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Open Access 2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

4. Seminarkonzept zur Förderung von Schüler*innen mit mathematischen Lernschwierigkeiten

verfasst von : Maximilian Hettmann

Erschienen in: Motivationale Aspekte mathematischer Lernprozesse

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Im Rahmen des Projekts Biprofessional, welches Teil der Bielefelder Qualitätsoffensive Lehrerbildung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ist, wurde ein Veranstaltungsformat entwickelt, das auf den Kompetenzerwerb von Studierenden im Bereich der Förderung von Motivation im Fach Mathematik zielt. In einer Kooperation von Mathematikdidaktiker*innen und Psycholog*innen wurde dazu ein in der Bielefelder Mathematikdidaktik etabliertes Veranstaltungsformat mit integrierter Praxisphase zur individuellen Förderung von Schüler*innen mit Schwierigkeiten beim Mathematiklernen adaptiert und um motivationspsychologische Aspekte ergänzt.
Im Rahmen des Projekts Biprofessional, welches Teil der Bielefelder Qualitätsoffensive Lehrerbildung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ist, wurde ein Veranstaltungsformat entwickelt, das auf den Kompetenzerwerb von Studierenden im Bereich der Förderung von Motivation im Fach Mathematik zielt. In einer Kooperation von Mathematikdidaktiker*innen und Psycholog*innen wurde dazu ein in der Bielefelder Mathematikdidaktik etabliertes Veranstaltungsformat mit integrierter Praxisphase zur individuellen Förderung von Schüler*innen mit Schwierigkeiten beim Mathematiklernen adaptiert und um motivationspsychologische Aspekte ergänzt.
Mit dem Seminar werden zwei zentrale Zielsetzungen verfolgt. Das erste ist die Verknüpfung theoretischer Elemente mit der Praxis der Studierenden. Beck und Krapp (2006) stellen vier Grundformen der Theorieanwendung vor: Zielerreichendes Handeln, Folgenabschätzung, Rückschauendes Begreifen und Differenziertes Wahrnehmen (s. Abbildung 4.1).
Das Zielerreichende Handeln wird den Studierenden ermöglicht, indem sie Ziele für die Förderung der Schüler*innen setzen und Handlungsanweisungen für die Planung und Vorbereitung ihres Unterrichts und einzelner Fördersituationen ableiten. Dabei werden in der Regel verschiedene Möglichkeiten pädagogischen Handelns bezüglich ihrer antizipierten Folgen abgewogen (Vorsorgliche Folgenabschätzung). Die Differenzierte Wahrnehmung und das Rückschauende Begreifen stehen besonders im Fokus, wenn Studierende Unterricht durchführen und diesen theoriegeleitet reflektieren oder Fälle eigener oder konstruierter Schüler*innen analysieren. Die zweite Ziel bezieht sich auf den Kompetenzerwerb der Studierenden hinsichtlich des Aufbaus der einzelnen Facetten der professionellen Kompetenz, motiviertes Lernen zu fördern (KMLF) (s. Kapitel 3).
Der organisatorische Ablauf der Veranstaltung, insbesondere in Abgrenzung zu der ursprünglichen Veranstaltung, die adaptiert wurde, wird in Kapitel 6 beschrieben, die genauen Lernvoraussetzungen der Studierenden in Kapitel 7. Für eine ausführliche Darstellung und Begründung der gesamten Seminarkonzeption siehe Hettmann et al. (2019).
Die theoretische Basis des Seminarkonzepts ist die in Kapitel 2 referierte Theorie zur Förderung mathematischer Kompetenzen und Motivation bei Schüler*innen mit Schwierigkeiten beim Mathematiklernen. Ein vielversprechender Ansatzpunkt, den in Abschnitt 2.​2.​4 beschriebenen selbstverstärkenden Mechanismen von mangelnder Kompetenz und Motivation entgegenzuwirken, besteht in der integrierten Förderung von mathematischen Kompetenzen und den motivationalen Aspekten Selbstwirksamkeit, Selbstkonzept und Kausalattributionen (vgl. Hettmann et al. 2019). Als gliederndes Element wird die Förderung von Selbstwirksamkeit in den Mittelpunkt gestellt. In Einklang mit den von Bandura (1997) postulierten Quellen der Selbstwirksamkeit fokussiert das Modell auf selbstbewirkte Erfolgserfahrungen zur Förderung von Selbstwirksamkeit. Ziel ist es, dass sich Schüler*innen über die Erfahrung regelmäßiger Erfolge bei individuell herausfordernden Aufgaben Kompetenz und Kompetenz-Überzeugungen entwickeln und so die eigene Selbstwirksamkeit stabilisieren. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte Unterricht so gestaltet und vorbereitet sein, dass
1.
Erfolge vorbereitet und ermöglicht werden,
 
2.
die Erfolge als solche erlebt und bewusst gemacht werden,
 
3.
die Erfolge auf angemessene Ursachen zurückgeführt werden und
 
4.
als zentraler Gütemaßstab die individuelle Bezugsnorm verwendet wird (s. Abbildung 4.2).
 
