Zunächst stellt sich die Frage, welche Aspekte einer klassischen Beratung eine wichtige Rolle spielen und deswegen in einer digitalisierten Lösung ebenfalls beachtet werden sollten.
2.1 Hintergrund
Eine der größten Herausforderungen der Onlineberatung besteht darin, das Erlebnis für den Kunden, welches dieser im Möbelhaus bei einem normalen Beratungsgespräch haben würde, zufriedenstellend online anzubieten bzw. gegenüber dieser Herangehensweise sogar einen Mehrwert zu bieten. Im Vordergrund steht hierbei der fehlende Verkaufsraum. Dem Kunden wäre es bei einem Beratungsgespräch, welches z. B. nur via Text- oder Audiochat durchgeführt wird, nicht möglich, Möbel, welche ihn interessieren könnten, in Lebensgröße und von allen Seiten zu besichtigen. Auch der direkte Vergleich zwischen verschiedenen Varianten eines Möbelstücks fällt an dieser Stelle schwer. Zudem besteht für den Kunden keine Möglichkeit, mit dem Möbelstück zu interagieren: Verfügt eine Couch z. B. über eine ausklappbare Schlaffunktion, kann der Kunde nicht ausprobieren bzw. ansehen, wie die Dimensionen der Couch in der ausgeklappten Form auf einen Raum wirken. Generell wirkt das Fehlen einer haptischen Interaktionsmöglichkeit mit dem Möbelstück negativ auf das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, das Produkt einzuschätzen aus und sollte, falls haptische Interaktion nicht möglich ist, durch Alternativen ausgeglichen werden (Peck and Childers
2003). Es muss also eine Visualisierungsmöglichkeit geschaffen werden, welche diesem Umstand entgegenwirkt. Auch das Beratungsgespräch selbst muss in der digitalisierten Lösung durchgeführt und, falls möglich, ergänzt werden. Die Beratung eines Kunden, der zuhause ist, verhindert den gemeinsamen Rundgang durch das Möbelhaus mit dem Berater. Es ist keine Bezugsperson anwesend, Augenkontakt ist nicht möglich und simple Gesten wie das Zeigen auf ein Produktmerkmal ist nicht möglich.
Zudem hat die Nutzung digitaler Hilfsmittel oftmals einen Einfluss auf die Reziprozität, die Beratungsgesprächen entscheidend ist (Dolata and Schwabe
2016): Oft findet in frühen Phasen eines Gesprächs eine Gewöhnungsphase statt, in welcher der Kunde weniger zum Gespräch beiträgt bzw. der Berater das Gespräch leitet, was abschreckend wirken könnte. Dies wirkt sich negativ auf das Beratungsergebnis aus. Eine erhöhte Reziprozität hingegen kann auch das Beratungsergebnis verbessern (Dolata and Schwabe
2016).
Schlussendlich muss die
Soziale Präsenz und das
Vertrauen des Kunden in den Berater und den Dienstleister gefördert werden, was eine der größten Hürden digitaler Beratungsplattformen darstellt (Lu and Fan
2014). Soziale Präsenz kann den Vertrauensbildungsprozesses positiv beeinflussen, während das Vertrauen selbst positive Einflüsse auf das Kaufverhalten des Kunden hat, was auch für digitale Beratungsplattformen gilt (Johnson and Grayson
2005).
Zurzeit existieren unterschiedliche Anwendungen (bspw. von Möbelherstellern wie Ikea), welche die Platzierung von Produkten in Form von 3D-Objekten erlauben. Bisherige Anwendungen erlauben zwar die Platzierung der Produkte, erlauben aber keine aufwändige Konfiguration dieser bzw. ermöglichen keine Beratung durch Fachkräfte. Diese beiden Aspekte sind jedoch notwendig, um individualisierbare bzw. hochkonfigurierbare Güter online zu vertreiben. Dennoch sind existierende Ansätze von Ikea vielversprechend (Alves and Luís Reis
2020). Manche Vorarbeiten haben ein Projektionssystem genutzt, um virtuelle Möbel darzustellen (Khan et al.
2017). Dieser Ansatz ist unter Laborbedingungen gut nutzbar, aber in der Realität schwierig umsetzbar, da Endkunden lernen müssten das Projektionssystems korrekt zu platzieren. Augmented Reality über Head-Mounted-Displays nimmt Endkunden diesen Schritt ab, da die Projektion direkt über die Brille realisiert wird.
