3.1.4.1 Vergeschlechtlichte Techniksozialisation
Ein weiterer gewichtiger Forschungsstrang der Geschlechterforschung, der sich mit Fragen der geschlechtsspezifischen Berufswahl befasst – auch hier mit dem Fokus von Frauen in technischen Studiengängen und Berufen –, lässt sich der biografietheoretischen Perspektive zuordnen. Hier wird zwar nicht in erster Linie danach gefragt, wie durch die Berufswahl Geschlecht aktiv hergestellt wird oder welche Rolle das sozialpsychologische Selbstkonzept für eine technische Berufswahl hat, gleichzeitig gibt es breite Schnittstellen zu diesen bereits vorgestellten Ansätzen.
So geht die gendersensible Biografieforschung davon aus, dass die soziale Konstruktion von Geschlecht auch eine biografische Dimension besitzt. Auf dieser Grundlage werden erzählte Lebensgeschichten analysiert, um Prozesse der Geschlechterkonstruktion empirisch zu untersuchen und dabei Geschlecht als „narrative biographische Konstruktion“ (Dausien 2012: 158) zu greifen. Es geht also darum, Bedingungen, Wirkungsweisen und Logiken sozialer Konstruktionsprozesse zu rekonstruieren (ebd.: 160 f.) und – im Fall der Berufswahl – nachzuvollziehen, wie der Weg in ein spezifisches Studium oder einen spezifischen Beruf vor diesem Hintergrund zustande gekommen ist. Studien, die den biografischen Weg von Frauen in Ingenieurstudiengänge und -berufe rekonstruieren, gehören zu den aktuell dominantesten in der gendersensiblen Betrachtung von Berufsentscheidungen.
Wie die Entscheidung für ein technisches Studienfach in der Biografie von Ingenieurstudentinnen entsteht, rekonstruieren etwa Schüller/Braukmann/Göttert (2016) mit ihrer Studie über Studentinnen des Maschinenbaus und der Elektrotechnik an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften. Anhand von 33 problemzentrierten Interviews gehen sie dieser Frage in einer ressourcenorientierten Perspektive nach und arbeiten so heraus, welche personalen, strukturellen und sozialen Ressourcen den Ingenieurstudentinnen bei ihrer Studienfachwahl zur Verfügung standen. Die Autorinnen stellen mehrere zentrale Ressourcen fest, die den Weg hin zu einem Technikstudium begünstigen:
Als personale Ressourcen, die in den Befragten selbst ‚angelegt‘ sind, stellen Schüller/Braukmann/Göttert so eine hohe Technikaffinität unter den befragten Studentinnen fest, die sich in einer positiven Einstellung zu Technik und im Interesse an Themen wie Heimwerken und Basteln und/oder Fächern wie Mathematik und Physik äußert (ebd.: 168 ff.). Außerdem haben die meisten Interviewpartnerinnen eine hohe technische Selbstkompetenz – also ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, ein fachliches Selbstbewusstsein aufgrund von Leistungen und sie nehmen Widerstände als Herausforderungen wahr. Diese technische Selbstkompetenz kann also ähnlich verstanden werden wie ein positives technikbezogenes Selbstkonzept. Zusätzlich zeigen die Studentinnen einen kompetenten Umgang mit der Mehrheit ihrer männlichen Kommilitonen, da sie durch ihre Kindheit und Jugend schon Erfahrungen mit männlichen Gruppen gemacht, sich eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit angeeignet und gegebenenfalls für sich alternative Weiblichkeitsentwürfe entwickelt haben. Was die spätere Berufstätigkeit angeht, zeichnet die Ingenieurstudentinnen eine hohe Interessensvielfalt aus sowie eine starke Bereitschaft zur Weiterbildung, eine ausgeprägte Berufsorientierung und eine hohe Bereitschaft zur flexiblen Lebensgestaltung.