Als praktischer Leitfaden lässt sich bei der Planung und Durchführung eines selbstwirksamkeitsförderlichen Mathematikunterrichts ein Vierschritt formulieren: Erfolge müssen vorbereitet, ermöglicht, erlebt und nachbereitet werden. Den einzelnen Schritten ordnen sich bekannte Methoden der individuellen Förderung und Motivationsförderung unter. Als Querstruktur gilt die konsequente Anwendung der individuellen Bezugsnorm in allen vier Schritten. Im Folgenden werden die einzelnen Schritte und die dazugehörigen Methoden näher erläutert.
Das Seminar startet mit einer Einführung in theoretische Aspekte der individuellen mathematischen Förderung (vgl. vom Hofe 2011) und der Selbstwirksamkeit (vgl. Bandura 1997). Neben theoretischen Inputs zum Aufbau einer theoretischen Basis werden verschiedene Reflexionsanlässe geschaffen, die es den Studierenden ermöglichen die Theorie im Sinne des rückschauenden Begreifens und der differenzierten Wahrnehmung praktisch anzuwenden (s. Abbildung 4.3; vgl. Beck und Krapp 2006).
Ein besonderes Element, welches sich durch das gesamte Seminar zieht, ist das Fallbeispiel zu Mia und Michael. Für diese beiden Schüler*innen werden auf Basis authentischen Diagnosematerials zunächst ein Förderplan erstellt, Ziele formuliert und abschließend Fördersituationen und Fördermaßnahmen geplant. Ein Meilenstein des Seminarkonzepts ist das Planen einer gesamten Förderstunde für die Schüler*innen Mia und Michael.
Zur Vorbereitung von Erfolgen gilt es zunächst das individuelle Anforderungsniveau der Schüler*innen zu bestimmen, also den aktuellen Leistungsstand hinsichtlich der fachlichen und überfachlichen angestrebten Kompetenzen. Diese Informationen sind für die Lehrkraft essenziell, um in den Folgeschritten Fördermaßnahmen auszuwählen und zu entwickeln. Bei den hierfür eingesetzten diagnostischen Werkzeugen lassen sich eher qualitativ orientierte Methoden von eher quantitativen unterscheiden. Bei der ausführlicheren qualitativen Diagnostik in Form von Fallstudien und Einzelinterviews stehen auf der theoretischen Ebene Grund- und Fehlvorstellungen im Fokus (vom Hofe 2011; Wartha und vom Hofe 2005). Da diese aufwändigeren Verfahren in der Praxis des Unterrichtsalltags in der Regel nicht umfänglich eingesetzt werden können, können diese durch quantitative Diagnoseverfahren ergänzt werden. Bei der quantitativen Diagnostik werden in schriftlichen oder multimedialen Umgebungen Diagnosetests bearbeitet und diese z. T. automatisiert ausgewertet. Dabei geben die Auswertungstools Informationen zu Förderbedarfen und können individuell zugeschnittenes Übungsmaterial zusammenstellen. Die quantitativen Diagnoseverfahren geben dadurch einen Überblick über den Leistungsstand von Schüler*innengruppen, können aber nicht so in die Tiefe gehen, wie die qualitativen Pendants (vgl. Hafner 2008; 2011; Pallack et al. 2013). Im Seminar untersuchen die Studierenden einerseits Interviews mit Kindern (vgl. Wartha und vom Hofe 2005), in denen diese Aufgaben zur Bruchrechnung bearbeiten, hinsichtlich gezeigter Grund- und Fehlvorstellungen und andererseits vergleichen sie kriteriengeleitet verschiedene Formen quantitativer Diagnostik.
Um Erfolge für alle Schüler*innen zu ermöglichen, bieten sich Methoden der Zielsetzung und der individuellen Förderung an. Hinsichtlich der Zielsetzung haben Schwarzer und Jerusalem (2002) postuliert, dass kleine, durch eigene Anstrengung erreichbare, herausfordernde Ziele besonders geeignet sind, um die Selbstwirksamkeit zu steigern. Diese Nahziele stellen Teilschritte auf dem Weg zur Erreichung der Lernziele dar. Wichtig ist, dass die Schüler*innen diese kurzfristigen, konkret formulierten und mit einem Indikator zur Zielerreichung versehenden Ziele selbstständig erreichen können und somit regelmäßig Erfolge verzeichnen können. Methoden der Individualisierung von Lernwegen, um allen Schüler*innen eine adaptive Lernumgebung zu schaffen, wurden bereits in Abschnitt 2.​3 thematisiert. Der zentrale Aspekt für das Ermöglichen von Erfolgen ist das Bereitstellen von Aufgaben mit optimaler Passung, damit die Schüler*innen die Aufgaben als Herausforderung wahrnehmen, sie aber gleichzeitig auch lösen können. Im Seminarkonzept erarbeiten die Studierenden sich in Abgrenzung zu allgemeinen Förderzielen Kriterien für die Formulierung von Nahzielen und erstellen auf Basis der vorangegangenen Analyse der Diagnosematerialien von Mia und Michael Nahziele für die beiden Schüler*innen (s. Abbildung 4.4). Im Anschluss gestalten die Studierenden auf der Basis einer Auswahl verschiedener Methoden der individuellen Förderung eine Lernsequenz für Mia und Michael.
