage zur Betrachtung von Bildungsentscheidungen: Bourdieus Verständnis von Bildungsentscheidungen ist im Vergleich zu Boudon nicht in dieser Weise geprägt von rationalen Kosten-Nutzen-Überlegungen, sondern von der vorreflexiven Wirkmächtigkeit des sozialisatorisch ausgebildeten Habitus. In diesem Sinne betont Bourdieu die selektierende Wirkung des Bildungssystems, das bestimmte klassenspezifische Habitus sanktioniere und andere befördere – es treffen also die Habitus der Akteur*innen auf die institutionellen Strukturen, zu denen sie mehr oder weniger gut ‚passen‘:
„Nur eine adäquate Theorie des Habitus als Ort der Verinnerlichung der äußeren Ansprüche und der Veräußerlichung der inneren Ansprüche kann die sozialen Beziehungen erhellen, aufgrund derer das Bildungswesen die von allen seinen ideologischen Funktionen am besten getarnte Funktion der Legitimierung der Sozialordnung erfüllen kann. Das traditionelle Bildungssystem verbreitet erfolgreich die Illusion, der gebildete Habitus sei ausschließlich das Ergebnis seiner Lehrtätigkeit und sei damit von allen sozialen Determinanten unabhängig, während es im Extremfall nur einen Klassenhabitus, der außerhalb des Bildungswesens entstanden ist und Grundlage alles schulischen Lernens bildet, benutzt und sanktioniert. Es trägt deshalb entscheidend zur Perpetuierung der Struktur der Klassenbeziehungen bei und legitimiert sie, indem es verbirgt, daß die von ihm produzierten Bildungshierarchien soziale Hierarchien reproduzieren“ (Bourdieu/Passeron 1971: 222).
Damit hat der Zusammenhang von gesellschaftlichen Verhältnissen und der Struktur des (hoch-)schulischen Lernens zur Folge, dass die Teilhabe an schulischer Bildung mit der Teilhabe an der ‚herrschenden Kultur‘ zusammenfällt – der Zugang zu Bildungseinrichtungen und der Erfolg dort sind also nach Bourdieu ein Ergebnis kultureller Passung (Kramer/Helsper 2010). Auf dem Weg in die hochschulische Ausbildung werden bestimmte klassenspezifische Habitus sanktioniert und auf andere Bildungswege abgedrängt. Somit ist das Studium „…Teil eines Transformationsprozesses, der Dispositionen des Habitus in Positionen sozialer Ordnung umwandelt. (…) Bezogen auf Studienfachwahlen kommt es so im biografischen Prozess zu Passungskonstellationen des Habitus zu bestimmten Fächern, Studieninhalten und fächertypischen Vermittlungs- und Lehrformen, Anforderungen des Studiums und zur Fachkultur als Ganzes“ (ebd.).
Anteile der Abwägung, die zu einer Bildungsentscheidung führt, sind in diesem Verständnis nicht völlig bewusst zugänglich, sondern wirken im Sinne eines ‚Gespürs‘ dafür, wo „…man sich ‚am richtigen Platz‘ oder ‚fehl am Platz‘ fühlt und entsprechend beurteilt wird“ (Bourdieu/Passeron 1971: 30)35. Im Gegensatz zu Boudon sind nach Bourdieu Bildungsentscheidungen also nicht rationale, bewusste Abwägungen von subjektiven Chancen und dem Nutzen eines spezifischen Bildungsweges die Grundlage für eine Bildungsentscheidung, sondern die Passung ist eng verknüpft mit dem sozialistorisch entstandenen und primär vorreflexiven Gespür für die ‚richtige‘ Wahl.
Die Beharrungskraft des Habitus und die mögliche deterministische Interpretation des entsprechenden Ungleichheitsverständnisses ist dagegen die am häufigsten geäußerte Kritik an der Bourdieuschen Perspektive (Becker/Haunberger/Schubert 2009: 298). Bourdieu wird immer noch regelmäßig vorgeworfen, dass er „einem verdeckten Determinismus huldige, dass er geschlossene Regelkreisläufe gesellschaftlicher Reproduktion konstruiere und folglich die Freiheit des Menschen aus systematischen Gründen nicht angemessen berücksichtigen könne (…)“ (Rieger-Ladich 2005: 283)36. Entgegnet werden muss hier, dass der Habitus zwar relativ stabil37 ist und Grenzen im Handeln setzt, aber ebenso Möglichkeitsräume eröffnet. Er legt die Lebensführung also keinesfalls fest im Sinne von „Schienen“ (Bremer 2007b: 130), sondern prägt eher die Lebensführung und Alltagsgestaltung wie eine persönliche „Handschrift“ (Bourdieu 1981: 198) und hat in diesem Rahmen durchaus kreatives Potential:
„Dabei ist der Habitus kreativ, erfindungsreich; er ist in der Lage, in neuen Situationen neue Verhaltensweisen hervorzubringen; er hat das Potential einer ars invendi, einer Kunst des Erfindens (Kunst im Sinne der praktischen Meisterschaft). Dieser Operator ist Produkt der Geschichte eines Individuums, geronnene Erfahrung und damit nicht nur modus operandi, sondern auch opus operatum (ein Produkt, ein Werk, etwas Hergestelltes); er ist verinnerlichte, inkorporierte Geschichte; in ihm wirkt die ganze Vergangenheit, die ihn hervorgebracht hat, in der Gegenwart fort – allerdings um den Preis des Vergessens“ (Krais/Gebauer 2002: 6).
Diese ars invendi des Habitus kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn sich seine Entstehungsbedingungen von den Gegenwartsbedingungen im Feld unterscheiden. Diese Konstellation kann durchaus als Regelfall bezeichnet werden, denn nur in einer „statischen Gesellschaft, (…) deren Sozialstruktur über lange Zeiträume hinweg Bestand hat“, käme es zu einer widerspruchsfreien „Passung von Entstehungs- und Anwendungsbedingungen des Habitus“ (Rieger-Ladich 2005: 289). Seiner grundsätzlichen Beharrungskraft zum Trotz ist es also eben auch sein Erfindungsreichtum in Momenten des Widerspruchs und der Nicht-Passung, die den Habitus kennzeichnen und ihn als Konzept an der Schnittstelle von individuellem Handeln und struktureller Prägung so erkenntnisreich machen38. Der Bourdieusche Blick auf Bildungsentscheidungen allgemein und Studien(fach)wahlen im Speziellen eignet sich daher, um verborgene Mechanismen in der Reproduktion sozialer Ungleichheit zu entschlüsseln und gleichzeitig auch Momente der Improvisation und der Herausforderung des Habitus zu berücksichtigen.

3.3.2.2 Habitusspezifische Zugänge zum Studium

Nur wenige Studien nehmen explizit die Studienfachwahl auf der Grundlage des Habituskonzepts in den Blick. Der habitusspezifischen Affinität zu einem bestimmten Studium geht etwa Sabine Maschke (2013) am Beispiel von Lehramtsstudierenden nach: Mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2013) verfolgt sie anhand von narrativen Interviews und Fotoanalysen die Frage, wie die Entscheidung für das Studium zustande gekommen ist und welche habitusspezifischen Bewältigungsstrategien sich dabei abzeichnen. Das Sample umfasst 15 Lehramtsstudierende aus dem Fach Kunst und acht aus der Physik. Maschke arbeitet heraus, dass sich das Selbstbild der Physikstudierenden auf „Regelhaftigkeit und Kontrolle“ (Maschke 2013: 308) fokussiert, von einer defizitären Selbstwahrnehmung in den sprachlichen Fächern sowie einer damit verbundenen Nähe zu mathematisch-naturwissenschaftlichen geprägt ist. Die Kunststudierenden wiederum grenzen sich von ebendiesem ‚Regelhaften‘ ab und betonen stattdessen das Ausprobieren und Experimentieren (ebd.). Darüber hinaus hält Maschke zwei kontrastive Strategien des Übergangs zum Studium fest: Den Typus der defensiven Strategie kennzeichnet eine „familiäre und schulische Einspurung“ (ebd.: 321) und die Studienfachwahl ist von einer Vermeidung von Konflikten geprägt. Der adoleszente Erfahrungsraum dieses Typus ist vor allem durch die Familie gerahmt – Peer-Erfahrungen spielen nur eine untergeordnete Rolle – und damit gewissermaßen ‚begrenzt‘. Der Übergang in das Studium geht mit einer biografischen Verunsicherung und einem vermeidenden Verhalten einher, durch das Spannungen reduziert werden sollen. Im Gegensatz dazu finden sich beim Typus der offensiven Strategie stärkere Distanzierungsbemühungen von der Familie und es kommt eher zu Konflikten. Der Erfahrungsraum ist durch ein spannungsreiches Zusammenspiel von Familie, Schule und Peers geprägt und geht mit dem Erwerb neuer Ressourcen einher. Statt einer vermeidenden Haltung findet sich hier eher eine suchende Haltung, im Rahmen derer Spannungen angenommen und der Übergang in das Studium als Herausforderung angesehen wird (ebd.). Diese beiden Typen versteht Maschke als ‚übergreifende Orientierungsrahmen‘, vor deren Hintergrund sich die Passung zu einem Studienfach entfaltet (ebd.: 318). Die Bedeutung des Geschlechts für diese Passung bleibt bei Maschke indes im Hintergrund.
Im Gegensatz dazu betrachtet Robert Baar (2010) in seiner Studie die Herausbildung eines beruflichen Habitus unter männlichen Grundschullehrern und nimmt auch dessen Bedeutung für die Berufswahl in den Blick. Als theoretische Grundlage verknüpft er das Habituskonzept von Pierre Bourdieu (1982) mit dem Konzept hegemonialer Männlichkeit nach Raewyn Connell (2015). Vor dem Hintergrund von elf problemzentrierten Interviews und deren Auswertung nach der Dokumentarischen Methode arbeitet Baar zwei Typen von Handlungsorientierungen heraus (Baar 2010: 286 ff.): Er unterscheidet den Typen des „Reflexiven Habitus“ und den des „Nicht-Reflexiven Habitus“ (ebd.: 386). Laut Baar gelänge es den Lehrern mit einem Reflexiven Habitus, geschlechtsspezifische Zuschreibungen zu hinterfragen und so eine „geschlechterbewusste Handlungsorientierung“ (ebd.) zu entwickeln. Dadurch könnten diese Lehrer Geschlechterkonstruktionen hinterfragen, mit ihnen aktiv umgehen und auf dieser Grundlage eine professionelle Kompetenz in ihrem gegengeschlechtlich dominierten Beruf erlangen. Der nicht-reflexive Typ dagegen verstehe die Geschlechterdifferenz als essentialistisch und beteilige sich unhinterfragt an deren Konstruktion. Baar unterscheidet dabei zwischen unterschiedlichen Subtypen: Der Subtyp der „Sexierung“ setze Charme und Flirt im beruflichen Handeln ein, der Subtyp „Führungsanspruch“ (ebd.: 387) setze auffällig seine „naturgegebene Dominanz“ (ebd.) durch und der Subtyp „innere Emigration“ (ebd.: 388) dagegen ziehe sich aus diesem Geschehen zurück.
Damit sieht Baar Geschlecht als „das zentrale Paradigma“ (Baar 2010: 385), das die beruflichen Handlungsorientierungen der Grundschullehrer prägt. Die Diversität unter den verschiedenen (Sub-)Typen wiederum seien das Resultat von Generationenzugehörigkeit „individualbiografischer Unterschiede“ (ebd.). Hier tut sich eine Leerstelle in der Studie auf, denn ein systematisches Zusammendenken mehrerer Habitusdimensionen findet nur in Ansätzen statt. So will Baar zwar gesondert auf die Kategorien von ‚Generation‘ und ‚Soziales Milieu‘ blicken (ebd.: 87), arbeitet aber lediglich den generationalen Aspekt differenziert heraus, während sein Milieubegriff unterbeleuchtet bleibt39. Diese Unklarheit mag (auch) auf die konzeptionelle Verknüpfung von Bourdieu und Connell zurückzuführen sein, die durchaus mit Widersprüchen und offenen Fragen verbunden ist40.