Bisherige Literatur konzentriert sich vornehmlich auf die Umsetzung von Konfigurationsmöglichkeiten hinsichtlich der Datenstruktur (Xiong and Wu
2011), was aber den Aspekt der Beratung vernachlässigt. Studien, die sich auf digitalisierte Beratungsvorgänge in der Möbelbranche konzentrieren, sind aktuell in der Literatur nicht vorhanden.
2.2 Ergebnisse eigener ethnografischer Arbeiten
Als Vorarbeit für diesen Beitrag wurde eine ethnografische Studie in einem Möbelhaus durchgeführt (Blunk et al.
2020). Es wurden drei Möbelberater für je einen Tag bei der Arbeit begleitet und beobachtet. Alle drei Teilnehmer hatten bereits mehrjährige Erfahrung in der Möbelberatung. Abschließend wurden semi-strukturierte Interviews geführt. Ziel der Studie war das Erfassen der Domäne des Möbelverkaufs und den dazugehörigen Beratungen, um eine Digitalisierung zu ermöglichen. Im Folgenden werden die Ergebnisse in Form von unterschiedlichen Herausforderungen für Digitalisierungsbestrebungen zusammengefasst.
Die abschließenden Interviews dienen zur Klärung von Rückfragen und Qualifizierung der Beobachtungen. Dies der besseren Einschätzung, ob die beobachteten Abläufe eher eine Ausnahme oder die Norm darstellen. Jeder der drei Berater stand für das abschließende Interview zur Verfügung. Die Interviews dauerten ca. 30 min und wurden teils durch Kundengespräche unterbrochen. Die Fragen zielten insbesondere auf den Ablauf des Beratungsgesprächs, Kommunikationsabläufe, verwendete Hilfsmittel und die Beschreibung von Anforderungen durch Kunden.
Einerseits gibt es eine Wissensasymmetrie zwischen Beratern (Experten für Möbel) und Kunden (Experten für die eigenen vier Wände) (Jungermann and Fischer
2005). Vor dem Gespräch verfügen beide jeweils nur über allgemeinere Informationen über die Domäne des anderen. Beide versuchen diese Asymmetrie im Rahmen des Gesprächs aufzulösen (Jungermann and Fischer
2005).
Von den Beratern wurde häufig geäußert, dass Kunden nicht ausreichend vorbereitet sind, wobei sich laut einer Marktforschungsstudie ca. 40 % der Kunden vorbereitet fühlen (Feldmer et al.
2019). Kunden fällt es laut den Beratern oft schwer, eigene Wünsche oder Anforderungen zu artikulieren. Ein Grund dafür kann fehlende Übung in der Verbalisierung der Anforderungen an neue Möbel sein, da die meisten Kunden in ihrer Lebenszeit nur wenige Male bspw. eine neue Couch kaufen. Beratern fällt diese Kommunikation andererseits deutlich leichter. Hier ist sicherlich die Erfahrung das eigene Wissen explizit zu machen ein wichtiger Faktor (Smith
2001).
Eine weitere Beobachtung ist die fehlende Vorbereitung von Beratern. Selbst als bekannt war, dass manche Kunden an dem Tag der Beobachtung zwecks Beratung in das Möbelhaus kommen wollten, haben die Berater die Beratung spontan durchgeführt und keine Notizen zur Vorbereitung genutzt. Gemäß der Marktforschungsstudie und laut Aussagen der Berater vergleichen Kunden in mehreren Möbelhäusern Angebote und Preise (Feldmer et al.
2019), weswegen eine intensive Vorbereitung sich nicht in allen Fällen lohnt. Termine zwecks Beratung wurden nicht beobachtet.
In unserer Beobachtung wurden wiederkehrende Kunden konsequent zu den Beratern geschickt, mit denen sie bereits vorher Kontakt hatten. Als Gründe hierfür wurden einerseits die leichtere Verteilung der Provision als auch Vorteile für den Aufbau einer Beziehung zwischen Kunde und Berater genannt, welche für die Beratung förderlich ist. Dies wird auch durch andere Autoren bestätigt (Ingram et al.
2007; Schein
2009).
Es muss hervorgehoben werden, dass die beobachteten Gespräche sehr durch den Berater dominiert wurden, der als Experte das Gespräch moderiert und maßgeblich vorangebracht hat. Aktive Einbindung des Kunden bzw. die oben beschriebene Reziprozität, die bei Beratungsgesprächen wichtig ist (Dolata and Schwabe
2016), war kaum vorhanden.
Die hier genannten Funde hinsichtlich Wissensasymmetrie, Vorbereitung von Kunden und Beratern und die Kunde-Berater-Beziehung dienen im Folgenden als Grundlage für die Erstellung des Szenarios.