Im Zusammenspiel mit den personalen Ressourcen begünstigen auch mehrere strukturelle Ressourcen die Entscheidung für ein Ingenieurstudium – also Ressourcen, die ‚von außen‘ zur Verfügung gestellt werden und die auch teilweise die personalen Ressourcen bedingen. Ein zentrales Element davon fassen die Autorinnen unter dem Begriff der „Techniksozialisation“ zusammen, was sie verstehen als „das frühe Erfahren erster individueller Talente und Fähigkeiten im spielerischen Umgang mit Technik, wobei externe Bezugspersonen insbesondere aus dem familiären Kontext durch Vorbildverhalten nachhaltig das Technikinteresse fördern können“ (Schüller/Braukmann/Göttert 2016: 16). Durch gemeinsames Werkeln, Basteln, Reparieren etc. mit Bezugspersonen wie Vätern, Brüdern und Müttern entstehen vielfältige techniknahe Spielbezüge, die von der Familie zugelassen und sogar gefördert werden. Außerdem haben viele der Befragten den Mathematik- oder Physikunterricht positiv in Erinnerung. Zusätzlich haben die Befragten einen adäquaten Zugang zu Informationen über Ingenieurstudiengänge und -Berufe wie Beratungs- und Informationsangebote, ihnen sind Anlaufstellen bei Diskriminierung und für Frauenförderung bekannt und sie profitieren von der Struktur der Hochschule selbst – etwa, indem Professor*innen als Role Models für sie fungieren. Zudem stellen die Befragten spezifische Erwartungen an ihren künftigen Arbeitgeber wie gute Arbeitsplatzchancen, ein genügend hohes Einkommen für finanzielle Unabhängigkeit, eine interessante Tätigkeit sowie eine gute work-life-balance und eine mögliche Vereinbarkeit mit der Familie durch Kinderbetreuung oder Home Office.
Schließlich wirken auch die sozialen Ressourcen der Befragten als entscheidende Unterstützung, wie sich bereits abgezeichnet hat (Schüller/Braukmann/Göttert 2016: 168–174). Von ihren Eltern und ihrem sozialen Umfeld wurden sie etwa in Bastelarbeiten einbezogen, es wurde auf ihre Interessen eingegangen – unabhängig von kulturellen Geschlechtergrenzen –, sie wurden aktiv bei ihrer Studienfachwahl und im Studium selbst unterstützt und haben persönliche Kontakte, die sie als Informationsquelle für das Studium nutzen können. Hier spielen neben den Eltern und dem direkten Umfeld auch Lehrkräfte, Berater*innen, Lehrende der Hochschule und Kommiliton*innen eine tragende Rolle.
Dabei stehen nicht alle Ressourcen allen Befragten gleichermaßen zur Verfügung, sondern geringer ausgeprägte Ressourcen können durch andere ‚kompensiert‘ werden. Gleichzeitig müssen die Ressourcen nicht der ‚Realität‘ entsprechen, sondern es ist entscheidend, dass sie von den Befragten so empfunden und als Unterstützung erinnert werden (Schüller/Braukmann/Göttert 2016: 16 ff.). Die Autorinnen weisen außerdem darauf hin, dass sogar die Studentinnen mit besonders ausgeprägten und vielen Ressourcen an der Hochschule durch verschiedene Ausschlussmechanismen an ihre Grenzen stoßen und das Ziel nicht die ‚ressourcenoptimierte‘ Studentin sein darf, sondern eine Änderung der Fach- und Arbeitskulturen an der Hochschule angestrebt werden muss (ebd.: 174).