3.3.2.3 Habitusspezifische Bewältigung des Studiums

Auch wenn nur vereinzelte Untersuchungen nach der Bedeutung des Habitus für die Berufs- bzw. Studienfachwahl fragen, setzen dagegen mehrere an der daran anknüpfenden Frage der habitusspezifischen Studienbewältigung an. Da diese Studien damit zugleich die habitusspezifischen Passungsverhältnisse zum Studium in den Blick nehmen, lassen sie jedoch umfangreiche Rückschlüsse über die vorgelagerten Mechanismen der Studienfachwahl zu.
Im Kontext von Studium und Hochschule haben etwa Andrea Lange-Vester und Christel Teiwes-Kügler Studierende der Sozialwissenschaften41 im Hinblick auf ihre Milieuzugehörigkeit und das damit verbundene Bildungsverständnis – eingebettet in den Habitus – untersucht und festgestellt, dass die sozialwissenschaftliche Studierendenschaft äußerst heterogen ist und den gesamten Sozialraum abdeckt (s. Abbildung 3.2). Anhand von mehrstufigen Gruppenwerkstätten mit 102 Studierenden und 15 lebensgeschichtlichen Einzelinterviews42 decken sie so die „verborgenen Selektionsmechanismen“ (Bourdieu/Passeron 1971) auf, die bei Studierenden unterer sozialer Milieus zu Verunsicherungen, Orientierungsproblemen und Selbstzweifeln im Studium führen und auf die Diskrepanz zwischen dem Habitus der Studierenden und den Erfordernissen des akademischen Feldes zurückzuführen sind (Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004: 174 ff.). Diese Studierenden haben außerdem keine akademischen Vorbilder in der Familie, sie haben unkonkrete oder falsche Vorstellungen vom Studium und sie greifen zur Bewältigung des Studiums auf Unterstützung aus der Gemeinschaft zurück.
Unter den Studierenden aus den mittleren Volksmilieus stellen sie dagegen große Unterschiede fest, die sich entlang der „facharbeiterischen“ und „ständisch-kleinbürgerlichen“ Traditionslinien aufspannen (Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004: 168 ff.). Studierende aus der erstgenannten Traditionslinie betonen ihren Anspruch auf Selbstständigkeit und sie haben eine innengeleitete Haltung zu Bildung entwickelt. Probleme im Studium schreiben sie dementsprechend dem eigenen Verschulden zu. Ihr Habitus unterliegt der Spannung, sich auf der einen Seite akademische Inhalte relativ stark zu eigen zu machen, auf der anderen Seite aber auch der persönlichen Herkunft verbunden zu bleiben. Studierende aus der ständisch-kleinbürgerlichen Traditionslinie bewältigen ihr Studium anhand anderer Strategien.
Sie handeln eher nach außen geleitet und eignen sich Inhalte mehr pflichtbewusst an. Die Verantwortung für eigene Schwierigkeiten im Studium sehen sie eher in der Institution selbst. Da das Studium für sie eher äußerlich ist, zeigen sich aber auch zugleich weniger Konflikte mit ihrem Herkunftsmilieu. Daneben gibt es auch verbindende Elemente zwischen den Studierenden der mittleren Volksmilieus und beider Traditionslinien – etwa die Erwartung, erst durch das Studium konkrete berufliche Vorstellungen zu entwickeln. Und schließlich lassen sich noch vier Typen an Studierenden aus den oberen sozialen Milieus feststellen, die ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und die Betonung ihrer Individualität verbindet. Untereinander grenzen sie sich wiederum über Merkmale entlang der Trennung nach „Besitz und Geist“ ab, also ebenfalls vor dem Hintergrund ihrer Verwurzelung in den verschiedenen milieuspezifischen Traditionslinien.
Die verborgenen Selektionsmechanismen führen in der Hochschule, so die Schlussfolgerung, nicht nur zur Abdrängung von Studierenden in weniger renommierte Fächer, sondern wirken ebenso innerhalb eines Fachs in Form von verschiedenen (mit Verunsicherung oder Bestärkung verbundenen) Dispositionen. Trotz der Heterogenität der Studierenden in den Sozialwissenschaften vermuten die Autorinnen, dass „Studierende je nach Disposition eine Affinität zu bestimmten Studienfächern und deren Strukturen besitzen. Dies würde erklären, warum Studierende mit bestimmten Habitusmustern gehäuft in einigen Fächern auftreten und das Bild eines einheitlichen Fachhabitus vermitteln“ (Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004: 182 ff.). Diese Hinweise auf die von der sozialen Herkunft maßgeblich geprägten Motive der Studien(fach)wahl bieten Erklärungsansätze für die quantitativen Verteilungsverhältnisse auf verschiedene Studienfächer und ermöglichen die Analyse der dort wirkenden Mechanismen sozialer Ungleichheit. Studien, die ebendiese Mechanismen betrachten, sind überschaubar und ein Anknüpfen an dieser Stelle verspricht besondere Erkenntnisse zur Frage, wie Studien(fach)wahlen entstehen – insbesondere unter der Berücksichtigung von Geschlecht, die in den vorliegenden Studien nur am Rande vorgenommen wird.
Lars Schmitt (2010) vergleicht die Umgangsweisen von Studierenden mit dem Studium und analysiert sie vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit. Dazu wurden 21 Interviews mit Studierenden verschiedener Fächer geführt und mit einer Kombination aus qualitativer Inhaltsanalyse und hermeneutischer Interpretation ausgewertet. Aus dieser Perspektive werden keine „Klassenkämpfe“ geführt, sondern es liegen „Stellvertreterkonflikte“ (ebd.: 265) vor – auch zwischen den Studierenden mit unterschiedlichen Dispositionen. Im Ergebnis stellt Schmitt verschieden starke „Habitus-Struktur-Konflikte“ der Studierenden fest (ebd.: 265 ff.). Die mehr oder weniger hohe Passung zur akademischen Welt wird individuell erlebt und die größeren Probleme der Nicht-Passung zeigen sich schwerpunktmäßig am bildungsfernen Herkunftspol. Der Umgang mit diesen Habitus-Struktur-Konflikten kann unterschiedlich aussehen, etwa, indem durch Fleiß Anerkennung erarbeitet wird, indem sich Studierende an ihrer möglichen beruflichen Zukunft orientieren oder indem sie sich in vertraute Gefilde zurückziehen. Hier können beispielsweise Personen in der Hochschule mit ähnlichen Habituszügen (Hausmeister*innen, Bibliothekar*innen, andere Studierende) oder individuelle Freizeitaktivitäten jenseits der Hochschulwelt eine „Milieuflucht-Funktion“ (ebd.: 269) erfüllen. Allerdings kann das Studium am bildungsfernen Pol ebenso als emanzipatorisch erlebt werden. Damit bestätigt Schmitt die Erkenntnisse von Lange-Vester/Teiwes-Kügler (2004) über die habitusspezifischen Konflikte im Studium je nach sozialer Disposition.
Die unterschiedlichen Studier- und Bildungspraktiken von Studierenden interessieren auch Janika Grunau (2017): Sie hat 15 Interviews mit Studierenden unterschiedlicher Fächer geführt und mittels der dokumentarischen Methode hinsichtlich ihrer habitusspezifischen Bildungsstrategien und Studienpraktiken ausgewertet. Grunau entwickelt so eine ausschnittsweise Typologie von vier Studierendentypen (s. Abbildung 3.3).
Die Bildungsstrategien des „aufstiegsorientierten Typus“ von Studierenden lassen sich als „strebend“ und „leistungsorientiert“ beschreiben, Noten haben für ihn einen zentralen Stellenwert. Diesen Typus hat Grunau ausschließlich bei Studierenden aus nicht-akademischen Elternhäusern gefunden, in denen es auch keine weiteren Personen mit hochschulischer Erfahrung (bspw. ältere Geschwister) gibt. Statistisch gesehen gehören diese Studierenden also zur Gruppe der Bildungsaufsteiger*innen (Grunau 2017: 177 ff.).
Der „pragmatische Typ“ von Studierenden trifft Bildungsentscheidungen situativ und pragmatisch und grenzt sich von wenig anwendungsorientierten Inhalten wie die der höheren Mathematik eher ab. Wie der aufstiegsorientierte unternimmt auch der pragmatische Typus Anstrengungen für seinen Weg an der Hochschule, der für ihn aber mit vergleichsweise weniger Leiden verbunden ist. Auch die Angehörigen dieser Gruppe gehören statistisch betrachtet zu den Bildungsaufsteiger*innen, sie haben Eltern mit Fachberufen, sind aber üblicherweise nicht die Ersten, die in der Familie studieren. Grunau zieht bei diesem Typus eine Parallele zu der von Schmitt (2010) festgestellten Erfahrung von Studierenden an der Hochschule, ‚bestellt und nicht abgeholt‘ zu sein (Grunau 2017: 182 ff.).
Beide Typen verortet Grunau im mittleren Bereich der Volksmilieus, wobei sich der aufstiegsorientierte Typus vertikal unter dem pragmatischen Typus befindet. Die zwei folgenden Typen dagegen sieht sie im Raum der oberen sozialen Milieus: So zeichnet den „bildungsetablierten Typus“ von Studierenden eine akademische Zielorientierung aus. Eine akademische Laufbahn ist für ihn und seine Herkunftsfamilie selbstverständlich und wird entsprechend unterstützt. Es zeigen sich kaum Passungsprobleme in der Hochschule und mindestens ein Elternteil hat studiert oder zumindest eine höhere Beamtenlaufbahn absolviert. Bei den Bildungsstrategien schlägt sich eine starke Formal- und Strukturorientierung nieder und außerschulische Erfahrungen haben nur dann einen Stellenwert, wenn sie für den weiteren Bildungsweg relevant sind. Grunau stellt hier zwar eine akademische Reproduktion fest, grenzt diesen Typus aber von dem eines „klassischen akademisch-intellektuellen Milieus“ ab, da beim bildungsetablierten Typus weder hochkulturelle Interessen noch die Zweckfreiheit von Bildung festzustellen sind. Stattdessen dominiert eine ausgeprägte Status- und Stabilitätsorientierung, weshalb sie ihm eine ständisch-kleinbürgerliche Herkunft zuschreibt (Grunau 2017: 185 ff.).