2.3 Anforderungen
Zusammenfassend lassen sich aus der Literatur die folgenden Anforderungen ableiten: Interaktion, Reziprozität, Vertrauensbildung und soziale Präsenz. Aus der ethnografischen Studie kommen die Anforderungen hinsichtlich Wissensasymmetrie, Vorbereitung von Kunden und Beratern und die Kunde-Berater-Beziehung hinzu. Im Folgenden werden zu den Anforderungen unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten vorgestellt und diskutiert.
Die Anforderung der Visualisierung von konfigurierbaren Produkten innerhalb des eigenen lokalen Kontexts kann über Augmented Reality (AR) gelöst werden. Mit Augmented Reality ist die Überlagerung der Realität mit virtuellen Objekten gemeint. AR basiert häufig auf sogenannten Head Mounted Displays (HMDs). HMDs erlauben dem Nutzer zudem, die Umgebung ohne dazwischengeschaltete Kameras und Bildschirme, wie durch eine reguläre Brille zu betrachten. Die virtuellen Inhalte werden über Prismen in das Sichtfeld des Trägers projiziert. So haben Nutzer, im Gegensatz zu Smartphone-basierten Lösungen, die Hände für Tätigkeiten wie das Zeigen auf bestimmte Bereiche in der eigenen Wohnung oder Produktmerkmale frei, können sich frei um die Möbel bewegen und diese problemlos aus allen denkbaren Perspektiven betrachten. Einige HMDs (bspw. Microsoft HoloLens) können die Umgebung des Kunden digital erfassen und intern als 3D-Modell abspeichern. Dieses 3D-Modell wird genutzt, um virtuelle Inhalte im Raum zu verankern. Damit ist es Kunden möglich, sich auch räumlich um die virtuellen Objekte herum zu bewegen und diese zu betrachten. Gleichzeitig kann AR genutzt werden, damit Kunden mit den Produkten interagieren können. Es können Funktionen der Couches anhand der 3D-Modelle demonstriert werden, wie bspw. die Darstellung einer ausklappbaren Schlaffunktion. Gleichzeitig können Konfigurationen erlebt werden, die aktuell physisch nicht im Verkaufsraum des Möbelhauses vorrätig sind. Kunden sehen direkt das Produkt, was sie später kaufen können an genau der Stelle, an welcher es künftig stehen soll. Für Kunden bietet sich der offensichtliche Mehrwert der Vorschau von Möbelstücken in den eignen vier Wänden vor der Lieferung, welche mehrere Wochen dauern kann. Auch die Retouren-Quote könnte sich mit der Hilfe von Augmented Reality verringern lassen.
Die Anforderung der Reziprozität kann darüber adressiert werden, dass sowohl der Kunde als auch der Berater dazu ermächtigt werden können innerhalb der Beratungsumgebung Anpassungen vorzunehmen. Es könnte bspw. explizit ausgeschlossen werden, dass nur der Berater Farben anpassen kann. Darüber soll der Kunde ermächtigt werden, aktiv in die Konfiguration einzugreifen und ein aktiver Akteur in der Beratung zu sein.
Zur Darstellung von menschlichen oder künstlichen Beratern können sich virtuelle Avatare eignen, die in Augmented Reality angezeigt werden. Avatare dieser Art haben sich in der Vergangenheit bereits bewährt, um Kunden ein stärker ausgeprägtes Gefühl der
Präsenz (Bente et al.
2004) und des
Vertrauens (Komiak et al.
2005) hervorzurufen. Für ein hohes Vertrauen des Kunden sollte gesorgt werden, da dies unter Anderem zu einer erhöhten Akzeptanz des angebotenen digitalen Services führt (Mou et al.
2017) und zu einem besseren Kaufverhalten der Kunden führen kann (Lu and Fan
2014). Für ein stärker ausgeprägtes Gefühl der Präsenz zu sorgen birgt ebenfalls Vorteile, da unter Anderem das Vertrauen des Kunden in den frühen Phasen der Vertrauensbildung positiv beeinflusst wird (Ogonowski et al.
2014). Im Direktvergleich zu reinen Text- und Audio-Lösungen sorgten Avatare in einer Studie für signifikant bessere Bewertungen und lagen ungefähr gleichauf mit einer Audio-Video-Lösung bei der das Bild des Gegenübers übertragen wird (Bente et al.
2008). Dieses Ergebnis lässt sich vor allem durch von Menschen als attraktiv eingestufte Berater-Avatare replizieren (Mull et al.
2015). Auch die (wahrgenommene) Menschlichkeit des Berater-Avatars spielt eine Rolle: Je menschlicher der Avatar ist, desto glaubwürdiger und attraktiver erscheint dieser und desto eher
interagieren Menschen mit dem Avatar (Mull et al.
