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2000 | Buch

Parteiorganisation im Wandel

Gesellschaftliche Verankerung und organisatorische Anpassung im europäischen Vergleich

verfasst von: Thomas Poguntke

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Zusammenfassung
Politische Parteien führen ein Doppelleben. Sie stellen das Personal für alle wichtigen staatlichen Entscheidungsgremien. Manche warnen gar, sie seien inzwischen ‚der Staat‘, und doch sind sie gleichzeitig freiwillige gesellschaftliche Vereinigungen. Genau diese Doppelrolle macht ihre unverzichtbare Funktion für die Demokratie aus. Gerade weil sie beides sind, staatliche Akteure und gesellschaftliche Wesen, sind sie die wichtigste Verbindung zwischen beiden Sphären. Parteien sind die zentrale Linkage in der Demokratie. Sie sorgen dafür, daß sich die politischen Eliten nach dem richten, was die Bürger wünschen. Denn diese können die Parteien durch den Entzug der Wahlunterstützung dazu zwingen, sich zumindest in groben Zügen nach ihren Wünschen zu richten. Parteien, genauer gesagt die Parteieliten, haben verschiedene Möglichkeiten, um die Gefahr solcher Bestrafungen möglichst gering zu halten. Sie können ihre Wähler über die Massenmedien direkt ansprechen und so für ihre Ziele werben. Sie können über Bevölkerungsumfragen versuchen, ein möglichst präzises Bild über die politischen Wünsche der Bürger zu erhalten und sich danach richten. Oder sie können dafür sorgen, daß andere Organisationen ihnen diese Aufgaben teilweise abnehmen oder zumindest erleichtern. Mehr oder minder dauerhafte Kontakte zu verschiedenen Arten intermediärer Organisationen können Parteieliten als organisatorische Kanäle dienen, über die sie in der Bevölkerung für ihre Ziele werben.
Thomas Poguntke
2. Linkage und Parteiendemokratie
Zusammenfassung
Linkage ist die Essenz politischer Parteien in Demokratien. Parteien sind das zentrale Scharnier zwischen Bürgern und den Institutionen staatlicher Willensbildung (Lawson 1980: 3; Lawson 1988: 16; Sartori 1976: 25; Eldersveld 1982: 11; Katz 1990: 143). Dies gilt unabhängig von der Architektur des politischen Systems, von der historischen Phase, von der Ideologie oder den Interessenbezügen und von den organisatorischen Eigenheiten bestimmter Parteien. All diese Faktoren prägen die konkrete Ausgestaltung der Linkages und sie erklären, welche zusätzlichen Funktionen politische Parteien erfüllen. Während die Parteien in den USA eher leeren Gefäßen gleichen (Katz/Kolodny 1994), waren sie in der Blütezeit der europäischen Massenintegrationsparteien hoch organisierte, komplexe Gebilde, die ihre Anhängerschaft nicht nur politisch vertraten, sondern auch deren soziales Leben über ein ausdifferenziertes Netz von Nebenorganisationen weltanschaulich umschlossen (Neumann 1956: 404–11). Diese Gegenüberstellung illustriert die Bandbreite von Aufgaben, die Parteien in der Demokratie übernehmen. Die amerikanischen Parteien beschränken sich weitgehend auf die für das Funktionieren des demokratischen Prozesses unverzichtbaren zentralen Funktionen. Sie tragen zur Aggregation divergierender politischer Interessen bei, formulieren politische Ziele und rekrutieren das entscheidende politische Personal für die Exekutive. Auf einen Nenner gebracht, sie strukturieren die Wahlentscheidung (Almond/Powell/Mundt 1996: 104f.; Epstein 1967: 77).
Thomas Poguntke
3. Der Wandel der Umweltbedingungen politischer Parteien
Zusammenfassung
Westliche Industriegesellschaften haben sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Das starke Anwachsen der neuen Mittelschichten hat sich in einer fortschreitenden sozialen Ausdifferenzierung, oder gar Individualisierung (Baumgarten 1982) der Sozialstruktur niedergeschlagen (van Deth 1995b). Parallel dazu ist das Bildungsniveau enorm gestiegen, was zu einer kognitiven Mobilisierung weiter Teile der westeuropäischen Gesellschaften geführt hat (Dalton 1984). Begleitet wurden diese sozialstrukturellen Veränderungen von weitreichenden Prozessen des Wandels individueller Wertortientierungen (Inglehart 1977, 1990; van Deth/ Scarbrough 1995) hin zu heterogeneren Wertstrukturen (van Deth 1995a: 3f.; Klages/Herbert 1983; Klages 1984) sowie der Ausweitung des Repertoires politischer Beteiligungsformen in den unkonventionellen Bereich hinein (Barnes/Kaase et al. 1979; Jennings/van Deth et al. 1990; Gundelach 1995; Kaase/Newton 1995: 49–52). Gleichzeitig hat sich das System der Massenkommunikation durch den Siegeszug des Fernsehens und die anschließende dramatische Ausweitung des Programmangebotes grundlegend gewandelt (van Deth 1995b: 58).