Und schließlich verortet Grunau den „intellektualisierten Typus“ vertikal am weitesten oben im sozialen Raum: Für ihn bedeuten Lernen und Bildung nicht nur berufliches Vorankommen, sondern vor allem persönliche Entfaltung. Auch außerschulische Erfahrungen werden wertgeschätzt und reflektiert und das selbstständige Lernen wird höher geschätzt als die Schulbildung (Grunau 2017: 187 f.).
Wie durch habitus- und damit milieuspezifische Studierpraktiken soziale Ungleichheit reproduziert wird, zeichnet auch die schweizerische Studie von Petra Hild (2019; auch 2016) nach, in der die habitusspezifischen Aneignungspraktiken von elf Studierenden einer Pädagogischen Hochschule mit der Methode der Habitushermeneutik entschlüsselt werden. Hild stellt vier Typen von Aneignungspraktiken der Studierenden fest, die auf eine spezifische Verortung im Milieuraum hinweisen (s. Abbildung 3.4).
Die „selbstbewussten IndividualistInnen“ können die Anforderungen im Studium ohne größere Anpassungsprobleme gut bewältigen (Hild 2019: 432 f.). Sie eignen sich Inhalte selbstbestimmt und überwiegend individuell an. Studentische Gruppenarbeiten führen sie vorzugsweise dann durch, wenn „auf vergleichbarem Niveau“ (ebd.: 433) diskutiert werden kann. Dabei demonstrieren sie Selbstsicherheit und Gelassenheit, was mit einer eloquenten Darstellung der Aneignungspraktiken verbunden ist und zudem Hinweise auf eine asketische Haltung43 erkennen lässt.
Die Aneignungspraktiken der „angestrengt Kämpfenden“ wiederum sind weder von Entspanntheit noch Gelassenheit geprägt, vielmehr befinden sie sich in einem mühevollen sozialen Aufstiegsprozess (Hild 2019: 433 f.). Für sie ist das Studium mit Anstrengungen verbunden und geht mit Zweifeln und Unsicherheiten einher. Um sich die Inhalte anzueignen, wird vergleichsweise viel Zeit und Energie investiert und es werden tendenziell keine Risiken eingegangen. Auch hier spiegelt sich ein asketisches Vorgehen wieder, dass allerdings im Vergleich zum ersten Typus als „verkrampft“ beschrieben werden kann (Hild 2019). Die Studierenden sind auf Strukturen angewiesen und arbeiten sich diszipliniert durch die Anforderungen des Studiums.
Die „spontanen Gelegenheitslerner“ begegnen dem Studium mit „Ad-Hoc-Aneignungspraktiken“ (Hild 2019: 434). Auch für sie ist das Studium mit Unsicherheiten verbunden, auf die sie allerdings mit Spontanität, Neugierde und einem gewissen Optimismus reagieren. Die Arbeit in Gruppen ist bei diesem Typus die dominante Aneignungsstrategie. So dient die Gruppe nicht nur als Entlastung, sondern wird auch als Möglichkeit genutzt, sich andere Studierende zum Vorbild zu nehmen. Ein diszipliniertes Vorgehen legen diese Studierenden dann an den Tag, wenn es nicht mehr anders geht.
Schließlich zeigen sich beim Typus der „motivierten Lernerinnen“ hierzu einige Kontraste (Hild 2019: 434 f.). Diese Studierenden gehen im Studium asketisch und selbstkritisch vor, allerdings hat die Peergruppe auch für sie eine besondere Bedeutung. Im Vergleich zu den „angestrengt Kämpfenden“ und den „spontanen Gelegenheitslernern“ hat dieser Typus eine höhere Passung zum Studium an der Pädagogischen Hochschule. Nur bei den „selbstbewussten IndividualistInnen“ schätzt Hild die Passung zum Studium noch höher ein.
Der Vergleich dieser Studierendengruppen macht deutlich, dass die im Studium notwendige Selbststeuerung nicht allen Studierenden gegeben ist, sondern je nach Milieu unterschiedliche Haltungen und Strategien der Bildung und des Lernens ‚mitgegeben‘ werden (Hild 2016: 138 f.). Soziale Ungleichheiten schreiben sich so im Studium fort. Auch das soziale Geschlecht berücksichtigt Hild in ihrer Analyse: Es rückt etwa beim Typus der „motivierten Lernerinnen“ in den Vordergrund, da dieser nur aus weiblichen Studentinnen besteht. Hild sieht die hohe Passung dieses Typus nicht nur auf den Habitusspezifika bestimmter sozialer Milieus begründet, sondern auf dem „weiblichen Habitus gewisser Milieus“ (Hild 2019: 440) und verweist damit auf geschlechtsspezifische Unterschiede innerhalb eines Milieuhabitus. Was Aneignungspraktiken im Studium betrifft, verleihe das soziale (weibliche) Geschlecht einem lernaffinen Habitus „einen zusätzlichen Schub“ (ebd.: 441), wie die Autorin resümiert.
Diese habitusspezifischen Unterschiede setzen sich fort bis zum Abschluss bzw. Abbruch des Studiums. Dass vor diesem Hintergrund auch die Umstellungen im Rahmen des Bologna-Prozesses nicht automatisch zu einem Abbau sozialer Ungleichheit im Studium führen, zeigen die Ergebnisse des BMBF-Projekts „USuS“ zum Studienerfolg von Studierenden in Bachelor-Studiengängen (vgl. etwa Bülow-Schramm/Merkt/Rebenstorf 2011; Bülow-Schramm 2013).44 In einer Längsschnittperspektive wurde in fünf Studiengängen an vier Hochschulen der Frage nachgegangen45, durch welche Faktoren Studienverläufe günstig oder ungünstig beeinflusst werden. Auch hier werden als theoretische Grundlagen unter anderem das Ungleichheitsverständnis von Bourdieu und die darauf aufbauenden Milieuanalysen unter Studierenden herangezogen (Rebenstorf/Bülow-Schramm 2013: 27). Die Autor*innen stellen fest, dass die Rahmenbedingungen des Bachelor-Studiums nur an spezifische Herkunftsvoraussetzungen von Studierenden besonders gut anschließen und andere Studierende aus dem Studium abgedrängt werden. Der Studienerfolg von Studierenden nicht-akademischer Herkunft wiederum könne durch spezifische Studienganggestaltungen mit begleitenden Beratungsangeboten erhöht werden (ebd.: 231).
Um den verschleierten Mechanismen der Abdrängung und des Ausschlusses als Ursachen für einen Studienabbruch nachzuspüren, setzt wiederum Heidrun Schneider (2016) hier die Habitus- und Milieuperspektive an, innerhalb der der Abbruch als Ergebnis einer geringen Passung zwischen mitgebrachtem Habitus und im Studium geforderten Habitus gesehen werden kann. Schneider kontrastiert zwei Fälle von Studienabbruch im Fach Informatik, die sie im Rahmen einer habitushermeneutischen Analyse untersucht und deren Abbruch aufgrund ihrer unterschiedlichen vertikalen Positionierung im Raum der sozialen Milieus spezifische Hintergründe hat: Bei dem vertikal höher verorteten Studienabbrecher – stammend aus dem Leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu – zeigt sich grundsätzlich ein höheres Selbstbewusstsein, ein stärkerer Kontakt zu den Kommiliton*innen und ein hoher Bezug zur theoretischen Fundierung von Wissen. Der vertikal niedriger verortete Fall aus einem unterprivilegierten Milieu dagegen ist von weniger Selbstsicherheit, geringem Kontakt zu Mitstudierenden und einer Distanzierung von Theoriewissen mit gleichzeitigem Fokus auf den Anwendungsbezug geprägt. Was beide Fälle eint, ist ihr fehlender Kontakt zu Lehrenden – was einerseits auf die hochschulischen Strukturen, aber auch die bestehende soziale Distanz zurückzuführen ist – und die geringe Passung zwischen ihrem mitgebrachten Zugang zu Bildung und dem gefordertem Habitus im hochschulischen Feld. Die milieuspezifisch unterschiedlich hohe Passung zum hochschulischen Feld führt so bei beiden Fällen zum Scheitern an den universitären Anforderungen und zum Studienabbruch.
Studien(fach)wahlen entlang von habitus- und damit milieuspezifischen Praktiken nachzuzeichnen, eröffnet also einen Blick auf die Heterogenität der Studierenden wie auch eine gewisse Homogenität, was die milieuspezifische Affinität zu bestimmten Studienfächern angeht. Entsprechende Studien schließen an das Bourdieusche Verständnis von (Bildungs-)Ungleichheit an und haben damit das Potential, die verschleierten sozialen Mechanismen der Abdrängung zu entschlüsseln, durch die bestimmte Habitustypen von bestimmten Bildungswegen ausgeschlossen werden. Im Gegensatz zu Studien auf der Grundlage des Rational-Choice-Ansatzes umfassen Bourdieusche Arbeiten auch die horizontale Ebene der Alltagskultur, die die Passung zu einem Studienfach bzw. einem Beruf prägt. Zudem wird weniger das situative Entscheidungsmoment für einen Bildungsweg in das Blickfeld genommen als vielmehr auch die vorangegangenen langfristig eingeübten und klassen- wie geschlechtsspezifischen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster, die erst zu dieser vorreflexiv geprägten Entscheidung führen. Und schließlich kann durch das Habituskonzept ein komplexeres Verständnis von Geschlecht angelegt werden als es in der binär geprägten Operationalisierung Boudonscher Studien der Fall ist46.