Der aktuellen gendersensiblen Biografieforschung zu techniknahen Studienfachwahlen lassen sich des Weiteren die Studienergebnisse von Hans-Jürgen Wensierski und anderen zuordnen
15 (Wensierski 2015; Wensierski/Langfeld/Puchert 2015; Puchert 2017)
16. Wensierski/Langfeld/Puchert (2015) zeichnen ebenfalls anhand der
Biografie von Ingenieurstudentinnen nach, wie sich das Interesse und die Entscheidung für Technik während der Lebensgeschichte herausgebildet haben. Sie haben dazu 42 narrative Interviews geführt und anhand von 14 Fallstudien eine Typologie entwickelt mit drei zentralen Typen von Biografieverläufen:
Unter den ersten Typen fassen die Autor*innen Frauen mit einer frühen technikkulturellen Bildung im familiären Herkunftsmilieu (Wensierski/Langfeld/Puchert 2015: 63 ff.): Hier liegt in der Familie bereits eine Nähe zu technischen Tätigkeiten vor, die sich beispielsweise in den Berufen der Eltern (Mutter Bauzeichnerin, Vater Mechatroniker o. ä.) oder in der familiären Technikaffinität (Vater bindet seine Tochter in Technikthemen ein, kindliche Spielerfahrungen mit Geschwistern im handwerklich-bastlerischen Bereich o. ä.) zeigt. Technik ist bei diesem Typ in verschiedene sozialisatorische Prozesse eingebunden und wird von unterschiedlichen – teils mehreren – Sozialisationsinstanzen orientierungsleitend verkörpert und die entsprechenden jungen Frauen entwickeln so eine ingenieurwissenschaftliche Studienorientierung. Dieser Prozess kann durchaus mit Widersprüchen und Kämpfen verbunden sein, etwa was Geschlechtsrollendenken angeht oder den Weg in ein Studium aus einer Familie ohne Hochschulerfahrung heraus.
Beim zweiten Typ nach Wensierski/Langfeld/Puchert lässt sich eine familiäre naturwissenschaftliche Bildung, ergänzt durch ein technikaffines pädagogisches Anregungsmilieu feststellen (ebd.: 187 ff.). Diesen Typ zeichnet aus, dass weniger der familiäre Technikbezug, sondern die Nähe zum naturwissenschaftlichen Tätigkeitsbereich stark ausgeprägt ist. So entsteht bspw. eine Studienentscheidung hin zu einem interdisziplinären Technikstudiengang, in dem primär naturwissenschaftliche, aber ebenso technische und sozialethische Fragen behandelt werden.
Der dritte Typ schließlich unterscheidet sich vor allem vom ersten Typ durch die Herausbildung einer technischen Studienorientierung im Kontext bildungsbiografischer Selbstbehauptungsprozesse (ebd.). Technik ist hier nicht unbedingt als relevantes Thema in der Familie angelegt, nimmt aber eine entscheidende Funktion in der Entwicklung der jungen Frauen ein: Das Technikstudium kann so die familiär angelegten Aufstiegsambitionen erfüllen, einen jugendbiografischen Verselbstständigungsprozess flankieren oder Ressource im Rahmen einer konflikthaften Identitätsbildung sein.
Im gemeinsamen Ergebnis aller Typen stellen die Autor*innen fest, dass die Ausbildung eines technikkulturellen Habitus als sozialisatorische und bildungstheoretische Voraussetzung gesehen werden kann für die Entscheidung von Frauen, ein Ingenieurstudium aufzunehmen. Durch den Begriff des „technikkulturellen Habitus“ wollen die Autor*innen betonen, dass es sich hier nicht um ein isoliertes technisches Interesse handelt, sondern dass in den Familien häufig ein vielschichtiges technisches Handeln zu beobachten ist, „das sich jeweils auf die ganze Alltagskultur und eine gemeinsam geteilte technische Wissenskultur erstreckt“ (ebd.: 335).
In einer methodengleichen Folgeuntersuchung analysiert Puchert (2017) die Biographien von männlichen Studenten des Maschinenbaus und der Elektrotechnik und entwickelt auf der Grundlage von 16 narrativen Interviews ebenfalls drei Typen, mit denen sie die spezifische Herausbildung einer technischen Studienwahl nachzeichnet:
Der erste Typ gleicht dem der Erstuntersuchung unter Ingenieurinnen und fasst unter der Benennung der frühen technikkulturellen Bildung im familiären Herkunftsmilieu etwa die Hälfte der männlichen Fälle (Puchert 2017: 264 ff.): Sie haben eine frühe technikkulturelle Primärsozialisation erfahren, in der alle Väter und teilweise auch andere männliche Familienmitglieder technikaffine Berufe innehaben, während den Müttern überwiegend die Zuständigkeit für Haushalt und Erziehung obliegt. Ein ausgeprägter technikkultureller Habitus ist hier bei keiner Mutter erkennbar. Die Nähe zu MINT-Themen wird bei diesem Typ früh vermittelt und von der gesamten Familie unterstützt.