Thomas Poguntke
4. Anpassung und Wandel politischer Parteien
Zusammenfassung
Politische Parteien werden in erheblichem Maße durch ihre Umwelt geprägt. Hierzu zählen neben den institutionellen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen vor allem der soziale Kontext. Die Wählerschaft stellt für Parteien eine der zentralen Umwelten dar, die die Stabilität der Organisation bestimmen. Auch wenn die Diagnose zweifellos zutrifft, daß staatliche Ressourcen, vor allem die Ausweitung staatlicher Parteienfinanzierung, Parteien zunehmend mit zusätzlichen oder partiell gar alternativen Quellen organisatorischer Stabilität versorgen (Katz/Mair 1995), so bleiben Parteien in jedem Falle auf Wählerstimmen angewiesen. Das Ausmaß der elektoralen Orientierung unterscheidet sich entsprechend der primären Parteiziele und der Konfiguration des Parteiensystems sowie der institutionellen Gegebenheiten. Eine Partei, die beispielsweise in erster Linie an der Machtteilhabe interessiert ist, kann bei entsprechend günstiger Position im Parteiensystem Wählerverluste in Kauf nehmen ohne ihre Regierungsbeteiligung zu gefährden (Deschouwer 1992b: 16). Parteien, die primär an der Durchsetzung politischer Ziele interessiert sind, werden unter Umständen Wahlverluste hinnehmen anstatt ihre programmatischen Grundsätze zu revidieren. Ungeachtet der primären Parteiziele sind aber letztlich alle Parteien auf Wählerstimmen angewiesen, sofern sie sich nicht mit dem Schattendasein einer sektiererischen Kleinstpartei bescheiden wollen. Dies gilt selbst für das verschiedentlich diskutierte vierte Parteiziel, die Verwirklichung parteiinterner Demokratie (Harmel/Janda 1994: 269). Auch eine basisdemokratische Partei macht nur Sinn, wenn eine relevante Anzahl von Menschen diese Partei wählen und in ihr partizipieren.
Thomas Poguntke
5. Forschungsdesign
Zusammenfassung
Die im vorigen Kapitel formulierten Hypothesen beziehen sich auf die Veränderungen der Linkages zwischen Parteien und Bürgern in Westeuropa seit dem zweiten Weltkrieg. Eine optimale Überprüfung dieser Hypothesen erfordert einen international vergleichenden, längsschnittlichen Untersuchungsansatz, der eine möglichst große Zahl von Parteien in allen relevanten westeuropäischen Parteiensystemen umfaßt. Dies leistet die vorliegende Studie. Sie untersucht 78 Parteien in 11 westeuropäischen Ländern für den Zeitraum 1960 bis 1989 (siehe Tabelle 13.1; Anhang 13.1). Mit geringfügigen Einschränkungen werden somit alle relevanten Parteien in all den westeuropäischen Demokratien untersucht, die seit 1960 eine kontinuierliche parteipolitische Entwicklung hatten, in denen also die Entwicklung der Parteien nicht durch Regimewechsel beeinflußt oder gar unterbrochen wurde.16 Im einzelnen sind dies Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Großbritannien, Irland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Österreich und Schweden. Es handelt sich also um eine Vollerhebung, so daß bei den statistischen Berechnungen keine Signifikanzniveaus angegeben werden (Berg-Schlosser/Quenter 1996: 102; Mohr 1990: 67–74; Sahner 1997: 169–74).
