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2020 | OriginalPaper | Buchkapitel

Kapitel 10: Kontrollfunktion

verfasst von : Andrej Lang

Erschienen in: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Im Rahmen der Herleitung der Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit im nationalen Gemeinwesen haben wir gesehen, dass Verfassungsgerichte eine Kontrollfunktion erfüllen: Verfassungsgerichte sind damit beauftragt, die in der Verfassung niedergelegten Errungenschaften des Konstitutionalismus, von den Grundrechten, bis zu den Rechtsstaats- und Demokratieprinzipien, hochzuhalten und zu schützen. Diese Prinzipien in ein Verfassungsdokument zu schreiben und an die Spitze der Normenhierarchie zu stellen, verhilft diesen Prinzipien allein nicht zu voller Wirksamkeit, sondern es hilft, ein Verfassungsgericht zu haben, das diese Prinzipien auslegt und über ihre Anwendung im Streitfall entscheidet. Gerade auch aus diesem Grund wird die Verfassungsgerichtsbarkeit als Kontrolleur der durch die Verfassung effektuierten Selbstbindungsstrategie der politischen Gemeinschaft eingesetzt. Seinen besonderen Ausdruck findet dieser Zusammenhang im Bereich des Menschen- und Grundrechtsschutzes, deren Bedeutung für unsere Gesellschaften maßgeblich durch Verfassungsgerichte mitgeprägt wurde.

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Fußnoten
1
Oben Erster Teil, Kap. 6, B. und C.
 
2
Zur Rollenbeschreibung des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess hat Kirchhof den Begriff des „Brückenwächters“ geprägt. Siehe Paul Kirchoff, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR 1991, Beiheft 1, 11 (15 f.).
 
3
Oben Erster Teil, Kap. 5, A. und B.
 
4
Vgl. Art. 46 WVRK.
 
5
Diesen Einwand trägt auch die Senatsminderheit im Solange I-Beschluss vor, wenn sie argumentiert, dass die Bundesrepublik Deutschland durch den Beitritt zur EWG auf die Ausübung einer nationalen Kontrolle „gerade verzichtet“ habe. BVerfGE 37, 271 (295 f.) – Solange I (1974). Ebenso Ulrich Everling, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung für die Entwicklung der Europäischen Integration, Integration 1994, 165 (171); ders., Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Nach dem Maastricht-Urteil, in: Albrecht Randelzhofer/Rupert Scholz/Dieter Wilke (Hrsg.), GedS Grabitz, 1995, 57 (67).
 
6
Oben Erster Teil, Kap. 4, A., II. Ähnlich argumentiert die Senatsminderheit in Solange I, soweit sie der Senatsmehrheit vorwirft, unzulässig in die dem Europäischen Gerichtshof vorbehaltene Kompetenz einzugreifen und „für die Bundesrepublik Deutschland einen Sonderstatus“ zu schaffen. BVerfGE 37, 271 (299 f.) – Solange I (1974).
 
7
Dazu im Einzelnen: Oben Erster Teil, Kap. 2, H.
 
8
In diesem Sinne auch Nollkaemper, der den Widerstand nationaler Gerichte gegen einen uneingeschränkten Vorrang des internationalen Rechts für legitim erachtet und sich dafür ausspricht „for qualifying the principle of supremacy“. André Nollkaemper, Rethinking the Supremacy of International Law, ZÖR 65 (2010), 65 (76).
 
9
Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (929).
 
10
Manchmal kann es auch im Interesse der Exekutive sein, bestimmte politische Entscheidungen aus strategischen Gründen in inter- und supranationale Foren zu verlagern und damit gleichzeitig außerhalb der Reichweite der nationalen Öffentlichkeit, des Parlaments und der Gerichte zu bringen.
 
11
Doris König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, 2000, 591.
 
12
J.H.H. Weiler/Ulrich Haltern, The Autonomy of the Community Legal Order – Through the Looking Glass, Harv. J. Int’l L. 37 (1996), 411 (445).
 
13
BVerfGE 37, 271 (298) – Solange I (1974).
 
14
Aber siehe Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (291 f.).
 
15
Eugene Volokh, The Mechanisms of Slippery Slope, Harv. L. Rev. 116 (2003), 1026 (1030). Insbesondere in der US-amerikanischen Rechtsliteratur gibt es mehrere instruktive Aufsätze, die „slippery slope“-Argumente systematisch auf ihre logische Struktur und ihre empirischen Voraussetzungen hin analysieren, auf die im Folgenden Bezug genommen wird. Siehe insb. Eugene Volokh, ebd., 1026 ff.; Frederick Schauer, Slippery Slope, Harv. L. Rev. 99 (1985), 361 ff.; Eric Lode, Slippery Slope Arguments and Legal Reasoning, Cal. L. Rev. 87 (1999), 1469 ff.
 
16
Frederick Schauer, ebd., 364 f.: „Both the slippery slope argument and most of its similar but distinguishable compatriots involve a common theme – contrast between a tolerable solution to a problem now before us and an intolerable result with respect to some currently hypothetical but potentially real future state of affairs“.
 
17
Treffend die Banalität mit seinem Aufsatz erfassend: Ulrich Everling, Will Europe Slip on Bananas? The Bananas Judgment of the Court of Justice and National Courts, CML Rev. 33 (1996), 401 ff.
 