3.3.2.4 Die Konstitution von Fachkulturen

Zum Konzept der Fachkulturen
Die dargestellten Erkenntnisse zur habitusspezifischen Studien(fach)wahl zeigen auf, dass Studierende mit bestimmten Dispositionen zu bestimmten Fachwahlen neigen. Daran schließen die Grundannahmen der Fachkulturforschung an (etwa Liebau/Huber 1985). Fachkulturen sind demnach „unterscheidbare, in sich systematisch verbundene Zusammenhänge von Wahrnehmungs-, Denk-, Wertungs- und Handlungsmustern“ (ebd.: 315). In dieser Perspektive sind keine der in den Studiengängen beobachtbaren Praxen, Codes und Rituale beliebig oder völlig frei gewählt, sondern systematisch miteinander verknüpft und Teil der gesamten Fachkultur. Selbst Äußerlichkeiten wie die Kleidung von Studierenden und Lehrenden sind weder „zufällig“ noch „belanglos“ (ebd.: 316), denn sie drücken Haltungen aus und festigen ebendiese zugleich47. Im Rahmen dieser Forschungsperspektive widmen sich Untersuchungen der sozialisatorischen bzw. habitusformenden Wirkung des Studiums eines bestimmten Fachs auf die Studierenden und auch auf deren mitgebrachten Herkunftshabitus. Die Erkenntnisse der Fachkulturforschung ermöglichen damit auch Aussagen über den vorangegangenen Prozess der Studien(fach)wahl.
Mit Anne Schlüter und anderen lassen sich Fachkulturen in direkte Verbindung zum Bourdieuschen Verständnis des sozialen Raums bringen:
„Die Nähe oder Ferne zur wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Macht, die die einzelnen universitären Fächer besitzen, bestimmen ihr Prestige, ihr organisatorisches wie epistemologisches Gesicht und den Rekrutierungsmodus der Studierenden wie des akademischen Personals. Diese Eigenheiten eines universitären Fachs werden als ‚Fachkultur‘ auf den Begriff gebracht. Die Handlungs-, Wahrnehmungs- und Wertungsschemata, die einer solchen Fachkultur entsprechen, können als Fachhabitus bezeichnet werden“ (Schlüter et al. 2009: 4).
Fachkulturen sind damit Bestandteil des „symbolischen Felds der Universität“ (bzw. der Hochschule) und nehmen dort je nach Zusammensetzung und Volumen ihres Kapitals eine spezifische Position ein (Alheit 2016) (Abbildung 3.5):
Eine Verbindung von Fachkultur und Studienfachwahl nimmt Paul Windolf (1992) mit seiner Fragebogenuntersuchung unter Studierenden verschiedener Fachkulturen vor, durch die er zentrale Determinanten für die Studienfachwahl bestimmen will. Nach Windolf zeichnet eine Fachkultur ein spezifisches Wissen, spezifische Methoden und der bestimmte Verhaltenscode eines Faches aus – sie ist demnach ein „kulturelles Erbe“, das in die nächste Studierendengeneration übergeht und als „Spezialfall kultureller Ausdifferenzierung“ (ebd.: 77) gefasst werden kann. Fachkulturen dienen zugleich der Selbstidentifizierung und der Profilbildung nach innen und außen. Dabei geht Windolf – wie etwa Lange-Vester/Teiwes-Kügler (2004) – davon aus, dass die Einstellungen und Werte von Erstsemesterstudierenden eines Fachs bereits vor Beginn des Studiums relativ homogen sind. Allerdings führt er das nicht auf den Habitus, sondern eine „Wahlverwandtschaft“ zwischen den internalisierten Orientierungen der Studienanfänger*innen und den Normen und Werten der Fachkultur zurück. Hier stützt sich Windolf auf die Grundannahme, die Studienfachwahl käme aufgrund eines bewussten Wahlverhaltens und damit einer bewussten Selbstselektion zustande, die auf kognitiven Orientierungen und den daraus resultierenden, der individuellen Reflexion zugänglichen Lebensentwürfen beruhe (Windolf 1992: 78 ff.). So schlussfolgert Windolf aus seinen Ergebnissen, dass die Studienfachwahl weniger von der sozialen Herkunft als eher von individuellen Wertorientierungen abhängt (ebd.: 91 f.). Werner Georg (2005: 80) bezeichnet Windolf deshalb als „Vertreter des Individualisierungsschubes“, laut dem sich Individuen nicht durch milieuspezifische Reproduktionsstrategien für ein Studienfach entscheiden – wie es dem Bourdieuschen Verständnis entspricht – sondern wegen subjektiver Neigungen, die aus der Sozialisation entstehen. Lojewski formuliert diesen Punkt berechtigt als Kritik an Windolfs Untersuchung: Laut Lojewski sieht er in der Studienfachwahl das Resultat einer „angenommenen Nähe zur Fachkultur“ (2012: 286), die auf individuellen internalisierten Wertorientierungen fußt, bezieht aber dabei nicht ein, dass diese Wertorientierungen sehr wohl habitus- und milieuspezifisch geprägt sein können.
„Wer Karriere, Erfolg und hohes Einkommen als ein wichtiges Lebensziel betrachtet, wird wahrscheinlich weder Sprach- noch Sozialwissenschaften studieren und sich auch nicht in Physik einschreiben. Betriebswirtschaft, Jura und die Ingenieurwissenschaften sind in diesem Fall die bevorzugten Wahlobjekte – und dies unabhängig von der Schulnote, der sozialen Herkunft oder dem Schultyp, deren Einfluß bei einer multivariaten Analyse kontrolliert wird“ (Windolf 1992: 94).
Während Windolf „Lebensziele“ wie „Karriere, Erfolg und hohes Einkommen“ als individuelle Wertorientierungen begreift und der sozialen Herkunft deshalb ihre Wirkmächtigkeit abspricht, lassen sich ebenjene Wertorientierungen auch als Ausdruck und Teil eines spezifischen Habitus deuten. Interpretiert man Windolfs Ergebnisse also nach Bourdieu, sind nicht die individuellen Wertorientierungen, sondern die habitusspezifischen Dispositionen die primären Determinanten für die Studienfachwahl. An zweiter Stelle stehe das Geschlecht, das insbesondere bei den Kultur- und Sprachwissenschaften und den Natur- und Ingenieurwissenschaften selektierend wirkt (Windolf 1992: 91 ff.).
„Historisch gewordene“ (Zinnecker 2004: 532) Erkenntnisse über Fachkulturen
Was den Vergleich von ingenieuralen und (sozial)pädagogischen Fachkulturen betrifft, liegen umfangreiche Erkenntnisse vor48: Jürgen Zinnecker vergleicht die Sozialpädagogik49 mit dem Maschinenbau, der Elektrotechnik und Jura (Zinnecker 2004)50. Zwischen ingenieuraler und pädagogischer Fachkultur stellt spezifische Unterschiede fest, was etwa die Gestaltung eines Erstsemesterfrühstücks angeht, das in beiden Studiengängen zur Initiierung der studentischen Fachkultur dient. Während in der Sozialpädagogik das Frühstück in einem eigenen und selbst errungenen studentischen Café stattfindet, dafür Couchgruppen genutzt werden und Vollkornbrötchen sowie nachhaltig hergestellte Lebensmittel verwendet werden, findet das Frühstück in der Elektrotechnik in einem großen und öffentlichen Raum der Hochschule statt, es werden geordnete Tischreihen genutzt und ‚Fast Food‘ gereicht. Außerdem beansprucht das Ritual deutlich weniger Zeit als in der Sozialpädagogik51. Der Umgang mit Zeit allgemein spiegelt die Fachkulturen par excellence wieder, was Zinnecker anhand der (pädagogischen) „Zeitverschwendung“ und der (elektrotechnischen) „korrekten und rationalen Zeitverwendung“ kontrastiert (ebd.: 536). Zudem investieren Studierende der Sozialpädagogik allgemein weniger Zeit pro Woche in ihr Studium als die Ingenieurstudierenden, sie besuchen weniger Veranstaltungen und arbeiten seltener allein von zu Hause aus. Stattdessen gehen sie deutlich häufiger einem Nebenberuf nach, weshalb Zinnecker den sozialpädagogischen studentischen Raum als „dualen Bildungsraum“ beschreibt (ebd.: 543 f.). Liebau/Huber (1985: 317) machen im Vergleich der sozial- bzw. geisteswissenschaftlichen und der natur- bzw. ingenieurwissenschaftlichen Fachkultur ähnliche Feststellungen und kontrastieren das Studienverständnis anhand der Pole von „Muße und Persönlichkeitsentwicklung“ und der Reduktion des Studiums auf „Arbeit“. Und auch der fachkulturelle Umgang mit Lernschwierigkeiten zeigt einige Unterschiede auf. Während in der Sozialpädagogik studentische Fragen als Bekräftigung der Beziehung zu den Lehrenden wirken, gelten sie im Maschinenbau als Störung und Gefährdung des optimalen didaktischen Ablaufs. In der Sozialpädagogik haben die Dozent*innen dabei eine Funktion als „gute Hirten“ (Zinnecker 2004: 540) und sind dafür verantwortlich, dass auch die Schwächsten und Langsamsten dem Seminar folgen können. Im Maschinenbau dagegen fungieren die Dozent*innen als „Sachverwalter des Lernstoffs und Leistungsniveaus“ (ebd.): Sie orientieren sich an der besseren Hälfte der Studierenden, wobei Lernprobleme individualisiert und eine bewusste Selektion vorgenommen wird. Und während in der Sozialpädagogik Lernstörungen grundsätzlich vorgehen und Personen über Zeitressourcen priorisiert werden, bestimmen im Maschinenbau Sachzwänge und Zeitökonomie den Ablauf. Damit lassen sich die Lehrformen in der Sozialpädagogik als „person- und motivationsorientiert“ auf den Punkt bringen und bildet einen Gegensatz zur ingenieuralen „Stoff- und Leistungsorientierung“ (ebd.) Zugleich deuten sich einige Gemeinsamkeiten der sozialpädagogischen mit der erziehungswissenschaftlichen Fachkultur an wie z. B. ihre unterprivilegierte soziale Position im hochschulischen Feld. Darüber hinaus spiegele sich diese bescheidene Positionierung nach Zinnecker in der Sozialen Arbeit auch in anderen Dimensionen wieder, nämlich in der familialen Herkunftskultur der Studierenden, die durch geringe ökonomische und kulturelle Ressourcen geprägt sei, in der studentischen wie in der beruflichen Kultur und in der Kultur der Zweigeschlechtlichkeit, durch die der zahlenmäßig weiblich dominierte Studiengang eine soziale Abwertung erführe (ebd.: 543 f.).