Der zweite Typus bildet zwischen den anderen beiden kontrastiven Typen ein Intermedium. Er umfasst die Herausbildung einer technischen Studienorientierung im Kontext von Selbstsozialisation und technikaffinem Peermilieu, zu dem nur zwei Fälle gehören (Puchert 2017: 286 ff.). Im Gegensatz zum ersten Typus ist hier kein technikkulturelles Anregungsmilieu vorhanden und die Familien weisen keine technikbezogenen Berufstraditionen auf. Stattdessen gehen die jungen Männer ihren Weg Richtung Technik vor allem angeregt durch technikaffine Peers und den Schulunterricht, wobei Puchert durch den Begriff der „Selbstsozialisation“ den Eigensinn dieser Verläufe betonen will.
Der dritte Typ wiederum gleicht erneut dem dritten Typus der Ingenieurinnenstudie und umfasst die Herausbildung einer technischen Studienorientierung im Kontext bildungsbiografischer Selbstbehauptungsprozesse (Puchert 2017: 296 ff.). Er steht in Kontrast zum ersten Typus, es ist also keine technikkulturelle Primärsozialisation zu beobachten und der Einfluss der Herkunftsfamilie auf den Berufswahlprozess der jungen Männer ist eher gering. Diese Fälle nähern sich der Technik durch Selbstbehauptungsprozesse in der Adoleszenz an.
Im Vergleich der Typen an Studentinnenbiografien und der Typen an Studentenbiografien umfasst kommt neben den breiten Gemeinsamkeiten auch eine geschlechtsspezifische Dimension zum Tragen (Puchert 2017: 355 ff.). Die Techniktradition im Kontext eines Familienbetriebs weiterzuführen oder die Selbsterzählung als ‚Computer-Nerd‘ sind Verlaufsmerkmale, die sich ausschließlich bei den männlichen Fällen finden, die zentrale Bedeutung der technikaffinen Mutter oder das adoleszente technikdistanzierte Bildungsmoratorium dagegen nur bei den weiblichen Fällen. Im Ergebnis betont Puchert die zentrale Gemeinsamkeit beider vergeschlechtlichter Biografieverläufe, dass die Entwicklung eines technikkulturellen Habitus eine strukturelle Voraussetzung für die spätere ingenieurale Studienfachwahl ist. Dabei werden nicht ‚einfach‘ herkunftsfamiliäre Fachtraditionen reproduziert, sondern die Studienorientierung speist sich aus komplexen und vielschichten Interaktions- und Beziehungsprozessen (ebd.). Die Herkunftsmilieus der Studierenden sind äußerst heterogen.
Das Erkenntnispotential dieser biografietheoretischen Analysen zu Wegen von Frauen und Männern in ein Technikstudium ist offensichtlich: Die Fallstudien zeichnen ein komplexes Bild darüber, wie die Orientierung hin zu einem Ingenieurstudium unter dem Einfluss unterschiedlicher Sozialisationsinstanzen und damit auch unter Berücksichtigung der sozialen Herkunft entstehen kann. Kritisch angemerkt werden kann hier, dass die soziale Herkunft teilweise verkürzt behandelt wird, indem etwa der Habitusbegriff unterkomplex verwendet und als „technikkultureller Habitus“ auf eine fachliche Dimension reduziert wird. Im Bourdieuschen Sinne könnte durch diese selektive Anwendung des Begriffs die Ganzheitlichkeit des Konzepts und die Bedeutung der herkunftsspezifischen Habitusmuster – in die fachlich-kulturelle Elemente eingebettet sind – in den Hintergrund treten.