Thomas Poguntke
6. Äpfel mit Birnen? Zur Methode des Vergleichs von Parteiorganisationen in Westeuropa
Zusammenfassung
Voraussetzung für die vergleichende Untersuchung der Linkagemuster ist die verläßliche Kategorisierung der Parteigremien sowohl in vergleichender als auch in längsschnittlicher Perspektive (Mair 1996: 326–28).27 Hierbei sind die folgenden Probleme zu berücksichtigen:
Erstens können Parteigremien einer bestimmten Partei ihre Funktion und ihre Position innerhalb der Parteiorganisation verändern, ohne daß sich ihre Bezeichnung ändert. Das wohl offensichtlichste Beispiel hierfür ist der Wandel der personellen Zusammensetzung eines Führungsgremiums, beispielsweise des Parteivorstandes. Das Gewicht eines Gremiums im innerparteilichen Machtgefüge bemißt sich natürlich nicht nur nach seinen formalen Kompetenzen, sondern auch nach der politischen Bedeutung der in ihm vertretenen Personen. Dies sind allerdings vorübergehende Akzentverschiebungen, die hinsichtlich der Analyse der gesellschaftlichen Bindungen politischer Parteien von untergeordneter Bedeutung sind. Demgegenüber können Veränderungen der Parteistatuten die formale Machtverteilung zwischen den Parteigremien grundsätzlich verändern und müssen entsprechend berücksichtigt werden. Zweitens ist damit zu rechnen, daß sich die tatsächliche Funktion und Position bestimmter Parteigremien bei den Parteien eines Landes unterscheidet, obwohl diese Gremien die gleichen Namen haben.
Thomas Poguntke
7. Kollateralorganisationen in Westeuropa
Zusammenfassung
Welche Kollateralorganisationen gibt es in den Parteiensystemen Westeuropas? Unterscheiden sich die einzelnen Länder stark hinsichtlich der Art der Organisationen, die mit den politischen Parteien feste organisatorische Bindungen unterhalten? Welche Parteitypen sind mit welchen Interessen verbündet?
Thomas Poguntke
8. Organisatorische Linkage politischer Parteien in Westeuropa
Zusammenfassung
Wie stark sind die gesellschaftlichen Linkages der politischen Parteien Westeuropas? Welche Unterschiede gibt es zwischen den einzelnen Ländern und den verschiedenen Parteitypen? Und vor allem: Wie hat sich die organisatorische Verankerung der Parteien seit den sechziger Jahren verändert? Dies sind die Leitfragen des folgenden Kapitels. Sie fassen die in Kapitel 5 formulierten Hypothesen zur Entwicklung und zu den unterschiedlichen Niveaus der gesellschaftlichen Verankerung politischer Parteien in Westeuropa zusammen. Zu ihrer Beantwortung wird zunächst ein geeigneter Indikator, der Linkage-Index, entwickelt. Daran schließt sich die Betrachtung einzelner Parteien an, um eventuelle Sonderfälle zu identifizieren (Kapitel 8.2). Anschließend werden die Linkagewerte von Parteitypen und Nationen untersucht, wobei jeweils die Frage beantwortet wird, wie stark sich die Parteien innerhalb dieser Kategorien unterscheiden und wie sich die Durchschnittswerte im Zeitverlauf verändert haben (Kapitel 8.3 und 8.4).
Thomas Poguntke
9. Inside the Parties
Zusammenfassung
Die Diskussion der verschiedenen Parteiorgane in Kapitel 6 hat gezeigt, daß sich deren Funktionen nicht einfach hinsichtlich einer innerparteilichen Machthierarchie ordnen lassen, etwa im Sinne eines ‚ehernen Gesetzes der Oligarchie‘, nach welchem letztlich die Entscheidungsgewalt bei den Parteiführungsstäben anzusiedeln wäre (vgl. Michels 1989: 24–26). Parteitag und Parteirat wären aus dieser Perspektive in erster Linie Akklamationsorgane ohne wirklichen Einfluß auf die Politik und die Führungsauswahl der Partei. Vielmehr erfüllen die einzelnen Parteiorgane unterschiedliche Aufgaben, die sich aus der Dichotomie von Regelungs- und Exekutivfunktionen herleiten lassen. Dies schließt nicht a priori aus, daß durch die Veränderung der politischen Prozesse in modernen Gesellschaften die Parteiführungen an Gewicht gewonnen haben. Zweifellos haben die Professionalisierung der Politik und die modernen Massenkommunikationsmedien Politikern Mittel in die Hand gegeben, die ihnen gegenüber der Basis Handlungsvorteile verschaffen können. Andererseits sind gegenläufige Entwicklungen zu konstatieren. Der gesellschaftliche Wandel hat nicht nur den Berufspolitiker hervorgebracht und den — häufig idealisierten — Politiker aus Berufung endgültig in der Versenkung verschwinden lassen. Er hat auch zu einem immens gestiegenen Bildungsniveau geführt. Dies bedeutet, daß Parteipolitiker in ungleich höherem Maße als in der Frühzeit der Massendemokratie Rechtfertigungsanfragen seitens ihrer Wähler- und Mitgliederbasis ausgesetzt sind.