2015). Das Aussehen des Berater-Avatars sollte für optimale Ergebnisse realistisch (Jo et al.
2016) und vom Kunden anpassbar (Hanus and Fox
2015) sein.
Eine weitere Herausforderung ist die
Wissensasymmetrie zwischen Kunde und Berater, in welcher der Berater mehr Kenntnisse über Möbel hat und der Kunde sich besser in den eigenen vier Wänden auskennt (Jungermann and Fischer
2005). Das Wissen des Beraters über den lokalen Kontext des Kunden (Einrichtungsstil, Platzbedarfe, Licht, etc.) lässt sich adressieren, indem dieser Zugriff auf die Daten der AR-Brille bekommt: Über Zugriff auf die Kamera in der AR-Brille kann der Berater genau sehen, in welche Richtung der Kunde sieht und wie die Wohnung dort eingerichtet ist. Da die AR-Brille permanent die häusliche Umgebung erfasst, kann der Berater Zugriff auf das erstehende 3D-Modell erhalten. Dadurch erhält er einen guten Überblick über die räumlichen Verhältnisse, wie bspw. Platzangebot und Abstände zu übrigen Möbeln. Dies kann dem Kunden längere Erklärungen des eigenen Kontexts ersparen, dessen Beschreibungen für ihn ungewohnt sind. Das Wissen der Berater lässt sich über erweiterte Informationen in Produktkatalogen an Kunden weitergeben. Darüber können beispielsweise Vor- und Nachteile von bestimmten Polstern erläutert werden. In der ethnografischen Studie wurde beobachtet, dass Kunden oft nicht wussten, dass bei Couches unterschiedliche Farben, Stoffe oder Armlehnen als Konfigurationsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Hier können gezielte Hinweise und Hervorhebung an den 3D-Modellen in der Augmented Reality Darstellung den Kunden auf Konfigurationsmöglichkeiten hinweisen.
Wenn Beratung aus der Ferne für Kunden angeboten wird, ergibt sich die Frage, inwieweit die Beratungsdienstleistung für viele Kunden skaliert. Um die Herausforderung der
Skalierbarkeit des Systems zu adressieren, können Chatbots genutzt werden, die bei Abwesenheit von Beratern oder bei Beantwortung von Fragen assistieren können. Bei Chatbots handelt es sich um autonome Agenten, welche basierend auf einer Unterhaltung mit dem Kunden lernen, ein Bedarfsprofil erstellen und automatisch dazu passende Produktempfehlungen aussprechen (Miao et al.
2007). Sie haben außerdem die Aufgabe, das
Vertrauen des Kunden in sich selbst und den Dienstleister zu fördern, da dies ihre eigene Glaubwürdigkeit erhöht und ebenfalls das Kaufverhalten der Kunden verbessern kann (Papadopoulou et al.
2001). Wenn sie korrekt eingesetzt werden, haben Chatbots einen positiven Einfluss auf das Kaufverhalten von Kunden (Lee
2004; Hildebrand and Bergner
2019). Hierbei muss bedacht werden, dass verschiedene Einflussfaktoren, wie wahrgenommenes Risiko beim Kauf oder die Komplexität des Produkts, die Überzeugungskraft eines Chatbots beeinflussen können (Swaminathan
2003). Weiterhin kann der Chatbot dabei helfen, Fragen zu bestimmten Produktmerkmalen zu beantworten und so helfen, die Wissensasymmetrie anzugleichen (Cui et al.
2017).
Über gezielte geführte Dialoge oder weitergehende Informationen zu bestimmten Produktmerkmalen kann der Kunde mehr über die Auswahl lernen. Auf diese Weise kann der Kunde das System nutzen, um den Produktbestand zu explorieren und sich auf das Gespräch vorzubereiten. Gleichzeitig kann der Chatbot innerhalb der Beratungsumgebung den Nutzer bspw. darauf hinweisen, dass dieser zunächst das verfügbare Platzangebot sichten sollte oder darüber nachdenken sollte, wie viele Personen regelmäßig auf der Couch sitzen werden. Er kann zudem nachfragen, ob die Personen eher sitzend oder liegend die Couch nutzen, um den Kunden anzuregen, über den eigenen Bedürfnisse nachzudenken, bevor dieser in ein Beratungsgespräch geht. Gleichzeitig können die Antworten des Benutzers auf diese Fragen und auf andere Eingaben in das Beratungssystem für den Berater aufbereitet werden, damit sich dieser auf das Gespräch vorbereiten kann.