18
Frederick Schauer, Slippery Slope, Harv. L. Rev. 99 (1985), 361 (369 f.).
 
19
Die logische Struktur der Gegner einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Anwendung von europäischem Unionsrecht im nationalen Rechtsraum lautet etwa so: Wenn das Bundesverfassungsgericht aufgrund von Bestimmungen des Grundgesetzes eine europäische Verordnung unangewendet lässt, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, dass auch andere europäische Verfassungsgerichte oder letztinstanzliche Gerichte europäischen Rechtsakten die Anerkennung im nationalen Rechtsraum versagen. Während nationale Gerichte eine verfassungsrechtliche Kontrolle ursprünglich nur unter engen Bedingungen ausüben, weiten sich diese stetig aus, so dass es in Zukunft eine Vielzahl von Entscheidungen geben wird, in denen nationale Gerichte aufgrund nationaler Präferenzen das Unionsrecht missachten und die europäische Rechtsordnung an Glaubwürdigkeit verliert. Dadurch wird dem europäischen Integrationsprojekt eine seiner Grundbedingungen entzogen. Genauso können aber auch die Befürworter einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle argumentieren: Wenn nationale Verfassungsgerichte und höchste Gerichte davon absehen, europäisches Sekundärrecht auf seine Vereinbarkeit mit zentralen Bestimmungen der nationalen Verfassung wie den Grundrechten zu überprüfen, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, dass der Europäische Gerichtshof die Kontrolldichte bei der grundrechtlichen Prüfung europäischer Rechtsakte herablässt. Während es bislang vor dem Hintergrund des Damoklesschwerts verfassungsgerichtlicher Kontrolle nur vereinzelte Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs gab, in denen die grundrechtliche Kontrolldichte den deutschen Grundrechtsstandard deutlich unterschritt, entwickeln sich solche Entscheidungen zum Regelfall, so dass ein effektiver Grundrechtsschutz gegenüber europäischen Rechtsakten kaum noch gewährleistet und den wirtschaftlichen Prärogativen des Brüsseler Bürokratieapparates zunehmend Vorrang vor den Individualrechten der Bürger eingeräumt wird. Dadurch wird eine der zentralen Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats durch das europäische Integrationsprojekt unterwandert.
 
20
Frederick Schauer, Slippery Slope, Harv. L. Rev. 99 (1985), 361 (381). Das Problem des Dammbrucharguments ist, dass es Gefahr läuft, in einen allgemeinen Appell im Angesicht einer unsicheren Zukunft zusammenzufallen. Ebd., 376.
 
21
Ebd., 376.
 
22
Ebd., 382. Denn dadurch, dass das Dammbruchargument die Aufmerksamkeit auf eine mögliche zukünftige Entwicklung lenkt, stellt es auch ein Eingeständnis dar, dass der gegenwärtige Fall weniger bedenklich ist – es ist die Entwicklung, die von dieser Entscheidung ausgehen könnte, nicht die Entscheidung allein, die Sorgen bereitet; diese Entwicklung sollte dann aber auch sorgfältig vorgezeichnet werden. Ebd., 369.
 
23
Exemplarisch im Zusammenhang mit dem Begriff der nationalen Verfassungsidentität: „Der Appell an das Nationale kann im Kontext der europäischen Integration leicht zur Öffnung der Büchse der Pandora werden – sowohl hinsichtlich nationalistischer Fliehkräfte, die zu überwinden das europäische Einigungswerk einst begonnen wurde, als auch – vor allem in den Mitgliedstaaten – mit Blick auf separatistische Bestrebungen.“ So Franz Mayer/Edgar Lenski/Mattias Wendel, Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008, 63 (85 f.).
 
24
Lode weist zutreffend darauf hin, dass sich unter dem Mantel des Dammbrucharguments oft tiefergehende Bedenken verbergen, die sich nicht in erster Linie gegen die Folgen wenden, die von Entscheidung A ausgehen, sondern dagegen, dass Entscheidung A einen Wert beeinträchtigt, der dem Verwender des Dammbrucharguments besonders wichtig ist. Eric Lode, Slippery Slope Arguments and Legal Reasoning, Cal. L. Rev. 87 (1999), 1469 (1528).
 
25
Kumm analysiert die Plausibilität der Prognosen von Gegnern und Befürwortern einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Unionsrechts, indem er zwei Szenarien unterscheidet: das apokalyptische Cassandra-Szenario, in dem die verfassungsgerichtliche Kontrolle schrittweise in einen Zustand intergouvernementaler Anarchie führt und das europäische Integrationsprojekt zerstört, und das idealisierte Pangloss-Szenario, in dem sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle als konstruktive korrektive Kraft erweist. Zu Recht nimmt Kumm an, dass das Pangloss Szenario der gegenwärtigen Rechtsprechungspraxis deutlich näher kommt als das Cassandra-Szenario. Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (291 f.).
 
26
Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 31.01.2012, Pl. ÚS 5/12 – Holubec. Dazu unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., c.
 
27
Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 06.12.2016, Nr. 15/2014 – Ajos A/S v. Boet efter A. Hierzu unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., b., bb.
 
28
Näher zu den Entscheidungen: Unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., b., bb. und c.
 
29
Zur europäischen Verfassungskrise: Armin von Bogdandy/Pál Sonnevend (Hrsg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area, 2015.
 
30
EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission, ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 281 f. Dazu Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (31). Eingehend zu den Verfassungselementen in inter- und supranationalen Gründungsverträgen: Anne Peters, Das Gründungsdokument internationaler Organisationen als Verfassungsvertrag, ZÖR 68 (2013), 1 ff.
 
31
In der Einleitung wurde bereits kurz das Verständnis dafür skizziert, den EuGH und den EGMR unter dem Topos der Verfassungsgerichtsbarkeit zu betrachten. Siehe oben Einleitung, B., I., 1.
 
32
Hierzu grundsätzlich Dritter Teil, Kap. 14, 15, 16 und 17.
 
Metadaten
Titel
Kapitel 10: Kontrollfunktion
verfasst von
Andrej Lang
Copyright-Jahr
2020
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_10

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