Thomas Poguntke
10. Parteimitglieder als Linkage: Mitgliederorganisationen in Westeuropa
Zusammenfassung
Linkage durch Mitglieder ist universell. Während ein erheblicher Teil der westeuropäischen Parteien keine Linkages über die verschiedenen Arten kollateraler Organisationen entwickelt hat, haben alle eine Mitgliederorganisation. Anders als in den USA (Katz/Kolodny 1994) sind relevante politische Parteien in Westeuropa Mitgliederparteien, d.h. sie haben zumindest ein Minimum an dauerhaft aktiven Mitgliedern, ohne die das interne Organisationsleben nicht aufrecht zu erhalten wäre. Mitglieder stellen in der Regel den größten Teil des politischen Personals für innerparteiliche und parlamentarische Ämter, sie sind immer noch eine wichtige Ressource im Wahlkampf, und sie tragen in den meisten Parteien in erheblichem Umfang zur Finanzierung bei (Bartolini 1983: 178–82; Duverger 1964: 62–79; Gabriel/Niedermayer 1997: 278; Katz 1997: 175; Mair 1994: 13–18; Niedermayer 1989: 14–21; Scarrow 1994: 46–50, 1996: 40–46; Whiteley/Seyd/Richardson 1994: 3–8). In jedem Falle stellen sie auch eine zentrale Linkage zwischen den Parteiführungen und ihren Wählern dar. Ob dies, aus der Sicht der Parteieliten, eher Ruch oder Segen ist, muß an dieser Stelle nicht beurteilt werden. Möglicherweise wären sie gut beraten, ihre Mitgliederorganisationen zu verkleinern, um sich so politische Bewegungsfreiheit zu verschaffen (Epstein 1967: 116; Katz 1990: 145f.). Dies hängt nicht zuletzt vom wahlpolitischen Nutzen der Parteimitglieder ab, der im nächsten Kapitel untersucht wird.
Thomas Poguntke
11. Linkage und Wählerstabilität
Zusammenfassung
Does party organization matter? Dies ist die Leitfrage des letzten empirischen Kapitels dieser Studie. Natürlich läßt sich diese Frage im Rahmen dieser Untersuchung nicht erschöpfend beantworten. So sind die möglichen Effekte organisatorischer Linkages auf die Konsistenz politischer Programme und Handlungen zwar theoretisch erörtert worden, sie spielen aber in der empirischen Untersuchung keine direkte Rolle. Statt dessen soll der Blick auf das gerichtet werden, was empirisch einlösbar ist und was die Parteieliten mit am stärksten interessiert: die Auswirkung der Parteiorganisation auf den Wahlerfolg.
Thomas Poguntke
12. Parteien und Linkage: Stabilität oder Wandel?
Zusammenfassung
Einiges, das bislang eher Gegenstand intelligenter Spekulation war, steht nun auf festerem empirischen Grund: Die von Duverger postulierte „Ansteckung von links“ betrifft nicht nur die Mitgliederzahl, sondern auch die organisatorische Einbindung vieler Parteien in ihre gesellschaftliche Umwelt; ein großer Teil der traditionellen Parteien verfolgt seit den sechziger Jahren tatsächlich eine organisatorische Catch-All-Strategie; die gesellschaftlichen Wurzeln westeuropäischer Parteien sind schwächer geworden und der Stellenwert der Massenmedien als Linkage zwischen Bür-gern und Parteien ist nicht zuletzt deshalb gewachsen. Und doch ist bei solchen Generalisierungen Vorsicht geboten. Verdecken sie doch häufig, daß unterschiedliche Parteitypen sich in verschiedene Richtungen entwickelt haben, und daß die erwähnten Erosionsprozesse nicht in allen westeuropäischen Ländern gleichermaßen dramatisch abliefen. Vorab sei nur der wichtigste Sonderfall genannt: Die organisatorischen Linkages neuer Parteien sind schon deshalb kaum schwächer geworden, weil sie sich schon immer auf dem denkbar niedrigsten Niveau befanden, wohingegen die gesellschaftlichen Bindungen traditioneller Parteien teilweise erheblich schwächer wurden. Differenzierungen sind jedoch auch hier angebracht. So muß zunächst zwischen den beiden Linkage-Varianten unterschieden werden, also zwischen der Linkage über Kollateralorganisationen und der Linkage über die Mitgliederorganisationen der Parteien selbst.
Thomas Poguntke
13. Anhang
Thomas Poguntke
Backmatter
Metadaten
Titel
Parteiorganisation im Wandel
verfasst von
Thomas Poguntke
Copyright-Jahr
2000
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-96391-8
Print ISBN
978-3-531-13522-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-96391-8