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Dies führt zum zweiten Kritikpunkt an den genannten biografieorientierten Studien: Sie berücksichtigen zwar die Bedeutung der sozialen Herkunft für die Studienorientierung, allerdings mit geringer struktureller Rückbindung. So werden die von Schüller/Braukmann/Göttert (2016) herausgearbeiteten Ressourcen nicht systematisch mit der sozialen Herkunft in Verbindung gebracht und Wensierski/Langfeld/Puchert (2015) nehmen eine ausschließlich vertikale Unterteilung ihrer Fälle in „Arbeiterfamilien“, „Mittelschichtfamilien“ und „akademische Familien“ (ebd.: 73, 88, 112) vor, ohne etwaige horizontale Unterschiede auf der Ebene der (kulturellen) Alltagspraxis zu betrachten.
3.1.4.2 Arbeitertöchter an der Hochschule
Eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Herkunft findet sich in einigen älteren biografietheoretischen Studien von Anne Schlüter (1992; 1993; 1999)
18, die die Wege von ‚Arbeitertöchtern‘
19 an die Hochschule beforscht: Sie fragt danach, wie in biografischen Interviews mit Studentinnen verschiedener Fachkulturen
20 die soziale Herkunft und das Geschlecht thematisiert werden und wie der Bildungsaufstieg vor diesem Hintergrund rekonstruiert werden kann. Dabei fasst Schlüter das „Produkt Biografie“ als „strukturiertes Selbstkonzept“ (Schlüter 1999: 299), das die soziale Herkunft wie das Geschlecht umfasst. Im Gegensatz zu sozialpsychologischen Studien wird hier das Selbstkonzept also strukturell rückgebunden. Mit diesem Vorgehen stellt Schlüter verschiedene „Mechanismen für Mobilität“ fest, die bei den Befragten auf dem Weg in das Studium wirken – etwa die Bedeutung von „sozialer Anerkennung“, die „Suche nach Geborgenheit“ oder eine ausgeprägte „Leistungsfähigkeit“ (Schlüter 1999: 299).
Was die Bedeutung des Vaters für Ingenieurstudentinnen angeht, kommt Schlüter zu einem ähnlichen Ergebnis wie die oben vorgestellten biografieorientierten Untersuchungen, konkretisiert dies allerdings mit Blick auf die soziale Herkunft, etwa indem „Töchter aus Mittelschichten mit einer Techniktradition der Väter (…) sich als ‚Pionierinnen‘ ein Technik-Studium zu[trauen] und (…) damit den Status der Herkunftsfamilie bestätigen“ (Schlüter 1992: 206). Im Zuge eines Bildungsaufstiegs wird das Technikstudium so zum Mittel, um den familiären Status zu sichern. Gleichzeitig stellt Schlüter heraus, dass Arbeiter*innentöchter auf dem Weg in ein Technikstudium im Gegensatz zu Akademiker*innentöchtern gleich mit zwei spezifischen Barrieren konfrontiert werden können: Für beide kann die „sozio-kulturelle Barriere“ (Schlüter 1999: 338) im Sinne des doing gender zutreffen, sodass sie sich entgegen gesellschaftliche bzw. familiäre Geschlechtsrollenzuweisungen positionieren müssen. Die Arbeiter*innentöchter nehmen allerdings in der Regel noch eine zweite Hürde, indem sie sich in ihrer akademischen Ausbildung nicht mit ihrem sozialen Herkunftsumfeld identifizieren können, sondern sich sogar hier gegen die Erwartungen und Normen ihrer Herkunftskultur durchsetzen müssen (ebd.: 338).