Auf der gleichen empirischen Grundlage fokussiert Steffani Engler den Zusammenhang von Geschlechts- und Fachzugehörigkeit und versteht ebenso die Welt der Studierenden mit Bourdieu als Ausschnitt des sozialen Raums (Engler 1997). Im Vergleich der Studierenden der Erziehungswissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Elektrotechnik und des Maschinenbaus stellt Engler zum einen recht kontrastive Fachkulturen im Vergleich von erziehungswissenschaftlicher und ingenieurwissenschaftlicher Alltagspraxis fest, etwa was die Wohnform und den Einrichtungsstil angeht. Während sich in der Pädagogik ein stärker „alternativer Lebensstil“ zeigt, indem selbstgemache Möbel verwendet werden, dominiert im Ingenieurbereich ein stärker „konventioneller Lebensstil“, was die Einrichtung und Wohnform betrifft. Dabei tritt das Fach als entscheidendes Merkmal allerdings auch in den Hintergrund, vor allem dann, wenn es um körpernahe Lebensstilmerkmale wie die Nahrungsaufnahme geht: So konsumieren Pädagogikstudierende allgemein zwar seltener Fleisch als Ingenieurstudierende, allerdings wirkt sich das Geschlecht hier noch stärker aus, denn die Frauen aller Fachkulturen konsumieren seltener Fleisch als ihre männlichen Kommilitonen. Engler schlussfolgert, dass das Geschlecht einen entscheidenden und bereichsbezogenen Einfluss auf den Lebensstil hat.52
Schon zum Zeitpunkt seines Beitrags über die ethnographischen Erkenntnisse aus dem Projekt „Studium und Biographie“ bezeichnet Zinnecker die ihr vorangegangenen Erhebungen als „mittlerweile historisch gewordene Feldstudie“ (Zinnecker 2004: 532), da sie im Wintersemester 1988/1989 durchgeführt wurde. Gleichzeitig verweist er auf die längere Tradition von Fachkulturen und ihren nur langsamen Wandel, weshalb ihnen auch heute noch eine gewisse Aussagekraft zugemessen werden kann, insbesondere in der Kontrastierung zur Ingenieurkultur. Dafür spricht auch, dass ebenso neuere Erkenntnisse zur sozialpädagogischen Fachkultur in Einklang mit jenen dieser ‚historisch gewordenen Feldstudie‘ stehen.
Zur Konsistenz von Fachkulturen – aktuelle Erkenntnisse
Anne Schlüter und andere (2009) knüpfen etwa mit ihrem Forschungsprojekt an diese Erkenntnisse an und vergleichen ebenfalls die Fachkultur der Elektrotechnik mit der der Erziehungswissenschaft: Anhand von Interviews mit den Fachschaften, teilnehmenden Beobachtungen und einer quantitativen sowie qualitativen Befragung von Studierenden verschiedener Kohorten zielen sie auf einen Vergleich der Studierendenhabitus der frühen 1990er-Jahre (Engler 1997) mit denen im Wintersemester 2008/09 ab. Sie stellen zum einen eine Konsistenz der Fachkulturen dahingehend fest, dass sich die Fachkulturen von Erziehungswissenschaften und Elektrotechnik auch heute noch stark unterscheiden. Diese Unterschiede äußern sich vor allem in den Berufszielen der Studierenden, die in der Erziehungswissenschaft einen ideellen Fokus und in der Elektrotechnik einen ökonomischen Fokus haben (Schlüter et al. 2009: 82 f.). Zugleich stellen sie spezifische Veränderungen in den studentischen Habitus fest, die sie auch auf die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zurückführen. So sei die ehemals „alternative“ Wohnform einer Wohngemeinschaft heute studentischer Standard und nicht mehr nur in der pädagogischen Fachkultur, sondern bei den meisten Studierenden zu finden, ebenso wie eine ökologisch bewusste Ernährung. Damit verknüpft habe sich der Studierendenhabitus der Pädagogik ebenfalls verändert und sich einem konventionellen Lebensstil angenähert. Davon abgesehen stellen die Autor*innen eine starke Persistenz der fachspezifischen Studierendenhabitus fest: So ist die Erziehungswissenschaft nach wie vor eine Fachkultur mit geringem Ansehen in der Universität, die mit geringen Leistungsanforderungen, Berufspositionen und Verdienstmöglichkeiten in Verbindung gebracht wird. Ihre Studierenden durchlaufen vor Studienbeginn längere Orientierungsphasen und sehen die Pädagogik teilweise als „Notlösung“. Die Elektrotechnikstudierenden dagegen studieren zielstrebiger und karriereorientierter. Die „berufliche Verwertung“ und das „hierarchische Gefälle der Berufskulturen“ (ebd.) greifen so schon früh in der studentischen Entwicklung.
Dass neben der sozialen Herkunft auch das Geschlecht eine entscheidende Rolle in der Konstitution von Fachkulturen spielt, wie von Engler (1997) gezeigt, bestätigen wiederum Werner Georg, Carsten Sauer und Thomas Wöhler (2009). Sie fokussieren den studentischen Lebensstil und stellen durch eine Befragung von Studierenden der Soziologie, der Rechtswissenschaften und der Naturwissenschaften fest, dass neben der sozialen Herkunft und der Fachrichtung vor allem das Geschlecht den Lebensstil von Studierenden maßgeblich prägt (ebd.: 369).
Tino Bargel (2007a) analysiert die Fachkultur des Sozialwesens53 anhand der Ergebnisse des Studierendensurveys und stellt bei den Studierenden eine überwiegend „ideell-intrinsische“ Studienmotivation fest, die sich nach dem Wunsch richtet, mit Menschen zu arbeiten (ebd.: 179). Darüber hinaus seien für Studierende des Sozialwesens materielle Motive nachrangig, sie wollen stattdessen „aktiv und innovativ“ sein, „eigene Ideen“ entwickeln und „alternative Lebensweisen erproben“ – kurzum: „Das Gegebene wird von ihnen nicht einfach und passiv hingenommen“ (ebd.: 180). Ihre beruflichen Werte seien davon geprägt, dass sie eigene Entscheidungen treffen wollen und einen gesellschaftlichen Wettbewerbsgedanken kritisch hinterfragen, was Bargel mit der Formel „Wettbewerb zerstört Solidarität“ (ebd.: 199) auf den Punkt bringt. Und schließlich sei bei Studierenden des Sozialwesens die Studienaufnahme viel häufiger eine „eigenwillige Entscheidung“ als eine Frage familiärer „Fachvererbung“, wie sie in den Ingenieurwissenschaften deutlich häufiger vorkomme (ebd.: 175).
Dieser und andere Kontraste zwischen der sozialpädagogischen und der ingenieuralen Fachkultur bestätigen sich auch in den Analysen zu den Ingenieurwissenschaften selbst. Zudem lässt sich auch dort eine Konsistenz feststellen (Sander/Weckerth 2017): So habe sich zwar der ingenieurale Arbeitsmarkt strukturell gewandelt hin zu mehr Projekt- und Teamarbeit, einer Enthierarchisierung und Dezentralisierung und er bringe neue Anforderungen an Ingenieur*innen mit sich – die akademische Fachkultur und der Fachhabitus dagegen sind relativ stabil. Sie zeichnen sich aus durch eine starke Fokussierung auf Erwerbsarbeit und Beruf, auf materielle Werte, Arbeitsplatzsicherheit, steigende Ansprüche an Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten sowie einen teils nüchternen Anwendungsbezug. Sander und Weckerth betonen außerdem die besondere Bedeutung der Ingenieurfächer als Aufstiegsfächer – insbesondere an Fachhochschulen. Prestige ‚nach außen‘ dagegen, die Freude am zwischenmenschlichen Kontakt, kontroverse Aushandlungs- und Abwägungsprozesse oder kontroverse Diskussionen sind keine Charakteristika der ingenieurwissenschaftlichen Fachkultur.
Der Rückgriff auf die Konstitution von Fachkulturen verdeutlicht so die Bedeutung des Habitus für die Wahl eines Studienfachs genauso wie für die (Re-)Produktion einer spezifischen Kultur, die wiederum habitusformend auf die Studierenden wirkt. Ebendiese Analogie zwischen dem persönlichen und dem disziplinären Habitus, die zugleich Raum für Widersprüche und Nicht-Passungen lässt, soll abschließend mit Liebau/Huber (1985: 337) auf den Punkt gebracht werden:
„Vage Vorinformationen über und vage Sympathien zu Fach und Beruf verknüpfen sich, so nehmen wir an, mit den biographisch erworbenen Dispositionen zu einem zunächst noch groben Lebensentwurf, der eine Entsprechung zwischen eigener Persönlichkeit und Fach- und Berufsstrukturen unterstellt. Die hier vorgenommenen Antizipationen von künftigem Beruf, künftiger Lebensform und Studium führen zu einer Studienwahlentscheidung, in die nicht nur persönliche Fachsympathien, sondern auch Statusstrategien eingehen, die im Zusammenhang familialer Reproduktions- und Entwicklungsaufgaben zu interpretieren sind. Daß es hier auch zu Selbsttäuschungen und Fehleinschätzungen kommen kann, die sich dann in späterem Fachwechsel oder im Studienabbruch niederschlagen, ist angesichts der Vagheit der Entscheidungsgrundlagen nicht sehr überraschend.“
Es lässt sich kurz resümieren: Indem die Studien(fach)wahl in dieser Bourdieuschen Perspektive als Ausdruck einer antizipierten Passung auf Grundlage des Habitus gefasst wird, eröffnet sich ein Blick auf die verborgenen Selektionsmechanismen im Hochschulsystem, die bei alleiniger Berücksichtigung der ‚Motivlage‘ von Studierenden verschlossen blieben. Die Studien(fach)wahl ist demnach ein Übergangsmoment, in dem sich soziale Disposition in eine soziale Position zu transformieren beginnen. Bestimmte Habitus häufen sich demnach in bestimmten Fächern oder werden in andere – weniger prestige- und aussichtsreiche – Fächer abgedrängt. Diese Prozesse der (Selbst-)Selektion entlang einer Kompetenzhierarchie umfassen sowohl die Dimension von Klasse wie auch die von Geschlecht.