Schüler*innen, die eine lange Misserfolgskarriere hinter sich haben, können Schwierigkeiten damit haben, erreichte Erfolge auch als solche wahrzunehmen. Um Schüler*innen dabei zu unterstützen, bieten sich Methoden der Dokumentation und Reflexion von Lernprozessen an. Eine weitere Quelle für die Erfolgswahrnehmung von Schüler*innen ist die Erwartungshaltung ihrer Lehrkräfte. Hier konnten Madon et al. (2001) beispielsweise zeigen, dass Schüler*innen bei Lehrkräften, die von ihren Schüler*innen niedrige Kompetenzen im Fach Mathematik erwarten, selbst die Überzeugung entwickeln, nicht kompetent im Fach Mathematik zu sein. Solche Erwartungseffekte lassen sich in der Umkehrung gezielt nutzen, um über eine positive Erwartungshaltung die Erfolgswahrnehmung von Schüler*innen zu unterstützen. Im Seminar bearbeiten die Studierenden zunächst das Fallbeispiel Yustina, welches den Prototyp einer Schülerin mit problematischen Verhaltensweisen aufzeigt. Nachdem die Studierenden eigene Erwartungen an die Förderung mit dieser Schülerin notiert haben, wird die entsprechende Theorie referiert und die eigenen Erwartungen reflektiert. Abschließend formulieren die Studierenden bewusst positive Erwartungen (s. Abbildung 4.5).
Die Nachbereitung von Erfolgen umfasst besonders die Zuschreibung von Ursachen, die Schüler*innen bei Erfolgserlebnissen vornehmen. Dabei ist es wichtig, dass Schüler*innen Erfolge auf die eigene Urheberschaft zurückführen, also internal attribuieren und Misserfolge auf kontrollierbar und änderbare Ursachen zurückführen, z. B. internal variable Ursachen, wie Lern- und Lösungsstrategien (vgl. Abschnitt 2.​2.​3). Lehrkräfte können diese Attributionen durch Feedbackaussagen unterstützen. Dieses Verfahren des Anpassens von Schüler*innenattributionen durch die Lehrkraft nennt sich Attributionales Feedback (vgl. Brandt 2014). Im Seminar wenden die Studierenden die Theorie der Kausalattributionen auf Beispielaussagen wie ‚Ich habe in Mathe eine 5 geschrieben, weil ich Mathe einfach nicht kann‘ an. Abschließend üben sie in kleinen Rollenspielen das unmittelbare Rückmelden von Erfolgen und Misserfolgen anhand von Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten ihrer Kommilitonen.
Für die Bewertung von Leistungen in pädagogischen Kontexten unterscheidet Rheinberg (1980) drei Gütemaßstäbe oder Bezugsnormen, an denen die Leistungen bemessen werden (vgl. Abschnitt 3.​3.​4.​1; vgl. Rheinberg und Fries 2018; Rheinberg 2014). Um Erfolge für alle Schüler*innen zu ermöglichen, ist es notwendig die individuelle Bezugsnorm als Kriterium für das Erreichen bzw. Nichterreichen von Erfolgen anzusetzen. So ist es auch Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten möglich, regelmäßig Erfolge zu verzeichnen. Unter der sozialen Bezugsnorm beispielsweise würden sie womöglich trotz gegebenenfalls großer Lernzuwächse die Rückmeldung bekommen, weiterhin die / der schwächste Lerner*in zu sein. Im Rahmen eines selektiven Schulsystems, das Noten gibt und Übergangsentscheidungen treffen muss, ist eine alleinige Orientierung an der individuellen Bezugsnorm oft nicht möglich. Es ist trotzdem angeraten, wann immer es möglich ist, die Bewertung von Leistungen um die Perspektive der individuellen Bezugsnorm zu ergänzen (vgl. Rheinberg und Krug 2005). Für Fördersettings gilt dies in besonderem Maße.
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Metadaten
Titel
Seminarkonzept zur Förderung von Schüler*innen mit mathematischen Lernschwierigkeiten
verfasst von
Maximilian Hettmann
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37180-7_4

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