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Rauch (1993), die vor dem theoretischen Hintergrund von Bourdieus Kapitaltheorie (Bourdieu 1983) Arbeiter- und Akademiker*innentöchter
21 in geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen interviewt hat. Diese beiden sozialen Gruppen kommen nach Rauch mit unterschiedlichem „Gepäck“ (Rauch 1993: 149 ff.) an die Hochschule – also mit unterschiedlicher Ausstattung an ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital. Rauch stellt immense Unterschiede zwischen den beiden Gruppen fest: Nicht nur der Bildungsabschluss der Eltern unterscheidet sich, sondern auch die
Bildungserfahrungen im Elternhaus selbst. Bei den Akademiker*innentöchtern wurden Bildung und Leistung sehr geschätzt und gefördert, es waren Bereiche wie Literatur, Kultur und Kunst im Familienalltag präsent, es wurde viel gelesen und Theater oder Oper besucht. Bei den Arbeiter*innentöchtern dagegen war die Beschäftigung mit Kunst, Kultur und Bildung kein zentraler Bestandteil des Familienlebens, Theater- und Museumsbesuche eher die Ausnahme. Was den
Verlauf der Schulbildung angeht, erlebten die Akademiker*innentöchter den Wechsel zum Gymnasium nicht als Entscheidung und auch das Abitur war selbstverständlich und wurde von den Eltern erwartet. Bei den Arbeiter*innentöchtern war die Schulwahl weniger eindeutig und der Gymnasialbesuch war häufig mit einem intensiven Entscheidungsprozess verbunden. Auf dem Gymnasium waren die Arbeiter*innentöchter überwiegend auf sich allein gestellt und sie behandelten die Kontexte Schule und Elternhaus getrennt. Teilweise lehnten die Eltern sogar neue Fähigkeiten und Verhaltensweisen ihrer Töchter ab. Bei den Akademiker*innentöchtern dagegen war der Gymnasialbesuch durch elterliche Erwartungen geprägt – der Schulverlauf wurde beobachtet und teilweise kontrolliert.
Nach dem Abitur setzte sich bei den Akademiker*innentöchtern die Selbstverständlichkeit ihrer Bildungslaufbahn fort, es fand also keine grundsätzliche Entscheidung statt, sondern das Studium stand bereits fest. Die Eltern nahmen hier Einfluss in Richtung familiärer Statusreproduktion. Die Arbeiter*innentöchter dagegen entschieden sich mit dem Studium gegen das ‚Normale‘, gegen die Arbeitswelt und gegen den ihnen bekannten Lebensentwurf. Auch
in der Hochschule lassen sich unterschiedliche Verläufe beobachten: Die Akademiker*innentöchter haben zwar nicht von vornerein eine größere Vertrautheit der Universität gegenüber, aber eine andere Haltung und soziale Ressourcen, auf die sie selbstverständlich zurückgreifen. Während die Akademiker*innentöchter auf Hürden mit Aktivität, Konfrontation und Ehrgeiz reagieren, ziehen sich die Arbeiter*innentöchter tendenziell zurück und suchen sich Bezugspunkte außerhalb der Universität. Was die
Berufsperspektiven angeht, kommt für die Arbeiter*innentöchter ein Verbleib in der Hochschulwelt nicht in Frage, sondern sie betrachten ihren Abschluss als ‚qualifizierenden Ausbildungsabschluss‘, der für sie ein nützlicher Einstieg in das Arbeitsleben ist. Die Akademiker*innentöchter dagegen schätzen die Hochschule wert und fühlen sich von der intellektuellen ‚Kopfarbeit‘ dort angezogen (Rauch 1993: 152 ff.).
Was die Bedeutung dieser Ergebnisse angeht, müsste ein aktualisierter Blick auf die sozialen Gruppen der ‚Arbeiter- und Akademiker*innentöchter‘ geworfen werden. Zugleich bestätigen sich hier Unterschiede, die auch in anderen bildungssoziologischen quantitativen wie qualitativen Studien bereits herausgearbeitet wurden: Studentinnen beginnen ihre Hochschulausbildung unter unterschiedlichen Voraussetzungen je nach sozialer Herkunft, sie haben unterschiedliche Wege und Entscheidungsprozesse hinter sich und verbinden mit dem Studium einen spezifischen Zweck und spezifische – mehr oder weniger ausgeprägte – Hürden.
Was bei Schlüter anklingt, bei Rauch allerdings nicht ersichtlich wird, ist das spezifische Zusammenspiel des Einflusses von sozialer Herkunft und Geschlecht: Während bei Schlüter so doppelte soziokulturelle Barrieren herausgearbeitet werden, bleibt bei Rauch die Analyse dabei stehen, die Wirkung der sozialen Herkunft bei Frauen zu betrachten, ohne die Wirkungsweisen von Geschlecht ebenso in die Analyse einzubeziehen. An diesem Punkt könnten weitere Untersuchungen ansetzen und beide Ungleichheitsdimensionen berücksichtigen.