3.4 Zwischenfazit: Studien(fach)wahlen – strukturiert durch Klasse und Geschlecht

Die Reise durch die Ansätze und Erkenntnisse von Geschlechter- und Bildungsforschung zu Studien(fach)wahlen zeigt, dass die verschiedenen Forschungsansätze mit spezifischen Potentialen und Grenzen einhergehen und in die damit verknüpften Mechanismen sozialer Ungleichheit unterschiedlich tief eindringen. So lassen sich die Zahlen zum Sozialprofil der Studierenden sowie der Blick auf den kanalisierten Weg hin zur Hochschule in bildlicher Form eines ‚Bildungstrichters‘ und auch die Darstellung der Motive, die Studierende als maßgebliche bei ihrer Studienentscheidung angeben, auf einer eher deskriptiven Ebene verorten: Sie beschreiben zwar, wie Studien(fach)wahlen in Deutschland zurzeit aussehen und weisen auf mögliche Ursachen hin, können aber aus ungleichheitstheoretischer Sicht nicht erklären, wieso die entsprechenden Entscheidungen auf diese Weise gefällt und mit welchen sozialen Logiken sie verknüpft sind.
Dazu bedarf es der Beschäftigung mit den soziologischen Erklärungsansätzen zu Bildungsentscheidungen allgemein und Studien(fach)wahlen im Speziellen, die an der Schnittstelle von Bildungs- und Geschlechterforschung zu verorten sind. Während sich die Geschlechterforschung hier vor allem für die Ursachen der fachlichen Segmentation in Schule, Hochschule und auf dem Arbeitsmarkt interessiert, liegt das Erkenntnisinteresse der Bildungsforschung schwerpunktmäßig auf der Erklärung von Bildungswegen – die eine Disziplin bezieht sich also vorrangig auf die Dimension von Geschlecht, die andere auf die Dimension der sozialen Herkunft bzw. der sozialen Klasse. Die sozialkonstruktivistischen und sozialpsychologischen Ansätze der Geschlechterforschung, Studien(fach)wahlen vor dem Hintergrund von doing gender-Prozessen und der Entwicklung eines (fähigkeitsbezogenen) Selbstkonzeptes zu erklären, zeigen besonders gut Ausschlüsse von Mädchen aus technisch-naturwissenschaftlichen Fächern während der Schulzeit und Abdrängungsmechanismen von Frauen aus den entsprechenden Berufsfeldern auf, die von spezifischen Stereotypen, Zuschreibungen und Männlichkeits- und Machtkonstruktionen geprägt sind. Auch poststrukturalistische Ansätze verdeutlichen pointiert, wie es im ‚Diskursfeld Technik‘ zu verletzenden und ausschließenden Adressierungen gegenüber Mädchen kommt und dass der kulturell hergestellte Ausschluss des Sozialen aus dem technischen Berufsbereich sich als implizite Vergeschlechtlichung dieses Feldes fassen lässt. Während die soziale Herkunft in diesen Ansätzen nicht bzw. kaum berücksichtigt wird, fließt sie in die Analysen der biografietheoretischen Geschlechterforschung ein: Diese zeichnet vor dem Hintergrund des sozialisatorischen Gewordenseins der Individuen ihre Wege in verschiedene Studienfächer nach und verdeutlicht, wie etwa eine technische Studienorientierung eingebettet ist in die Praktiken der Herkunftsfamilie, in den schulischen Werdegang und in das soziale Umfeld von jungen Frauen und Männern und wie hier Geschlecht und soziale Herkunft zusammenwirken. Dieses Zusammenwirken wird jedoch nur ungenügend strukturell rückgebunden, wenn beispielsweise die soziale Herkunft ausschließlich auf einer vertikalen Ebene von Schichtzugehörigkeit verhandelt wird oder wenn die Wege von Frauen in Ingenieurberufe nur vor dem Hintergrund von Geschlecht analysiert werden. Hier setzt die professionssoziologische Perspektive nach Angelika Wetterer (Wetterer 2002) an, die die Gleichzeitigkeit der hierarchisierenden Konstruktion von Beruf und Geschlecht zum Strukturmoment erklärt, durch den Männern und Frauen systematisch verschiedene soziale Positionen zugewiesen werden. Zugleich wird der Status eines Berufsfeldes durch das dortige Geschlechterverhältnis mitbestimmt. Die vergeschlechtlichte Konnotation von ‚sozialen‘ und ‚technischen‘ Berufen ist damit inhaltlich eine beliebige, aber in ihrer Funktion äußerst stabil – steht sie doch stellvertretend für die vergeschlechtlichte Konstitution unterschiedlicher sozialer Positionen. Auch strukturalistische Ansätze wie der der „doppelten Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt 2008) gehen in diesem Verständnis auf. Denn Beruf- und Studien(fach)wahl werden so zum Mechanismus der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung, die Erwerbs- wie auch Reproduktionsarbeit umfasst und Frauen in wenig anerkannte Bereiche verweist. Welche Rolle die soziale Klasse in diesem Prozess der sozialen (Selbst-)Positionierung spielt, lässt sich mit Wetterers Ansatz allerdings nicht eruieren – und spätestens hier kommen die Perspektiven der Bildungsforschung ins Spiel.
Im Gegensatz zum Rational-Choice-Ansatz nach Boudon (1974) ermöglicht es das Bourdieusche Verständnis von Bildungsentscheidungen und Studien(fach)wahlen (Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu 1982), diese nicht auf rationale Kosten-Nutzen-Kalküle zu beschränken, sondern stattdessen die langfristig eingeübten klassen- und geschlechtsspezifischen Bewertungs- und Handlungsmuster in den Blick zu nehmen. Zudem wird ‚Klasse‘ hier nicht nur im Sinne von Berufspositionen definiert, sondern als handelnde Klasse, die durch einen gemeinsamen Habitus verbunden ist. Ebenso lässt sich durch das Habituskonzept Geschlecht in seiner strukturierten sowie strukturierenden Eigenschaft greifen, was über ein binäres Geschlechterverständnis weit hinausgeht. Die Bourdieusche Perspektive macht so Abdrängungsmechanismen entlang von Passungskonstellationen zwischen Habitus und Hochschule sowie Studienfach sichtbar, die zum Ausschluss bestimmter Habitus von bestimmten Bildungswegen führen. Die hieran anknüpfenden Erkenntnisse der Milieuforschung (etwa Bremer/Lange-Vester 2019; Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004) zeichnen ein konkretes Bild von der habitus- und milieuspezifischen Passung von Individuen zur Hochschule und zu verschiedenen Fachkulturen. Sie zeigen außerdem, dass Studien(fach)wahlen nicht als isolierter Gegenstandsbereich betrachtet werden dürfen, sondern eingebettet sind in die gesamte Lebensführung. Was in diesen Studien bislang ausschließlich im Bereich der Fachkulturforschung von Steffani Engler vorgenommen, aber noch nicht zur Analyse von Studienfachwahlen umgesetzt wurde, ist eine systematische Berücksichtigung der Dimension von Geschlecht. Um die sozialen Logiken aufzudecken, die hinter Studien(fach)wahlen wirken, bietet sich also an dieser Stelle die Verknüpfung von geschlechter- und bildungssoziologischen Perspektiven an. Anschlussfähig an die theoretische Grundlage Bourdieus sind hier insbesondere die strukturalistischen und professionssoziologischen Ansätze der Geschlechterforschung – wenngleich auch die sozialkonstruktivistischen, sozialpsychologischen, biografietheoretischen54 und poststrukturalistischen55 Erkenntnisse in die Verknüpfung eingearbeitet werden können und müssen: Diese verschiedenen Zweige der Geschlechterforschung zeigen zahlreiche biografische Erfahrungen auf, die den Weg in ein Studium prägen. Diese Erkenntnisse sollen im Folgenden in der Bourdieuschen Perspektive mitgedacht werden: Demnach sind die studienfachwahlrelevanten Erfahrungen eingebettet in die Sozialisation an einem spezifischen sozialen Ort. So kann vor einem habitustheoretischen Hintergrund berücksichtigt werden, dass und wie etwa Vorbilder, fachkulturelle Elemente der Sozialisation, Unterrichtserfahrungen oder Vorstellungen von Familiengründung und -organisation eine Rolle spielen bei dem Weg in ein spezifisches Studienfach. Dabei können mit Wetterer und Bourdieu Studien(fach)wahlen als vergeschlechtlichte und klassenspezifische Passungsprozesse begriffen werden, die zum strukturellen (Selbst-)Ausschluss bestimmter Habitus aus prestigeträchtigen beruflichen Positionen führen. Um diese Perspektive als analytische Brille nutzbar zu machen, muss nun noch geklärt werden, wie die Dimensionen von Geschlecht und Klasse auf der Grundlage des Habituskonzepts und der daran anschließenden Milieuforschung zusammengedacht werden können. Es soll also ‚ein Schritt zurück‘ gegangen werden von der spezifischen Frage über die Entstehung von Studien(fach)wahlen, um das Gesamtbild des ihr zu Grunde liegenden Verständnisses von Geschlecht und sozialer Herkunft bzw. Klasse theoretisch aufzuarbeiten und die Analyse von Studien(fach)wahlen im Zusammenspiel dieser beiden Dimensionen zu fundieren und empirisch greifbar zu machen.
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Fußnoten
1
Inwiefern die vergeschlechtlichte soziale Verortung verknüpft ist mit der psychosozialen Entwicklung, veranschaulicht die Autorin anhand von sozialen Vorbildern: So rühre die Doppelorientierung bei Frauen biografisch u. a. daher, dass sich Mädchen mit Vorbildern beider Genusgruppen auseinandersetzen, wobei Männer als Vorbild für die Bestätigung von außen herangezogen werden, während Frauen sowohl als Vorbild für Berufstätigkeit wie auch für die Rolle der Familienversorgerin fungieren können. Im Gegensatz dazu ist die Entwicklung einer Männlichkeitspraxis bei Jungen in der Regel mit der Abgrenzung von ‚Weiblichkeit‘ verbunden, was eine doppelte Orientierung wie in der weiblichen Vergesellschaftung unwahrscheinlich macht (Becker-Schmidt 2008: 69).
 
2
Zu den Paradigmen der Geschlechterforschung vergleiche weiterführend etwa Loge (2016) und Dingler/Frey (2002).
 
3
Die Unterteilung von Geschlecht in seine biologische (sex) und soziale Dimension (gender) beinhaltet die Gefahr eines verlagerten Biologismus, indem gender als Resultat von sex begriffen wird. Diese Logik wird im Konzept des doing gender umgekehrt und die biologische Zuschreibung („Das ist eine Frau“) als Resultat des sozialen Tuns von Geschlecht betrachtet.
 
4
Was wieder auf die „doppelte Vergesellschaftung“ von Frauen und ihre doppelte Zuständigkeit für Erwerbs- und Familienarbeit hinweist (Becker-Schmidt 2008).
 
5
Gleichzeitig können die Studenten der Sozialen Arbeit ihre Vorstellung von Männlichkeit in der sozialarbeiterischen Fachkultur nicht dauerhaft realisieren, sondern werden auch dort geschlechtstypisch adressiert (Haffner 2014: 146). Die Bedeutung und Konsequenzen dessen soll in Abschnitt 3.3.2.4 noch einmal aufgegriffen werden.
 
6
Die Leerstelle des doing gender-Konzepts, sich ausschließlich auf die Differenzkategorie von Geschlecht zu beziehen, wurde dagegen mittlerweile aufgelöst (Fenstermaker/West 2001): Im Sinne eines doing difference werden Konstruktionsprozesse von Geschlecht, Ethnie und Klasse in ihrer Gleichzeitigkeit und Verwobenheit betrachtet.
 
7
Eine Verknüpfung, die sich geradezu anbietet – auch vor dem Hintergrund von Bourdieu, der seine Arbeiten als „strukturalistischen Konstruktivismus“ bzw. „konstruktivistischen Strukturalismus“ bezeichnet (Bourdieu 1992b: 135).
 
8
Gleichzeitig ist der Zusammenhang zwischen guten Leistungen und Fachinteresse und -motivation nicht deterministisch – schließlich wählen Mädchen auch bei gleichen und besseren Leistungen seltener naturwissenschaftlich-technische Fächer als Leistungskurse (Wensierski 2015: 459).
 
9
In einem Standard-Chemiebuch beispielsweise sind 98,5 % aller im Text erwähnten Personen Männer (196 männlich, 3 weiblich) und unter den bildlich dargestellten Personen wurden 89,7 % als männlich identifiziert (35 männlich, 4 weiblich). Die bildlich dargestellten weiblichen Personen umfassten eine Frau, die in einem Labor arbeitet, zwei Mädchen, die Sport treiben und ein weibliches Schönheitsideal aus dem Altertum. Die meisten Männer waren in einem beruflichen Kontext abgebildeten. Im Text wiederum wurden insgesamt 93 wissenschaftliche Berufstätigkeiten erwähnt, wovon 92 von Männern ausgeübt wurden und 1 Tätigkeit von einer Frau (nämlich Marie Curie, die mit ihrem Ehemann dargestellt wurde) (Makarova/Aeschlimann/Herzog 2016: 43 ff.).
 
10
Eine Gegenüberstellung, die sich durchaus in Frage stellen lässt, wenn man die Entwicklung beruflicher Interessen als eng verwoben mit den Dimensionen von sozialem Geschlecht und sozialer Schicht/ Klasse begreift.
 
11
„Transition von der Erstausbildung ins Erwerbsleben“ – eine national und sprachregional repräsentative Längsschnittstudie (vgl. etwa Meyer 2018).
 
12
Aus Habitusperspektive könnte dieser Zusammenhang zwischen umfangreichen familiären Ressourcen und dem Hinwegsetzen über vergeschlechtlichte Konventionen der Berufswahl als Distinktion gedeutet werden.
 
13
Im Umkehrschluss zeigt sich allerdings nicht, dass Jugendliche, die einen ‚geschlechtsuntypischen‘ Beruf anstreben, ‚untypische‘ Vorstellungen von Vaterschaft oder Mutterschaft haben – stattdessen antizipieren etwa diese männlichen Jugendlichen bereits früh Schritte zu einer besser entlohnten Tätigkeit als Rettungssanitäter, Berufsschullehrer oder Heimleiter (Wehner et al. 2016: 23–34).
 
14
So bezieht sich etwa die Studie von Karin Schwiter, Andrea Maihofer, Karin Wehner und anderen konzeptionell zwar auf Bourdieu und seinen Begriff des „Geschlechtshabitus“, operationalisiert diesen allerdings unzureichend. In einer exemplarischen Fallanalyse wird einer Studentin, die ihr Universitätsstudium abgebrochen und stattdessen – mit Erfolg – ein Fachhochschulstudium aufgenommen hat, eine „habituelle Sicherheit“ an der Fachhochschule zugeschrieben, die die Autor*innen auf den „Geschlechtshabitus“ zurückführen (Schwiter et al. 2011: 28): „Das selbstbewusste, raumgreifende Auftreten vor großen Gruppen gilt als männlich, die soziale Interaktion in der vertrauten Kleingruppe ist eher weiblich konnotiert. Ihr Geschlechtshabitus erschwert es der Befragten folglich, sich im anonymen Universitätskontext passend zu fühlen und erleichtert es ihr sich in kleineren Gruppen einzubringen“. Dieser Argumentation einer Passung vom ‚weiblichen Geschlechtshabitus‘ und dem Hochschultyp der Fachhochschule folgend, müsste dort ein höherer Frauenanteil zu finden sein als an Universitäten – ein Zusammenhang, der einer quantitativen Betrachtung des Geschlechterverhältnisses nicht standhält, schließlich beträgt der Frauenanteil an Universitäten im Wintersemester 2018/2019 51,4 %, an Fachhochschulen dagegen 44,1 % (Statistisches Bundesamt 2019b: 6). Dass es zahlreiche Varianten des vermeintlich weiblichen „Geschlechtshabitus“ geben mag – etwa im Zusammenspiel mit der sozialen Klasse –, bleibt an dieser Stelle unberücksichtigt.
 
15
Projekt „Bildungsziel – Ingenieurin: Technik- und naturwissenschaftliche Studienorientierungen bei jungen Frauen“, BMBF-gefördert, Laufzeit: 2011 bis 2015. Projektleitung: Prof. Dr. Hans-Jürgen Wensierski.
 
16
Es sei kritisch auf die teilweise verkürzte Rezeption der Geschlechterforschung im Rahmen dieses Projektes hingewiesen: So bezeichnet etwa Puchert (2017: 84) die Frauen- und Geschlechterforschung zwar als „Wegbereiter“ des Gegenstandsbereich Frauen und Technik, unterstellt ihr aber bis heute die „Annahme eines traditionellen Männlichkeit-Technik-Klischees“ und postuliert deshalb, dass die Frage nach der Marginalität von Frauen in technischen Berufen immer noch nicht genügend beantwortet sei. Die diversen Ansätze der Geschlechterforschung – insbesondere der professionssoziologischen und poststrukturalistischen Perspektive (s. Abschnitt 3.1.5 und 3.1.6) – zeugen jedoch von einem sehr differenzierten Blick auf die Vergeschlechtlichung von Technik und entkräften Pucherts Kritik nachhaltig.
 
17
Zu Bourdieus Habituskonzept siehe auch Abschnitt 3.3.2.
 
18
Dass die soziale Herkunft in aktuelleren Studien der Geschlechterforschung zur Berufs- und Studienfachwahl weniger und teilweise gar nicht berücksichtigt wird, mag mit ihrem bereits erwähnten paradigmatischen Perspektivwechsel hin zum Poststrukturalismus zusammenhängen.
 
19
Mit diesem Begriff orientiert sich Schlüter erstens an statistischen Zuordnungen, zweitens an den Selbstzuordnungen der Befragten und drittens daran, dass Vater und/oder Mutter während der Kindheit ihrer Tochter als Arbeiter*in im Produktionsprozess gestanden haben (Schlüter 1999: 15).
 
20
Wobei Schlüter immer wieder den Fokus auf technische Studiengänge legt.
 
21
Rauch wiederum definiert die Gruppe der Arbeitertöchter nicht nach ihrer statistischen Zuordnung, sondern mit Bezug auf ihre Bildungserfahrungen und den Bildungshintergrund ihres Elternhauses. Nach diesem Verständnis kann sich eine Landwirtstochter oder eine Verkäufertochter ähnlich fremd an der bildungsbürgerlich orientierten Hochschule fühlen wie eine ‚klassische‘ Arbeiter*innentochter (Rauch 1993: 148).
 
22
Während sich der Begriff der ‚Geschlechterbinarität‘ ausschließlich auf das zweiteilige Klassifik-ationsverfahren bezieht, verweist der Begriff der ‚Geschlechterdichotomie‘ noch zusätzlich auf dessen polare, gegensätzliche Konstruktion.
 
23
Schmeck benutzt den Feld-Begriff erstens im Bourdieuschen Sinne und fasst damit die soziale Dimension von technischen Berufen, die durch spezifische Anerkennungs- und Legitimationsstrukturen geprägt sind. Davon differenziert sie zweitens den Foucaultschen Begriff des Diskursfeldes, der für ihre Arbeit ebenfalls einen Bezugspunkt bildet und der auf die regelhafte Hervorbringung von Subjektivität entlang diskursiver Ordnungen verweist (Schmeck 2019: 19).
 
24
Zur Vereinbarkeit poststrukturalistischer Ansätze mit der Bourdieuschen Perspektive siehe auch Abschnitt 3.4.
 
25
Gleiches betont auch schon Bourdieu, nach dem es eine „radikale Symmetrie in der Bewertung männlicher und weiblicher Tätigkeiten gibt“ und männlich besetzte Tätigkeiten „geadelt“ werden (Bourdieu 2005: 106–107). Analog dazu lässt sich „im wachsenden Anteil von Frauen (…) auf die Zukunft eines Berufszweiges schließen“, also „auf dessen absolute oder relative Abwertung“ (Bourdieu 1982: 186).
 
26
Diese intraberufliche Segregation ist Grund zur Vermutung, dass die Geschlechtssegregation noch höher ist als statistisch erfasst, da auch innerhalb paritätisch besetzter Berufsfelder geschlechtlich codierte Nischen bestehen, vgl. auch Wehner et al. (2015: 28).
 
27
Zur Konstitution des wissenschaftlichen Feldes nach Bourdieu siehe auch Fröhlich (2003).
 
28
Grundsätzlich sind Erfahrungen in sozialen Tätigkeiten zentral für die Studienfachwahl von Männern hin zur Sozialen Arbeit und zur Pädagogik (Böhm/Budde 2014; Faulstich-Wieland 2012).
 
29
Auch andere Stränge der Bildungsforschung interessieren sich für die Frage nach der Entstehung von Bildungs-, Studien(fach)- und Berufsentscheidungen. So etwa die psychologische Bildungsforschung (zur Übersicht vgl. etwa Götz/Frencel/Pekrun 2009), die wiederum Schnittstellen zu Fragen der Geschlechterforschung aufweist und daher ausschnittweise in Abschnitt 3.1.3 rezipiert wurde. Im Folgenden wird schwerpunktmäßig an die sozialwissenschaftliche Bildungsforschung angeknüpft, da sie für das vorliegende Vorhaben besonders anschlussfähig ist.
 
30
Die Autor*innen setzen in dieser Analyse einen vertikalen Schwerpunkt auf das Bildungsniveau im europäischen Vergleich, also jenseits horizontaler Fachentscheidungen.
 
31
Sie führt eine Sekundäranalyse durch auf Grundlage des Projekts „Krise und Kontinuität in Bildungsgängen: Der Übergang Schule – Hochschule“ (etwa Bornkessel/Asdonk 2012). Projektleitung: Dr. Phillipp Bornkessel, Dr. Jupp Asdonk.
 
32
Diese Annahmen lassen sich als Beispiel werten, wie gewagte Rückschlüsse von der sozialen Lage auf die spezifischen Einstellungen und Praktiken der Akteur*innen gezogen werden – und dies ohne den Blick auf mögliche horizontale Unterscheidungen.
 
33
Etwa indem ‚Jungen‘ von vornerein eine „stärkere Ausprägung störender Verhaltensweisen“ in der Schule (Hadjar/Berger 2011: 25) zugeschrieben wird.
 
34
Zum Bourdieuschen Verständnis von ‚sozialen Klassen‘ siehe auch weiterführend Abschnitt 4.​2.​1.
 
35
Das teils vorreflexive ‚Gespür‘ für die Passung zu einem Studienfach bzw. Beruf soll im Folgenden auch durch den Begriff der ‚Antizipation‘ abgebildet werden.
 
36
Weiterführend zu kritischen Rezeptionsmustern bezüglich Bourdieus Ungleichheitskonzept vergleiche auch Kramer (2011: 21 ff.).
 
37
Dass sich etwa die Grundmuster des Habitus über mehrere Generationen halten, zeigen die Analysen einer Familiengeschichte von Lange-Vester (2000).
 
38
Vergleiche ergänzend zur Entkräftung des Determinismus-Vorwurfs gegenüber Bourdieu auch Krais (2011).
 
39
Eine Klärung der in der Studie angelegten Begriffe von ‚Generation‘ und ‚Milieu‘ kündigt Baar zwar an (Baar 2010: 19), löst dies allerdings nur für den Generationenbegriff ein (Baar 2010: 112 ff.).
 
40
Zur Verknüpfung von Bourdieu (1982) und Connell (2015) siehe auch Abschnitt 4.​2.​3.
 
41
Einen habitusspezifischen Blick auf die weiterführende Laufbahn in der Hochschule werfen Lange-Vester/Teiwes-Kügler mit ihrer Untersuchung über wissenschaftliche Mitarbeiter*innen (2013b).
 
42
Befragt wurden Studierende aus der Politischen Wissenschaft, der Soziologie und der Sozialpsychologie im Diplomstudiengang Sozialwissenschaften oder als Haupt- oder Nebenfach im Magisterstudium. Weiterführend zum methodischen Vorgehen siehe Lange-Vester/Teiwes-Kügler (2004: 164 f.).
 
43
Also eine Haltung, die von Verzicht und Disziplin geprägt ist.
 
44
„Studienverläufe und Studienerfolg: Wie Studium gelingt“, Laufzeit 2008–2012. Projektleitung: Prof. Dr. Margret Bülow-Schramm, Prof. Dr. Marianne Merkt.
 
45
Es wurden wiederholt standardisierte Fragebogenerhebungen sowie qualitative Interviews und Dokumentenanalysen durchgeführt (Rebenstorf/Bülow-Schramm 2013: 33).
 
46
Zum Zusammendenken von Geschlecht und Habitus siehe weiterführend Abschnitt 4.​1.
 
47
Liebau/Huber (1985) entfalten ihr Konzept und ihre Analysen zu Fachkulturen – die als ein Grundstein dieses Forschungszweigs gelten – anhand von sieben Dimensionen, die neben den erwähnten „Äußerlichkeiten“ noch die Dimensionen von „Arbeit und Freizeit, Arbeitsplatz und Wohnung“, „Kommunikation“, „pädagogischer Code“, „Studienstrategien und Lernstile“, „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster“ und „politische und soziale Einstellungen“ umfassen.
 
48
Diese Erkenntnisse sind überwiegend im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Studium & Biographie. Eine sozialökologische Feldstudie in den Fachkulturen Erziehungswissenschaften, Rechtswissenschaften und Ingenieurwissenschaften“ entstanden. Laufzeit: 1988–1991, Projektleitung: Prof. Dr. Jürgen Zinnecker.
 
49
Mittlerweile werden sozialpädagogische Studiengänge – zumindest an Fachhochschulen – unter dem übergeordneten Begriff der „Sozialen Arbeit“ geführt. Zinnecker benutzt beide Begriffe synonym.
 
50
Zur Sozialpädagogik gehören in diesem Fall die Studiengänge Diplom-Pädagogik (mit hohem sozialpädagogischem Anteil) und außerschulisches Erziehungs- und Sozialwesen (Zinnecker 2004: 532).
 
51
Dass die Erstsemesterrituale auch in einer zahlenmäßig weiblich-dominierten Fachkultur wie der Erziehungswissenschaft von der Dominanz männlicher Studenten gezeichnet sind, zeigen eindrucksvoll Engler/Friebertshäuser (1992). Auch diese Erkenntnisse beruhen auf dem Projekt „Studium und Biographie“, das eine zentrale Rolle für die Fachkulturforschung einnimmt.
 
52
Zur pädagogischen Fachkultur siehe ähnlich auch Bülow-Schramm/Gerlof (2004).
 
53
Das Sozialwesen umfasst die Fächergruppe Sozialarbeit/Sozialpädagogik/Sozialwesen an Fachhochschulen. Feine Unterschiede in diesen Ergebnissen zur Fachkultur zu jenen aus dem Projekt „Studium und Biographie“ mögen also auch durch den unterschiedlichen Hochschultyp begründet sein.
 
54
Bourdieu unterstellt dem biografischen Vorgehen eine „natürliche Komplizenschaft“ gegenüber den Befragten als „Ideologen des eigenen Lebens“ (Bourdieu 1990: 76): Die befragte und die befragende Person hätten das gleiche Interesse, nämlich, die „Sinnhaftigkeit der berichteten Existenz zu akzeptieren“ (ebd.). Den Blick in biografischer Weise ausschließlich auf das Subjekt zu richten, ohne die Bedeutung der Rahmenbedingungen des Feldes und der damit verbundenen objektiven Beziehungen anzuerkennen, käme nach Bourdieu dem Versuch gleich, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz zu berücksichtigen (Bourdieu 1990: 80). Der damit implizierten Unvereinbarkeit von biografietheoretischer und habitustheoretischer Perspektive soll an dieser Stelle nicht gefolgt werden, da die aktuelle Biografieforschung zwar ihren Fokus auf das Subjekt legen mag, aber das ‚Metro-Netz‘ nicht außer Acht lässt und eine Öffnung der beiden Ansätze zueinander mehr Potential verspricht als ihre kontrastive Gegenüberstellung.
 
55
Eine theoretische Verknüpfung von Bourdieus Perspektive mit poststrukturalistischen Ansätzen der Geschlechterforschung ist ebenso von Ambivalenzen geprägt, wie in Abschnitt 3.1.5 bereits angedeutet wurde: Die herausragende Bedeutung sprachlicher Diskurse in poststrukturalistischen Ansätzen gegenüber der stärkeren Betonung vorstrukturierter Praxis im Bourdieuschen Sinne verweist auf eine Unvereinbarkeit der beiden Positionen, die sich kaum auflösen lässt (zur Unvereinbarkeit der Positionen von Judith Butler und Pierre Bourdieu siehe auch Fowler 2007). Der Vorwurf gegenüber diskurstheoretischen Positionen hingegen, sie negierten jegliche Materialität außerhalb von Sprache und Diskurs, soll im Anschluss an Schmeck (2019: 82) an dieser Stelle abgewiesen werden. Gemein ist beiden Ansätzen, dass sie Berufswahlen nicht auf die Entscheidung vermeintlich souveräner Subjekte zurückführen, sondern sie als Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse betrachten. Es gilt daher auch hier, diesen gemeinsamen Nenner nutzbar zu machen und – bei kritischer Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen theoretischen Positionen – die Erkenntnisse der jeweils anderen Perspektive zu berücksichtigen.
 
Metadaten
Titel
Studien(fach)wahlen und ihre Ursachen: an der Schnittstelle von Geschlechterforschung und Bildungsforschung
verfasst von
Lena Loge
Copyright-Jahr
2021
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-32445-2_3

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